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Eine Dichtung
(1899)
Kam der Frühling in die Gasse,
Und von seinen hellen Strahlen
Schimmerten der Mädchen Haare
Wie von glänzenden Opalen.
Und es weitete die Sehnsucht
Die ergrauten Ghettomauern,
Wo Gestrüpp und Dornensträucher
Um des Volkes Freiheit trauern,
Wo der Widerhall nur zittert,
Wenn die Juden Tote bergen,
Wenn die Erde rinnt auf Erde
Von den holzgebauten Särgen …
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Kam der Frühling in die Gasse …
Nur die schöne Rahel klagte,
Weil der Vater ihr die letzten
Wünsche seines Lebens sagte.
Denn ins Haus des alten Jakob,
Den die ganze Stadt verehrte,
Dessen weisen Rat und Ausspruch
Auch der Fremde stets begehrte,
Schlich der Tod. Die schöne Rahel
faltete die jungen Hände,
Als der rote Glanz der Sonne
Glühte durch des Zimmers Wände
Und des Toten Stirne küßte,
Wie zum Dank, daß er geboren,
Um zu bessern, die den Glauben
An ihr eignes Selbst verloren.
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Rahel war die schönste Jüdin.
Ihres Mundes Perlenzähne
Glänzten wie der Silberschimmer
Einer bergkristallnen Träne.
In der schwarzen Glut der Augen
Und dem Feuerschein der Wangen
Schien das zaubergleiche Bildnis
Einer Märchenwelt zu hangen.
Und der Wohllaut ihrer Stimme
Klang wie seelisches Frohlocken,
Und die Hände waren weißer
Als die weißen Maienglocken.
Rahel war die reichste Jüdin.
Ihres Herzens Kostbarkeiten
Linderten die stumme Armut
Weltvergessner Einsamkeiten.
Rahel war die ärmste Jüdin.
Trug man doch den Einzig-Guten,
Ihren Vater, dorthin, wo die
Ewig-Friedevollen ruhten.
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Seit dem Tod des weisen Jakob
Waren Jahre schon verflossen.
Dreimal hatte schon der Frühling
Seine Blüten ausgegossen.
Und des Ghettos schönste Jüdin
Öffnete des Friedhofs Pforte,
Um den Totensang zu singen
An des Vaters gutem Orte.
Ihres Vaters Erde schmückten
Junge Gräser, Efeuranken,
Kleine weiße Glitzersteine,
Die des Frühlings Wärme tranken.
Leise zog sie aus der Erde
Einen Grashalm nach dem andern,
Legte Steinchen drauf und ließ die
Tränen zu dem Toten wandern.
Und sie weinte lange Stunden,
Bis zum Abend, da die Sterne,
Wie verträumte Jugendtage,
Grüßten aus der blauen Ferne.
Und sie weinte wie ein Mädchen,
Das der Väter stolzen Sitten
Nicht gefolgt und für die Sünde
Ihres Volkes Fluch gelitten.
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In dem Haus des weisen Jakob
Schien das Leben ausgestorben,
Gleich als hielte ein Geheimnis
Sich darinnen scheu verborgen.
Und man merkte, wie die Juden
Ängstlich-still vorüberschlichen;
Das Erinnern an den Weisen
War seit langem schon gewichen.
Denn das Ghetto hatte seine
Schönste Rahel längst verloren,
Weil sie, liebend, einen fremden
Sich zum Manne auserkoren,
Und das Volk der Gasse sagte,
Daß den Glauben sie geschändet,
Daß sie bloß aus eitlen Lüsten
Ihre Weiblichkeit verpfändet.
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Immer wenn der Sabbath nahte,
An dem Abend, der vom Leide
Ein Erlösen bringt und Heilung
Und das Volk im Feierkleide
Zum Gebet des Herrn versammelt,
Strahlte Licht aus den umflorten
Fenstern des verfluchten Hauses
Und aus allen seinen Pforten – –
Also feierte die Rahel
Ihren Vater, und sie ehrte
Seinen Glauben, der in ihrer
Seele glühend weiterwährte.
Und alljährlich, wenn der Frühling
In die Gasse war gekommen,
Und der letzte Gruß des Tages
In den Wolken war verglommen,
Pflückte Rahel auf dem Grabe
Einen Grashalm nach dem andern,
Legte Steinchen drauf und ließ die
Tränen zu dem Toten wandern.
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