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»Wohin hat man mich gebracht?« fragte Foma endlich mit der Stimme eines Menschen, der für Recht und Wahrheit stirbt.
»Verdammter Patron!« flüsterte Misintschikow neben mir. »Als ob er nicht sähe, wohin man ihn gebracht hat! Jetzt wird er uns wieder eine Komödie vorspielen!«
»Du bist bei uns, Foma, im Kreise der deinigen!« rief mein Onkel. »Fasse Mut, beruhige dich! Und wirklich, du solltest jetzt die Kleider wechseln, Foma; sonst wirst du noch krank werden . . . Und willst du dich nicht ein bißchen stärken, wie? So ein kleines Gläschen mit etwas Alkoholischem zur Erwärmung . . .«
»Malaga würde ich jetzt trinken«, stöhnte Foma und schloß von neuem die Augen.
»Malaga? Den werden wir wohl kaum haben!« sagte mein Onkel und blickte beunruhigt Praskowja Iljinitschna an.
»Aber gewiß doch!« fiel Praskowja Iljinitschna ein; »es sind noch ganze vier Flaschen übrig!« Und mit ihrem Schlüsselbund klappernd, lief sie sogleich hinaus, um den Malaga zu holen, begleitet vom Geschrei aller Damen, die an Foma festklebten wie die Fliegen am Eingemachten. Dagegen war Herr Bachtschejew höchst entrüstet.
»Malaga will er!« brummte er beinahe laut. »Verlangt einen Wein, den sonst kein Mensch trinkt. Na, wer trinkt jetzt Malaga außer so einem Schuft wie er? Pfui Deibel! Na, aber warum stehe ich hier noch? Worauf warte ich hier noch?«
»Foma«, begann der Onkel, bei jedem Wort in Verwirrung geratend, »sieh mal, jetzt . . . wo du dich erholt hast und wieder mit uns zusammen bist . . . das heißt, ich wollte sagen, Foma, daß ich begreife, wie du vorhin, nachdem du sozusagen das allerunschuldigste Wesen beleidigt hattest . . .«
»Wo, wo ist sie, meine Unschuld?« fiel ihm Foma ins Wort, als hätte er Fieber und spräche irre. »Wo sind meine glücklichen, goldenen Tage? Wo bist du, meine goldene Kindheit, als ich, ein unschuldiger, schöner Knabe, auf den Feldern hinter den Frühlingsschmetterlingen herlief? Wo, wo ist diese Zeit? Gebt mir meine Unschuld wieder, gebt sie mir wieder!«
Und Foma wandte sich, die Arme ausbreitend, der Reihe nach an jeden von uns, als ob einer von uns seine Unschuld in der Tasche hätte. Bachtschejew wollte beinah platzen vor Wut.
»Was will er nun wieder?« brummte er zornig. »Seine Unschuld sollen wir ihm wiedergeben! Er will sich wohl mit ihr küssen? Vielleicht war er auch als Junge schon genauso ein Halunke wie jetzt! Ich möchte schwören, daß es so gewesen ist.«
»Foma! . . .« begann mein Onkel wieder.
»Wo, wo sind sie, jene Tage, als ich noch an die Liebe glaubte und die Menschen liebte?« rief Foma, »als ich andere Menschen umarmte und an ihrer Brust weinte? Aber jetzt, wo bin ich? Wo bin ich?«
»Du bist bei uns, Foma; beruhige dich!« rief mein Onkel. »Aber ich wollte dir etwas sagen, Foma . . .«
»Wenn Sie doch wenigstens jetzt schweigen möchten!« zischte Fräulein Perepelizyna, deren kleine Schlangenaugen böse funkelten.
»Wo bin ich?« fuhr Foma fort; »wer ist das hier um mich? Das sind Büffel und Stiere, die mich mit ihren Hörnern bedrohen. O Leben, was bist du? Da lebt unsereiner nun und lebt und wird entehrt und beschimpft und erniedrigt und geschlagen, und erst wenn die Menschen unser Grab mit Sand zuschaufeln, erst dann kommen sie zur Besinnung und belasten unsere armen Gebeine mit einem Monumente!«
»Ach, herrje, nun fängt er gar an von Monumenten zu reden!« flüsterte Jeshewikin und schlug die Hände zusammen.
»Oh, setzt mir kein Monument!« schrie Foma; »setzt mir kein Monument! Ich brauche keine Monumente! Errichtet mir ein Monument in euren Herzen; weiter brauche ich nichts, nichts, nichts!«
»Foma!« unterbrach ihn mein Onkel, »hör auf! Beruhige dich! Du hast keinen Grund, von Monumenten zu reden. Hör nur zu! . . . Siehst du, Foma, ich begreife das ja, daß du vielleicht sozusagen in edler Glut entbrannt warst, als du mir vorhin Vorwürfe machtest; aber du bist zu weit gegangen, Foma, über die Grenzlinie der Tugend hinaus – ich versichere dir, du hast dich geirrt, Foma . . .«
»Wollen Sie nicht endlich aufhören?« zeterte wieder Fräulein Perepelizyna. »Sie wollen wohl den Unglücklichen töten, weil er nun in Ihrer Gewalt ist?«
Nach Fräulein Perepelizyna kam nun auch die Generalin in unruhige Bewegung und nach ihr ihre ganze Suite; alle gaben dem Onkel mit der Hand Zeichen, er möchte aufhören.
»Anna Nilowna, bitte, schweigen Sie; ich weiß schon, was ich sage!« antwortete mein Onkel in festem Ton. »Das ist eine heilige Sache! Eine Sache der Ehre und der Gerechtigkeit. – Foma, du bist ein vernünftiger Mensch; du mußt das von dir beleidigte edelste Mädchen sofort um Verzeihung bitten.«
»Was für ein Mädchen? Was für ein Mädchen habe ich beleidigt?« sagte Foma, indem er seinen Blick verständnislos über alle hingehen ließ, wie wenn er alles Vergangene vollständig vergessen hätte und nicht begriffe, um was es sich handle.
»Ja, Foma, und wenn du jetzt von selbst, freiwillig, edelmütig deine Schuld bekennst, dann, Foma, das schwöre ich dir, dann werde ich dir zu Füßen fallen, und dann . . .«
»Wen habe ich denn beleidigt?« schrie Foma; »was für ein Mädchen? Wo ist sie? Wo ist dieses Mädchen? Helft mir doch wenigstens, mich an dieses Mädchen erinnern! . . .«
In diesem Augenblick trat Nastasja, verwirrt und ängstlich, an Jegor Iljitsch heran und zupfte ihn am Ärmel.
»Nein, Jegor Iljitsch, lassen Sie ihn; es bedarf keiner Bitte um Entschuldigung! Wozu das alles?« sagte sie flehend, »Lassen Sie es doch sein!«
»Ah, jetzt erinnere ich mich!« rief Foma. »O Gott, ich erinnere mich! O helft, helft meinem Gedächtnis nach!« bat er, anscheinend in schrecklicher Aufregung. »Sagt mir, ist es wahr, daß ich von hier wie ein räudiger Hund weggejagt worden bin? Ist es wahr, daß mich der Blitz getroffen hat? Ist es wahr, daß ich hier die Treppe hinuntergeworfen worden bin? Ist das wahr? Ist das tatsächlich wahr?«
Das Weinen und Schreien des weiblichen Publikums gab ihm beredte Antwort.
»Richtig, richtig«, fuhr er fort, »ich erinnere mich, ich erinnere mich jetzt, daß, nachdem mich der Blitz getroffen hatte und ich hingestürzt war, ich hierher lief, vom Donner verfolgt, um meine Pflicht zu erfüllen und dann für immer zu verschwinden! Helft mir aufzustehen! So schwach ich jetzt auch bin, muß ich doch meine Pflicht erfüllen.«
Er wurde sogleich aus dem Lehnstuhl gehoben und stand nun in der Stellung eines Redners, den einen Arm vorstreckend, da.
»Oberst!« rief er, »jetzt bin ich wieder völlig zur Besinnung gekommen; der Blitz hat meine geistigen Fähigkeiten nicht getötet; allerdings ist noch eine Taubheit im rechten Ohr zurückgeblieben, die vielleicht nicht so sehr vom Blitz als von dem Sturz die Treppe hinab herrührt . . . Aber kommt es denn darauf an? Und wer kümmert sich schon um Fomas rechtes Ohr?«
Diesen letzten Worten verlieh Foma einen solchen Ausdruck trüber Ironie und begleitete sie mit einem so kläglichen Lächeln, daß die gerührten Damen von neuem zu stöhnen anfingen. Alle blickten sie vorwurfsvoll und manche sogar wütend meinen Onkel an, der einem so einmütigen Ausdruck der allgemeinen Meinung gegenüber allmählich klein zu werden begann. Misintschikow spuckte aus und trat ans Fenster. Bachtschejew stieß mich immer heftiger und heftiger mit dem Ellbogen an; er konnte kaum noch ruhig an seinem Platz bleiben.
»Jetzt hört alle meine Beichte!« rief Foma, indem er alle Anwesenden mit einem stolzen, entschlossenen Blick umfaßte, »und entscheidet zugleich über das Schicksal des unglücklichen Opiskin! Jegor Iljitsch! Schon lange habe ich Sie beobachtet, Sie mit bangem Herzen beobachtet und alles gesehen, alles, während Sie noch nicht einmal ahnten, daß ich Sie beobachtete. Oberst! Ich habe mich vielleicht geirrt; aber ich kannte Ihren Egoismus, Ihre grenzenlose Selbstsucht, Ihre phänomenale Sinnlichkeit, und wer wird mich verurteilen, wenn ich unwillkürlich um die Ehre eines so unschuldigen Wesens zitterte?«
»Foma, Foma! . . . Geh nicht zu sehr darauf ein, Foma!« rief mein Onkel, der mit großer Unruhe den leidenden Ausdruck auf Nastasjas Gesicht gewahrte.
»Was mich ängstigte, war nicht sowohl die Unschuld und Arglosigkeit dieser jungen Person als ihre Unerfahrenheit«, fuhr Foma fort, als hätte er die Warnung des Onkels gar nicht gehört. »Ich sah, daß ein zärtliches Gefühl in ihrem Herzen gleich einer Frühlingsrose erblühte, und erinnerte mich unwillkürlich an Petrarca, welcher gesagt hat, daß die Unschuld so oft nur um Haaresbreite vom Verderben entfernt ist. Ich seufzte und stöhnte. Ich war zwar bereit, für dieses Mädchen, das rein ist wie eine Perle, all mein Blut als Unterpfand zu geben; aber wer konnte mir für Sie bürgen, Jegor Iljitsch? Da ich die zügellose Heftigkeit Ihrer Leidenschaften kenne und da ich weiß, daß Sie für eine kurze Befriedigung derselben alles zu opfern bereit sind, versank ich in einen Abgrund des Entsetzens und der Befürchtungen in betreff des Schicksals dieses so edlen Mädchens . . .«
»Foma! Hast du wirklich so etwas denken können?« rief mein Onkel.
»Mit angsterfülltem Herzen verfolgte ich Ihr Verhalten. Wenn Sie wissen wollen, wie sehr ich litt, so fragen Sie Shakespeare: er schildert Ihnen in seinem ›Hamlet‹ meinen Seelenzustand. Ich wurde in meinem Mißtrauen geradezu schrecklich. In meiner Unruhe und in meiner Entrüstung sah ich alles in den schwärzesten Farben, und das war nicht jene ›schwarze Farbe‹, von der in einem bekannten Lied die Rede ist; davon können Sie überzeugt sein! Daher rührte auch der Wunsch, den Sie damals an mir bemerkten, sie aus diesem Haus zu entfernen: ich wollte sie retten; und daher war ich, was Sie gewiß auch wahrgenommen haben, in der ganzen letzten Zeit so reizbar und über das ganze Menschengeschlecht so ergrimmt. Oh, wer wird mich jetzt mit der Menschheit wieder versöhnen? Ich habe die Empfindung, daß ich vielleicht Ihren Gästen und Ihrem Neffen und Herrn Bachtschejew gegenüber ungerecht und gar zu anspruchsvoll gewesen bin, indem ich zum Beispiel von dem letzteren die Kenntnis der Astronomie verlangte; aber wer kann mir meinen damaligen Seelenzustand als Verbrechen anrechnen? Wiederum Shakespeare zitierend, möchte ich sagen, daß mir die Zukunft als ein dunkler Schlund von unbekannter Tiefe erschien, auf dessen Grund ein Krokodil liegt. Ich fühlte, daß es meine Pflicht war, ein Unglück zu verhüten, daß ich dazu berufen, dazu hergesandt war; aber was geschah? Sie verstanden die edlen Regungen meiner Seele nicht und vergalten sie mir in dieser ganzen Zeit mit Bosheit und Undank, mit Spöttereien und Kränkungen . . .«
»Foma! Wenn es so ist . . . gewiß, ich fühle . . .«, rief mein Onkel in größter Aufregung.
»Wenn Sie wirklich etwas fühlen, Oberst, so haben Sie die Freundlichkeit, mich bis zu Ende anzuhören und mich nicht zu unterbrechen. Ich fahre fort: meine ganze Schuld bestand folglich darin, daß ich mich um das Schicksal und das Glück dieses Kindes gar zu sehr sorgte: denn im Vergleich mit Ihnen ist sie ja noch ein Kind. Die höchste Liebe zur Menschheit machte mich in dieser Zeit zu einer Art Dämon des Zornes und des Argwohns. Ich hätte mich am liebsten auf die Menschen gestürzt und sie in Stücke gerissen. Und wissen Sie auch, Jegor Iljitsch, daß alle Ihre Handlungen wie mit besonderer Absicht meinen Argwohn jeden Augenblick bestätigten und mich in meinem Verdacht bestärkten? Wissen Sie auch, daß ich gestern, als Sie mich mit Ihrem Gold überschütteten, um mich von hier zu entfernen, daß ich da dachte: ›Er möchte in meiner Person sein eigenes Gewissen entfernen, um das Verbrechen bequemer begehen zu können . . .‹«
»Foma, Foma! Hast du das gestern wirklich gedacht?« rief mein Onkel erschrocken. »O mein Gott, und ich habe nichts davon geahnt!«
»Der Himmel selbst hatte mir diesen Verdacht eingeflößt«, fuhr Foma fort. »Und sagen Sie selbst: Was mußte ich denken, als der blinde Zufall mich an demselben Abend zu jener verhängnisvollen Bank im Garten führte? Was mußte ich in diesem Augenblick empfinden, o Gott, als ich endlich mit meinen eigenen Augen sah, daß alle meine Befürchtungen plötzlich auf die glänzendste Weise gerechtfertigt wurden? Es blieb mir noch eine Hoffnung, allerdings nur eine schwache Hoffnung, aber doch eine Hoffnung – aber was geschah? Heute morgen schlugen Sie sie selbst in Trümmer! Sie schickten mir Ihren Brief; Sie sprachen die Absicht aus, sie zu heiraten; Sie beschworen mich, nichts davon verlauten zu lassen . . . ›Aber warum‹, dachte ich, ›warum hat er gerade jetzt an mich geschrieben, wo ich ihn bereits betroffen habe, und nicht schon früher? Warum ist er nicht schon früher zu mir gekommen, glücklich und schön (denn die Liebe verschönt das Gesicht), und hat sich in meine Arme geworfen und an meiner Brust Tränen grenzenlosen Glücks vergossen und mir alles, alles gestanden?‹ Bin ich denn ein Krokodil, das Sie nur verschlungen hätte, statt Ihnen einen nützlichen Rat zu geben? Oder bin ich ein widerwärtiger Käfer, der Sie nur gebissen hätte, statt Ihr Glück zu befördern? ›Bin ich sein Freund oder ein garstiges Insekt?‹ Das war die Frage, die ich mir heute morgen vorlegte! Und endlich: ›Zu welchem Zweck‹, dachte ich, ›zu welchem Zweck hat er seinen Neffen aus der Hauptstadt herkommen lassen und ihn mit diesem jungen Mädchen verlobt? Doch wohl, um sowohl uns als auch den sorglosen Neffen zu täuschen und unterdessen im geheimen seinen verbrecherischen Plan weiter zu verfolgen?‹ Nein, Oberst, wenn mich jemand in dem Gedanken bestärkt hat, daß Ihre geheime Liebe eine verbrecherische war, so sind Sie das selbst gewesen, einzig und allein Sie! Und noch mehr: auch diesem jungen Mädchen gegenüber sind Sie ein Verbrecher; denn Sie haben es, dieses reine, edle Wesen, durch Ihre Ungeschicklichkeit und durch Ihre egoistische Verschlossenheit der Verleumdung und einem schweren Verdacht ausgesetzt!«
Mein Onkel ließ den Kopf hängen und schwieg: Fomas Beredsamkeit gewann offenbar die Oberhand über alles, was er hätte entgegnen können, und er hatte schon selbst das Gefühl, daß er ein arger Verbrecher sei. Die Generalin und ihr Anhang hatten schweigend und andächtig mit angehört, was Foma sagte, und Fräulein Perepelizyna richtete einen schadenfrohen, triumphierenden Blick auf die arme Nastasja.
»Bestürzt, aufgeregt und in tiefer Niedergeschlagenheit«, fuhr Foma fort, »schloß ich mich heute ein und betete, daß Gott mir die richtigen Gedanken eingeben möchte! Endlich faßte ich den Beschluß, Sie zum letzten Mal und öffentlich zu prüfen. Ich bin dabei vielleicht zu hitzig vorgegangen, habe mich vielleicht meinem Unwillen zu sehr hingegeben; aber zum Dank für meine edlen Motive haben Sie mich durch die Glastür geschleudert! Während ich hinausflog, dachte ich bei mir: ›So wird immer auf der Welt die Tugend belohnt!‹ Dann schlug ich auf den Erdboden, und was weiter mit mir geschah, daran kann ich mich kaum noch erinnern.«
Kreischen und Stöhnen unterbrachen Foma Fomitsch bei der Erwähnung dieses tragischen Ereignisses. Die Generalin stürzte auf ihn zu, in der Hand die Flasche Malaga, die sie der kurz vorher zurückgekehrten Praskowja Iljinitschna aus der Hand gerissen hatte; aber Foma wies mit einer majestätischen Geste sowohl den Malaga als auch die Generalin zurück.
»Warten Sie!« rief er. »Ich muß zu Ende sprechen. Was nach meinem Sturz geschah, weiß ich nicht. Ich weiß nur das eine, daß ich jetzt, durchnäßt und in Gefahr, Fieber zu bekommen, hier stehe, um Ihr beiderseitiges Glück zu schaffen. Oberst! Aus vielen Anzeichen, die ich jetzt nicht im einzelnen darlegen will, habe ich endlich doch die Überzeugung gewonnen, daß Ihre Liebe eine reine, ja eine idealische war, obwohl gleichzeitig eine in verbrecherischem Grad verschlossene und mißtrauische. Nachdem ich mißhandelt und gekränkt und beschuldigt worden bin, ein junges Mädchen beleidigt zu haben, für deren Ehre ich wie ein mittelalterlicher Ritter bereit war, mein Blut bis auf den letzten Tropfen zu vergießen, will ich Ihnen jetzt zeigen, wie sich Foma Opiskin für die ihm angetanen Beleidigungen rächt. Reichen Sie mir Ihre Hand, Oberst!«
»Mit Vergnügen, Foma!« rief mein Onkel. »Und da du jetzt diesem edlen jungen Mädchen eine vollständige Ehrenerklärung gegeben hast, so . . . selbstverständlich . . . da ist meine Hand, Foma, zugleich mit dem Ausdruck meiner Reue . . .«
Und der Onkel streckte ihm mit warmer Empfindung die Hand hin, ohne zu ahnen, was weiter folgen sollte.
»Geben auch Sie mir Ihre Hand!« fuhr Foma mit schwacher Stimme fort, indem er den Haufen der ihn umdrängenden Damen durch eine Handbewegung zerteilte und sich an Nastasja wandte.
Nastasja geriet in Bestürzung und Verwirrung und blickte Foma ängstlich an.
»Treten Sie näher, treten Sie näher, mein liebes Kind! Das ist für Ihr Glück unbedingt notwendig«, fügte Foma freundlich hinzu; er hielt immer noch die Hand des Onkels in der seinigen.
»Was hat er nur vor?« murmelte Misintschikow.
Erschrocken und zitternd trat Nastasja langsam auf Foma zu und streckte ihm schüchtern ihre Hand hin.
Foma ergriff diese Hand und legte sie in die Hand des Onkels.
»Ich vereinige und segne euch«, sagte er in feierlichem Ton. »Und wenn der Segen eines vom Leid gebeugten Märtyrers euch Nutzen bringen kann, so seid glücklich! So rächt sich Foma Opiskin! Hurra!«
Das allgemeine Erstaunen war grenzenlos. Diese Lösung kam so unerwartet, daß alle von einer Art Starrkrampf befallen wurden. Die Generalin blieb mit offenem Mund und mit der Flasche Malaga in der Hand regungslos stehen. Fräulein Perepelizyna wurde blaß und zitterte vor Wut. Die armen Klientinnen schlugen die Hände zusammen und erstarrten auf ihren Plätzen. Der Onkel fing an zu zittern, wollte etwas erwidern, war aber nicht dazu imstande. Nastasja wurde totenblaß und sagte schüchtern: »Es kann nicht sein . . .«; aber es war schon zu spät. Bachtschejew war der erste (man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen), der in Foma Fomitschs Hurra einstimmte; nach ihm tat ich es, nach mir mit aller Kraft ihrer hellen Stimme Alexandra, die sofort zu ihrem Vater hinstürzte, um ihn zu umarmen, darauf Ilja, darauf Jeshewikin; erst nach all diesen auch Misintschikow.
»Hurra!« rief Foma zum zweitenmal, »Hurra! Und nun fallt auf die Knie, ihr Kinder meines Herzens, fallt auf die Knie vor der zärtlichsten aller Mütter! Bittet sie um ihren Segen, und wenn es nötig sein sollte, werde ich selbst mit euch zusammen vor ihr meine Knie beugen . . .«
Mein Onkel und Nastasja, die einander noch nicht angesehen hatten, ganz erschrocken waren und anscheinend nicht verstanden, was mit ihnen geschah, fielen vor der Generalin auf die Knie; alle drängten sich um diese Gruppe herum; aber die Alte stand wie betäubt da und begriff gar nicht, was sie nun tun sollte. Foma griff auch hier hilfreich ein: Er warf sich selbst seiner Gönnerin zu Füßen. Dies behob mit einem Mal alle ihre Bedenken. In Tränen ausbrechend, erklärte sie sich endlich einverstanden. Mein Onkel sprang auf und preßte Foma fest an seine Brust.
»Foma, Foma! . . .«, sagte er; aber die Stimme versagte ihm, und er konnte nicht weiterreden.
»Champagner!« brüllte Stepan Alexejewitsch. »Hurra!«
»Nein, keinen Champagner«! fiel Fräulein Perepelizyna ein, die sich bereits gefaßt und alle Umstände sowie alle möglichen Folgen erwogen hatte. »Sondern wir müssen Gott eine Kerze anzünden und vor dem Heiligenbild beten und die Verlobten mit dem Heiligenbild segnen, wie das alle gottesfürchtigen Menschen tun . . .«
Sogleich beeilten sich alle, den vernünftigen Rat zur Ausführung zu bringen, und es begann ein geschäftiges Treiben. Es sollte eine Kerze angezündet werden, und Stepan Alexejewitsch stellte einen Stuhl zurecht und stieg hinauf, um die Kerze vor dem Heiligenbilde aufzustellen, aber der Stuhl knackte unter seinem Gewicht sogleich bedrohlich, und er sprang schwerfällig wieder auf den Fußboden, hielt sich jedoch dabei noch auf den Beinen. Ohne sich darüber zu ärgern, trat er seinen Platz sofort höflich Fräulein Perepelizyna ab. Diese schmächtige Dame erledigte das Geschäft im Nu: Die Kerze brannte. Die Nonne und die armen Klientinnen begannen sich zu bekreuzigen und Verbeugungen bis zum Fußboden zu machen. Das Bild des Erlösers wurde heruntergenommen und der Generalin gebracht. Der Onkel und Nastasja knieten von neuem nieder, und die Zeremonie ging nach den gottesfürchtigen Anweisungen Fräulein Perepelizynas vor sich, die alle Augenblicke kommandierte: »Verneigen Sie sich bis zur Erde! Küssen Sie das Heiligenbild! Küssen Sie Ihrer Mutter die Hand!« Nach dem Bräutigam und der Braut hielt sich auch Herr Bachtschejew für verpflichtet, das Heiligenbild zu küssen, wobei auch er der Generalin die Hand küßte. Er war unbeschreiblich entzückt.
»Hurra!« schrie er wieder. »Aber jetzt wollen wir Champagner trinken!«
Übrigens waren auch alle andern entzückt. Die Generalin weinte, aber jetzt Tränen der Freude: Diese Verbindung war dadurch, daß Foma sie gesegnet hatte, in ihren Augen sogleich eine wohlanständige und gottgefällige geworden, und vor allem fühlte sie, daß Foma Fomitsch sich mit Ruhm bedeckt hatte und nun ganz sicher für immer bei ihr bleiben werde. Die Klientinnen nahmen, wenigstens äußerlich, an dem allgemeinen Entzücken teil. Mein Onkel kniete bald vor seiner Mutter nieder und küßte ihr die Hände, bald stürzte er auf mich, Bachtschejew, Misintschikow und Jeshewikin los, um uns zu umarmen. Den kleinen Ilja hätte er in seiner Umarmung beinahe erstickt. Alexandra lief auf Nastasja zu, um sie zu umarmen und zu küssen. Praskowja Iljinitschna zerfloß in Tränen. Als Herr Bachtschejew dies bemerkte, trat er zu ihr und küßte ihr die Hand. Der alte Jeshewikin war ganz weich geworden und weinte in einer Ecke, wobei er sich mit seinem karierten Taschentuch von gestern die Augen wischte. In einer andern Ecke blinzelte Gawrila und blickte voll andächtiger Verehrung zu Foma Fomitsch herüber; Falalej aber schluchzte aus vollem Hals, ging zu allen hin und küßte ebenfalls allen die Hände. Alle waren von ihrem Gefühl überwältigt. Noch begann niemand zu reden und sich über das Geschehene auszusprechen; es schien, daß schon alles gesagt sei; nur freudige Ausrufe ertönten. Noch begriff niemand, wie das alles so schnell geschehen konnte. Man wußte nur das eine, daß es Foma Fomitsch gewesen war, der das alles getan hatte, und daß es nun eine wirkliche, unabänderliche Tatsache war.
Aber es waren noch keine fünf Minuten seit Beginn der allgemeinen Glückseligkeit vergangen, als auf einmal Tatjana Iwanowna unter uns erschien. Auf welche Weise, durch welchen geheimen Spürsinn hatte sie, während sie oben in ihrem Zimmer saß, so schnell von dem Liebesverhältnis und von der Verlobung Kenntnis erhalten können? Mit strahlendem Gesicht, mit Freudentränen in den Augen kam sie in einer entzückenden, eleganten Toilette (sie hatte die Zeit nach ihrer Rückkehr dazu benutzt, sich umzukleiden) hereingeflattert und eilte laut aufschreiend auf Nastasja zu, um sie zu umarmen.
»Nastasja, Nastasja! Du hast ihn geliebt, und ich habe nichts davon gewußt!« rief sie. »O Gott! Sie haben einander geliebt; sie haben im stillen, im geheimen gelitten! Sie sind verfolgt worden! Was für ein Roman! Nastasja, mein Täubchen, sag mir die ganze Wahrheit: liebst du diesen verdrehten Menschen wirklich?«
Statt aller Antwort umarmte Nastasja sie und küßte sie.
»O Gott, was für ein reizender Roman!« Tatjana Iwanowna klatschte vor Entzücken in die Hände. »Hör mal, Nastasja, hör mal, mein Engel: alle diese Männer, alle ohne Ausnahme, sind undankbar und schändlich und unserer Liebe unwert. Aber vielleicht ist er noch der beste von ihnen. Komm mal her zu mir, du verdrehter Mensch!« rief sie, indem sie sich meinem Onkel zuwandte und ihn bei der Hand faßte. »Bist du wirklich verliebt? Bist du wirklich fähig zu lieben? Sieh mich mal an: Ich will dir in die Augen sehen; ich will sehen, ob diese Augen lügen. Nein, nein, sie lügen nicht; in ihnen glänzt Liebe, Liebe! Oh, wie glücklich bin ich! Liebe Nastasja, hör mal, du bist nicht reich, ich schenke dir dreißigtausend Rubel. Nimm sie an, ich bitte dich inständig! Ich brauche sie nicht, wirklich nicht; mir bleibt auch so noch genug. Nein, nein, nein!« schrie sie und wehrte heftig mit den Händen ab, als sie sah, daß Nastasja das Geschenk ablehnen wollte. »Seien auch Sie ganz still, Jegor Iljitsch; das geht Sie gar nichts an. Nein, Nastasja, ich bin fest entschlossen, dir ein Geschenk zu machen; ich wollte es schon längst tun und wartete nur auf deine erste Liebe . . . Ich werde mich an dem Anblick eures Glückes weiden. Du kränkst mich, wenn du es nicht annimmst; ich werde weinen, Nastasja . . . Nein, nein, nein und nochmals nein!«
Tatjana Iwanowna war so entzückt, daß es, wenigstens in diesem Augenblick, ein Ding der Unmöglichkeit, ja eine Grausamkeit gewesen wäre, ihr zu widersprechen. Das unternahmen die Verlobten denn auch nicht, sondern verschoben es auf eine andere Zeit. Dann stürzte sie auf die Generalin zu, um sie zu küssen, dann auf Fräulein Perepelizyna und auf uns alle. Bachtschejew drängte sich respektvoll an sie heran und bat um die Erlaubnis, ihr die Hand küssen zu dürfen.
»Liebes, verehrtes Fräulein! Verzeihen Sie mir Dummkopf mein Betragen von vorhin; ich kannte Ihr goldenes Herz noch nicht!«
»Sie verdrehter Mensch! Ich kenne Sie schon lange«, flüsterte Tatjana Iwanowna mit schwärmerischer Koketterie, schlug ihm mit ihrem Handschuh auf die Nase und flatterte wie ein Zephir hinweg, wobei sie ihn mit ihrem prächtigen Kleide streifte.
Der Dicke trat respektvoll zur Seite.
»Eine höchst achtbare junge Dame!« sagte er gerührt. »Aber dem Deutschen ist die Nase wieder angeleimt!« flüsterte er mir vertraulich zu und sah mir vergnügt in die Augen.
»Was für eine Nase? Welchem Deutschen?« fragte ich verständnislos.
»Na dem, den ich mir habe schicken lassen, der seiner Landsmännin die Hand küßt, während sie sich mit dem Taschentuch eine Träne abwischt. Mein Jewdokim hat den Schaden noch gestern repariert; ich habe vorhin, als wir von der Verfolgung zurückgekehrt waren, einen Reitenden abgeschickt, um das Spielzeug zu holen . . . Es wird bald gebracht werden. Ein ganz vorzügliches Ding!«
»Foma!« rief mein Onkel, ganz außer sich vor Entzücken, »du bist der Urheber unseres Glückes! Womit kann ich dir das vergelten?«
»Mit nichts, Oberst«, antwortete Foma mit scheinheiliger Miene. »Fahren Sie fort, mich unbeachtet zu lassen, und seien Sie glücklich ohne Foma!«
Er war offenbar pikiert darüber, daß man ihn während der allgemeinen Freudenausbrüche vergessen zu haben schien.
»Das kommt nur von unserem Entzücken, Foma!« rief mein Onkel. »Ich weiß gar nicht mehr, wo ich stehe, lieber Freund. Hör mal, Foma: Ich habe dich beleidigt. Mein ganzes Leben, mein ganzes Blut ist nicht ausreichend, um diese Beleidigung wiedergutzumachen, und daher schweige ich, ja, ich entschuldige mich nicht einmal. Aber wenn du jemals meinen Kopf und mein Leben brauchst, wenn du jemanden nötig hast, der sich für dich in einen gähnenden Abgrund stürzt, dann befiehl, und du wirst sehen . . . weiter sage ich nichts, Foma.«
Der Onkel machte eine resignierte Handbewegung, als sei er sich völlig der Unmöglichkeit bewußt, noch etwas hinzuzufügen, was seine Empfindung stärker zum Ausdruck bringen könnte. Er sah Foma nur mit dankbaren Augen an, in denen Tränen standen.
»Ach, was ist er für ein Engel!« winselte Fräulein Perepelizyna ihrerseits zum Lobe Fomas.
»Ja, ja!« fiel Alexandra ein. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie ein so guter Mensch sind, Foma Fomitsch, und habe Sie respektlos behandelt. Verzeihen Sie mir, Foma Fomitsch, und seien Sie überzeugt, daß ich Sie von nun an von ganzem Herzen lieben werde! Wenn Sie wüßten, welche Hochachtung ich jetzt für Sie empfinde!«
»Ja, Foma!« nahm auch Bachtschejew das Wort. »Verzeihen auch Sie mir dummem Menschen! Ich habe Sie nicht gekannt, Sie einfach nicht gekannt! Sie sind nicht nur ein Gelehrter, Foma Fomitsch, sondern geradezu ein Held! Mein ganzes Haus steht Ihnen zu Diensten. Wissen Sie, was das beste ist, lieber Freund? Kommen Sie übermorgen zu mir, mit der Frau Generalin und auch mit dem Bräutigam und der Braut – was rede ich: mit dem ganzen Haus! Dann wollen wir einmal zu Mittag essen! Ich will mich nicht im voraus rühmen; ich sage nur so viel: Außer Vogelmilch kann ich Ihnen alle kulinarischen Genüsse bieten! Darauf gebe ich Ihnen mein Wort!«
Während dieser Gefühlsergüsse trat auch Nastasja auf Foma Fomitsch zu, umarmte ihn ohne weitere Worte herzlich und küßte ihn.
»Foma Fomitsch«, sagte sie, »Sie sind unser Wohltäter; Sie haben so viel für uns getan, daß ich nicht weiß, wie ich Ihnen das alles vergelten soll; ich weiß nur, daß ich Ihnen die zärtlichste, respektvollste Schwester sein werde . . .«
Sie konnte nicht zu Ende sprechen: Tränen erstickten ihre Stimme. Foma küßte sie auf den Scheitel; er war selbst bis zu Tränen gerührt.
»Meine Kinder, ihr Kinder meines Herzens!« sagte er. »Lebet und gedeihet und denkt in den Augenblicken des Glückes mitunter an den armen Vertriebenen! Von mir aber sage ich, daß das Unglück vielleicht die Mutter der Tugend ist. Das hat, glaube ich, Gogol gesagt, ein leichtfertiger Schriftsteller, bei dem sich aber manchmal treffende Gedanken finden. Aus dem Haus gejagt zu werden, das ist ein Unglück! Unstet werde ich jetzt an meinem Stabe auf der Erde umherwandern, und wer weiß – vielleicht werde ich durch das Unglück noch tugendhafter werden! Dieser Gedanke ist der einzige Trost, der mir noch geblieben ist!«
»Aber . . . wohin willst du denn gehen, Foma?« rief der Onkel erschrocken.
Alle waren zusammengefahren und hatten ihre Blicke auf Foma gerichtet.
»Aber kann ich denn etwa in Ihrem Haus bleiben, nachdem Sie mich vorhin so behandelt haben, Oberst?« fragte Foma Fomitsch mit ganz besonderer Würde.
Aber man ließ ihn nicht zu Ende reden: Ein allgemeines Geschrei übertönte seine Worte. Man zwang ihn, sich in seinen Lehnstuhl zu setzen, man bat ihn, man flehte ihn unter Tränen an, und ich weiß nicht, was man sonst noch alles mit ihm anfing. Natürlich lag es gar nicht in seiner Absicht, ›dieses Haus‹ zu verlassen, ebensowenig wie vorhin und ebensowenig wie am vorhergehenden Tag und ebensowenig wie damals, als er im Gemüsegarten gegraben hatte. Er wußte, daß sie ihn jetzt pietätvoll zurückhalten und sich mit Gewalt an ihn klammern würden, namentlich da er alle glücklich gemacht hatte und da alle von neuem an ihn glaubten und bereit waren, ihn auf den Händen zu tragen und dies für eine Ehre und für ein Glück zu halten. Aber der Umstand, daß er vorhin aus Furcht vor dem Gewitter so kleinmütig zurückgekehrt war, stachelte wahrscheinlich seinen Ehrgeiz an und trieb ihn dazu, noch eine Weile die Rolle eines Helden zu spielen; besonders aber bot sich jetzt eine so gute Gelegenheit, großzutun; er hatte die Möglichkeit, von sich selbst in schönen Wendungen zu reden, sein Seelenleben zu schildern, sich zu loben – dieser Versuchung konnte er nicht widerstehen. Und er widerstand ihr auch nicht; er riß sich aus den Händen der ihn Festhaltenden los; er verlangte, man solle ihm seinen Wanderstab geben; er bat, man möge ihn freilassen, damit er in die weite Welt hinausziehe; er sei ›in diesem Hause‹ entehrt und mißhandelt worden und sei nur zurückgekehrt, um das allgemeine Glück zu schaffen; könne er denn etwa ›in dem Hause des Undanks bleiben und eine zwar nahrhafte, aber mit Mißhandlungen gewürzte Kohlsuppe essen‹? Endlich aber hörte er mit den Versuchen, sich loszureißen, doch auf. Er wurde von neuem in seinen Lehnstuhl gesetzt; aber seine rednerischen Ergüsse erlitten keine Unterbrechung.
»Hat man mich hier etwa nicht beleidigt?« rief er. »Hat man mir nicht die Zunge herausgestreckt? Haben nicht Sie, Sie selbst, Oberst, nach Art der unnützen Gassenbuben in der Stadt, mir allstündlich eine lange Nase gemacht? Jawohl, Oberst! Ich halte an diesem Vergleich fest; denn wenn Sie mir auch nicht körperlich eine lange Nase gemacht haben, so haben Sie es doch im geistigen Sinn getan, und die geistigen langen Nasen sind in manchen Fällen sogar noch beleidigender als die körperlichen. Ich will gar nicht einmal von den Mißhandlungen reden . . .«
»Foma, Foma!« rief der Onkel. »Töte mich nicht mit der Erinnerung daran! Ich habe dir schon gesagt, daß all mein Blut nicht dazu ausreicht, diese Beleidigung wegzuwaschen. Sei doch großmütig! Vergiß, verzeih und bleib hier, um ein Zeuge unseres Glückes zu sein, das dein Werk ist, Foma! . . .«
». . . Ich will den Menschen lieben, will den Menschen lieben«, schrie Foma; »aber man gibt mir den Menschen nicht; man verbietet mir, ihn zu lieben; man nimmt mir den Menschen weg! Gebt mir den Menschen, gebt ihn mir, damit ich ihn lieben kann! Wo ist dieser Mensch? Wo hat sich dieser Mensch versteckt? Wie Diogenes mit der Laterne suche ich ihn mein ganzes Leben lang und kann ihn nicht finden; und ich kann niemanden lieben, bevor ich nicht diesen Menschen gefunden habe. Wehe dem, der mich zu einem Menschenhasser gemacht hat! Ich rufe: ›Gebt mir den Menschen, damit ich ihn lieben kann!‹ und man schiebt mir Falalej zu! Werde ich etwa Falalej liebgewinnen? Will ich denn Falalej liebgewinnen? Und endlich: kann ich denn Falalej lieben, selbst wenn ich es wollte? Nein. Warum nicht? Weil er Falalej ist. Warum liebe ich die Menschheit nicht? Weil alles, was auf der Welt lebt, Falalej ist oder etwas ihm Ähnliches. Ich kann Falalej nicht leiden; ich hasse Falalej; ich verabscheue Falalej; ich zertrete Falalej, und wenn ich wählen müßte, so würde ich mich lieber in Beelzebub verlieben als in Falalej! Komm einmal her, komm einmal her, du mein ewiger Peiniger, komm einmal her!« rief er, sich plötzlich an Falalej wendend, der in der harmlosesten Weise, auf den Zehen stehend, von hinten über die Schar hinwegspähte, die sich um Foma Fomitsch herum drängte. »Komm einmal her! Ich werde Ihnen zeigen, Oberst«, rief Foma, indem er den vor Angst fast bewußtlosen Falalej mit der Hand zu sich heranzog, »ich werde Ihnen die Wahrheit dessen, was ich von den steten Verhöhnungen und langen Nasen gesagt habe, beweisen! Sprich, Falalej, und sprich die Wahrheit: wovon hast du heute nacht geträumt? Sie werden die Früchte Ihrer Behandlung sehen, Oberst; Sie werden sie sofort sehen! Nun, Falalej, rede!«
Der arme Bursche, der vor Angst bebte, ließ seinen verzweifelten Blick ringsumgehen, um bei jemand Rettung zu suchen; aber alle zitterten nur und warteten voller Angst auf seine Antwort.
»Nun, Falalej, ich warte!«
Statt zu antworten runzelte Falalej die Stirn, öffnete den Mund und brüllte los wie ein Kalb.
»Oberst! Sehen Sie wohl diese Hartnäckigkeit? Ist die wirklich etwas Natürliches? Zum letzten Mal wende ich mich an dich, Falalej; sprich: wovon hast du heute geträumt?«
»Von . . .«
»Sag, daß du von mir geträumt hast!« flüsterte ihm Bachtschejew zu.
»Von Ihren Tugenden!« flüsterte ihm Jeshewikin in das andere Ohr.
Falalej blickte sich nur nach ihnen um.
»Von . . . von Ihren Tu . . . von dem weißen . . . Ochsen!« brüllte er endlich und vergoß die bittersten Tränen.
Alle stöhnten. Aber Foma Fomitsch hatte eine Anwandlung von ganz besonderer Großmut.
»Wenigstens sehe ich daran deine Aufrichtigkeit, Falalej«, sagte er, »eine Aufrichtigkeit, die ich bei anderen nicht wahrnehme. Ich verzeihe dir. Wenn du mich auf Anstiften anderer mit diesem Traum absichtlich verhöhnst, so wird Gott dich und jene andern dafür zur Rechenschaft ziehen. Wenn das aber nicht der Fall ist, so achte ich deine Aufrichtigkeit; denn ich bin gewohnt, sogar in einem so niedrigen Geschöpf wie dir das Ebenbild Gottes zu erkennen . . . Ich verzeihe dir, Falalej! Meine Kinder, umarmt mich; ich bleibe! . . .«
»Er bleibt!« schrien alle entzückt.
»Ich bleibe und verzeihe. Oberst, belohnen Sie Falalej mit Zucker; er soll an einem solchen Tag der allgemeinen Glückseligkeit nicht weinen.«
Selbstverständlich fand man eine solche Großmut erstaunlich. Eine solche Sorglichkeit, in einem solchen Augenblick, und für wen? Für Falalej! Mein Onkel beeilte sich, den Befehl betreffs des Zuckers zu erfüllen. Sogleich erschien (Gott weiß woher) in Praskowja Iljinitschnas Händen eine silberne Zuckerdose. Mein Onkel nahm mit zitternder Hand zwei Stücke heraus, dann drei, dann ließ er sie hinfallen; schließlich, da er sah, daß er vor Aufregung nicht imstande war, damit zurechtzukommen, rief er:
»Ach was! Zur Feier eines solchen Tages! Halt auf, Falalej!« und schüttete ihm den ganzen Inhalt der Zuckerdose an der Brust in die Hemdbluse.
»Das ist für deine Aufrichtigkeit!« fügte er als moralische Belehrung hinzu..
»Herr Korowkin!« meldete auf einmal Widopljassow, der in der Tür erschien.
Es entstand eine kleine Aufregung. Korowkins Besuch kam offenbar nicht im richtigen Augenblick. Alle blickten den Onkel fragend an.
»Korowkin!« rief der Onkel etwas verlegen. »Natürlich freue ich mich . . .«, fügte er, Foma schüchtern anblickend, hinzu; »aber ich weiß wirklich nicht, ob ich ihn jetzt, in einem solchen Augenblick, empfangen soll. Wie denkst du darüber, Foma?«
»In Gottes Namen!« antwortete Foma huldvoll. »Lassen Sie auch Korowkin hereinkommen; mag auch er an dem allgemeinen Glück teilnehmen!«
Kurz, Foma Fomitsch befand sich in einer geradezu engelgleichen Gemütsstimmung.
»Ich wage ganz ergebenst zu melden«, bemerkte Widopljassow, »daß Herr Korowkin sich nicht in normalem Zustand zu befinden geruht.«
»Nicht in normalem Zustand? Wie? Was faselst du da?« rief der Onkel.
»Jawohl, er befindet sich nicht in nüchternem Geisteszustand . . .«
Aber kaum hatte der Onkel Zeit gehabt, erstaunt den Mund zu öffnen, zu erröten, zu erschrecken und äußerst verlegen zu werden, als auch schon die Lösung des Rätsels erfolgte. In der Tür erschien Herr Korowkin selbst, schob Widopljassow mit der Hand beiseite und stand nun vor der erstaunten Versammlung. Er war ein Herr von ziemlich kleiner Statur, aber stämmig gebaut, etwa vierzig Jahre alt, mit dunklem, schon graumeliertem, kurzgeschorenem Haar, dunkelrotem, rundem Gesicht und kleinen, blutunterlaufenen Augen; er trug eine hohe, härene Krawatte, die hinten mit einer Schnalle geschlossen war, einen stark abgenutzten Frack, an welchem Federchen und Heuhälmchen hingen und welcher unter den Achseln bedeutende Risse aufwies, ein pantalon impossible und eine unglaublich schmierige Mütze, die er in der Hand schwenkte. Dieser Herr war vollständig betrunken. Als er in die Mitte des Zimmers gelangt war, blieb er stehen, schwankte hin und her und machte in seiner Benommenheit mit der Nase hämmernde Bewegungen; dann breitete sich langsam ein Lächeln über sein ganzes Gesicht aus.
»Entschuldigen Sie, meine Herren«, sagte er, »ich . . . hm . . .« (hier knipste er an seinem Rockkragen herum), »ich habe ein bißchen was zu mir genommen!«
Die Generalin nahm sofort die Miene beleidigter Würde an. Foma maß, in seinem Lehnstuhl sitzend, den wunderlichen Gast mit einem spöttischen Blick. Bachtschejew blickte ihn erstaunt an; indes barg sein Erstaunen auch ein gewisses Mitgefühl. Die Verlegenheit meines Onkels war grenzenlos; Korowkins Zustand bereitete ihm die größte Seelenpein.
»Korowkin!« begann er, »hören Sie mal . . .«
»Attendez!« unterbrach ihn dieser. »Ich erlaube mir, mich als ein Kind der Natur vorzustellen . . . Aber was sehe ich? Es sind ja Damen hier . . . Warum hast du mir das nicht gesagt, du Schurke, daß du hier bei dir zu Hause Damen hast?« fügte er hinzu und sah den Onkel mit einem spitzbübischen Lächeln an. »Nun, es tut nichts! Nur keine Bange! . . . Stellen wir uns auch dem schönen Geschlecht vor! . . . Meine reizenden Damen!« begann er, nur mühsam die Zunge bewegend und bei jedem Wort anstoßend, »Sie sehen hier einen Unglücklichen, der . . . na und so weiter . . . Das übrige will ich unausgesprochen lassen . . . Musikanten! Polka!«
»Wollen Sie sich nicht schlafen legen?« fragte Misintschikow, indem er ruhig auf Korowkin zutrat.
»Schlafen legen? Wollen Sie mich beleidigen?«
»Durchaus nicht. Wissen Sie, nach der Fahrt tut das gut . . .«
»Niemals!« antwortete Korowkin entrüstet. »Glauben Sie, daß ich betrunken bin? Nicht die Spur . . . Aber übrigens: Wo kann man hier bei Ihnen schlafen?«
»Kommen Sie nur mit; ich werde Sie gleich hinführen.«
»Wohin? In die Scheune? Nein, lieber Freund, mich betrügen Sie nicht. In einer Scheune habe ich schon die letzte Nacht zugebracht . . . Indessen, führen Sie mich! . . . Warum sollte ich nicht mit einem braven Menschen mitgehen? . . . Ein Kissen ist nicht nötig; wer beim Militär gewesen ist, braucht kein Kissen. Aber Sie könnten mir ein kleines Sofa zurechtmachen, lieber Freund, ein kleines Sofa . . . Und hören Sie«, fügte er, stehenbleibend, hinzu, »Sie sind, wie ich sehe, ein netter junger Mann; geben Sie mir doch . . . hm . . . Sie verstehen? Nur so ein bißchen was zum Trinken, nur so ein bißchen . . . ich meine, nur so ein Gläschen.«
»Schön, schön!« antwortete Misintschikow.
»Schön . . . Aber warten Sie; ich muß mich doch erst empfehlen. Adieu, mesdames und mesdemoiselles! . . . Sie haben mich mit Ihren Blicken sozusagen durchbohrt . . . Na, lassen wir's gut sein! Wir können uns später darüber unterhalten . . . wecken Sie mich nur, wenn es anfängt . . . oder schon fünf Minuten vor dem Anfang . . . aber daß Sie nicht ohne mich anfangen! Hören Sie wohl? Nicht ohne mich anfangen!«
Damit ging der vergnügte Herr hinter Misintschikow her und verschwand.
Alle schwiegen. Das Erstaunen dauerte eine ganze Weile. Endlich begann Foma allmählich, schweigend und unhörbar zu kichern; dieses Gekicher wuchs immer stärker und stärker zu einem wirklichen Lachen heran. Als die Generalin dies sah, wurde sie ebenfalls heiter, obwohl der Ausdruck gekränkter Würde sich immer noch auf ihrem Gesicht hielt. Ein unwillkürliches Gelächter begann sich ringsum zu erheben. Der Onkel stand wie betäubt da, errötete dermaßen, daß ihm fast die Tränen kamen, und war eine Zeitlang nicht imstande, ein Wort vorzubringen.
»Herrgott!« sagte er endlich, »wer konnte das ahnen? Aber freilich . . . freilich kann das einem jeden passieren. Foma, ich versichere dir, daß dies ein überaus ehrenhafter, edler und sogar außerordentlich belesener Mensch ist, Foma . . . du wirst es ja selbst sehen! . . .«
»Das sehe ich, das sehe ich«, erwiderte Foma, ganz atemlos vom Lachen, »ein außerordentlich belesener Mensch, gewiß, sehr belesen!«
»Und wie er von den Eisenbahnen zu sprechen weiß!« bemerkte Jeshewikin halblaut.
»Foma! . . .« rief mein Onkel; aber das allgemeine Gelächter übertönte seine Worte. Foma wollte sich ausschütten vor Lachen. Als mein Onkel das sah, lachte er ebenfalls.
»Na, was ist da weiter zu sagen?« rief er entzückt. »Du bist großmütig, Foma; du hast ein edles Herz; du hast mein Glück begründet . . . du wirst auch diesem Korowkin verzeihen.«
Die einzige, die nicht lachte, war Nastasja. Mit Augen voller Liebe blickte sie ihren Verlobten an und schien sagen zu wollen:
›Was bist du doch für ein prächtiger, gutherziger, edler Mensch, und wie liebe ich dich!‹