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Während Gransfeld in Paris Abenteuer erlebte, die ihm keinen Zweifel über ein recht gefährliches Interesse der Organisation an seiner Person ließen, verbrachte Rudi seine Tage unbehelligt bei Rübesam in Gorla.
Die Gründe für dieses spurlose und der Organisation ganz unerklärliche Verschwinden des Jungen waren in Rübesams unerschöpflichem Kleiderschrank zu suchen. Wenn Rudi das Haus des Chemikers verließ, so geschah es in stets wechselnden Verkleidungen, in denen ihn auch seine nächsten Freunde nicht wiedererkannt hätten.
Pflichtgemäß hatte Henke nach jenem Vorkommnis in Altmüllers Wohnung sofort über das Auftreten eines verdächtigen Menschen, möglicherweise eines neuen Detektivs, an die Picadilly-Street berichtet. Umgehend hatte Mac Andrew auf diese Meldung hin seine Geheimverbindungen in den Gorla-Werken in Anspruch genommen. Doch keinem von allen denen, die es wissen mußten, war etwas von der Einstellung eines Detektivs bekannt. In der Tat war der verdächtige Herr mit dem blonden Vollbart ebenso schnell, wie er auftauchte, wieder verschwunden. Rübesams Frisierbeutel enthielt ja Perücken und Bärte aller Formen und Farben, und Rudi wäre nicht Rudi gewesen, wenn er von diesen Möglichkeiten nicht den ausgiebigsten Gebrauch gemacht hätte.
Der Arbeiter zum Beispiel, der sich da in der neunten Abendstunde auf einem Werkhof mit Besen und Karre zu schaffen machte, konnte auch dem scharfsinnigsten Späher der Bande nicht verdächtig sein. Mit der Gemächlichkeit eines Mannes, der nach Stundenlohn bezahlt wird, fegte dieser Arbeiter den Schmutz zu Häufchen zusammen und schien vollständig in seine Tätigkeit vertieft zu sein, bis ein anderer Mann mit einem straffgefüllten Rucksack auf dem Buckel an ihm vorbeikam.
Der Arbeiter ließ den Besen ruhen und blickte ihm forschend nach, während er allerlei in seinen Bart murmelte. »Nanu, Herr Henke, schon so früh im Werk? Ihre Schicht fängt doch erst um zehn Uhr an. Sehr merkwürdig, Herr Henke! Müssen doch mal sehen, was das zu bedeuten hat!«
Der Mann lehnte seinen Besen an die Karre und schlurfte in einiger Entfernung hinter dem andern her. Jener hatte jetzt den Hof überquert und ging durch einen schmalen Gang weiter.
»Hm, hm, Herr Henke, man geht nach Nordosten? Was hat man denn da zu suchen? Merkwürdig, Herr Henke, sehr merkwürdig!«
An der Nordostecke des Werkes lag innerhalb der Fabrikmauern ein ausgedehntes unbebautes Gelände. Nur ein großer Gasbehälter reckte hier seine wuchtigen Formen gegen den dunklen Nachthimmel. Dieser Teil der Werkanlage verdankte seine Entstehung einem besonderen Umstande. In dem chemischen Betriebe der Gorla-Werke fielen bedeutende Mengen von Wasserstoff ab. Man hätte ihn ohne weiteres in die Atmosphäre entweichen lassen können, aber Wasserstoff ist ja bekanntlich ein ideales Füllgas für Luftschiffe und Ballone, und die Besitzer von Freiballonen waren gern bereit, einen angemessenen Preis dafür zu zahlen. Deshalb hatte man hier den Gasbehälter hingebaut. In ihm wurden die abfallenden Wasserstoffmengen gespeichert und nach Möglichkeit durch Verkauf an Freiballonfahrer verwertet.
Auch jetzt schien wieder eine solche Füllung und Fahrt in Aussicht zu stehen. Auf einer großen Leinwandplane war neben dem Gaskessel auf der Wiese bereits eine Ballonhülle ausgebreitet. Gondelkorb, Tauwerk und sonstiges Zubehör lagen daneben. Es hatte den Anschein, als ob die Füllung in der Frühe des nächsten Morgens vonstatten gehen sollte. Der Mann mit dem Rucksack trat an diese Stelle heran. Prüfend schaute er sich nach allen Seiten um. Dann entledigte er sich des Rucksackes und legte ihn hinter einen Stapel von Eisenschrott, der in der Nähe lagerte. Nun ging er zu der Plane und machte sich dort zu schaffen.
Vorsichtig, immer im Schatten bleibend, jede Deckung benutzend, war inzwischen auch der Hofarbeiter näher herangekommen. Ein Haufen alter Eisenbleche bot ihm ein geeignetes Versteck. Geräuschlos schlüpfte er in den Schlagschatten und wurde unsichtbar. Aufmerksam folgten seine Blicke jeder Bewegung des andern, während seine Lippen sich fast lautlos bewegten. »Oh, oh, Herr Henke! Man holt das Ventil – man schraubt das Ventil an der Ballonhülle fest. Was müssen meine Augen sehen, Herr Henke? Man holt das Netz und breitet es über die Hülle aus. Wie geschickt man das macht! Ganz allein, wo doch sonst drei bis vier Leute dazu nötig sind. – Wahrhaftig, er schafft es ganz allein, alle Achtung! – Jetzt, wo steckt er denn? Aha, er ist unter die Hülle gekrochen! – Da kommt er ja schon wieder vor. Alle Wetter, den Füllschlauch zieht er hinter sich her! – Jetzt macht er den an der Gasleitung fest. – Herr Henke, mir ahnt etwas, mir schwant etwas, Herr Henke! Sollte man die Absicht haben, auf eigene Faust eine kleine Freiballonfahrt zu unternehmen? Wahrhaftig, jetzt bringt er doch die Sandsäcke heran! Hängt schon welche in die äußersten Netzmaschen. Alle Wetter, die Sache wird ernst! Er wird doch nicht?«
Während der Beobachter so vor sich hin philosophierte, hatte Henke ununterbrochen gearbeitet und zuletzt noch unermüdlich Sandsack auf Sandsack herangeschleppt. Jetzt richtete er sich auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Verdammte Schweinerei! Warm wird man dabei. Niederträchtige Beleuchtung hier! Das heißt, wenn's hell wäre, wär's auch verkehrt. So, vorläufig langt das.« Er zog die Uhr. »Ein Glück, daß die Zeiger leuchten. Man könnte sonst nicht einmal die Zeit erkennen. Alle Wetter, in zehn Minuten zehn! Höchste Zeit, daß ich zu meiner Schicht komme.« Er verschwand in der Richtung auf die Werkbauten hin in der Dunkelheit.
Der Arbeiter kroch aus seinem Versteck heraus und ging zu dem Schrotthaufen. »Erst einmal sehen, was der hier in dem Sack hat!« Er band den Rucksack auf und faßte hinein. »Alle Wetter, Beutel an Beutel!« Er hob den Sack an. »Der hat sich eingedeckt! Das Ding wiegt ja einen runden Zentner. Muß der Kerl gestohlen haben! Aber die Sache wird brenzlig. Höchste Zeit, daß hier etwas geschieht! Zu dumm, daß Herr Rübesam weggefahren ist! Wäre doch möglich, daß er mit dem Elf-Uhr-Zug zurückkommt, sonst – sonst könnte er ja erst morgen kommen. Wenn ich auf den Bahnhof ginge, und er käme mit dem Zug, und wir gingen zusammen dann gleich hierher, dann könnte noch alles klappen. Ja, ich muß es versuchen!«
Der Arbeiter ging über den Platz und verschwand hinter dem Gasbehälter. Mit einer verblüffenden Gewandtheit schwang sich der Mann an der Fabrikmauer in die Höhe, saß einen Augenblick rittlings oben und sprang dann mit einem elastischen Satz nach der andern Seite ins Dunkle. –
Das Rattern und Stampfen der Tablettierpressen und Packmaschinen wurde von der polternden Stimme des Werkführers Moser übertönt. »Leute, ich rate euch, nehmt euch zusammen! Der Generaldirektor ist fuchsteufelswild. Er hat den Betriebsingenieuren schweren Krach gemacht. Wenn die Schweinereien nicht aufhören, hat er gesagt, dann schmeißt er die halbe Belegschaft hinaus. Denkt ihr etwa, ich hätte Lust, meine Stellung zu verlieren, weil hier Klaubrüder unter euch sind? Nee, meine Herrschaften, wenn's dazu kommt, dann sollen erst andere fliegen. Da sollt ihr mich erst mal kennenlernen!« Je länger der Meister sprach, in um so größere Wut redete er sich hinein. »Es stinkt, Leute, ich sage euch, es stinkt was in der Bude. Unverschämt muß hier gestohlen werden. Aber ich will euch schon hinter die Schliche kommen! Wehe dem, den ich erwische!«
Der Wutausbruch des Werkmeisters wirkte auf die beiden Zuhörer verschieden. Altmüller stand blaß und schlotternd da wie das menschgewordene Schuldbewußtsein. Henke dagegen lehnte sich lässig gegen eine Presse und wartete ruhig, bis dem Werkmeister der Atem knapp wurde. Dann versuchte er ihn zu unterbrechen und die Anschuldigungen zurückzuweisen. Ein paarmal mißlang's noch, weil die Zwischenreden den Erbosten immer wieder zu neuen Ausbrüchen reizten. Doch schließlich kam Henke zu Wort. »Wir verstehen nicht, Herr Werkmeister, wie Sie dazu kommen, anständige, ehrliche Arbeiter so zu beschimpfen. Wenn der Alte den Koller hat, wollen wir nicht darunter leiden. Wenn Sie Lust haben, können Sie uns ja jeden Tag unsere Papiere geben. Solche Redensarten von wegen Klaubrüder und so weiter und von wegen Rausschmeißen, die brauchen wir uns aber nicht gefallen zu lassen. Die Herren da oben denken wohl, daß sie Schindluder mit unsereinem treiben können? Wenn denen mal die Mütze schief sitzt, sollen wir uns hier alles mögliche sagen lassen. Ich lasse mir das aber nicht bieten, Herr Werkmeister, ich gehe morgen früh zum Betriebsrat und werde dem die Sache melden.« Je weiter Henke in seiner Rede kam, desto lauter war er geworden. Jetzt stand er vor dem Werkmeister, jeder Zoll ein Ehrenmann, die gekränkte Unschuld in Person.
Dem Werkmeister war die Geschichte mit dem Betriebsrat unbehaglich. Er lenkte ein. »Ziehen Sie sich doch die Jacke nicht an, wenn Sie Ihnen nicht paßt, Henke! Sie habe ich ja gar nicht gemeint.«
»So, Herr Werkmeister? Na, wen denn? Wir sind ja bloß sechs Leute im Heroinsaal, drei Schichten zu je zwei Mann. Einen davon müssen Sie doch gemeint haben. Das wird sich ja morgen herausstellen.«
Der Werkmeister versuchte zu beschwichtigen. »Bleiben Sie doch ruhig, Henke, regen Sie sich nicht auf! Ich habe nur allgemein gesprochen. Glauben Sie etwa, es ist angenehm für mich, wenn der Betriebsingenieur mir auf den Kopf zusagt, daß in meiner Abteilung gestohlen wird?«
»Gewiß nicht, Herr Werkmeister; aber der Betriebsingenieur soll seine Beschuldigung beweisen oder den Mund halten. Na, das werden wir ja morgen alles zur Sprache bringen.«
Der Werkmeister klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Na ja, Henke, bis morgen! Beschlafen Sie sich die Sache noch mal! Machen Sie keinen unnötigen Skandal! Wäre für uns alle nicht gut. Immer ruhig Blut behalten! – Na, macht eure Sache gut!« Er verließ den Saal.
Henke schnitt eine Grimasse hinter ihm her. Dann wandte er sich zu Altmüller. »Altmüller, altes Tränentier, du hast ja wieder mal dagestanden wie ein Häufchen Unglück, als der Alte hier loslegte. Hast du gemerkt, wie der klein wurde, als ich ihm die Meinung sagte?«
Altmüller guckte seinen Kumpan wie ein Wundertier an. »Mensch, Henke, ich verstehe deine Frechheit nicht. Eine Mordsangst habe ich ausgestanden. Ich dachte, der würde jeden Augenblick die Polizei holen und uns festnehmen lassen. Ich sage dir, Henke, der weiß was. Der weiß mehr, als er gesagt hat. Sonst wäre er nicht so ausfallend geworden.«
Henke zuckte die Achseln. »Kann sein, Altmüller. Daß sie plötzlich die Schichten getauscht und uns in die Nachtschicht gelegt haben, kommt mir auch verdächtig vor. Was hat er gesagt? ›Es stinkt‹, hat er gesagt. Scheint mir allmählich auch so. Höre mal, Altmüller, ich habe die Nase voll, ich werde verduften.«
»Was, Henke, du willst weg? Du willst ausrücken, mich hier allein lassen? Ich soll die ganze Geschichte hier ausbaden?«
»Hast du nicht nötig, Altmüller. Ich habe dir's ja öfter als einmal gesagt: komm doch mit! Die Organisation muß für uns sorgen und wird es bestimmt auch tun.«
Altmüller sah grau und verfallen aus. »In die Fremde soll ich gehen? Frau und Kinder hierlassen, nie wieder zurückkommen dürfen? Das kann ich nicht, Henke. Ich bring's nicht fertig, meine arme, kranke Frau hier allein zu lassen.«
Henke sah ihn eine Weile kopfschüttelnd an. »Na, überleg dir's Altmüller! Wenn sie dich hier einkapseln, hat deine Frau auch nichts von dir, jedenfalls viel weniger, als wenn du in England dein gutes Brot verdienst.« Er warf einen Blick auf die Saaluhr. »Hallo, bald halb elf! Zeit, daß wir an unser Geschäft kommen.«
Aus dem Versteck unter der lockeren Fliese holte er den Steckschlüssel und eine Anzahl von Beuteln heraus und ging damit an die Verbindungsleitung zur Tablettiermaschine.
Altmüller starrte ihn entgeistert an. »Um Gottes willen, Henke, du wirst doch nicht? Jetzt, heute, wo eben erst der Meister hier war!«
»Dummkopf! Desto sicherer sind wir, daß er nicht gleich wiederkommt.«
Er begann die verborgene Schraube herauszudrehen. »Na, willst du nicht gefälligst herkommen und die Beutel drunter halten?«
»Nein, Henke, nein, ich tu' es nicht mehr, unter keinen Umständen. Mach du, was du willst.«
Schimpfend machte sich Henke daran, selbst das ausströmende Pulver aufzufangen. Es war ein reichliches Dutzend größerer Beutel, das er an der verborgenen Quelle füllte. Dann drehte er die Schraube wieder fest, band die Beutel zu und beseitigte sorgfältig alle Spuren an der Zapfstelle.
»So, Altmüller, das hat gewirkt! Sind mindestens zwölf Kilo. Aber die dürfen nicht hierbleiben, die muß ich gleich woanders unterbringen.«
Er brachte die Säckchen in seiner Kleidung unter. Halb geistesabwesend sah ihm Altmüller dabei zu. Henke gab ihm einen kräftigen Stoß in die Rippen.
»Nimm dich mal endlich zusammen, du schlapper Hund, du! Wenn der Deibel den Meister doch hierher karrt oder wenn sonst irgendwer hier reinkommt, dann sagst du – verstehst du, Altmüller? Merk dir's! – dann sagst du, ich sei eben mal für einen Augenblick hinausgegangen. Hast du das begriffen?«
»Ja, ja, Henke, ich hab's schon verstanden. Aber komm bald wieder, laß mich nicht so lange hier allein!«
»Ach was, Altmüller, eine Weile wird's dauern. Ich habe mein Versteck ein ziemliches Ende weit ab. Laß dir die Zeit nicht lang werden und sei vernünftig!«
Er verließ den Saal und ging durch die weiten Gänge zu einer Hintertreppe. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß dort niemand war, schlüpfte er schnell ins Freie und verschwand in der Richtung des Gasometers. Nur der Sternenhimmel gab hier Licht, eben gerade genug, um die Dinge in groben Umrissen erkennen zu können. Nach kurzem Hin- und Hertasten hatte er das Ventil gefunden, die Ventilspindel drehte sich unter seinen Fäusten, rauschend strömte das Gas in die Ballonhülle.
»Ss! Die Sache wäre in Schuß! Kannst lange warten, bis ich wiederkomme, Altmüller.« Er sah auf seine Uhr. Es war in zehn Minuten elf. »Der Ballon faßt zweitausend Kubikmeter. Drei Viertelstunden wird die Füllung dauern. Na, Henke, wenn's richtig klappt, fliegst du schon um zwölf aus dem Werk – aber ganz anders, als der dumme Esel, der Moser, es sich gedacht hat.«
Knatternd und flatternd begann sich die Ballonhülle unter der Wirkung des einströmenden Gases emporzublähen. Er mußte fleißig hin und her springen, um die Sandsäcke in immer entferntere Maschen des Netzes einzuhaken, während die bauchige Hülle von Minute zu Minute höher emporwuchs. In den kurzen Pausen, die die Arbeit ihm ließ, beobachtete er den Wind. »Steifer Südost. Um zwölf komme ich weg von hier. Wenn der Wind so bleibt, kann ich lange vor Helligkeit in Sicherheit sein. Vielleicht geht's in die Lüneburger Heide. Na, das muß sich finden. Die dummen Gesichter möchte ich sehen, wenn die hier morgen früh zu ihrem Ballon kommen. – Nein, schon besser, ich sehe sie nicht. Weit davon ist gut für den Schuß.«
Er mußte sich wieder um den Ballon kümmern, die Sandsäcke weiter abhängen und neue hinzufügen. Die Hülle war jetzt mehr als zur Hälfte gefüllt und stand, nur von den Sandsäcken am Netzrand gehalten, frei in der Luft. Bedenklich sah Henke sie an.
»Dumme Geschichte! Wind ist gut beim Fliegen, aber schlecht beim Füllen. Gut, daß der Ballon hier im Windschatten von dem Gasometer steht, sonst könnte die Sache am Ende noch schief gehen.« Wieder warf er einen Blick auf die Uhr. Es war in zwanzig Minuten zwölf. »Alle Wetter, wie die Zeit vergeht! Ob mich der Altmüller schon vermißt? Hoffentlich macht der Schafskopf keine Dummheiten und rennt nicht etwa zum Meister. Zuzutrauen ist dem alles. Na, hoffentlich sind wir bald soweit.«
Unter der fortschreitenden Gasfüllung begann sich jetzt auch die untere Hälfte des Ballons zu blähen, wurde straff und immer straffer. Prüfend schlug er ein paarmal mit der Kante der flachen Hand dagegen.
»Genug jetzt!« Er lief zum Ventil und drehte es zu. Dann trennte er den Gasschlauch vom Füllansatz des Ballons und band den Ansatz mit einer Schnurschlaufe zu. »So, jetzt den Ring!« Er holte den leichten Korbring herbei, verknebelte ihn nach unten mit den vier starken Tragseilen des Gondelkorbes und nach oben mit den sechzehn schwächeren Leinen, in die die Maschen des Ballonnetzes zusammenliefen.
»Gräßliche Schufterei!« Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht, rannte weiter, schleppte neue Sandsäcke heran und hing sie an den Rand des Gondelkorbes. Dann fing er an, die letzten Säcke vom Netz abzuhaken.
»Schweinerei, elende! Ein Dutzend Leute haben sie sonst dazu, und ich muß alles allein machen.«
Es war in der Tat keine leichte und auch keine ungefährliche Arbeit. Er mußte vom Ring aus an den einzelnen Seilen bis zum Netzrand emporklettern, um die Sandsäcke abzuhaken, die er dann zur Erde warf. Doch endlich war auch das geschafft. Frei und prall stand der Ballon hoch über dem Korb, der durch einen starken Überballast auf dem Erdboden festgehalten wurde. Aus dem Füllansatz hingen die weiße runde Ventilschnur und die breite rote Reißleine frei in den Korb hinunter.
»Uff, das ist geschafft! Jetzt noch den Rucksack! Hundertundzwanzig Pfund Heroin – eine feine Visitenkarte, wenn ich damit zu meinen Leuten komme!« Er ging zu dem Schrottstapel, um den Rucksack zu holen. Eine Weile mußte er im Dunkeln danach tasten.
Jetzt fühlte er ihn und wollte eben danach greifen, als ein metallischer Klang ihn zusammenschrecken ließ. Aus nächster Nähe war der Ton gekommen, von dem Blechhaufen her, der dicht bei dem Schrottstapel lag.
Zum Teufel, was war das? Wollte ihm da einer noch im letzten Augenblick einen Strich durch die Rechnung machen? Er sprang zu dem Haufen hin, entschlossen, jeden niederzuschlagen, der ihm hier in die Quere kommen wollte. Da war nichts zu sehen, und da auch nicht – da aber, in dem Schatten, hatte sich da nicht irgend etwas Unbestimmtes, Undeutliches bewegt?
Wie ein Tiger stürzte er darauf los, bekam ein menschliches Wesen bei den Schultern zu packen und zerrte es mit brutaler Gewalt aus dem tiefen Schatten in die unsichere Beleuchtung des freien Platzes.
Ein Fabrikarbeiter schien es zu sein, ein alter Mann mit grauem, schütterem Bart, den er gegriffen hatte. Doch der Kerl wehrte sich mit unglaublicher Kraft und Gelenkigkeit. Um ein Haar hätte er sich losgerissen und wäre entschlüpft. Erst im letzten Augenblick vermochte Henke ihn noch zu packen und riß ihn nieder, daß er stolperte. Mit aller Wucht versetzte er dem Fallenden einen Faustschlag gegen die Schläfe, der ihn betäubte.
»So, da bleib liegen und guck dir die Sterne an! Na, Alter, wirst doch nicht gleich in die Binsen gehen? He, du, lebst du noch?«
Er griff dem Alten in den Bart, wollte ihn daran zausen und – stand einen Augenblick wie gelähmt.
Der Bart war ihm in der Hand geblieben. Ein junges, glattes Kinn kam darunter zum Vorschein.
»Wie? Was? – Was ist das?« Blitzartig durchzuckte Henke ein Verdacht. Mit einem Sprung war er bei dem Korb, eilte mit ein paar Seilenden zurück. Sorgfältig fesselte er dem Bewußtlosen Füße und Hände. »Besser ist besser! Man kann nicht wissen. – So, jetzt wollen wir uns den Vogel mal genauer besehen!« Er griff in das Haar. Ein kurzer Ruck, die graue Perücke blieb in seiner Hand, kräftiges, volles Haar fühlte er darunter. Mit einer elektrischen Taschenlampe leuchtete er dem Bewußtlosen ins Gesicht.
Eine maßlose Wut packte Henke. Das also war's! Mit einer Verkleidung hatte der niederträchtige Lümmel ihn gefoppt. Wahrscheinlich hatte der auch den andern mit dem blonden Vollbart gespielt, und – hatte der Schurke am Ende auch seine Briefe abgeholt?
Ein leises Stöhnen wurde vernehmbar. Kam der Gefangene wieder zum Bewußtsein?
»Du Lump! Du Luder! Warte, du Schuft, mit dir bin ich noch nicht fertig!«
Er trug den Rucksack in den Ballonkorb, schleppte auch den gefesselten Jungen dorthin und warf ihn in den Korb. Dann stieg er selbst hinein. Vorsichtig begann er Sandsäcke vom Korbrand abzuhaken und beiseite zu werfen. Sandsack um Sandsack fiel zu Boden. Ein leises Schüttern ging durch den Korb, als wenn sein Boden auf dem Rasen schürfe. Schnell warf Henke noch zwei Ballastsäcke fort. Der Korb kam von der Erde frei, der Ballon stieg empor. In wenigen Sekunden hatte er die Höhe des Gasometers erreicht und kam aus dem Windschatten heraus. Ein strammer Südost faßte ihn und führte ihn in schneller Fahrt nach Nordwesten davon. Tief unter ihm schon zogen die Häuser und die Straßenlichter von Gorla dahin. Während Henke seine Aufmerksamkeit den Meßinstrumenten widmete, drangen Glockentöne an sein Ohr. Die Uhren in Gorla schlugen Mitternacht.
Sorgsam beobachtete Henke den Höhenzeiger. Um sicher über den Gasometer hinwegzukommen, hatte er beim Abflug etwas reichlich Ballast ausgeworfen. Noch immer war der Ballon im Steigen. Sechshundert Meter – achthundert – nun wurde der Aufstieg allmählich langsamer. In tausend Meter Höhe kam der Ballon ins Gleichgewicht und trieb mit beträchtlicher Schnelligkeit in nordwestlicher Richtung dahin.
Zu merken war freilich hier im Korb nichts von dieser Fahrt, denn der Ballon hatte ja genau die gleiche Geschwindigkeit wie die ihn umgebende Luft. Hätte man ein Licht in der Gondel angezündet, es würde so ruhig und unbewegt gebrannt haben wie in einem geschlossenen Zimmer. Nur die tief unten auftauchenden und nach Südosten zurückbleibenden Lichter zeigten den schnellen Flug an.
Jetzt folgte der Ballon längere Zeit einem Stromlauf. Henke breitete eine Karte aus und versuchte sich auf ihr mit Hilfe seiner elektrischen Taschenlampe zu orientieren. Der kleinere Ort da gerade unter ihm konnte nur Schönebeck an der Elbe sein. Dann mußte der helle Schein am Horizont gerade voraus von den Lichtern Magdeburgs kommen. Er überschlug die Entfernung und sah auf die Uhr. Er hatte gute Fahrt. Kaum eine Stunde würde er von Gorla bis Magdeburg brauchen. Wenn es so weiterging, konnte er gegen drei Uhr morgens schon weit in der Lüneburger Heide sein.
Hallo, was war das? Die langen Papierstreifen, die vom Gondelrand hinaushingen, standen plötzlich hoch oben. Ein Zeichen dafür, daß der Ballon nicht mehr im Gleichgewicht war, sondern stark fiel. Er schnitt die Verschnürung an einem Ballastsack auf und begann den Sand händeweise über Bord zu schütten; viermal – fünfmal – sechsmal – dann wirkte es. Der Fall hörte auf, die Streifen sanken wieder langsam in die Tiefe.
Immer näher waren inzwischen die starken Lichter im Nordwesten gekommen. Kein Zweifel, es war Magdeburg, über das der Ballon eben hinwegtrieb. Doch nun stockte die Fahrt. Es schien, als ob der Ballon trotz des guten Windes hier kleben bleiben wolle. Ballon und Gondel begannen sich um ihre Vertikalachse zu drehen. Zwei verschiedene Kräfte schienen auf den Ballon einzuwirken. Eine, die ihn in der Windrichtung nach Nordwesten weitertreiben wollte, und eine andere, die ihn in der Richtung des Flußlaufes festhielt, der hier in scharfem Knick nach Nordosten abbog.
Fünf Minuten – zehn Minuten schon dauerte das Windspiel der Kräfte. Der Ballon kam kaum vom Fleck und drehte sich ständig.
»Verdammt!« tobte Henke. »Der Fluß läßt uns nicht los. Versuchen wir's anders!« Wieder griff er in den Sandsack. Staubwolken fielen nach unten, der Ballon stieg, am Zeiger des Höhenmessers war's deutlich zu lesen. Vierzehnhundert Meter – fünfzehnhundert Meter – dann war's, als ob es plötzlich einen Ruck gäbe. Die hemmende Kraft des Elbstromes war gebrochen. Der Ballon kam frei und trieb in schnellem Flug weiter nach Nordwesten.
»So, das wäre geschafft.« Noch einmal sah Henke nach dem Höhenzeiger. Der stand unbeweglich. Bei fünfzehnhundert Meter hatte der Ballon nach der zweiten Ballastabgabe eine neue Gleichgewichtslage gefunden, die er, vorläufig wenigstens, unverändert beibehielt.
Bisher war Henke vollständig von der Führung des Ballons in Anspruch genommen worden. Jetzt endlich konnte er sich ein wenig Ruhe gönnen. Er klappte den Sitz in der Korbecke herunter und ließ sich darauf nieder. Nun erst, als er zur Ruhe kam, spürte er, wie sehr ihn die letzten Stunden doch mitgenommen hatten. Die Auseinandersetzung mit dem Werkmeister und mit Altmüller – zuletzt noch das Abenteuer mit dem Lümmel, dem Wagner. – Er zog die Taschenlaterne und leuchtete diesem ins Gesicht. So schnell Rudi auch die Augen schloß, Henke hatte doch gesehen, daß sie vorher offen waren.
»Na, mein Bürschchen, hast wohl nicht gedacht, daß du heute noch mit deinem lieben Freunde Henke eine Luftreise machen würdest?«
Noch einmal ließ er die Lampe aufblitzen und überzeugte sich, daß sein unfreiwilliger Fluggast zuverlässig gefesselt war.
»He, du Lümmel, hast es nicht nötig, dich tot zu stellen. Ich weiß ja doch, daß du alles hörst, was ich sage.«
Rudi zog es vor, weiter zu schweigen. Henke griff nach seiner Brusttasche. Ob er sich eine Zigarre anstecken könnte? Einen Augenblick liebäugelte er mit dem Gedanken, dann schob er die Zigarrentasche wieder zurück! Lieber nicht! Sicher war bei dem letzten Steigen wieder eine beträchtliche Menge Wasserstoff aus dem Ballon getreten. Man konnte nicht wissen, wieviel von dem völlig geruchlosen Gas hier noch in nächster Nähe in der Atmosphäre war. Sollte er etwa eine Knallgasexplosion in fünfzehnhundert Meter Höhe heraufbeschwören? Nein, dazu hatte er doch schließlich den Flug nicht unternommen. Zur Not tat es auch Kautabak. Während er sich ein Stück davon zwischen die Lippen schob, sah er noch einmal auf den Höhenzeiger und die Landschaft unter dem Korb.
»Alles in Ordnung. Na, Herr Wagner, da haben wir ja Zeit. Können uns mal etwas gebildet unterhalten. Man hat sich also unter einer Verkleidung wieder in das Werk geschlichen. Man ist auf das Postamt gegangen und hat fremde Briefe abgeholt. Man bildet sich ein, daß das bis in die Puppen so weitergeht. Aber da hat man sich geirrt, Herr Wagner. Herr Henke ist auch kein Siebenmonatkind. – Na, Lausejunge, elender, wirst du endlich antworten?« Er stieß mit dem Fuß nach der Ecke hin, in der Rudi lag.
Sobald Rudi wieder zum Bewußtsein gekommen war, hatte er sich den Kopf zermartert, wie er aus dieser Klemme herauskommen könne. Daß seine Lage mehr als bedenklich war, darüber gab er sich keiner Täuschung hin. Zu gut wußte er ja, daß Henke zu allem fähig war. Und er selbst war gefesselt, jedem Angriff dieses Verbrechers wehrlos ausgesetzt. Erst einmal frei werden, sich der Banden entledigen, das mußte das nächste sein. Doch allzu fest hatte Henke ihm die Hände auf dem Rücken zusammengeschnürt. Vergeblich blieb jeder Versuch, mit den Fingern zu dem Knoten zu gelangen und ihn zu lösen.
Während der ersten Stunde des Fluges, als Henke noch ganz durch die Führung des Ballons in Anspruch genommen war, hatte Rudi sich bereits vorsichtig herumgewälzt, hatte, so gut es ging, umhergetastet, ob sich nicht vielleicht irgendwo und -wie etwas fände, an dem er die Handfesseln unbemerkt zerreiben könnte. Doch alles Suchen war vergeblich gewesen.
Oh, wenn es ihm doch gelänge, die Hände frei zu bekommen! Dann war das Schlimmste überwunden. Dann sollte dieser Verbrecher ihn erst richtig kennenlernen.
»Antworte, elender Lümmel, oder . . .« Henke stürzte sich auf den Liegenden und packte ihn. Er riß ihn empor, daß er in eine Korbecke zu sitzen kam. »Lump, soll ich dich über Bord schmeißen? Willst du endlich antworten?«
Rudi fühlte zweierlei: Erstens, daß er Henke jetzt antworten mußte, wenn's ihm nicht sofort ans Leben gehen sollte. Er fühlte zweitens – in der Korbecke hinter sich einen verhältnismäßig scharfkantigen Blechbeschlag.
Zeit gewonnen, alles gewonnen! Wenn es ihm gelang, dabei seine Handfesseln durchzureiben, dann konnte noch alles gut ausgehen.
»Willst du antworten, Schuft!« Henke stürzte sich wieder auf ihn und versuchte ihn emporzureißen.
»Ha – ja? Ist's schon Zeit zum Aufstehen?« Rudi spielte den eben erst zum Bewußtsein Kommenden. »Ja, Mutter Federsen, gleich! Ja, ich komme gleich.«
Henke schüttelte den Kopf. Hatte er sich geirrt? War der Bengel doch bis jetzt bewußtlos gewesen? Möglich war's immerhin. Er hatte nicht schlecht zugeschlagen, als ihm der so unerwartet in die Quere gekommen war.
»Quatsch nicht, Bengel! Hier ist keine Mutter Federsen, hier ist dein lieber Freund, Herr Henke.«
Rudi spielte den Erschrockenen. »Herr Henke? Was ist mit Henke, Mutter Federsen? – Ah!« Er bewegte die Schultern, als ob er sich mit den Händen ins Gesicht fahren wollte. »Meine Hände! Was ist denn? Ich kann mich ja gar nicht rühren.«
Es schien, als ob er es immer wieder versuchte, die Hände freizubekommen. Unaufhörlich rieb er dabei die Fessel an der scharfen Kannte.
»Nee, Herr Wagner, dafür hat Henke gesorgt, daß du deine Arme nicht mehr bewegen kannst. Mal raus mit der Sprache! Hast du meine Briefe abgeholt?«
Rudi sah ihn verständnislos an und spielte seine Rolle weiter. »Ihre Briefe, Herr Doktor? Ich weiß von keinen Briefen.«
»Lümmel, elender, nimm dich zusammen!« Henke stieß ihn kräftig vor die Brust. »Bist hier nicht bei deinem Doktor, dem verdammten Schnüffler. Sprichst mit mir, mit Henke! Hast du verstanden?« Ein Rippenstoß begleitete die Frage.
»Au, Sie tun mir weh! Was ist denn? Wo bin ich?« Erst jetzt schien Rudi vollständig zum Bewußtsein zu kommen.
»Hier bin ich? In einem Korb? – Ein Ballon – wir fliegen wohl?«
»Richtig geraten, Herr Wagner! Scheinst ein kluges Köpfchen zu haben. Schade, daß du's zu verkehrten Dingen benutzt. Hätte sonst vielleicht was Brauchbares aus dir werden können. Hm – na, ist noch nicht aller Tage Abend. Vielleicht überlegst du dir's noch. Wirst wohl von dem Doktor für deine Schnüffelei gut bezahlt?«
Rudi merkte, daß die Blechkante schon eine merkliche Narbe in seine Handfessel gerieben hatte.
Eine Stunde, eine gute Stunde vielleicht noch, dachte er bei sich, dann ist der Strick durch, dann wollen wir anders zusammen reden. Laut fuhr er fort: »Ich werde von dem Herrn Doktor gar nicht gut bezahlt. Bloß freie Station, selten mal ein Taschengeld. Als Steward habe ich viel mehr verdient.«
»Esel, warum bist du nicht dabei geblieben? Hättest als Steward noch viel besser verdienen können, wenn du dich ein bißchen unter die Leute geschickt hättest. Kenne mehr als einen, der als Steward gefahren ist. Konnten sich nachher zur Ruhe setzen und sich ein Haus kaufen.«
Rudi spielte den Erstaunten. »Ach, Herr Henke, wie ist das möglich? So viel Trinkgelder gibt's doch gar nicht.«
»Frag nicht so dämlich, Lümmel! Willst mich wohl wieder dumm machen? Du weißt doch genau Bescheid, wie man als Steward nebenbei verdienen kann. Kannst dir's ja noch ein Weilchen überlegen.« Er warf einen Blick auf die Instrumente und stutzte. Nur noch hundert Meter wies der Höhenzeiger. Nahe unter dem Korbe zogen die Kronen einer ausgedehnten Kiefernwaldung mit beträchtlicher Schnelligkeit dahin. Der Horizont im Nordosten war inzwischen viel lichter geworden. Die Umrisse der Landschaft ließen sich schon ziemlich deutlich erkennen, die Morgendämmerung stand dicht bevor. Mit Uhr und Plan versuchte Henke sich zu orientieren. Der Wald da unten konnte nach der Karte nur der letzte Ausläufer der Lüneburger Heide sein. Über den mußte er noch hinweg. Dann war er in der Nähe von Harburg, konnte landen und Unterschlupf bei seinen Freunden suchen.
Langsam war der Ballon inzwischen weiter gefallen. Ganz nahe rauschten die Kiefernkronen unter dem Korb, während das Ende der Waldung noch nicht abzusehen war. Jetzt erregte eine merkwürdige Erscheinung Henkes Aufmerksamkeit. Obwohl der Ballon immer noch in flotter Fahrt nach Nordwesten trieb, spürte er aus dieser Richtung her einen merklichen Gegenwind. Vergebens suchte er sich dies zu erklären. Nach allem, was er wußte, mußte über dem Korb eines freifliegenden Ballons stets vollkommene Windstille herrschen. Aber je näher der Korb den Baumkronen kam, desto stärker wurde der unerklärliche Gegenwind. Er überlegte angestrengt. Der Ballon flog zweifellos mit Südostwind nach Nordwesten. Hier unten im Korb kam ihm von Nordwesten her Wind entgegen. Also mußte der Südostwind hier unten nicht so stark sein, wie oben am Ballon.
Ah, jetzt glaubte er's zu haben. Natürlich, das mußte des Rätsels Lösung sein. Dicht über den Baumkronen wurde der Wind stark abgebremst. Während der Ballon mit der Geschwindigkeit der höheren, schnelleren Luftströmung trieb, mußte hier unten schon ein scheinbarer Gegenwind auftreten. Über seine Entdeckung befriedigt, öffnete er einen Sandsack und gab ein paar Hände heraus. So, das würde wohl genügen, um über den Wald wegzukommen. Und dann – er wandte sich wieder zu seinem Gefangenen. »Na, Bengel, hast du dir überlegt, was ich vorhin sagte? Vielleicht ist's noch Zeit für dich, umzusatteln.«
»Ich verstehe nicht, Herr Henke. Wie meinen Sie das?«
»Sehr einfach, dummer Junge! Mußt deinen lieben Doktor schießen lassen und zu uns kommen.«
Eine unvorsichtige Bewegung Rudis ließ ihn aufmerken. Mit einem Satz war er über ihm und riß ihn zur Seite. Im Halblicht der Dämmerung sah er, daß die Fessel schon über die Hälfte durchgerieben war.
»Lump elender, ich will dich lehren!«
Mit einem frischen Seilende fesselte er ihm die Hände aufs neue.
»So, jetzt ist's verspielt. Hast dir dein Schicksal selbst zuzuschreiben. Hättest zu uns kommen können. Na, wer nicht will, der hat schon.«
Der Ballon hatte sich inzwischen dem Rande der Waldung genähert. Henke griff nach der weißen Leine und zog daran. Ein leichtes Klinken der Ventilfedern klang vom Oberteil des Ballons. Gas strömte aus, zusehends fiel der Ballon. Hinter den letzten großen Randbäumen setzte der Korb auf den Boden auf. So stark war der Windschatten hier noch, daß der Korb ruhig stehen blieb und der Ballon sich nur schwach neigte.
Wie eine Katze kletterte Henke im Tauwerk empor und griff nach dem Füllansatz. Ein Messer blinkte in seiner Hand. Dann glitt er wieder in den Korb zurück und schnallte sich den Rucksack an. »Glückliche Fahrt, Herr Wagner, viel Vergnügen! Grüßen Sie mir den Doktor recht schön, wenn Sie ihn treffen!«
Den Rest hörte Rudi nicht mehr. Mit einem Schwung war Henke über den Korbrand auf den Boden gesprungen. Der Ballon, doppelt entlastet, um Henkes Gewicht und das des schweren Rucksackes erleichtert, schoß mit großer Geschwindigkeit in die Höhe.
Minuten vergingen. Rudi fühlte ein unangenehmes Klingen und Knacken in den Ohren. Mühsam wälzte er sich in eine andere Lage, in der er den Höhenzeiger sehen konnte. Dreitausend Meter wies das Instrument, und langsam stieg der Zeiger immer noch weiter. Mit großer Anstrengung gelang es ihm, sich so weit aufzurichten, daß er einen Blick über den Korbrand werfen konnte. Tief, tief unter ihm lag das Land. Rechts voraus schimmerte am fernen Horizont ein breiter Flußlauf.
Schrecken ergriff ihn. Hilflos war er hier der Gewalt der Elemente ausgeliefert. Wenn nicht ein Wunder geschah, würde der Wind den Ballon in kurzer Zeit in das offene Meer hinaustreiben. Nur eine Möglichkeit der Rettung gab's noch: er mußte landen, bevor der Ballon auf seinem verhängnisvollen Flug die See erreichte. So schnell wie möglich mußte er sich freimachen. Kostbar war jetzt jede Minute. Beinahe hatte er's ja schon einmal geschafft, als der andere dies entdeckte und ihn von neuem band. Jetzt war er allein, jetzt brauchte er seine Bewegungen nicht zu verbergen. Wenn nur etwas Besseres, etwas Schärferes dagewesen wäre, mit dem es schneller ging. Sein Blick fiel auf einen kleinen Blechkanister. Vorher hatte er ihn nicht gesehen. Wo kam der her? Hatte Henke ihn verloren, als er mit seinem Rucksack aus dem Korb sprang? Die Kanten dieses Gefäßes, scharfe Lötnähte, waren jedenfalls viel geeigneter als das Korbblech.
Er wälzte sich, bis seine Handgelenke den Kanister erreichten, begann dagegen zu scheuern und zu reiben und merkte bald, daß die scharfe Kante wie eine Säge in die Fessel schnitt. Angestrengt arbeitete er, doch wertvolle Minuten vergingen darüber. Ein Ruck jetzt, und die eine Fessel fiel ab; noch einmal ein Scheuern, Reiben, Arbeiten und auch jene erste, schon vorher geschwächte, gab nach. Er konnte die Arme und Hände wieder bewegen. Doch nun spürte er auch, wie sehr die lange Fesselung sein Blut zum Stocken gebracht und ihm die Kraft und Beweglichkeit aus den Armen genommen hatte.
Nur mit Mühe konnte er die Hände zu den Füßen bringen und auch dort die Fessel lösen. Endlich war auch das geschehen. Er versuchte aufzustehen und sich zu bewegen, doch es dauerte geraume Zeit, bis er die volle Gewalt über seine Glieder zurückgewann.
Jetzt endlich war's so weit. Mit Gewalt riß er sich zusammen. Wohin war die Fahrt inzwischen gegangen? Immer noch zeigte der Höhenmesser auf dreitausend Meter. Im rosigen Schein der Morgendämmerung glänzte nahe voraus das Meer.
Hinunter mit allen Mitteln! Sofort fallen, sofort landen, das war die einzige Rettung. Er wollte nach der Ventilleine greifen und – griff ins Leere. Erst jetzt sah er, daß Ventil- und Reißleine fehlten. Hoch oben im Füllansatz hatte Henke sie abgeschnitten, ehe er aus dem Korb sprang.
Er griff in die Tasche und fühlte nach seinem Messer. Dann begann er an den Tragseilen in die Höhe zu klimmen. Jetzt stand er auf dem Verbindungsring, jetzt hatte er die Ausläufer des Netzes erreicht. Von Masche zu Masche klomm er in der schwindelnden Höhe weiter empor. Die einzige Möglichkeit, die ihm blieb, bestand ja darin, daß er den obern Teil der Ballonhülle erreichte und eine Öffnung in den Seidenstoff schnitt. Dann würde das Gas dort ausströmen, der Ballon mußte fallen, und vielleicht würde es ihm gelingen, die rettende Erde noch vor der breiten, weißen Brandungslinie zu erreichen, die nah und immer näher heranrückte.
Er schloß die Augen, um durch den Anblick der schauerlichen Tiefe nicht schwindlig zu werden, und zog sich weiter Masche für Masche in die Höhe. Nun hatte er wohl den mittleren, breitesten Teil der Ballonkugel erreicht und hoffte, daß das Weiterklimmen auf der obern, mehr geneigten Fläche leichter vonstatten gehen würde. Da fühlte er eine Bewegung. Es war, als ob der Ballon sich wieder irgendwie drehte.
Unwillkürlich öffnete er die Augen und sah mit Schrecken, daß die Ballonkugel sich unter der Last seines Gewichtes stark auf die Seite legte. Er merkte, daß die Schräglage stärker wurde, sobald er noch weiter nach oben zu klettern versuchte. War ihm der Weg verbaut, der ihm allein Rettung bringen konnte? Durfte er es wagen, noch weiter zu klimmen?
Er versuchte es und ließ sich sofort wieder zurückgleiten. Schien es doch, als ob der Ballon jeden Augenblick kentern könnte. Und dann . . .? Er sah mit ahnungsvoller Deutlichkeit, was dann eintreten mußte. Dann rutschte vielleicht das ganze Netz von der Hülle ab, stürzte mit Ring und Korb in die Tiefe und riß ihn mit in einen sicheren Tod.
So ging es nicht, das sah er ein. Wie eine Fliege klebte er in halber Höhe an der gelben Ballonhülle, während die Netzschnüre immer tiefer in seine Hände schnitten. Unmöglich war es, die obere Ballonhülle zu erreichen, auf der allein ein Schnitt das Gas zum Ausströmen bringen konnte. Noch während er das dachte, sah er die Brandung senkrecht unter sich. Zu spät! Schon lag das rettende Land ihm im Rücken. Sollte er den Sprung in die ungeheure Tiefe wagen, um die See noch in der Nähe der Küste zu erreichen? Ein Sturz aus dreitausend Meter Höhe wäre es geworden. Zehnfache Eisenbahngeschwindigkeit würde sein Körper dabei erreichen. Wie Granit würde das Wasser im Augenblick des Aufpralles wirken und ihn zerschmettern. Unmöglich auch das! Nur der Ballon selbst und die Gondel boten jetzt noch Sicherheit. Sicherheit für wie lange? ging's ihm durch den Sinn, als er aus dem Netz zurückkletterte und sich an den Seilen wieder in den Korb gleiten ließ.
Wie ein Feuerball kam im Osten die Sonne empor. In rosigen Tinten spielte die weite, stahlblaue Fläche. Schon lag die Küste weit hinter ihm. Stärker war die Brise geworden. Schwere Schaumkronen trug die See. So weit das Auge reichte, war kein Schiff, kein Segel zu erspähen.
Nach Nordwest rollten die Wogen, nach Nordwest blies der Wind, nach Nordwest jagte der Ballon über die endlose See dahin. Schon verschwamm das letzte Land am Horizont, wurde unsichtbar, sank unter die Kimme hinab.
*
Der Thüringer Frühzug lief in Gorla ein. Einem Abteil zweiter Klasse entstieg Rübesam und verließ in Begleitung zweier Herren den Bahnhof.
Vergnügt schaute er in den taufrischen Morgen. »Einen schönen Tag haben die Herren sich für ihren Flug ausgesucht«, wandte er sich an einen seiner Begleiter, »klarer Himmel, strammer Südost.« Er zog die frische Morgenluft in tiefen Atemzügen ein. »Man bekommt wahrhaftig Lust, das Laboratorium sich selber zu überlassen und mitzufliegen.«
Der Angeredete wechselte einen Blick mit dem dritten der kleinen Gesellschaft. »Wenn Sie ernstlich Lust haben, Herr Rübesam, ließe sich das am Ende machen. Unser ›Greif‹ hat zweitausend Kubikmeter. Bei Wasserstoffüllung können wir ohne weiteres auch zu dritt fliegen.«
»Ich scherze nur, Herr Baumeister«, erwiderte Rübesam. »Ja, wenn des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr nicht wäre, die uns Fabrikmenschen tagaus, tagein zur Arbeit ruft! Immerhin, bis acht Uhr sind's noch fast drei Stunden. Die Füllung des Ballons und Ihren Abflug will ich mir doch mitansehen. Wir können uns übrigens den Weg abkürzen, meine Herren, ich habe die Schlüssel zum Nordtor bei mir. Wir wollen hier den Wiesenpfad neben der Bahn entlanggehen, da sparen wir eine gute Viertelstunde.«
Sie wanderten über die Wiesen neben dem Bahndamm und kamen schnell zum Tor. Unter Führung des Chemikers mußten sie im Werk erst einige Höfe durchschreiten. Dann folgte noch ein kurzer Weg über freies Gelände und der Gaskessel lag vor ihnen. Schon von weitem sahen sie eine Gruppe von Werkarbeitern, die aufgeregt beisammen standen und gestikulierten.
»Nanu, was halten die denn für ein Palaver ab? Haben ja noch gar nicht mit der Füllung angefangen«, sagte der vorher als Baumeister von Rübesam Angeredete.
»Merkwürdig!« Rübesam schüttelte den Kopf. »Da scheint irgend etwas nicht zu stimmen, meine Herren.«
Sie waren inzwischen näher gekommen, und einer aus der Gruppe lief ihnen entgegen.
»Was ist denn los, Meister Schulz?« rief ihm Rübesam schon von weitem zu. »Warum füllt ihr noch nicht?«
Der Mann, vom Laufen noch außer Atem, stand vor dem Chemiker. »Herr Rübesam, der Ballon ist weg!«
»Was?« – »Wie?« – »Was soll das heißen?« – »Ist doch unmöglich!« Von allen Seiten prasselten Fragen und Ausrufe auf den Meister.
Rübesam faßte ihn am Ärmel. »Erstmal ruhig Blut, Meister Schulz! Der Ballon kann doch nicht spurlos weg sein.«
»Er ist aber weg, Herr Rübesam! Alles weg! Hülle, Netz, Korb und Ballastsäcke. Wie ich vor zehn Minuten mit den Leuten hierher kam, um mit der Füllung anzufangen, da fanden wir nur die Plane. Na, und die liegt ja auch noch hier.«
»Ruhig Blut, Meister Schulz!« Rübesam suchte den Aufgeregten zu beschwichtigen. »Die Sachen sind vielleicht noch im Schuppen eingeschlossen.«
»Nein, Herr Rübesam, wir haben ja schon gestern abend alles hierher gebracht, damit's heute früh schneller gehen sollte. Wir hatten die Hülle schon auf die Plane gelegt – trotzdem. Wir haben auch im Schuppen noch einmal nachgesehen, aber da ist natürlich nichts mehr drin.«
Rübesam faßte sich an die Stirn. »Schockschwerenot, Leute, nehmt doch Vernunft an! Wer soll denn den ganzen Kram hier weggeschleppt haben?«
»Das weiß ich nicht, Herr Rübesam. Aber der Ehrhardt« – er wies auf einen der Werkarbeiter – »der meint, der Gaskessel sei gestern abend viel höher gewesen.«
»Höher gewesen? Unsinn! Heda, Sie, Ehrhardt, kommen Sie doch mal her! Was wollen Sie an dem Gaskessel beobachtet haben?«
Der Angerufene trat heran. »Ja, Herr Rübesam, gestern abend stand der Gaskessel bis oben an den vierten Ring, und jetzt ist er herunter bis zum zweiten.«
Rübesam schaute nach dem Gaskessel. »Stimmt, was der Mann sagt, meine Herren. Der Mann muß recht haben. Vor einem Ballonaufstieg wird der Gaskessel stets bis zum obersten Ring gefüllt. Es muß eine sehr bedeutende Gasmenge aus ihm entnommen worden sein.« Eine Weile schwieg er nachdenklich. Dann sprach er weiter. »Ich glaube, meine Herren, ich sehe die Spur, die zur Lösung des Rätsels führt. Ihr Ballon muß während der Nachtstunden von unbefugter Hand gefüllt und entführt worden sein.«
»Unmöglich!« – »Kaum denkbar!« – »Dazu gehören doch Hilfsmannschaften.« – »Wie konnte das unbemerkt geschehen?« – »Kaum glaublich, daß ein Unkundiger bei dem kräftigen Wind mit dem großen Ballon klar abgekommen ist.«
»Ja, meine Herren, ob glaublich oder unglaublich, die Tatsache steht fest, daß der Ballon und eine bedeutende Menge Gas fehlen. Im Werk ist jetzt um halb sechs noch keiner von den maßgebenden Herren anwesend. Es ist wichtig, daß Sie sofort zur Polizei gehen und dort Meldung machen. Von Polizei wegen müssen gleich alle Behörden in nordwestlicher Richtung telegraphisch benachrichtigt werden. Dringen Sie darauf, daß das geschieht und besonders auch die Landratsämter mobil gemacht werden. Dann besteht die Wahrscheinlichkeit, daß man den Ballon und die Unbekannten, die ihn weggeholt haben, bei der Landung abfaßt. Ich selber werde die Angelegenheit unserm Generaldirektor Geheimrat Scheffer melden, sowie er ins Werk kommt. Etwas anderes können wir im Augenblick nicht tun.«
Der Chemiker brachte die beiden Herren durch das Hauptportal aus dem Werk und ging in seine Wohnung. Seine Wirtschafterin war schon auf und empfing ihn auf dem Flur.
»Ach Gott, Herr Rübesam, da kommen Sie ja endlich! Sie weg, und der junge Herr weg! Gruselig war's die ganze Nacht so allein. Der Wind hat an meinem Fenster geklappert und geschüttelt, daß ich's im Bett nicht mehr aushalten konnte. Da bin ich schon früh raus.«
»Was sagen Sie, Frau Schmidt?« unterbrach Rübesam den Wortschwall der Alten. »Der junge Herr ist nicht da? Ja, wo steckt denn der?«
»Ja, Herr Rübesam, das weiß ich auch nicht. Er ist gestern abend noch mal zu dem Elf-Uhr-Zug auf den Bahnhof gegangen. Mir hat er nur gesagt, er müsse Sie dringend sprechen und wolle Sie auf dem Bahnhof abholen. Weiter habe ich dann nichts mehr von ihm gehört. Heute nacht, so um drei rum, wurde mir aber so graulig; da bin ich wieder aufgestanden, und wie ich die Treppe hinaufkomme, da war die Tür zur Spindenstube weit offen und die Tür zur Schlafstube des jungen Herrn auch, aber der Herr Rudi war nicht da.«
»Und ist seitdem auch nicht gekommen?« unterbrach sie der Chemiker.
»Nein, Herr Rübesam, außer Ihnen ist niemand gekommen.«
Während Rübesam noch überlegte, was er unternehmen könnte, ging die Hausklingel.
»Vielleicht kommt er jetzt, Frau Schmidt.«
Er drehte sich um und öffnete die Haustür. Meister Schulz stand vor ihm.
»Was gibt's Meister?«
»Herr Rübesam, als Sie mit den Herren weggegangen waren, da haben wir den ganzen Platz noch mal genau abgesucht und hinter dem einen Blechstapel da, ganz nahe bei der Plane, haben wir das hier gefunden. Die andern wollten es wegwerfen, aber ich habe mir gedacht, das mußt du Herrn Rübesam zeigen.«
Während er die letzten Worte sprach, zog er eine graue Perücke und eine Handvoll grauen Flachs aus der Jacke und hielt sie dem Chemiker hin. Mit hastigem Griff nahm dieser sie an sich. Mit einem Blick hatte er erkannt, daß es Dinge aus seinem Maskenbeutel waren, aus jenem Beutel, den Rudi in letzter Zeit so oft für seine Verkleidungskünste in Anspruch genommen hatte.
»Dicht bei der Plane haben Sie das gefunden?«
»Ja, Herr Rübesam.«
»So? Das ist sehr wichtig. Ich danke Ihnen, Meister Schulz. Es war gut, daß Sie damit zu mir gekommen sind. Sollten Sie noch irgend etwas anderes entdecken, so melden Sie es mir! Hier, bitte, langen Sie zu!« Er reichte ihm seine Zigarrentasche hin. »Nehmen Sie nur, Meister! Die Sorte kann der ärmste Mann rauchen.«
Mit vielem Dank und einer etwas linkischen Verbeugung nahm Meister Schulz eine Zigarre aus dem Etui. Er kam sich sehr wichtig vor, als er damit abzog. Kaum war er fort, als Rübesam an sein Telephon eilte und ein längeres Gespräch führte. Dann griff er nach Stock und Hut und ging in das Werk, vorbei an seinem Zimmer, den Korridor weiter, der zu dem Heroinsaal führte.
Eine Gestalt schrak zusammen, als er die schwere Eisentür hinter sich ins Schloß warf. Es war Altmüller, der gerade bei den Tablettiermaschinen stand. Rübesam sah sich um und ging auf ihn zu. »Wo ist Ihr Kollege, Altmüller? Wo steckt der Henke?«
Stotternd brachte Altmüller die Antwort heraus: »Herr – Herr Rübesam, der Henke ist eben mal rausgegangen – eben mal rausgegangen.«
»So, Altmüller? Eben mal rausgegangen? Was heißt eben? Wann ist er rausgegangen? Das möchte ich genau wissen.«
Während er die Frage stellte, sah er Altmüller scharf an. Dieser hielt den Blick nicht aus, schlug die Augen nieder und wurde immer verwirrter.
»Reden Sie, Altmüller! Versuchen sie nicht, mich zu belügen! Ich weiß mehr, als Sie denken.«
»Vor einiger Zeit ist er rausgegangen, Herr Rübesam. Er sagte, er wolle gleich wiederkommen.«
»Keine Umschweife, Altmüller! Genau auf Stunde und Minute will ich von Ihnen wissen, wann Henke hier fortgegangen ist. Ich warne Sie nochmals, lügen Sie nicht!«
Altmüllers Stimme klang weinerlich, als er antwortete: »Herr Rübesam, ich kann doch nichts dafür, daß er nicht wiedergekommen ist. Er hat's mir doch fest versprochen, daß er wiederkommen wollte.«
»Zum Kuckuck, Altmüller, verstehen Sie kein Deutsch? Um wieviel Uhr und wieviel Minuten ist Henke hier rausgegangen? Wollen Sie endlich reden?«
»Ach, Herr Rübesam, das ist so gegen elf Uhr rum gewesen.«
»So, mein Freund! Um elf Uhr drückt sich der Halunke. Jetzt ist's gleich sechs. Sie sind die ganze Schicht über allein im Saal und machen keine Meldung über das Verschwinden? Scheinen ja nett mit dem unter einer Decke zu stecken. Na, Sie werden sehen, was Sie davon haben.« Er ging zur Saaltür und trat auf den Flur. Ein kurzes, hastiges Flüstern dort. Nach wenigen Minuten kam er mit einem andern, etwas stämmigen, untersetzten Herrn zurück. »Bitte, Herr Wachtmeister, das ist Altmüller, der Kollege und zweifellos Helfershelfer des entflohenen Henke. Dringend verdächtig des Diebstahls von Heroin.«
»Nein, nein, Herr Rübesam, ich habe nicht gestohlen! Henke ist der Dieb! Der allein . . .«
Altmüller bot ein Bild des Jammers. Aschgrau und verfallen sah er jetzt aus. Kaum vermochten die zitternden Knie noch den Leib zu tragen. Rübesams Begleiter trat dicht an ihn heran, griff in die Tasche und hielt ihm eine metallene Marke hin. »Kriminalpolizei. Sie sind verhaftet. Ziehen Sie sich an und kommen Sie mit!«
»Nicht einsperren lassen, Herr Rübesam, nicht einsperren! Meine arme Frau, meine Kinder! Ich bin's doch nicht gewesen! Henke war's; der hat hier immer die Schraube an der Leitung losgedreht und das Heroin gestohlen.«
Der Kriminalwachtmeister griff ihn am Arm und zog ihn in die Höhe. »Kommen Sie mit, Mann! Das können Sie mir alles in meinem Büro erzählen.«
Noch sträubte sich Altmüller, als er eine feine, kräftige Fessel an seinem Handgelenk fühlte. Ganz plötzlich war sein rechter Arm mit dem linken des Wachtmeisters fest verbunden.
»Machen Sie hier kein Theater, kommen Sie mit, Altmüller!« Er ging und zwang den Gefangenen, neben ihm zu gehen, ihm zu folgen.
Rübesam kehrte in sein Zimmer zurück. Seine Sorge um Rudi war durch das, was er in der letzten Stunde erlebt und erfahren hatte, nicht geringer geworden.
*
»Da fliegt der Vogel! Feiner Luftsprung! Laß dir's gut bekommen, du!«
Henke sprach die Worte, während er dem enteilenden Ballon nachschaute. Immer kleiner war die gelbe Kugel in den wenigen Minuten geworden, seitdem er sie verlassen hatte. Eben noch ein Apfel, jetzt nur noch so groß wie eine Kirsche, erschien der Ballon am fernen Horizont.
»Glückliche Fahrt in die Nordsee! Gut gemacht, Henke! Diesmal ist's kein leerer Kessel. Den sind wir los.«
Er setzte sich die Mütze fester und wandte sich zum Gehen. Nach wenigen Schritten erreichte er einen Fußpfad und folgte ihm in nördlicher Richtung. Rüstig wanderte er dahin. Doch Viertelstunde um Viertelstunde verging, und immer drückender wurde die Last von hundertzwanzig Pfund, die er auf dem Rücken trug. An einem Grenzstein blieb er stehen, legte den schweren Sack ab und trocknete sich die Stirn.
Verdammte Geschichte, wenn er sich hier in der wenig besiedelten Gegend etwa verlaufen hatte! Er zog die Karte zu Rate und verglich, versuchte die verwaschenen Buchstaben an dem Stein zu entziffern. Doch nach langem Überlegen kam er zu keinem andern Entschluß, als dem eingeschlagenen Pfad auch weiter zu folgen. Sollte er sich seiner Last entledigen, wenigstens etwas aus dem schweren Sack ausschütten? Leichter würde das Vorwärtskommen danach sicher sein. Doch nur einen Augenblick überlegte er.
Nein! Mit viel zu viel Gefahr und Mühe war der Stoff erworben, um ihn fortzuwerfen. Murrend und schimpfend schnallte er sich den schweren Sack wieder an. Noch oft mußte er rasten und neue Kräfte sammeln. Erst gegen Mittag erreichte er eine Landstraße, und für Geld und gute Worte nahm ein Bauer ihn und seinen Rucksack auf seinem Wagen bis nach Harburg mit. –
In seinem Hause in Hamburg saß Rasmussen zusammen mit Susanne am Teetisch.
»Wie gut, Väterchen, daß wir bei Professor Morelle waren! Mich dünkt, als habe er ein Wunder an dir getan.«
Rasmussen nickte ihr zu. »Du hast recht, mein Kind. Ich kann's ohne Übertreibung sagen, ich fühle mich nach der Behandlung durch den Professor wie neugeboren. Selbst die lange Fahrt heute nacht hat mich nicht angegriffen. Wir wollen hoffen, daß es so bleibt.«
»Aber gewiß doch, Väterchen! Der Professor hat dir ja selbst gesagt, daß du so alt wie Methusalem werden kannst.«
Rasmussen lachte. »Da hat er wohl etwas übertrieben. Ich bin auch mit weniger zufrieden.«
Susanne griff nach einer Abendzeitung neben dem Teegedeck und durchblätterte sie. Dabei sprach sie weiter: »Es ist doch schön, daß wir wieder in unserm lieben alten Hamburg sind. Ich hatte schon fast vergessen, wie eine Nummer des ›Hamburgischen Korrespondenten‹ aussieht, 's ist aber noch immer dasselbe wie früher. Schiffsbewegungen auf der Elbe – die »Thuringia« ist heute früh um elf Uhr im Amerikahafen angekommen. Die »Columbia« ist mit der Mittagsflut nach Cuxhaven gegangen. – Hamburger Börse, Kurse von Chemikalien – das interessiert dich wohl mehr als mich. – Letzte Nachrichten. Was gibt's denn da noch? Ah, das ist ja merkwürdig. Hör mal, Väterchen, was hier fettgedruckt steht! ›Freiballon auf rätselhafte Weise verschwunden. Telegramm unseres Sonderberichterstatters aus Gorla. Der Ballon ›Greif‹ des Aeronautischen Vereins Erfurt, der heute früh in den Gorla-Werken aufsteigen sollte, ist über Nacht spurlos verschwunden. Als die Werkarbeiter heute früh um fünf Uhr auf den Platz kamen, um ihn zu füllen, lag nur noch die Plane da. Hülle, Netz, Korb und alles andere fehlten. Man steht vor einem Rätsel. Die Polizei arbeitet fieberhaft und verfolgt eine bestimmte Spur. – Kannst du mir sagen, was das zu bedeuten hat? Ein ganzer Ballon ist einfach weg.«
Rasmussen schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, mein Kind. Heutzutage wird ja alles mögliche und unmögliche gestohlen. Wer weiß, vielleicht ist es irgendein Seidenliebhaber gewesen. Ballonseide pflegt erster Güte zu sein. Sie ist allerdings gefirnißt, aber vorzügliche Regenmäntel lassen sich immer daraus machen.«
»Ja, aber Väterchen, du vergißt doch, daß Netz und Korb auch weg sind.«
»Hm, ja, Susanne, das hatte ich im Augenblick übersehen. Dann sieht's ja doch beinahe so aus, als ob irgendein dunkler Anhänger des Luftsportes den Ballon heimlich gefüllt habe und kurzerhand damit fortgeflogen sei. In der Tat eine merkwürdige Geschichte. Weit dürfte er kaum kommen, bei der Landung wird man ihn doch sicher erwischen.« Er wandte sich zur Tür, durch die ein Diener hereinkam. »Was gibt's, John?«
»Herr Rasmussen, es ist ein Herr – ein Mann draußen, der Sie sprechen möchte.«
Rasmussen machte eine unwillige Bewegung. »Sie wissen, John, daß ich um diese Zeit nicht zu sprechen bin. Schicken Sie den Menschen fort!«
»Das wollte ich auch tun, Herr Rasmussen. Da hat er mir diesen Brief gegeben und gesagt, den soll ich dem Herrn geben.«
Rasmussen schüttelte ärgerlich den Kopf. »Unglaublich, John! Ich habe Sie als Diener und nicht als Briefträger verpflichtet.«
Der Diener wurde verlegen. »Verzeihung, Herr Rasmussen! Der Mann sagte, es sei eine Angelegenheit von äußerster Wichtigkeit, und – Sie würden später sehr böse sein, wenn ich Ihnen den Brief nicht gleich brächte.«
»Unsinn, John! Irgendein Bettelbrief wird es sein.«
»Sieh doch einfach nach, Väterchen! Dann weißt du ja gleich, was es ist«, mischte sich Susanne ein.
»Meinetwegen!« Rasmussen griff nach einem Messer und öffnete das Schreiben. Ein einfacher Zettel mit ein paar Worten steckten in dem Umschlag. Er überflog den Inhalt und sank schwer atmend in seinen Sessel zurück.
Zeichen der geheimen Chiffre waren es, die auf dem Papier standen, eine Buchstabengruppe darunter, die äußerste Dringlichkeit bedeutete.
»Es ist gut, John«, – Rasmussens Stimme klang heiser – »führen Sie den Mann in mein Arbeitszimmer!«
»Väterchen, ich fürchte, der Besuch regt dich auf. Schicke den Menschen doch fort! Laß ihm sagen, daß er ein andermal kommen soll.«
Rasmussen war schon aufgestanden. »Laß nur, mein Kind, Geschäft ist Geschäft. Ich will sehen, daß ich schnell mit ihm fertig werde.« Er verließ den Raum und ging in das Arbeitszimmer hinüber. Dort saß ein Mann auf einem Stuhl. Ein schwerer Rucksack stand neben ihm auf dem Smyrnateppich. Übernächtig, verstaubt und angegriffen sah der Mensch aus. Beim Eintritt Rasmussens erhob er sich.
»Was wünschen Sie von mir?« fragte Rasmussen. Während er den Mann anblickte, schien ihm eine Erinnerung zu kommen. »Ich glaube, ich kenne Sie. Sie sind – Sie sind doch . . .«
»Ich bin Henke, Herr Rasmussen, der Henke, dem Sie mal die Stellung in Gorla besorgt haben.«
»Ach ja – Henke, ich erinnere mich. Bitte, behalten Sie Platz und sagen Sie mir, was Sie wünschen.«
Rasmussen ließ sich in einen Sessel nieder. Henke drehte seine Mütze in den Händen und suchte nach einer Einleitung für seine Rede. »Ja also, Herr Rasmussen, um es kurz zu sagen: die Sache in Gorla fliegt auf.«
Rasmussen wurde blaß. »Was soll das heißen, Herr Henke? Erklären Sie sich deutlicher.«
Henke hatte inzwischen seine Sicherheit wiedergewonnen. »Da ist nicht viel zu erklären, Herr Rasmussen. Die Leute in Gorla sind uns hinter die Schliche gekommen. Ich fürchte, daß man meinen Kollegen Altmüller schon eingesperrt hat. Ich selbst bin eben noch so gerade im letzten Augenblick davongekommen.«
»Soso, das sind ja erbauliche Neuigkeiten. Reden Sie doch weiter, Mann! Erzählen Sie, was eigentlich geschehen ist.«
»Was soll ich da erzählen? Unsereiner hat ja auch einen Riecher für solche Sachen. Die ganze letzte Zeit saß man schon wie auf dem Pulverfaß. Die Geschichte wurde von Tag zu Tag fauler. Schließlich sagte ich mir: wenn die immer noch nicht zugegriffen haben, so geschieht's nur darum, weil sie noch mehr herauskriegen wollen.«
Rasmussen unterbrach ihn. »Das sind doch allgemeine Redensarten, Herr Henke. Sagen Sie mir doch klipp und klar, warum Sie Ihre Stellung in Gorla verlassen haben. Triftige Gründe möchte ich hören.«
»Triftige Gründe! Na, ich danke, Herr Rasmussen, da kann ich Ihnen drei Tage lang welche erzählen. Verkleidete Spione im Werk – meine Briefe von einem andern abgeholt – zuletzt gestern abend noch der Krach mit unserm Meister. Da sagte ich mir: jetzt wird's allerhöchste Zeit, Henke! Jetzt verdufte mal so schnell wie möglich! Na, und da bin ich denn noch gleich in der Nachtschicht losgegangen.«
»In der Nachtschicht? Und da sind Sie jetzt schon hier in Hamburg? Wie war denn das so schnell möglich?«
»Wenn ich's Ihnen nicht sage, Herr Rasmussen, dann werden Sie das kaum raten. Wissen Sie, es blies ein so schöner Südost, und da . . .«
Blitzartig durchzuckte es Rasmussen. Er fiel dem andern ins Wort. »Mensch, sind Sie etwa mit dem Freiballon weggeflogen?«
Henke sah ihn erstaunt an. »Woher – woher wissen Sie, Herr . . .?«
»Weil's schon in der Abendzeitung steht, Mann, daß der Ballon »Greif« aus dem Gorla-Werk spurlos verschwunden ist. Viel dümmer konnten Sie's kaum anfangen, wenn Sie unauffällig wegkommen wollten.«
»Da irren Sie sich aber, Herr Rasmussen. Ich denke, daß ich's gerade fein gemacht habe. Auf der Eisenbahn hätten sie mich vielleicht schon gekriegt, aber mit dem Ballon hat mich keiner wegfliegen und hier keiner landen sehen. Woher sollen die wissen, daß ich's gewesen bin?«
»Sind Sie sicher, daß Sie niemand bei Ihrer Landung gesehen hat?«
»Todsicher, Herr Rasmussen. Ich bin da einige zwanzig Kilometer südlich von Harburg in einer gottverlassenen Gegend niedergegangen. Kiefernheide, Wiese, weit und breit keine Menschenseele.«
»Aber der Ballon? Den wird man doch finden, hat ihn vielleicht schon gefunden. Dann hat man auch Ihre Spur.«
Henke verzog den Mund zu einem Grinsen. »So dumm ist Henke doch nicht, Herr Rasmussen! Der Rucksack da und ich, wir wiegen zusammen drei Zentner. Was meinen Sie, wie der Ballon wieder losgegangen ist, sowie ich draußen war. Der ist jetzt bestimmt schon weit über der Nordsee.«
Rasmussen überlegte eine Weile. »Hm, hm, das ändert das Bild. Da wird man am Ende annehmen, daß Sie mit dem Ballon auf das Meer abgetrieben sind.«
Henke nickte. »So ist's, Herr Rasmussen! Man wird jetzt glauben, daß der arme, brave Henke in der Nordsee ertrunken ist. Das habe ich ja gerade gewollt, Herr Rasmussen, als ich den leeren Ballon wieder hochgehen ließ. Sonst hätte ich ihn bei der Landung ja einfach aufreißen können. Auf die Art habe ich vorläufig Ruhe vor der Polizei. Das heißt, ich muß natürlich irgendwo untertauchen. Ja, und deswegen bin ich jetzt zu Ihnen gekommen.«
»Zu mir?« Rasmussen schüttelte abweisend den Kopf. »Sie wissen vielleicht nicht, Herr Henke, daß ich mich von diesen Geschäften vollständig zurückgezogen habe. Ich habe mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun.«
»So, Herr Rasmussen? Ist ja sehr schön für Sie, aber was soll ich jetzt machen?«
Rasmussen zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht, Herr Henke!«
»So, Sie wissen es nicht? Wenn aber die Polizei mich hier in Hamburg faßt und einsperrt?«
Wieder ein Achselzucken Rasmussens.
»Und wenn ich dann sage, Herr Rasmussen: ›Ja, ihr habt den Henke gegriffen, den Herr Rasmussen nach Gorla empfohlen hat. Den Henke, der da jahrelang Heroin gestohlen hat, und der feine Herr Rasmussen hat dicke Geschäfte damit gemacht. Aber jetzt will mich der Herr Rasmussen nicht mehr kennen, weil er sich von diesem Geschäft . . .‹« Er lachte hämisch auf. »Wie vornehm das klingt! . . . ›Weil er sich von diesem Geschäft zurückgezogen hat.‹ Vielleicht glaubt's Ihnen die Polizei, Herr Rasmussen, vielleicht auch nicht.«
Rasmussen faßte sich an den Hals, als ob ihm der Kragen zu eng würde. »Was wollen Sie denn, Mann? Was soll ich für Sie tun?«
»Mich verstecken, Herr Rasmussen! Mich hier verstecken, bis sich eine Gelegenheit findet, über die Grenze zu kommen. Lange wird's nicht dauern. Unsere Leute in London müssen mir schleunigst einen andern Paß besorgen. Dann geht's sofort weiter, nach England oder Polen, ist mir gleich, wohin. Bloß raus hier aus der dicken Luft! So bald soll mich Deutschland nicht wiedersehen.«
Kurze Zeit schwiegen beide. Dann sagte Rasmussen: »Es bleibt mir nichts anderes übrig, als Ihren Wunsch zu erfüllen. Ich hoffe, Sie werden vernünftig sein und mir keine Schwierigkeiten machen.«
Henke atmete erleichtert auf. »Bestimmt nicht, Herr Rasmussen! Ich werde alles tun, was Sie wollen, bloß helfen Sie mir jetzt aus der Klemme.«
»Ich nehme Ihr Versprechen an.« Rasmussen überlegte kurze Zeit. »Sagen Sie mal, verstehen Sie was von Gartenarbeit?«
»Ja, gewiß, Herr Rasmussen. In Gorla habe ich die ganze Zeit meinen eigenen Garten gehabt.«
»Hm, so! Wissen Sie auch mit Kraftfahrzeugen Bescheid?«
Henke schlug sich auf die Brusttasche. »Führerschein 3b, Herr Rasmussen! Kann Ihnen jeden Wagen fahren. Bloß mit dem Führerschein auf den Namen Henke möchte ich jetzt nicht gerade fahren.«
»Sollen Sie auch nicht. Es ist nur wegen der andern Leute im Hause, weil mein Gärtner auch immer Chauffeur gewesen ist. Ich stelle Sie zunächst als Gärtner bei mir ein. Sie werden heute noch nach London um neue, gute Papiere schreiben, denn ich muß Sie polizeilich anmelden. Bis die neuen Ausweise da sind, werden Sie sich nur im Garten beschäftigen und nicht auf die Straße gehen.«
So geschah es, daß C. F. Rasmussen einen neuen Gärtner in seine Dienste nahm.
Über den Fabrikarbeiter Henke aus Gorla stand in den nächsten Tagen mancherlei in der Zeitung zu lesen. Die allgemeine Ansicht ging dahin, daß er, der Ballonführung unkundig, mit dem gestohlenen »Greif« in die Nordsee abgetrieben und umgekommen sei.
*
Im Norden Schottlands liegt zwischen Bergen und Mooren eingebettet der »Loch Kilbreck«, ein stiller, verträumter See. An seinem westlichen Ende erhebt sich inmitten eines ausgedehnten Parkes Duncan-Castle, ein altes, im normannische« Stil erbautes Schloß aus der Tudorzeit.
Der Schloßherr war Mac Andrew. Wenige Jahre nach dem großen Kriege hatte er den alten Bau von den Erben des Vorbesitzers erworben. Von hier aus leitete er die Geschäfte seiner Gesellschaft, wenn ihn nicht besondere Umstände dazu zwangen, persönlich in den einzelnen Ländern des Festlandes nach dem Rechten zu sehen. Hierher wurden von ihm auch Mitglieder der Gesellschaft bestellt, die Grund hatten, für einige Zeit zu verschwinden. In der Tat war Duncan-Castle ein idealer Zufluchtsort für alle, die irgendwie Veranlassung hatten, sich zu verbergen. Fast unbewohnt war die aus Waldungen und Hochmooren bestehende Umgebung. Nur wenige Fischer und Farmer, die, kaum des Englischen mächtig, noch ihre alte keltische Mundart sprachen und nach Urväterweise in Torfhütten dahinlebten.
In einem Turmzimmer, das weiten Ausblick über den See gewährte, saßen Mac Andrew und Morton zusammen.
»Well, Morton, ich kann Ihnen nicht helfen; Sie müssen noch hierbleiben. Die Sache in Genf hat zu viel Staub aufgewirbelt.«
»Sie meinen den Kerl, den Bouton, Mac Andrew? Tut mir heute noch leid, daß ich den nicht gleich totgeschlagen habe.«
»Wäre vielleicht besser gewesen, Morton, wenn Sie's getan hätten. So müssen wir uns vielleicht noch diese Mühe nehmen. Bouton, so lange Jahre unser treues Mitglied, steht im Einvernehmen mit der Polizei! Seine Wut auf Sie, Morton, ist unbeschreiblich. Er hat Sie in einer Weise bloßgestellt, daß Sie an der schweizerischen Grenze sofort verhaftet würden.«
Morton knurrte vor sich hin. »Gibt noch andere Gegenden als das Schweizerländchen. Habe es satt bis an den Hals, hier untätig herumzusitzen.«
»Sie vergessen, Morton, daß dieses Ländchen engste Fühlung mit der internationalen Polizei hält. Es könnten Ihnen auch anderswo Unannehmlichkeiten begegnen.«
Morton schlug auf den Tisch. »Man kann hier vor Langeweile umkommen! Wenn Sie nicht hier sind, ist's überhaupt nicht zum Aushalten. Kaum ein Mensch, der ein vernünftiges Wort Englisch versteht. Keiner, mit dem man Golf oder Kricket spielen kann. Schauderhaft langweilig, sage ich Ihnen, Mac Andrew.«
»Hilft nichts, Morton. Die Geschichte haben Sie sich selber eingebrockt. Sie können aber doch mit Jefferson spielen. Der ist früher ein vorzüglicher Golfspieler gewesen.«
»Früher vielleicht, Mac Andrew. Ein halb verblödetes Wrack ist der Kerl heute. Haut dreimal daneben, bis er einmal den Ball trifft. Der Teufel soll mit dem spielen! Einmal habe ich's versucht, einmal und nicht wieder. Gefährlich ist der Idiot dabei. Wie er da neulich mal mit dem Schläger zuhieb, an dem Ball natürlich vorbei, aber mir um ein Haar an den Schädel. Schien mir förmlich Absicht von dem verrückten Büffel zu sein. Wenn ich mich nicht blitzartig geduckt hätte, wär's aus mit mir gewesen. Na, der hat ein Ding wiedergekriegt, an das er trotz aller Blödigkeit denken wird. Mit dem spiele ich nicht mehr, no, Sir! Da gehe ich schon lieber mit Ihren Fischern auf den Loch Kilbreck Salme fangen.«
Mac Andrew konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Kommt alles von Ihrer Unbesonnenheit, Morton. Welcher Teufel trieb Sie, den Bouton knockout zu schlagen?« Er wurde wieder ernst. »Denken Sie etwa, daß ich Sie gern im Geschäft entbehre? By Jove nicht. Schlechte Nachrichten von überall. Fehlen uns jetzt tüchtige Leute an allen Ecken und Enden. Wissen Sie schon, daß X. C. 17 aus Gorla fliehen mußte?«
Morton sah ihn erstaunt an. »Keine Ahnung, Mac Andrew. Was ist da vorgekommen?«
»Habe selbst noch keine Einzelheiten, Morton. Weiß nur, daß er bei Rasmussen untergekrochen ist und dringend um neue Papiere geschrieben hat.« Er deutete auf einige Schriftstücke. »Ist schon alles besorgt. Neuer Paß auf den Namen Müller. Habe mir sagen lassen, daß Müller ein sehr guter deutscher Name sein soll, ähnlich wie unser englischer Miller. Man sagt ja, daß es ein Volk gibt, das Miller heißt. X. C. 17 hat außerdem noch einen Automobilführerschein verlangt. Merkwürdige Leute in Germany! Schreiben vor, daß jeder einen Schein besitzt, der einen Wagen fahren will. Geht bei uns in Schottland auch ohne solche Umstände. Ist jedenfalls alles bereit. Das Flugzeug wird die Papiere gleich bis London mitnehmen.«
»Ein Flugzeug? Wie kommen Sie auf diesen Gedanken, Mac Andrew? Wie soll in diese verlassene Gegend ein Flugzeug kommen?«
Mac Andrew blickte auf die Uhr. »Ich wundere mich, daß es noch nicht da ist. Ich erwarte van Holsten. Er soll auf dem Flugplatz in Henderson ein Privatflugzeug chartern und ohne Aufenthalt nach Duncan-Castle weiterfliegen.«
Morton zuckte die Achseln. »Ein Flugzeug nach hier? Hat doch gar keine Landungsmöglichkeit! Der Pilot wird sich hüten.«
»Sie vergessen unsern Loch Kilbreck, Morton. Einen besseren Platz für Wasserflugzeuge dürfte es kaum geben. Wenn ich mich nicht täusche . . .« Er trat an das Südfenster und blickte hinaus. »Das klingt nach Propellergeräusch. Ah, sehen Sie, Morton! Da hinten über der Meviskuppe kommt es.«
Schnell wurde das Flugzeug größer. Nun stand es über dem Loch Kilbreck, beschrieb einen Kreis und ging im spiralförmigen Gleitflug auf die Wasserfläche nieder. Wie eine Gondel trieb es auf der Wasserfläche weiter und machte am Bootssteg von Duncan-Castle fest.
Nur ein einziger Fluggast kam an Land, van Holsten, der heute brünett und verhältnismäßig schlank aussah. Mehr durch Gebärden als durch Worte wies ihm einer der keltischen Bediensteten den Weg zum Turmzimmer. Ein kräftiger Händedruck, eine kurze Begrüßung. Er warf sich in einen der altersgrauen Sessel und verschwand beinahe darin.
»Soll ich Ihnen eine Erfrischung kommen lassen, van Holsten?«
»Nicht nötig, Mac Andrew! War alles im Flugzeug vorhanden.«
»Well, dann sprechen Sie! Wie war's in Port Said?«
»Halb so und halb so, Mac Andrew.«
»Verstehe nicht. Reden Sie deutlicher!« knurrte Morton dazwischen.
»Gentlemen, was den neuen Polizeikommandeur betrifft, so ist es verdammt schwer, an den heranzukommen. Das Zauberwort im Orient heißt Bakschisch. Das fängt bei den Türschließern an und geht bis zum Pascha. Mit beiden Pfoten nehmen die Kerle, und wenn sie vier hätten, würden sie mit vieren nehmen.«
Mac Andrew runzelte die Stirn. »Wir wissen, van Holsten, daß Ihre Aufgabe nicht einfach ist. Die Hauptsache: wie weit sind Sie gekommen?«
»Bis an die dritte Instanz, Mac Andrew. Die habe ich sicher. Ein Schriftstück, das uns interessiert, kommt jetzt nicht mehr aus den Büros heraus, ohne daß wir's erfahren. Die zweite Instanz habe ich in der Arbeit. Hoffe sie bald zu haben. Aber . . .«
»Aber? Was für ein Aber?« unterbrach ihn der Chef.
»Die erste Instanz, Mac Andrew, die oberste, der Kommandeur selber! Unmenschlich schwer ist es, an den ran zu kommen. Der ist wie der Glasberg aus der Sage. Man gleitet an ihm ab und kann sich unter Umständen das Genick brechen.«
»Nicht gerade erfreulich, van Holsten! Glauben Sie, daß Sie's schaffen werden?«
»Ich hoffe, ja. Denke immer noch, daß es nur das alte Spiel ist, um den Preis möglichst hoch zu treiben. Man tut so lange unnahbar, bis genug geboten wird, und dann schlägt man zu. Wenn es gut geht, kann ich ihn bei meinem nächsten Besuch in Port Said in der Tasche haben.«
»Dann gehe ich nach Ägypten«, fuhr Morton dazwischen.
Mac Andrew sah den Holländer prüfend an. »Sie sehen so aus, van Holsten, als ob Sie noch andere Neuigkeiten auf Lager haben. Täusche ich mich oder ist's so?«
»Sie haben recht, Mac Andrew.« Van Holsten warf sich in den Sessel zurück. »Gentlemen, ich sehe neue große Möglichkeiten für unser Geschäft, die wir bisher unbegreiflicherweise übersehen – jedenfalls noch nicht ausgenutzt haben.«
Gespannt blickten ihn seine beiden Partner an.
Eine Weile ließ er sie warten, dann fuhr er fort: »Gentlemen, haben Sie jemals die Tatsache in Ihre Rechnung einbezogen, daß das diplomatische Gepäck – darunter versteht man das Gepäck aller diplomatischen Vertreter vom Gesandten bis zum letzten Konsulatsbeamten – exterritorial ist? Haben Sie jemals den Umstand benutzt, daß dieses Gepäck jede Zollschranke unkontrolliert und ungeöffnet überschreitet? Wenn Sie's bisher nicht getan haben, Gentlemen, dann haben Sie sich viel entgehen lassen.«
Morton lachte spöttisch auf. »Feiner Gedanke von Ihnen, van Holsten! Der deutsche Botschafter in Paris wird großen Wert darauf legen, für uns Heroin aus Gorla in seinem Gepäck nach Frankreich mitzunehmen.«
Mac Andrew zuckte die Achseln. »Eine Möglichkeit wär's vielleicht. Aber ich fürchte, die Sache wird viel teurer als unsere bisherigen Verfahren.«
»Falsch, Mac Andrew, ganz falsch!« fiel ihm van Holsten ins Wort. »Natürlich an den deutschen Botschafter, den Morton hier nannte, dürfen wir dabei nicht denken. Aber die exotischen Herrschaften, diese Konsuln und Gesandten von China und Afghanistan und Beludschistan und Konkaragua und was weiß ich sonst noch, die sitzen da in den Hauptstädten und bekommen ihr Gehalt teils gar nicht und teils nur sehr bruchstückweise. Die sind auf Nebengeschäfte angewiesen und zu billigen Preisen zu haben, besonders jetzt, wo der Verkauf von allerlei exotischen Würden an titelsüchtige Narren anfängt schlechter zu gehen.«
Mac Andrew unterbrach ihn. »Das ist nicht uninteressant, was Sie uns erzählen, van Holsten. Sie haben in der Tat recht. Darauf läßt sich vielleicht ein neues großes Geschäft begründen. Haben Sie in der Angelegenheit schon etwas unternommen?«
»Yes, Sir, ich habe mit dem Vertreter von Beludschistan in Alexandria Fühlung genommen. Der Mann ist mit Vergnügen auf meine Vorschläge eingegangen. Seine Kuriere können auf ihren Reisen durch Deutschland jedesmal bequem einen Zentner mitnehmen.«
»Wie oft?« unterbrach ihn der Chef.
»Gegenwärtig kommt nur jeden Monat ein Kurier. Wenn es sich lohnt, kann auch jede Woche einer reisen.«
Mac Andrew griff nach einem Blatt Papier und warf Zahlen darauf. »Vier Zentner im Monat. Ein Posten, der nicht zu verachten ist.«
»Besonders deshalb nicht, Mac Andrew, weil dieser Mann aus Beludschistan nur einer von vielen ist. Es gibt Dutzende von der Sorte, mit denen wir das gleiche Geschäft machen können.«
Mac Andrew rechnete auf dem Blatt weiter. »Es käme auf die Kosten an, van Holsten. Was verlangt der Mann aus Beludschistan dafür?«
»Es ist bescheiden, Mac Andrew. Für das, was mit dem jetzigen Kurierdienst geht, nur zehn Prozent des Verkaufswertes. Wenn er den Dienst unsertwegen verstärkt, müssen wir allerdings noch etwas zu den Kosten beitragen.«
»Wieviel, van Holsten?«
»Ich habe ihm fünfzehn Prozent vorgeschlagen. Dann ist's für uns eine glatte Rechnung, und er kann uns nicht mit allerhand Sonderspesen kommen.«
Wieder raschelte der Bleistift in Mac Andrews Hand über das Papier. »Well, van Holsten, das Geschäft können wir machen. Bringen Sie mit dem Mann alles ins reine, sobald Sie wieder in Ägypten sind. Versuchen Sie bei der Gelegenheit noch andere ähnliche Verbindungen zu bekommen! Ich werde Ihr Konto in Kairo noch heute auf dreitausend Pfund aufschütten lassen.«
»Well, Sir!«
Van Holsten erhob sich und ging. Wenige Minuten später dröhnten vom See her die Motoren. In schnellem Fluge entführte ihn der schimmernde Vogel wieder nach Süden.