Hans Dominik
König Laurins Mantel
Hans Dominik

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Überraschung im Hause James Wildrakes war groß gewesen, als Edna Wildrake in Begleitung der beiden Fremden eintraf. So sehr auch Arvelin drängte, wurde doch aus dem sofortigen Weiterflug nichts. Unendlich viele Fragen, die Wildrake und Lord Truxton, der zufällig zu Gaste da war, an alle zu richten hatten.

Die wunderbare Errettung vor den Mündungen der sechs Gewehre – Oswald Winterloo hatte es aus einem inneren Gefühl heraus nicht über sich vermocht, seinen Befreier darüber zu befragen. Hier jedoch, in der Unterhaltung mit den beiden wißbegierigen Engländern, wandte das Gespräch sich naturgemäß auch diesem Geschehnis zu. Aufs höchste gespannt, erwartete Winterloo Arvelins Antwort.

Der sprach jetzt leichthin einige Worte, deren Sinn unverständlich blieb. Verfiel, weiterredend, in schottischen Dialekt – sprach von der Gabe, die da manchem Alten in den Mooren innewohne: in Gesichten andere Zeiten und Orte zu sehen; wie es auch gelänge, dieses Vermögen auf andere zu übertragen, ihren Augen andere Bilder zu zeigen, daß sie die Umgebung vergäßen . . .

In Doktor Arvelins Zügen war, während er sprach, eine auffällige Veränderung vorgegangen. Das Gesicht welk, verfallen, die Augen halb geschlossen. Um Jahre schien er gealtert. Man sah, wie es in ihm arbeitete – daß er wie unter inneren Schmerzen die Worte suchte, daß sich seine Mienen immer mehr verdüsterten.

Als er geendet, lag es wie ein geheimnisvoller, zwingender Bann auf den Zuhörern, aus dem sie sich nur schwer lösen konnten. Nur langsam kam ein Gespräch wieder in Gang, doch niemand wagte es, auf die Umstände jener rätselhaften Rettung zurückzukommen; wenn auch unausgesprochen die Frage danach allen am Herzen lag. – –

Arvelin und Winterloo hatten sich erhoben, um Abschied zu nehmen. Ein Diener trat ein, überreichte James Wildrake ein Telegramm. Offenbare Bestürzung malte sich auf dessen Zügen. Er mußte mehrmals ansetzen, ehe er zu Arvelin sprechen konnte.

»Noch einen Augenblick! Eine traurige Nachricht – –«

»Aus Winterloo?« fiel Arvelin mit bebender Stimme ein.

James Wildrake nickte. »Ihr Freund ist gestorben. Hier ein Telegramm des Dieners Friedrich, daß der Freiherr von Winterloo infolge eines Schlaganfalls verschied.«

Arvelin nahm das Telegramm; es war an Droste gerichtet, an den alle Sendungen über Truxton & Co. gingen. Mit umschleierten Augen überlas er es. Da, noch ein Schlußsatz – ihr Gastgeber hatte ihn wohl für unwichtig gehalten –: »F. H., der neue Herr, wohnt hier im Schloß.«

Arvelins Augen starrten sinnend auf Winterloo, der betroffen und bewegt schien. Endlich brach er die lastende Stille.

»Die Verhältnisse in Schloß Winterloo haben durch den Tod meines Freundes eine derartige Veränderung erfahren, daß ich es für nützlich halte, wenn Sie, Mr. Winterloo, vorläufig in England bleiben.«

»Auch der Beerdigung dürfte ich nicht –?«

»Einstweilen muß ich Sie bitten, den Gedanken aufzugeben. Ich bin mir im unklaren, wie die Verhältnisse in Winterloo zur Zeit liegen. Ich fahre sofort dorthin. Sind meine Befürchtungen unbegründet, werde ich Sie umgehend rufen.«

Arvelin wollte allen die Hand zum Abschied reichen. Er sah ihre erstaunten Gesichter, stockte einen Augenblick. »Sie müssen mich entschuldigen, meine Herrschaften, wenn ich mich so dunkel, so unklar ausdrücke. Später werden Sie sehen, daß ich Grund genug habe, nähere Erklärungen nicht abzugeben.« –

Er hatte schon längst das Haus verlassen, als die Zurückbleibenden Worte fanden, über seine sonderbaren Reden zu sprechen. Lord Truxton drückte Winterloos Hand: »Was auch geschehen mag, Herr Hauptmann – es wird mir ein Vergnügen sein, Sie als Gast zu beherbergen.«

*

Die mannigfachen Aufregungen der letzten Zeit, die Pläne Wildrakes und Drostes, die Reise Arvelins nach Südamerika, hatten den Gesundheitszustand des Freiherrn von Winterloo mehr und mehr erschüttert. Nach dem Abschied des Freundes zog er sich ins Laboratorium zurück. Und gegen Abend fand der alte Diener seinen Herrn ohnmächtig am Boden liegen.

Mit ein paar Hausmitteln wurde der Kranke zum Bewußtsein gebracht, während ein Bote den Arzt holte. Wiederholt bat der alte Friedrich den Freiherrn um die Erlaubnis, an Doktor Arvelin zu depeschieren. Der war noch über europäischem Boden, konnte leicht zurückgeholt werden. Doch Winterloo weigerte sich hartnäckig, hielt den Anfall für ein vorübergehendes Unwohlsein. Auch der Arzt schien in dem Zustand seines Patienten nichts Bedenkliches zu sehen, verordnete nichts weiter als Schonung. – –

Es war in der Nachmittagsstunde des nächsten Tages. Der Freiherr saß am Schreibtisch, hatte Dokumente vor sich ausgebreitet, las. In Gedanken versunken, überhörte er den Eintritt Franz Harrachs.

Der verhielt beim Anblick des Oheims unwillkürlich den Schritt. Was hatte ihm Morawsky noch in der Nacht durch einen Boten mitteilen lassen? Er hatte gehofft, den Kranken sterbend im Bett zu finden. Und nun –?

Er räusperte sich laut. Winterloo, aufgeschreckt, warf den Kopf zur Seite, unfähig, seine Betroffenheit, seinen Schreck zu verheimlichen. Ohne vorläufig von Franz Notiz zu nehmen, legte er die Briefschaften in den Schreibtisch zurück, schloß ihn ab.

»Es wäre mir lieb, Franz, wenn du dich in Zukunft stets durch Friedrich anmelden ließest. Ich bin nicht zu jeder Stunde geneigt, Besuch zu empfangen, und bedauere es, dir das sagen zu müssen.«

Der Neffe spielte den Gekränkten. »Aber, Onkel! Nur die Sorge um dich hat mich hergetrieben. Adeline war nicht wohl, sonst wäre sie selbstverständlich mitgekommen. Du fühlst dich leidend?«

Winterloo wandte sich brummend ab, trat zum Fenster.

»Du gestattest doch, Onkel, daß ich zum Kaffee bleibe? Ich bin, ohne etwas zu mir zu nehmen, in aller Hast abgefahren, bin hungrig, durstig – –«

Ohne die Antwort des Freiherrn abzuwarten, wandte er sich um, ging hinunter zu seinem Kutscher. »Ausspannen! Wir bleiben hier!«

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als Winterloo auf den Schreibtisch zueilte. Diese Papiere, besonders das Testament – Franz hatte erspäht, in welches Fach er sie gelegt – sein Mißtrauen gegen den Neffen war gerade in letzter Zeit immer stärker geworden. Er öffnete die Schublade, nahm die Papiere heraus, barg sie unter seinem Rock.

Da trat Franz Harrach wieder ein. Unwillkürlich ging Winterloos Hand zu der Brusttasche. Er atmete befreit. Mochte der suchen, wenn – –!

Doch nun spürte er plötzlich, wie die Knie unter ihm schwach wurden. Die Anwesenheit des Gastes zwang ihn zu einer verzweifelten Willensanstrengung. Er schleppte sich zum Lehnstuhl, schloß sekundenlang die Augen.

»Onkel, was ist dir?« Schon hörte er die Stimme Franz Harrachs neben sich.

Winterloo vermochte nur noch eine abwehrende Bewegung zu machen. Seine Hand fand den Klingelknopf. Der alte Diener trat ein.

»Bring mich zu Bett, Friedrich!«

Der legte seinen Arm um die Schultern seines Herrn, hob ihn hoch. Franz Harrach wollte helfen, doch Winterloo stieß ihn mit wütender Gebärde zurück.

»Laß mich in Frieden, du! Friedrich, sorge dafür, daß niemand außer dir mein Schlafzimmer betritt!« – –

Ein paar Stunden hatte der Freiherr im Halbschlummer zugebracht. Neben ihm saß sorgenvoll der alte Diener.

»Gib mir die Pulver, die der Arzt verordnete!« kam's endlich aus dem Munde Winterloos. Friedrich mischte den Trank. Nach einer Weile belebte sich das Auge des Freiherrn, seine Zunge tat wieder ihren Dienst, seine Glieder wurden frei von der Lähmung. Ohne Friedrichs Hilfe stand er auf, schritt ein paarmal auf und ab, reckte sich. Er fühlte sich ganz wohl.

»Geh nun, Friedrich! Doch halte dich bereit, wenn ich klingle!«

Wieder allein, fühlte er sich abermals von Schwäche übermannt. »Nein – nein!« stöhnte er leise. »Ich muß mich jetzt aufrecht halten . . . Das Testament – wo tu' ich's hin? Wem könnte ich's anvertrauen? Dem alten Friedrich? Doch, wer weiß: Vielleicht, sobald ich tot bin, jagt Franz ihn aus dem Hause, durchstöbert seine Sachen. Und Friedrich ist alt und unbeholfen! Ob ich's verstecke? Doch wo ist ein Ort, der vor Franz Harrachs Spürsinn sicher wäre? Ah – das Mausoleum!«

Seitdem der Freiherr fühlte, daß er dort wohl bald für immer ruhen würde, war er öfter zum Mausoleum gegangen. Fast war ihm die Stätte lieb geworden. Auf einer Bank davor konnte er stundenlang sitzen, über sein Leben, seine Familie, ihre Vergangenheit, ihre Zukunft nachsinnen. Und komisch! Franz, der ihm, wenn er hier war, kaum von der Seite wich, hatte sich stets unter fadenscheinigen Ausflüchten entfernt, wenn sein Weg dorthin führte, so daß es Winterloo schließlich auffiel. Er hatte es Arvelin erzählt. Der hatte so sonderbar gelacht . . .

Das Mausoleum – ein Gedanke blitzte in ihm auf. Ja, so ging es! So war das Testament sicher verborgen, mußte aber zur rechten Zeit gefunden werden.

Der Freiherr mischte sich noch eins der Pulver, ergriff seinen Stock, ging nach unten. Friedrich eilte herbei, sah seinen Herrn bekümmert an.

»Keine Sorge, Friedrich! Ich fühle mich wieder ganz wohl. Will einen kleinen Spaziergang ins Freie machen. Dann werde ich gut schlafen.«

»Unmöglich, Onkel Winterloo!« Franz, wie aus dem Boden gewachsen, stand plötzlich neben ihm. »Unmöglich, daß du allein gehst! Selbst wenn du es mir verbieten wolltest, ich würde nicht gehorchen. Die Pflicht verlangt, daß ich dich begleite.«

Eine Röte des Unwillens, des Zornes ging über Winterloos Gesicht. Er wollte eine heftige Antwort geben, doch dann besann er sich. »Wenn es dir Vergnügen macht, Franz – ich will dich nicht abhalten!«

Eine Weile schritt er neben Franz, der unaufhörlich auf ihn einsprach, durch die weiten Gänge des Gartens. Richtete es dabei ein, daß sie dem Mausoleum immer näher kamen. Endlich, an einer Stelle, wo die Gänge sich kreuzten, lag der Bau vor ihnen. Winterloo blieb stehen, angstvoll zweifelnd, was Franz tun würde, wenn er jetzt den Weg fortsetzte. Blieb der Neffe, alle Bedenken überwindend, bei ihm, dann war alles umsonst gewesen. Doch kaum hatte Winterloo den ersten Schritt nach dem Mausoleum getan, wurde Franz sichtlich unruhig.

»Verzeih, lieber Onkel, ich vergaß, mein Gepäck abzuschließen. Du bleibst ja wohl auf der Bank. Ich eile derweil ins Schloß, komme gleich wieder, dich abzuholen.«

Innerlich lachend, nickte ihm der Freiherr freundlich zu.

»Ein halbes Stündchen, Franz! Länger bleibe ich nicht.«

Der hatte sich schon gewandt, ging zum Schloß.

Ah! Gut, daß ich daran dachte! Merkwürdig aber, weshalb Franz den harmlosen Bau so scheut! Fürchtet er die Toten, die darunter liegen? Doch einerlei. Die halbe Stunde genügt mir. Gott gebe mir Kraft, mein Werk zu vollbringen!

Mit schnellen Schritten ging er auf das Mausoleum zu, öffnete die Tür, trat ein.

Hier der Ort, wo er – wie kurz noch die Spanne – ruhen würde! Die Särge der Winterloos lagen in Einzelgrüften unter den Fliesen des Bodens. Keine Krypta im üblichen Sinne war's. Die schon belegten Grüfte waren mit schweren Steinplatten abgedeckt, auf denen die Namen der Verstorbenen eingemeißelt waren. Unter den Steinplatten führten Treppenstufen zur Sohle der Gruft hinab. Die noch leeren Grabgewölbe hatte man provisorisch mit je drei einzelnen Decksteinen versehen, in die Ringe eingelassen waren.

Der Freiherr trat zu der Platte seines Grabes, unter der die Treppenstufen begannen. Mehrmals setzte er an, die Steintafel hochzuheben. Endlich, nach verzweifelter Anstrengung, wich sie aus den Fugen. Er schob sie zur Seite. Aufatmend nahm er aus seiner Tasche das Testament, legte es auf die oberste Stufe. Dann rückte er die Steinplatte wieder über die Öffnung. Sein Blick glitt über die noch leeren Grüfte. Würden hier noch Winterloos begraben werden, oder war er der letzte?

Seine Gedanken flogen zu Arvelin. Der mochte wohl jetzt am Ziel seiner Reise sein. Warum gab er ihm nicht telegraphisch Nachricht? Sollte alles vergeblich gewesen sein? Sollte er ohne tröstenden Gedanken in die Grube fahren?

Hoffnungslos, schleppenden Ganges, wandte er sich dem Ausgang zu. Die schwere, feuchte Abendluft, die ihn umfing, legte sich wie ein Alp auf seine Brust. Sein Herz arbeitete in starken Schlägen. Mit Mühe erreichte er die Bank. Er setzte sich nieder, fiel in Ohnmacht.

Wie lange er gelegen, wußte er nicht. Es war Mitternacht, als er in seinem Bett zum Bewußtsein kam. Friedrich und der Arzt an seinem Lager. Nach Sekunden schon überfiel ihn neue Ohnmacht.

Tagelang schwebte er zwischen Tod und Leben. Dann kam das Ende. Er drückte noch einmal die Hand des alten Dieners, dann schwanden ihm die Sinne. Die aufgehende Sonne sah er nicht mehr.

*

Zur Abendstunde landeten Kapitän Wildrake und Droste bei der alten Caraibenstadt. Sie fanden die Indianer in größter Aufregung. Am Morgen des Tages nach Winterloos Flucht waren Soldaten in das Dorf gedrungen. Irgendein geschwätziger, betrunkener Indio hatte in San Fernando unvorsichtige Worte fallen lassen.

Die Offiziere der Militärabteilung, stellten ein strenges Verhör mit den Dorfbewohnern an. Doch vergeblich war alles Bemühen, aus Cihuaca und seinen Brüdern etwas Wichtiges herauszubringen. Der Häuptling gab offensichtlich nur widerwillig Antwort.

Ein Zivilist, der dem Verhör beiwohnte, wandte sich an den Offizier, sprach ein paar Worte mit ihm.

Der nickte. »Bitte, Don Lerdo! Wenn Sie glauben, den Burschen besser zum Sprechen bringen zu können – –«

Tejada trieb sein Pferd an Cihuacas Seite, herrschte ihn in heftigen Worten an, fuchtelte mit der Peitsche.

Cihuaca blieb stumm, die Augen glühend auf Tejada gerichtet, dem er, Cihuaca, zwanzigjährige Verbannung nach Wildrake-Hall verdankte – Tejada, der sie gepeinigt, mißhandelt hatte, als sie unter Fronzwang auf seiner Hazienda arbeiteten. Ein Anschlag auf sein Leben – Tejada hatte Cihuaca und seine Leute als die Schuldigen hingestellt . . .

Des Hazienderos Mienen wurden zorniger, je länger er sprach. Eine Flut von Verwünschungen prasselte auf Cihuaca herab. Der Ärger dem Offizier gegenüber – Tejada glaubte dessen Lachen zu hören – er hob die Peitsche, schlug sie mit voller Wucht über das ungeschützte Gesicht des alten Häuptlings.

Ein Schrei des Entsetzens aus aller Munde. Die Indios drängten heran, ballten drohende Fäuste. Da knallte ein Schuß. Lerdo de Tejada sank ächzend aus dem Sattel.

Noch ehe die Soldaten sich von ihrer Überraschung erholt, war Cihuaca, durch das wilde Getümmel geschützt, im Walde verschwunden. Die Verfolgung blieb ohne Ergebnis. Nach stundenlangem Suchen kehrten die Truppen unter Mitnahme der Leiche Tejadas nach San Fernando zurück. – – –

Droste und Wildrake hatten nur mit Mühe vermocht, sich aus dem Gewirr der vielen Stimmen ein ungefähres Bild der Geschehnisse zu machen. Wäre ihre Zeit nicht so knapp bemessen gewesen, würde Wildrake gern den Versuch gemacht haben, Cihuaca irgendwohin in Sicherheit zu bringen. Doch niemand kannte seinen Zufluchtsort.

Das kurze Billett Ednas gab Wildrake die Gewißheit, daß sie schon längst in Sicherheit, vielleicht bereits in England war. Droste war den Erzählungen der Indios nur mit halbem Ohr gefolgt.

Immer wieder in ihm die Frage: Wie kam sein alter Freund Doktor Arvelin hierher? Und dieser Winterloo? Der einstige Erbe des alten Freiherrn sollte doch in Brasilien wohnen . . . Er schrak auf, als Wildrake die Hand auf seine Schulter legte.

»Eine Fülle von geheimnisvollen, unerklärlichen Vorgängen, Freund Droste. Zerbrechen wir uns nicht lange den Kopf! Morgen sind wir in England, dann werden wir alles hören.«

*

Als Arvelin die Halle von Schloß Winterloo betrat, kam ihm der alte Friedrich weinend entgegen. Arvelin versuchte den Zitternden zu trösten, da klang von oben her die Stimme Franz Harrachs.

»Ah – wieder zurück, Herr Doktor Arvelin? Welch günstiger Zufall! Oder hörten Sie etwas auf Ihrer Reise?«

»Ja!« erwiderte Arvelin. »Ich hörte schon auf der Rückfahrt vom Tode meines alten Freundes.«

Harrach warf einen schiefen Blick auf den alten Diener, begann dann wieder wie tröstend zu Arvelin zu sprechen. »Nun, war es Ihnen auch nicht vergönnt, am Sterbebett Ihres Freundes zu weilen, so kommen Sie doch noch zurecht, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Morgen findet die Beisetzung im Mausoleum statt. Doch treten Sie näher!«

Harrach öffnete die Tür zu Winterloos Arbeitszimmer. Fuhr fort, als sie Platz genommen: »Um von vornherein alle Bedenken über die Zukunft zu zerstreuen, möchte ich Ihnen mitteilen, Herr Doktor, daß es Ihnen selbstverständlich unbenommen bleibt, Ihren Aufenthalt hier, solange Sie wollen, auszudehnen. Ich glaube damit im Sinne unseres teuren Verstorbenen zu sprechen.«

»Ich danke Ihnen, kann jedoch über meine Zukunft erst schlüssig werden, wenn der Nachlaß geordnet ist. Es fällt mir schwer, in dieser Stunde zu sagen, was ich jedoch zu meinem Bedauern offen aussprechen muß: Sie halten sich für den Erben der Winterlooschen Hinterlassenschaft, Herr Harrach?«

»Ohne Zweifel!« erwiderte dieser mit erstauntem Gesicht. »Bin ich doch der nächste Verwandte des Freiherrn. Oder?«

Arvelin nickte. »Allerdings, Herr Harrach. Ihr Irrtum ist entschuldbar. Aber es existiert ein Testament, von meinem Freund eigenhändig geschrieben – –«

»Ein Testament?!« unterbrach ihn Franz erregt.

». . . ein Testament, in dem der Freiherr anderweitig über sein Vermögen verfügte – –«

»Unmöglich! Ich kann und will das nicht glauben! Wen sonst hätte mein Oheim zu seinem Erben einsetzen sollen? Etwa Sie? Oder Droste, dieses Niemandskind? Hat er nicht schon bei seinem letzten Hiersein – –« Er stockte, verbarg nur schlecht die Verlegenheit, sich verplaudert zu haben. »Doch einerlei! Wo ist das Testament?«

»Der Freiherr verschloß es vor meinen Augen in seinem Schreibtisch.«

»Hier, Herr Doktor?« Ein triumphierendes Lächeln. »Nein, Sie irren! In diesem Schreibtisch lag kein Testament. Ich habe sofort nach dem Hinscheiden des Oheims die Schlüssel an mich genommen, alles Wichtige durchgesehen – auch im Schreibtisch. Natürlich zweifle ich keineswegs an Ihren Worten, Herr Doktor! Es mag sein, daß der Freiherr in einem Testament genauere Bestimmungen traf. Daß aber niemand anders als meine Schwester und ich als Haupterben vorgesehen sind, dürfte doch außer Frage stehen!«

Arvelin unterdrückte die Worte, die ihm auf der Zunge schwebten. Bei der Lage der Sache wäre es verkehrt gewesen, die Dinge aufs Äußerste zu treiben. Er hielt es für ausgeschlossen, daß der Freiherr sein Testament vernichtet habe. Der anfängliche Verdacht, Harrach habe es an sich genommen, war im Laufe der Unterredung geschwunden. Er kannte Franz Harrach genau. Hätte er sich schuldig gefühlt, würde er ihn längst durchschaut haben.

»So wird es Sache des Gerichtes sein, den Verbleib des Testamentes festzustellen«, sagte er gelassen, verabschiedete sich, ging zu seinen Räumen.

Mit zitternden Händen schloß er hier seinen Schreibtisch auf. Die Schlösser daran waren von kunstvoller Arbeit. Nur ein Fachmann konnte sie ohne Beschädigung öffnen.

Hastig durchwühlte Arvelin ein Fach. Atmete erleichtert auf, als er einen Brief fand, den der Freiherr an ihn gerichtet. Der Inhalt besagte, daß der Baron von Winterloo Doktor Arvelin zu seinem Testamentsvollstrecker ernannte. Als der Freiherr sein Testament geschrieben, war die Seite mit den letztwilligen Verfügungen restlos ausgefüllt. Er hatte deshalb die Bestimmung über den Testamentsvollstrecker auf einen besonderen Bogen geschrieben und Arvelin, der gerade dazukam, gebeten, das Papier an sich zu nehmen.

Er hatte noch hinzugefügt: »Mag auch das Testament, wenn kein brasilianischer Winterloo mehr lebt, wieder geändert werden müssen, diese Bestimmung bleibt auf jeden Fall in Kraft!«

Sorgfältig barg Arvelin das Schriftstück in seiner Brusttasche. Jetzt sah er den Weg klar vor Augen, den er gehen mußte. –

Die Nacht war schon längst hereingebrochen, als ein Wagen vorfuhr, der Adeline Harrach zum Schloß brachte. Franz führte seine Schwester in das Arbeitszimmer, erzählte ihr von Arvelins Hiersein und seiner Unterredung mit ihm.

»Du weißt bestimmt, Franz, daß es nicht im Schreibtisch liegt?«

»Adeline! Nicht einmal – zehnmal hab' ich den Schreibtisch durchstöbert!«

»So ist es eben woanders und aller Wahrscheinlichkeit nach in diesem Zimmer. Daß der Onkel es vernichtet hat, halte ich für ausgeschlossen. Wir hörten ja seinerzeit aus dem belauschten Gespräch, wohin seine Pläne gingen. Ich werde dir beim Suchen helfen. Doch zuvor will ich mir noch eine Erfrischung bringen lassen. Wer weiß, ob wir heut nacht zum Schlafen kommen?«

Sie klingelte, ließ sich einen kleinen Imbiß geben. Noch während sie aß, begann sie mit Franz die Durchsuchung des Zimmers. Der Schreibtisch interessierte Adeline am meisten. Mit einem Zentimetermaß prüfte sie all seine Abmessungen, besonders die der Schubkästen. Vielleicht konnte das Testament in einem Geheimfach verborgen sein.

Endlich gab sie ihr Mühen auf. »Der Teufel mag den Schreibtisch holen! Finden wir das Testament hier oder woanders im Schlosse nicht, zerschlage ich das Möbel und werfe es stückweis in den Ofen. Dann muß das Testament, wenn es doch darin steckt, mit verbrennen!«

Der Zeiger auf der Uhr hatte die Mitternacht überschritten. Unermüdlich spürten die Geschwister Stück für Stück der Zimmereinrichtung durch.

»Du warst doch in den letzten Tagen vor dem Tode des Oheims hier, Franz. Kannst du dich erinnern, daß er einmal diese Räume verließ? Vielleicht, daß er es doch woanders versteckt hätte?«

Franz schüttelte den Kopf. »Nein! Ich bin ihm ja stets auf den Fersen geblieben. Am Tage vor seinem Tode hat er allerdings das Zimmer verlassen, ist in meiner Begleitung in den Garten gegangen und war dann kurze Zeit im Mausoleum. Ich mußte, weil ich etwas vergessen hatte, ins Schloß zurück. Das dauerte nicht lange.«

Adeline öffnete bedeutsam die Augen. »Ah – im Mausoleum? So müssen wir auch dort suchen! Es wäre nicht unglaubhaft, daß er – –«

»Wo sollte er's da verstecken?« Franz zuckte unbehaglich die Achseln.

»Einen Versuch wenigstens müssen wir machen«, entschied Adeline. »Wenn nicht heute, so an einem der nächsten Tage.«

Noch einmal begannen sie das Zimmer zu durchforschen. Dann ließen sie ermüdet die Hände sinken.

»Für heute ist's genug, Adeline! Wir haben hinreichend Zeit. Morgen werden wir unsere Bemühungen fortsetzen.«

Adeline verabschiedete sich, ging zur Tür, öffnete sie. Besann sich, kam noch einmal zu ihrem Bruder zurück. »Wo ist Arvelin gewesen?«

Franz wiegte den Kopf. »Ich habe ihn nicht gefragt. Das hätte auch keinen Zweck. Er würde es mir nicht sagen.«

»Nun ja, er war drüben in Brasilien, um den jungen Winterloo zu suchen. Darüber gibt's ja keinen Zweifel. Es wäre nur interessant, zu wissen, ob er ihn gefunden hat.«

Der Parkettboden nahe der Tür knarrte leise, als schritte jemand darüber. Unwillkürlich sprangen beide auf, schauten hinaus. Adeline schaltete geistesgegenwärtig die Lampe ein, die den langen Korridor erleuchtete.

Niemand zu sehen! Doch da wieder ein Knarren des Bodens . . . Franz unterdrückte nur mit Mühe einen Schrei des Schreckens. Er klammerte sich an Adelinens Arm. »Da geht jemand!«

In diesem Augenblick strich ein Luftzug über sein Gesicht, als wäre irgendwo eine Tür geöffnet. Entsetzt wankte Franz ins Zimmer zurück. Adeline blieb stehen, lauschte angestrengt. Da schrak auch sie zusammen. Sie fühlte sich am Arm gepreßt. Hastig drehte sie sich um, lachte laut heraus . . . vergaß im Nu den Schreck, als sie die Hand ihres Bruders an ihrem Arm sah und in dessen totenblasses Gesicht blickte.

»Franz! Schämst du dich nicht vor mir? So ein Hasenfuß! Glaubst wohl gar, der alte Freiherr ginge hier um? Die Geisterstunde ist längst vorüber! Doch ich will dich entschuldigen. Deine Nerven sind durch die Aufregung über dies verborgene Testament stark mitgenommen. Geh jetzt zu Bett! Nimm ein Schlafpulver! Morgen gibt's neue Arbeit. Vergiß nicht, Morawsky zu instruieren, daß er Arvelins Tun und Treiben genau beobachtet!« – – –

Es war am folgenden Nachmittag. Die Geschwister hatten sich nach der Mittagsmahlzeit zur Ruhe hingelegt. Ein Wagen fuhr vor, brachte Notar Hartwig aus Neustadt, einen alten Bekannten Arvelins, den er telephonisch zu sich gebeten. Lange saßen sie in Arvelins Zimmer zusammen.

»Ich habe die beste Hoffnung, mein lieber Dr. Arvelin, daß alles nach Wunsch verlaufen wird. Der Brief des Freiherrn, in dem er Sie zum Testamentsvollstrecker ernennt, muß die Bedenken des Nachlaßrichters zerstreuen. Ich denke auch im Laufe des morgigen Tages eine Verfügung zu erwirken, die allem Rechnung trägt. Vor allem natürlich den Harrachs das weitere Verweilen im Schloß untersagt. Wie sich der Nachlaßrichter zu Ihren sonstigen Wünschen stellt, das kann ich vorläufig nicht überschauen. Das eine möchte ich Ihnen natürlich ans Herz legen: daß der mutmaßliche Erbe, Oswald Winterloo, sich sobald wie möglich in den Besitz von beweiskräftigen Papieren setzt, die ihn gerichtlich legitimieren.«

*

»Es tut mir von Herzen leid, lieber Droste, daß Sie unseres großen Unternehmens halber gezwungen sind, bis morgen hierzubleiben. Ich kann es wohl verstehen, wie es Sie mit allen Fasern Ihres Herzens nach Winterloo zieht, um an der Leiche Ihres teuren Beschützers zu weilen. Morgen fliegen wir zusammen übers Meer, um dem Toten die letzte Ehre zu geben. Auch mir ist das heilige Pflicht. Wo wären wir ohne sein Geschenk dieser genialen Erfindung? Stürzen Sie sich bis dahin mit doppeltem Eifer in die Arbeit, um Ihr Leid zu vergessen! Die Gelder von Truxton & Co. wirken tatsächlich Wunder. Was die kleine finnische Werft hier in der kurzen Zeit schon geleistet hat, übersteigt meine kühnsten Hoffnungen.«

Kapitän Wildrake deutete auf den schnittigen Eisenbau, der aus Spanten und Blechen auf der Helling emporwuchs.

»Hallo, da drüben!« riefen ein paar von den Arbeitern, deuteten in die Luft, wo ein paar große Lastflugzeuge heranschwebten. »Paßt gut, daß sie kommen!«

Droste hatte ebenfalls den Kopf in die Höhe gerichtet. »Wahrhaftig, Wildrake: In England scheinen Zauberhände zu wirken! Die neuen Teile sind schon da! Hauptsächlich wohl auf Lord Truxtons Betreiben. Für ihn ist unser Unternehmen Sport. Und in dieser seiner Sportbegeisterung kennt er nicht Maß und Ziel. Ich bin überzeugt, er denkt kaum noch an die Geschäfte seiner Kompaniefirma – überlegt bei Tag und Nacht, wie er uns helfen kann.«

Die Schiffe landeten. Ein Schwarm von Arbeitern machte sich daran, sie zu entladen. Der Werftleiter, ein hochgewachsener junger Mann mit energischen Zügen, war herangetreten.

»Neues Futter für Sie, Herr Tolmänen!« sagte Wildrake. »Wenn die deutschen Bestellungen ebenso prompt ausgeführt werden wie die englischen, sehe ich unser Fahrzeug in spätestens fünf Wochen Finnlands Boden verlassen. Tun Sie nur alles, um den Bau zu beschleunigen. Sie werden ja aus dem Briefwechsel mit Truxton & Co. gemerkt haben, daß Geld keine Rolle spielt.«

Tolmänen nickte lachend. »Wünschte nur, ich bekäme mehr solcher Aufträge!« Und er sah dabei Droste an, der den Blick des Finnen ruhig aushielt.

»Es wäre nicht ausgeschlossen«, begann Droste nach einigem Überlegen, »daß unsere Geschäftsverbindung später erneut und wieder recht lebhaft werden könnte. Sie haben jedenfalls den Beweis geliefert, daß wir bei Ihnen vor die rechte Schmiede gekommen sind. Sie mißverstehen mich auch nicht, Herr Tolmänen, wenn ich Sie nochmals bitte, stets daran zu denken, daß hier eine englische Firma ein Sonderboot für Sportzwecke auf Grund einer Wette im geheimen bauen läßt.«

Der Finne reichte Droste lachend die Hand. »Auf mich dürfen Sie sich verlassen, mein Herr! Doch können Sie mir das Denken nicht verbieten –!«

»Gut, Herr Tolmänen!« Wildrake schlug ihm auf die Schulter. »Denken Sie für sich, was Sie wollen! Später werden Sie die Gründe begreifen, die uns abhielten, selbst einen ehrlichen Mann wie Sie in unsere Gedanken einzuweihen.« –

»Wollte Gott, daß auf Santa Maria die Arbeit ebenso glatt vonstatten geht«, sagte Droste, als sie wieder allein waren.

». . . und auch«, fügte Wildrake hinzu, »daß Maria Anunziata sich wohlbefindet. Ich werde eine unbestimmte Unruhe nicht los. Besser, sie wäre bei Edna in England. Sonderbar, daß wir schon seit vorgestern keine Radionachricht von Santa Maria bekamen. Ein paar kurze, nichts verratende Zeichen, die uns wissen lassen, daß dort alles in Ordnung ist, könnten sie doch täglich ohne Gefahr geben.«

»Der Sender war nicht gut, Wildrake. Er ist schwer zu bedienen. Ich mache mir keine Sorgen. Hoffe bald wieder befriedigende Nachricht zu hören.«

*

»Ah, jetzt hab' ich den Fehler«, rief Barradas triumphierend. »Seht ihr! Es war doch richtig, wie ich's sagte: Das kleine Potentiometer ist die Quelle der ganzen Störung. Eine kurze Weile, dann wird der Sender zu unserer Zufriedenheit funktionieren.«

Bei seinem lauten Rufen war Maria Anunziata an der Tür der Hütte erschienen.

»Gleich wird der Sender arbeiten!« rief Barradas.

Maria Anunziata winkte mit freudestrahlendem Gesicht. »Oh, wie bin ich froh, Señor Barradas! Darf ich nicht selbst die Zeichen geben?«

»Gewiß, Santa Maria!« Barradas nannte sie nie anders als mit diesem Namen. »Haben wir zwei Tage geschwiegen, mag's auf ein paar Worte mehr nicht ankommen! Der Teufel soll den holen, der uns anpeilt.«

Von Barradas' Hand geleitet, gab Maria die Morsezeichen, auf die Wildrake so ungeduldig wartete. Sann dann einen Augenblick. Gab errötend lächelnd ein paar Liebesworte hinzu.

»In einer Woche«, begann Barradas, »werden wir hoffentlich melden können, daß unsere Turbine läuft.«

Er ging, Maria am Arm führend, zu der Barre. Calleja und Alvarez waren beschäftigt, mit Hilfe eines Motorkranes das Gehäuse der Turbine an Ort und Stelle zu setzen. Sie winkten Barradas zu.

»Ich lasse Sie jetzt allein, Santa Maria. Muß den Kameraden helfen. Ist schwere Arbeit da drüben.«

Maria Anunziata reichte ihm die Hand, legte sich in den weißen Sand nieder. »Wenn Sie zur Mahlzeit gehen, nehmen Sie mich wieder mit, Señor Barradas!«

Ja, es war schwere Arbeit, die die drei hier zu leisten hatten. Hätte Droste nicht für Hilfsmittel jeder Art gesorgt, wäre es kaum möglich gewesen, die Aufgabe zu bewältigen. Doch dank dieser Maßnahmen ging es verhältnismäßig schnell und leicht.

Droste hatte ein genaues Programm für ihre Tätigkeit aufgestellt. Hatte dabei für jede vorkommende Schwierigkeit Winke an den Rand notiert. Gut, daß der Indianerjunge da war! Er konnte ihnen viele der kleinen Handreichungen, die sie sonst aufgehalten hätten, abnehmen. So wurde das Unmögliche geschafft: Ohne nennenswerte Zwischenfälle ging die Arbeit gut vonstatten. Wenn nicht ein besonderes Hindernis eintrat, mußte die Station fertig sein, wenn Wildrake und Droste kamen.

*

Tejo saß in William Hogans Haus in Rio. Seine Züge schienen abgespannt, übermüdet. Er war vor einer Viertelstunde gekommen, um Bericht zu erstatten. Hogan, der bisher geschwiegen, lachte kurz auf. »So war's doch ein Irrtum, Herr Major? Hm!« Er schüttelte zweifelnd den Kopf. »Doch immerhin, ich bewundere Ihren Mut! Sie wagten es, mit falschen Pässen über die Grenze zu reisen. In Caracas, San Fernando, bei den Indianern, im Urwald nach Hauptmann Winterloo zu forschen. Und nach dem, was Sie mir eben erzählten, kann es doch keinem Zweifel unterliegen, daß da unten keinesfalls Komödie gespielt wurde. Es war bittrer Ernst. Unglaublich töricht von diesem Hauptmann, solch unbesonnenen Schritt zu tun! Aber die Gründe liegen ja jetzt klar zutage: Er wollte seine Mutter abhalten, diesen zweifelhaften Hidalgo zu heiraten – es ist zu begreifen.«

Er drehte sich um, schritt zum Schreibtisch, auf dem der Ticker zu arbeiten begann. »Sie entschuldigen mich einen Augenblick, Herr Major.«

Tejo lehnte sich nachdenklich im Stuhl zurück. Die vielen Gefahren, die er bei seiner Erkundungsreise zu überstehen gehabt, hatte er im Gespräch gar nicht erwähnt. Aber er wollte – und wenn es sein Leben gekostet hätte – Klarheit gewinnen über Winterloo. Und er hatte sie gewonnen.

Verrat, schimpflicher Verrat war's, den Winterloo an ihm, an Victorine geübt. Diese Edna Wildrake hatte ihn umgarnt, daß er alles vergaß: das heilige Andenken an die von Ednas Bruder gemordete Braut, die langjährige Freundschaft mit ihm selbst. Unmöglich, daß ein Zufall Winterloo und Edna in dem Indianerdorf zusammengebracht hatte. Sie standen in Verbindung miteinander. Schon um ihre Befreiung in Bahia hatte er, wenn auch kaum als direkt Beteiligter, wahrscheinlich gewußt.

Das Verhältnis zwischen den beiden – bereits während der Gefangenschaft Edna Wildrakes hatte es sich ja angesponnen. Und warum ging Edna Wildrake gerade nach San Fernando, wo seine Mutter wohnte? Sicherlich doch Verabredung! Nur blinde Liebesleidenschaft konnte Winterloo veranlaßt haben, sich nach Venezuela zu wagen.

Tejo knirschte mit den Zähnen. Strafe des Himmels wäre es gewesen, wenn der Ungetreue unter den Kugeln der Exekutionssoldaten sein Leben ausgehaucht hätte. Wäre es doch geschehen! Tausendfach hatte er ja diesen Tod verdient für seinen schmählichen Verrat! Doch ein Teufel hatte ihn gerettet, jener Alte, in dessen Flugzeug er dann aus der Caraibenstadt weggeflogen.

Immer wieder hatte Tejo sich dessen Persönlichkeit beschreiben lassen. Wer war der unbekannte Helfershelfer, den die Hölle entsandt hatte? Endlich war ihm die Erleuchtung gekommen: Die Beschreibung paßte vollkommen auf den Freund des Freiherrn, den er in Schloß Winterloo gesehen hatte.

Doch wie kam der nach Venezuela? Wie konnte es geschehen, daß der Verurteilte im letzten Augenblick noch befreit werden konnte? Hier versagte jegliche Kombinationskunst. Doch auch das mußte er ermitteln. Traf es doch so gut mit seinen anderen Plänen zusammen. Vergeblich hatte er alle Mittel erschöpft, die Spur von Robert Wildrake und Droste zu erkunden. Nur in Schloß Winterloo durfte er hoffen, das Ende des verlorenen Fadens wiederzufinden. Und dabei würde sich auch das Dunkel um Winterloo aufhellen lassen. Vielleicht, daß er jetzt mit Edna in Deutschland weilte. Er war ja der gesuchte Erbe. Wildrake und Droste dazu – man könnte möglicherweise das Nest mit allen vieren darin ausheben.

Wie hatte doch Hogan gesagt: Ich decke alles, was Sie tun. Bringen Sie Wildrake und Droste zur Strecke! Was verschlug's, wenn er dabei die eigene Rache kühlte, den Verräter samt seiner Geliebten vernichtete . . .

Hogan räusperte sich, schob die Papiere ärgerlich von sich. »Es geht auch Sie an, Herr Major. Sehen Sie hier! Der erste Schlag ist vorbeigegangen. Ich glaubte die Stellung des Außenministers erschüttert, doch der Präsident hat ihn noch gehalten. Nun – lassen Sie sich dadurch in Ihren Plänen nicht stören! Fällt Torno nicht heut, so fällt er morgen!«

Tejo nickte. Sein Auge ging suchend über den Schreibtisch. Die Photographie war verschwunden. Er wollte eine Bemerkung machen, unterdrückte sie. Doch Hogan schien seine Gedanken erraten zu haben.

»Ich danke Ihnen übrigens für das mir zugesandte Bild dieses Droste. Sie täuschen sich, Herr Major! Von Ähnlichkeit war wenig zu sehen. Wäre ja auch höchst sonderbar. Jene Dame war eine Engländerin, Droste ist Deutscher. Ein Irrtum, wie gesagt. Doch, um auf unsere Angelegenheit zurückzukommen: Es ist selbstverständlich am ratsamsten, daß Sie sofort Schloß Winterloo aufsuchen. Selbst wenn Wildrake und Droste nicht mehr dort sind – die Beerdigung des Freiherrn ist ja schon heute –, finden Sie doch vielleicht eine brauchbare Handhabe.«

*

Es war der Tag nach der Beerdigung des Freiherrn. Ein Wagen fuhr vor Schloß Winterloo vor.

»Melden Sie Herrn Harrach Senhor Remedio!«

Eine Minute später stand Tejo Franz und Adeline im Bibliothekzimmer gegenüber. Er sprach ein paar Worte des Bedauerns, kam dann sofort zu dem Zweck seines Besuches. Zu seiner Freude gingen die beiden eifrig darauf ein. Im stillen hatte er gefürchtet, daß sie, im Besitz der reichen Erbschaft, kein Interesse mehr für seine Pläne haben würden.

»Es war mir außerordentlich wertvoll, daß Sie mir das Hiersein von Wildrake und Droste nach Rio de Janeiro meldeten. Habe ich doch nun wenigstens eine Spur von den beiden. Aber wissen Sie vielleicht auch, woher sie kamen? Und wohin sie sich dann gewandt haben?«

Die Geschwister verneinten. »Wir nehmen an, daß sie aus England gekommen sind und dorthin zurückkehrten.«

»Es wäre das Nächstliegende. Aber gerade deshalb glaub' ich's nicht. Doch einerlei! Es ist nicht anzunehmen, daß sie das letztemal hiergewesen sind. Der eine oder andere von ihnen, vielleicht auch alle beide, wird sicher einmal wiederkommen. Wann, ist allerdings ungewiß. Doch das muß ich in Kauf nehmen. Um möglichst nahe bei Winterloo zu bleiben, werde ich die nächste Zeit in Warschau wohnen. Selbstverständlich treffe ich alle Vorbereitungen, damit, wenn eines Tages Meldung von Ihnen kommt, die Aktion sofort beginnen kann.«

Er hielt inne, betrachtete erstaunt die Geschwister. Franz Harrach war augenscheinlich sehr verlegen. Adeline hatte sich zornigen Gesichts erhoben.

Tejo begann stockend: »Ich weiß nicht . . . verstehe nicht, warum Sie Ihr Benehmen so plötzlich ändern, meine Herrschaften.«

»Wir müssen morgen das Schloß verlassen«, klang Adelines scharfe Stimme vom Fenster her. »Unter dem Vorwand, es existiere ein Testament, worin der Verstorbene einem brasilianischen Winterloo den Hauptteil seines Eigentums vermacht habe, hat Dr. Arvelin – Sie wissen ja, der Freund des alten Freiherrn – eine gerichtliche Verfügung gegen uns erwirkt. Ein Nachlaßpfleger soll die Erbmasse so lange verwalten, bis das vorgebliche Testament gefunden ist. Als Frist sind fünf Monate gesetzt.«

»Ah!« Tejo überlegte: Das war also die Lösung des Rätsels! Er hatte eigentlich erwartet, die Harrachs in Dobra zu finden. Hatte nur aus einem plötzlichen Einfall heraus Winterloo aufgesucht. Wußte er doch aus dem Munde des alten Freiherrn selbst, daß der Oswald Winterloo zum Erben bestimmt hatte und ihn in Amerika suchen ließ. Und nun war das Testament abhanden gekommen? Tejo warf einen Seitenblick auf die Geschwister. Die mochten wohl wissen, wohin es verschwunden war! Immerhin – es blieb eine Genugtuung, zu wissen, daß der verhaßte Hauptmann um das reiche Erbe betrogen sei.

»Hm – sehr fatal, meine Herrschaften! Und störend für meine Pläne!«

»Nicht doch, Senhor Remedio!« sagte Franz Harrach. »Wir haben vertraute Leute hier. Der Weg nach Dobra ist kurz. Über alle Vorgänge im Schloß werden wir ständig auf dem laufenden gehalten. Es läßt sich auch einrichten – mit erheblichen Kosten –, daß eine geheime Telephonverbindung zwischen Winterloo und Dobra hergestellt wird. Lassen sich also die von Ihnen Gesuchten hier blicken, so würden Sie das in Warschau in kürzester Zeit erfahren.«

»Gut!« lobte Tejo. »Meine Warschauer Adresse bleibt für Sie die alte. Ich hoffe, bald Günstiges von Ihnen zu hören.«

*

William Hogan sah erstaunt auf, als ihm Tejo gemeldet wurde. Er ging dem Eintretenden entgegen.

»Hallo, Herr Major! Ist etwas Besonderes vorgefallen? Ich glaubte Sie auf Ihrem Posten. Doch kommen Sie, setzen Sie sich! Ich sehe, Sie haben einiges auf dem Herzen.«

»Ich darf wohl der Reihe nach berichten, Senhor Hogan? Es wird dann alles leichter verständlich. Sie wissen, daß ich meine vorgesetzte Behörde in meine Reise nach Venezuela und ihre Ergebnisse einweihte. Und daß ich neben meinem Auftrag, Wildrake betreffend, mich damit beschäftigte, das Leben und Treiben des Hauptmanns Winterloo zu beobachten.

Die Gründe waren zunächst mehr persönlicher Natur. Doch allmählich gelangte ich zu der Einsicht, daß Winterloos Verhalten Staatsinteressen berührt. Ich stellte fest, daß er auf seiner Flucht von San Fernando mit jener Edna Wildrake nach London gekommen war und dort im Hause eines Lord Truxton sich einige Zeit aufhielt. Der ist Teilhaber der Firma Truxton & Co. Und bei seinem Kompagnon James Wildrake, einem Verwandten des Kapitäns Robert Wildrake, weilt Edna Wildrake zu Gast.

Oswald Winterloo ist seit kurzem in seinem Büro in Rio de Janeiro tätig. Er steht jedoch in dauernder brieflicher Verbindung mit dem englischen Hause Wildrake. Ich berichtete darüber meiner Behörde. Diese zog aus dem merkwürdigen Verhalten des Hauptmanns Schlüsse, die für Winterloo nicht günstig waren. Beorderte mich nach Rio, damit dort in meinem Beisein der Verdächtige verhört werde.«

»Ah! Das ist allerdings sehr interessant, Herr Major! Und das Ergebnis?«

Tejo zuckte die Achseln. »Winterloo leugnete nichts. Die Erklärungen, die er für die Häufung von sonderbaren Zufällen gab, wären durchaus glaubwürdig, wenn nicht eben schon von früher her der Argwohn bestanden hätte, er habe die Befreiung der Edna Wildrake stillschweigend geduldet. Dieser Verdacht wurde von ihm während des Verhörs noch in ungeschickter Weise verstärkt, denn er hielt mit seiner mir schon bekannten Ansicht, daß Fräulein Wildrake vollkommen unschuldig sei, nicht zurück.«

»Und weiter?«

»Wie man in einem eventuellen Ehrengericht darüber entscheiden würde, weiß ich nicht. Hat Oswald Winterloo die Wahrheit gesprochen, so ist ihm kein Vorwurf zu machen. Oder höchstens der einer unklugen Handlungsweise.«

William Hogan nickte. Sprach dann mit seltsam bewegter Stimme: »Und wäre es nicht wahr, müßte er diese Edna Wildrake sehr liebhaben.«

Tejo war einen Augenblick starr. Solche Worte aus dem Munde dieses Mannes? Doch ehe er noch weiterdenken konnte, fuhr Hogan in seinem gewohnten Tone fort: »Ich vermute, Sie kamen zu mir, um die Gelegenheit zu benutzen, mir einiges über Wildrake zu erzählen. Ich muß gestehen, das Warten wird mir lang. Hat den Kerl die Erde verschlungen? Unter Ihren Leuten befinden sich doch bewährte Kriminalisten!«

Tejo schüttelte mit düsterem Gesicht den Kopf: »Ich weiß nur das eine: In England sind Kapitän Wildrake und Droste nicht.«

»Ah –. Droste! Glauben Sie bestimmt, daß er in Wildrakes Gesellschaft ist? Weshalb?«

Wieder eine zweifelnde Geste Tejos. »Ich nehme es an. Mein Instinkt sagt es mir – Beweise habe ich nicht. Sicher ist, daß die beiden sich vor jener Affäre bei der Insel Aruba nicht gekannt haben. Meine Ansicht wird jedoch durch die Tatsache unterstützt, daß beide zusammen an der Beerdigung des Freiherrn von Winterloo teilgenommen haben.«

»Allerdings, das ist auffällig. So haben Sie also gar nichts weiter ermitteln können?«

»Nein. Einen merkwürdigen Umstand nur möchte ich noch erwähnen. Die beiden sind im Besitz eines Flugzeuges, das eine außerordentliche Geschwindigkeit entwickelt.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich besuchte natürlich den Flughafen in Neustadt, einem Städtchen bei Schloß Winterloo, von wo sie nach der Beisetzung des Freiherrn abgeflogen waren. Man sagte mir, daß sie, kaum aufgestiegen, schon aus der Sicht entschwunden seien. Es scheint, als ob diese Maschine das Flugzeug jenes Dr. Arvelin wäre. Der hat, wie ich feststellte, von San Fernando aus mit Winterloo und Edna Wildrake an Bord in sechs Flugstunden London erreicht.«

»Ah!« Hogan schlug mit der Hand auf den Tisch,. »Undenkbar! Wie wäre das möglich?«

»Ein Rätsel! Und doch – es ist so! Mein Wort darauf!«

»Und Wildrake und Droste sind Bekannte oder Freunde dieses Dr. Arvelin?«

»Gewiß, Senhor Hogan.«

»Dann müßten sie oder er im Besitze eines Flugzeuges mit außerordentlichen Motoren sein oder mit einem neuen Treibstoff, der solche Geschwindigkeiten ermöglicht. So oder so: Derartige Flugzeuge in feindlicher Hand sind eine schwere Gefahr. Immer mehr verstärkt sich meine Überzeugung, daß dieser Wildrake und der – der andere sobald als möglich unschädlich gemacht werden müssen.« Hogan machte eine Pause, fuhr dann fort: »Um so mehr, als der Krieg mit Venezuela voraussichtlich weitergeht.«

»Ah!« In Tejos Augen leuchtete es auf. »Das wäre – –«

Hogan nickte. »«Wenn nicht ein Wunder geschieht, werden die Friedensverhandlungen demnächst abgebrochen und die Feindseligkeiten wieder eröffnet werden. Zum Verständnis kurz ein paar Andeutungen: Unsere Ansprüche auf das Gebiet bis zum Ventuari werden seit einiger Zeit von der venezuelischen Delegation heftig bekämpft. Ich ließ nach dem Grund dieses Stimmungsumschwunges forschen. Sie erinnern sich jenes Obersten Guerrero? Nun, der Mann scheint Ehrgeiz zu besitzen. Hat sein Haus zur Tummelstätte der unzufriedenen Patrioten Venezuelas gemacht. Augenscheinlich ist ein Putsch in Vorbereitung. Die Stimmung in Venezuela ist jedenfalls so, daß es keines großen Aufruhrs bedarf, die jetzige Regierung zu stürzen. Die Delegierten Venezuelas in Manaos drehen den Mantel nach dem Winde. Sie scheinen großes Vertrauen in Guerrero und seine Partei zu setzen.«

»Nichts Besseres könnte passieren!« erwiderte Tejo mit freudig erregter Stimme. »Dann dürfte der Spaziergang nach ›Caracas‹ doch noch wahr werden, könnte unsere Hoffnung auf die neuen Mitglieder der Union sich erfüllen.«

Hogan kniff kurz die Augen zu, wiegte unsicher den Kopf. »Eine spätere Sorge, mein lieber Major. Vorerst gilt es, den Konflikt so schnell wie möglich mit Waffengewalt zu beenden. Ich lege jedenfalls den größten Wert darauf, daß dieser Wildrake und seine Kumpane schnellstens aufgespürt werden. Tun Sie alles, was Ihnen geeignet erscheint, das Land von diesem gefährlichen Feind zu befreien. Ich hoffe, daß er nicht gerade in Ihrer Abwesenheit das Schloß Winterloo besucht. Oder –?«

»Es würde mir leid tun, Senhor Hogan, wenn ich nicht dabei wäre. Doch einerlei – meine Maßnahmen sind so getroffen, daß auch ohne meine Anwesenheit alles klappen wird.«

*

Als Tejo gegangen war, rief Hogan den Diener. »Sie meldeten mir vorher einen Besucher. Führen Sie den Herrn herein!«

Ein Mann in mittleren Jahren trat ein, nahm auf dem gebotenen Stuhl Platz.

»Nun, Senhor Moleiro, was können Sie mir berichten?«

»Ich kam nach Brookland, begann mich zunächst nach den noch lebenden Mitgliedern der Familie Doherty zu erkundigen. Der jetzige Besitzer von Doherty-Hall, Sir Philipp Doherty, ist im Kolonialdienst beschäftigt. Die Eltern sind verhältnismäßig früh gestorben. Ebenso die ältere Schwester Philipp Dohertys, Vivian.« Moleiro holte ein Notizbuch aus seiner Tasche, berichtete an Hand seiner Aufzeichnungen weiter. »Sie ertrank im Alter von zwanzig Jahren im Wyan-River, wie man sagte.

Der Zufall führte mich bei einem Gang am Flußufer zu einer Fischerhütte. Ich fürchtete, im Abenddunkel den Heimweg in dem dichten Unterholz zu verfehlen, und trat ein. Eine Frau in mittlerem Alter war darin, um sie herum eine Schar von Kindern, Der Mann draußen beim Fischfang. Die Frau war gern bereit, mir den Weg zu weisen. Wollte jedoch erst die Kinder zu Bett bringen. Währenddes unterhielten wir uns, kamen auch auf Doherty-Hall und jene alten Ereignisse zu sprechen.

Mir fiel es auf, wie die Frau, die bis dahin offenherzig über alles mögliche geplaudert hatte, plötzlich zurückhaltend wurde. Das machte mich stutzig. Nach langem Mühen, und nachdem ich jedem der Kinder ein ansehnliches Geldstück in die Hand gesteckt, gelang es mir, alles Wissenswerte aus ihr herauszuziehen. Was ich erfuhr, war zweifellos die Wahrheit. Danach steht fest, daß Vivian Doherty in dem Fluß, wo sie den Tod suchte, nicht ums Leben kam –«

Ein Tischchen neben William Hogan, der im Schatten einer Stehlampe saß, fiel polternd um. Moleiro wollte aufspringen, doch der andere hielt ihn zurück.

»Eine kleine Ungeschicklichkeit von mir! Doch sprechen Sie weiter!«

»Sie wurde gerettet. Von einem Manne, über dessen Persönlichkeit ich nichts Näheres erfahren konnte. Er brachte sie in diese Hütte, in der ich mich befand und die damals einer alten Verwandten der jetzigen Bewohnerin gehörte. In dem Bett dieser Frau hat Vivian am nächsten Morgen ein Kind geboren. Bald darauf starb die junge Mutter. Das Kind blieb bei der Alten und wurde später von jenem Manne, der die Lebensüberdrüssige aus den Fluten zog, abgeholt. Über das Geschlecht des Kindes wußte die Frau nichts.

Zunächst vermochte ich einige Zweifel nicht zu unterdrücken. Verwies die Erzählende darauf, es ginge doch allgemein das Gerede, Vivian Doherty sei ertrunken, ihre Leiche niemals gefunden – –

Die Frau kämpfte offensichtlich mit sich, mir ihr allerletztes Geheimnis zu offenbaren. Endlich stand sie auf, bat mich ihr zu folgen. Sie ging durch einen kleinen, verwilderten Garten. An seinem Ende, an einer Stelle, die frei war von dem sonst überall wuchernden Unkraut, stand sie still und sagte: ›Hier liegt Vivian Doherty begraben!‹

Ich erkannte in der Abenddämmerung eine schwache Erderhöhung ohne jedes Erinnerungszeichen. Wäre die Sache irgendwie von Bedeutung, müßte man das Grab öffnen lassen. Aus den Leichenresten, falls solche da lägen, wäre doch unschwer zu ermitteln, ob die Angaben stimmen.«

Moleiro sah fragend nach Hogan hinüber. Der wischte mit einem Tuch die Stirn, als ob ihm zu heiß wäre, sagte kurz: »Fahren Sie fort!«

Moleiro begann jetzt über Sir Philipp zu sprechen – sprach . . .

William Hogan lag in seinen Stuhl zurückgelehnt, hatte die Hand über die Augen gedeckt. Es machte den Eindruck, als hörte er sehr aufmerksam zu. In Wirklichkeit vernahm er kein Wort von dem, was Moleiro ihm vortrug. Nur übermenschliche Selbstbeherrschung hielt ihn ab, aufzuspringen, hinauszueilen, irgend etwas Gewaltsames zu unternehmen, um seinem Herzen Luft zu machen. Auf ein Pferd – in die Nacht hinaus – oder ans Steuer seines tausendpferdigen Wagens . . .

Erst nach geraumer Weile gelang es ihm, wieder Herr seiner Sinne zu werden. Doch nur allmählich kam er dazu, seine Gedanken in klare Bahnen zu lenken.

Ein Ziel vorerst! Es war unbedingt notwendig, das Grab zu öffnen. Was barg es? Das Wie war bedeutungslos. Ein Arzt, ein Anatom mußte mit unbedingter Sicherheit feststellen können, ob es Vivian Doherty sein mochte, die da bestattet lag.

So versunken in den Gedanken, sich Gewißheit um jeden Preis zu verschaffen, merkte er erst nach mehrmaligem Geräusper Moleiros, daß der seinen Bericht beendet hatte und auf neue Weisungen wartete.

»Sie können jetzt gehen, Moleiro! Ihr Bericht war gut.«

*

Arvelin trat aus seinem Zimmer, schritt die Treppe hinab. Die Uhr hatte die siebente Stunde geschlagen. Er ging in den Garten, begegnete Morawsky, der, die Gartengeräte auf der Schulter, sich anschickte, nach Hause zu gehen. Morawsky wohnte nicht im Schlosse selbst, sondern in einer der Katen beim Gutshof.

Durch ein Gebüsch versteckt, sah Arvelin, wie Morawsky sein Handwerkszeug in den Schuppen stellte und den Garten verließ. Wie zufällig nahm auch Arvelin den gleichen Weg. Er sah, wie Morawsky zunächst den Pfad nach dem Gutshof einschlug, dann aber auf einem Feldweg nach Osten ausbog, der zu dem großen Wald an der Grenze führte.

»Also doch!« murmelte Arvelin vor sich hin. »Lange Jahre schon ist er hier, hat nur Gutes genossen – und ist trotzdem zum Verräter geworden!«

Schon längst hatte er ihn im Verdacht. Seit dem Tode des Freiherrn war der alte Friedrich häufig unpäßlich. Morawsky übernahm dann wohl aushilfsweise dessen Obliegenheiten.

Heut nachmittag war ein Telegramm von Medardus aus Hamburg angekommen. Morgen wollten die Freunde eintreffen. Das Telegramm war ihm verschlossen von Morawsky übergeben worden. Der hatte nur mühsam die Neugierde verbergen können, zu wissen, was darin stand. Arvelin hatte das Telegramm vernichten wollen. Da fiel ihm ein, die Gelegenheit zu nutzen, um Morawsky auf die Probe zu stellen. Der machte sich noch in seinem Zimmer zu schaffen. Arvelin las das Telegramm, warf es dann in den Papierkorb. Nachdem Morawsky das Zimmer verlassen hatte, ging auch Arvelin hinaus. Schritt unten in der Halle an Morawsky vorbei, nahm den Weg zum Mausoleum. Als er später wieder in sein Zimmer kam, war deutlich zu sehen, daß Morawsky allerhand Aufräumungsarbeit verrichtet hatte. Auch der Papierkorb war geleert.

Der Bursche fängt es schlau an, dachte Arvelin bei sich, doch vielleicht gelingt es mir heute, ihn zu überführen.

Morawsky hatte jetzt den Feldweg verlassen, war in den Wald getreten. Ein leichter Abendwind fuhr raschelnd durch das am Waldboden liegende Laub. Ein stärkeres Rascheln ab und zu ließ Morawsky den Kopf wenden. Noch genügte ihm das Licht, das durch die Bäume fiel, um sich zu vergewissern, daß niemand hinter ihm ging.

Die zehnte Stunde nahte, als Morawsky in Dobra ankam. Als er über den vernachlässigten, schmutzigen Hof schritt, sah er unter dem Schuppen einen Kraftwagen stehen. Fremde mußten da sein. Da er wußte, daß der Gutsbesitzer jederzeit für ihn zu sprechen war, trat er ohne Zögern ins Haus. Stand gleich darauf Franz Harrach gegenüber.

»Nun, was bringst du?« fragte der ihn hastig.

Morawsky zog aus der Tasche das Telegramm, übergab es Harrach. Der las, überlegte. »Die Unterschrift nur ein ›M‹. Was vermutest du?«

»Nichts anderes als ›Medardus‹. Ich entnehme das auch daraus, daß der alte Arvelin sich so freute, als er es las.«

Franz konnte ein Gefühl froher Genugtuung nicht verbergen. »Es soll dein Schade nicht sein, wenn alles so eintrifft, wie wir's hoffen. Laß dir draußen was zum Trinken geben und trolle wieder heim!«

Harrach schritt eilig in das Bibliothekzimmer, schwenkte das Telegramm frohlockend in der Hand.

»Endlich!« rief er, so daß die im Zimmer Sitzenden überrascht aufsprangen.

Tejo riß ihm mit ungezügelter Hast das Papier aus der Hand, las: »Komme morgen. M.« – »Sie, Herr Harrach, meinen natürlich auch, daß ›M‹ die Abkürzung dieses ›Medardus Droste‹ ist?«

»Unbedingt. Wer anders könnte den Einsiedler Arvelin unverhofft besuchen?«

»Das Telegramm kommt aus Hamburg. Was halten Sie davon, Herr Harrach?«

Der zuckte die Achseln. »Vielleicht haben sie auf der Reise von England hierher in Hamburg Station gemacht, Senhor Remedio.«

»Hm! Hm!« brummte Tejo vor sich hin. »Es wäre wohl möglich. Doch einerlei! Sind sie's oder sind sie's nicht – alles hängt davon ab, ob sie die morgige Nacht in Winterloo verbringen. Denn bei Tage läßt sich unser Vorhaben nicht ausführen. Ich werde sofort geeignete Leute nach Winterloo dirigieren, die morgen feststellen sollen, ob's die Erwarteten sind und wie lange sie bleiben.«

Er drehte sich jetzt dem Dritten im Raume zu – rief: »Pardon! Ich war ungeschickt.«

»Wie meinen Sie das?« fragte der.

»Nun, ich stieß Sie doch an, im Umdrehen.«

»Aber nein!« Ein Lächeln. »Sie berührten mich nicht.«

»So?« Tejo warf einen verwunderten Blick rundum. »War's mir doch, als hätte ich bei der hastigen Wendung jemand gestreift – –«

In Harrachs Augen trat ein unruhiger Glanz. Seine Blicke gingen von dem einen zum anderen. Doch Tejo wandte sich wieder dem Telegramm zu, das er dem Dritten jetzt ins Portugiesische übersetzte.

»Ich denke, Senhor Filippo, wir werden vielleicht morgen um diese Zeit die Affäre schon erledigt haben. Für alle Fälle will ich Ihnen jetzt noch mal meinen Plan in allen Einzelheiten erläutern. Es ist wichtig, daß Sie das in Ihren Bericht aufnehmen, wie auch die Sache ausläuft.« – – –

Eine Stunde später fuhr der Kraftwagen mit Senhor Filippo allein davon, in Richtung Warschau.

*

»Es wäre mir lieb, Medardus, wenn du deinen Freund bewegen könntest, über Nacht hierzubleiben.«

Droste schüttelte zweifelnd den Kopf. »Du weißt doch, Vater Arvelin, wie eilig wir es haben. Unsere Bestellungen aus Hamburg sind unterwegs. Es brennt uns auf den Nägeln, möcht' ich sagen.«

Einen Augenblick stand Arvelin überlegend. »Nun, es wird am besten sein, ich erkläre euch schon jetzt meine Gründe. Komm mit Wildrake zu mir nach oben!«

Kaum möglich, die Gesichter der Freunde zu beschreiben, als Arvelin ihnen von Tejos Vorhaben erzählte. Kaum, daß sie fragten, wie Arvelin davon Kenntnis bekommen habe. Sie nahmen seinen beiläufigen Hinweis, ein Vertrauensmann habe ihm durch Morawsky den Plan verraten, ohne weitere Überlegung hin.

Wildrake begann alsbald einen Kriegsplan zu entwerfen, wie man die Angreifer mit blutigen Köpfen heimschicken könne. Immer wieder fiel der Name ›Tejo‹ von seinen Lippen. Voll Wut und Haß dachte er an ihn. Trug er doch einen großen Teil Schuld an allem, was man gegen seine Angehörigen getan!

Keiner sprach den Gedanken aus, kam auch nur darauf, etwa die Polizei zu benachrichtigen, obwohl es sich doch zweifellos um eine grobe Verletzung der deutschen Staatshoheit handelte. Bis zur völligen Klärung der Vorgänge hätte sich eine diplomatische Affäre entwickelt, die zum mindesten einen langen Notenwechsel zur Folge haben mußte.

Das lange Hin und Her, wie man dem Überfall am besten begegnen könnte, beendete Arvelin mit Worten, deren kategorischer Ton den Widerspruch der beiden verstummen ließ.

»Es ist auf jeden Fall zu vermeiden, daß sich eine große politische Aktion entwickelt. Unvermeidlich wäre es dann, daß wir fortwährend Verhöre zu bestehen hätten. Wiederholt würde Winterloo von allen möglichen Personen aufgesucht werden. Man würde in allen Ecken herumschnüffeln. Das Laboratorium, die Tankanlage würden neugierigen Blicken preisgegeben sein; vielleicht gar würde euer Aufenthalt in Finnland bei der Gelegenheit festgestellt werden. Kurz, euer ganzer Plan wäre gefährdet, wenn wir es zu blutigen Gewalttätigkeiten kommen ließen. Alles ließe sich ja vermeiden, wenn ihr, wie ihr wolltet, heut abend fortführet. Doch es liegt gerade in meinen Plänen, jenes schon lange vorbereitete Unternehmen eurer und meiner Gegner in einer Weise zum Scheitern zu bringen, daß unangenehme Folgen für euch, für mich und für Schloß Winterloo ausgeschaltet werden.«

»Und wie willst du das machen, Vater Arvelin?«

»Oh, sehr einfach! Der Hauptangriff wird ja, wie ihr wißt, vom Lande her erfolgen. Morawsky, als Wegweiser der Schar – es handelt sich da um einen früheren polnischen Offizier Schidlowsky und zwölf zweifelhafte Individuen, die für Geld alles zu tun bereit sind – wird sie in die Irre führen. Ihm sind die Wälder an der deutsch-polnischen Grenze völlig vertraut. Ihr wißt, Teile davon sind von Sümpfen und Mooren durchzogen. Er wird die Leute, um ungesehen über die Grenze wegzukommen, durch ein solches Moor bugsieren. An einer Stelle, wo er unauffällig verschwinden kann, überläßt er sie ihrem Schicksal. Die Bande, unkundig des Wegs, wird sich vor Tagesanbruch weder vorwärts noch rückwärts bewegen können. Die Feinde auf der Wasserseite werden unter diesen Umständen vergeblich auf das Signal warten, werden mit langen Nasen abfahren müssen. Ich bitte euch dringend, auf keinen Fall das Schloß zu verlassen. Ich würde es ewig bereuen, wenn ich euch zum Bleiben überredet hätte und ihr durch ein unvorhergesehenes Ereignis zu Schaden kämet . . . nicht zu vergessen die sonstigen unangenehmen Folgen.«

Droste, gewohnt, sich Arvelins Autorität zu beugen, stimmte dem Plane zu. Wildrake aber, von dem Gedanken beherrscht, seinem alten Widersacher Tejo eins auszuwischen, war nur schwer zu bewegen, seine eigenen Absichten dem Urteil des alten Arvelin unterzuordnen. – – –

*


 << zurück weiter >>