Fjodor M. Dostojewski
Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner
Fjodor M. Dostojewski

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Fjodor M. Dostojewski

Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner

Aus den Aufzeichnungen eines Unbekannten

Roman

Deutsch von Hermann Röhl

Erster Teil

I

Der Einzug

Mein Onkel, der Oberst Jegor Iljitsch Rostanew, siedelte, als er den Abschied genommen hatte, nach dem Gute Stepantschikowo über, das ihm durch Erbschaft zugefallen war, und führte dort ein Leben, als wäre er von jeher Gutsbesitzer gewesen und hätte seine Besitzungen niemals verlassen. Es gibt Naturen, die schlechthin mit allen zufrieden sind und sich an alles gewöhnen; und von der Art war gerade die Natur dieses Obersten a. D. Man konnte sich schwerlich einen Menschen vorstellen, der friedlicher gewesen wäre und sich williger zu allem hätte bereit finden lassen. Wäre jemand auf den Einfall gekommen, ihn allen Ernstes zu bitten, er möchte irgendeinen Menschen ein paar Werst weit auf seinen Schultern tragen, so hätte er das wahrscheinlich getan: er war so gutmütig, daß es ihm nicht darauf ankam, geradezu alles auf die erste Bitte hin wegzugeben, und selbst sein letztes Hemd würde er dem ersten besten, der ihn darum ersucht hätte, geschenkt haben. In seiner äußeren Erscheinung hatte er etwas Reckenhaftes: er war groß und schlank, ebenmäßig, hatte rote Backen, Zähne von der Weiße des Elfenbeins, einen langen, dunkelblonden Schnurrbart und dazu eine laute, klangvolle Stimme sowie ein herzliches, dröhnendes Lachen; er redete in abgehackten Sätzen und sehr schnell. Er war zur Zeit seiner Übersiedelung etwa vierzig Jahre alt und seit seinem sechzehnten Lebensjahr immer Husar gewesen. Er hatte sehr jung geheiratet; seine Frau hatte er grenzenlos geliebt; aber sie war gestorben und hatte in seinem Herzen eine unauslöschliche gute Erinnerung hinterlassen. Als er dann schließlich das Gut Stepantschikowo geerbt hatte und sein Vermögen dadurch auf sechshundert Seelen gestiegen war, quittierte er den Dienst und zog wie gesagt aufs Land, und zwar mit seinen Kindern, dem achtjährigen Ilja, dessen Geburt die Mutter das Leben gekostet hatte, und der älteren Tochter, der fünfzehnjährigen Saschenka, die seit dem Tode der Mutter in einer Moskauer Pension erzogen worden war. Aber bald bekam das Haus meines Onkels eine große Ähnlichkeit mit der Arche Noah. Und das ging folgendermaßen zu.

Zu der Zeit, als er die Erbschaft machte und den Abschied nahm, wurde seine Mama, die in zweiter Ehe einen General Krachotkin geheiratet hatte, wieder Witwe. Sie hatte den General vor ungefähr sechzehn Jahren geheiratet, damals, als der Onkel noch Kornett war, sich aber auch selbst schon mit Heiratsabsichten trug. Seine Mama verweigerte ihm lange ihren Segen zu seiner Heirat, vergoß bittere Tränen und beschuldigte ihn des Egoismus, der Undankbarkeit und der Respektlosigkeit; sie suchte ihm zu beweisen, daß sein Gut, das sich auf zweihundertfünfzig Seelen belief, auch so schon kaum zum Unterhalt seiner Familie ausreichte (das heißt zum Unterhalt seiner Mama mit ihrer ganzen Suite von armen Klientinnen, Möpsen, Spitzen, chinesischen Katzen und so weiter), und mitten in diesen Vorwürfen, Scheltreden und Klageliedern ging sie selbst auf einmal ganz unerwartet noch vor der Heirat ihres Sohnes eine neue Ehe ein, obgleich sie schon zweiundvierzig Jahre alt war. Übrigens fand sie auch dabei einen Grund, meinen armen Onkel zu beschuldigen, indem sie beteuerte, sie heirate einzig und allein, um für ihre alten Tage ein Obdach zu haben; denn dieser respektlose Egoist, ihr Sohn, versage ihr ein solches, indem er auf den unverzeihlich dreisten Einfall gekommen sei, einen eigenen Hausstand zu gründen.

Ich habe nie den wahren Grund ausfindig machen können, der einen allem Anscheine nach so klugen Menschen wie den verstorbenen General Krachotkin, zu dieser Heirat mit der zweiundvierzigjährigen Witwe hat veranlassen können. Ich muß annehmen, daß er Geld bei ihr voraussetzte. Andere meinten, er habe einfach eine Pflegerin gebraucht, da er schon damals jenes ganze Heer von Krankheiten geahnt habe, das ihn später auf seine alten Tage überfiel. Nur so viel steht fest, daß der General seine Frau während ihres ganzen Zusammenlebens sehr respektlos behandelte und bei jeder geeigneten Gelegenheit über sie lachte und spottete. Er war ein eigentümlicher Mensch. Nur halbgebildet, aber durchaus nicht dumm, hegte er gegen alle und jeden eine entschiedene Geringschätzung, hatte keine Grundsätze, machte sich über alles und über alle lustig und wurde im Alter infolge der Krankheiten, die er sich durch seinen nicht sehr korrekten und redlichen Lebenswandel zugezogen hatte, boshaft, reizbar und unbarmherzig. Er hatte eine gute Karriere gemacht, sah sich aber genötigt, wegen eines unangenehmen Vorfalls in recht mißlicher Weise den Abschied zu nehmen, wobei er nur mit knapper Not einem gerichtlichen Verfahren entging und seine Pension verlor. Das erbitterte ihn nun endgültig. Fast ohne alle Mittel, da er nur gegen hundert wirtschaftlich ruinierte Leibeigene besaß, legte er die Hände in den Schoß und kümmerte sich während seines ganzen übrigen Lebens, das heißt ganze zwölf Jahre lang, nicht darum, wovon er lebe und wer die Kosten seines Unterhaltes bestreite; trotzdem aber beanspruchte er allen möglichen Komfort, schränkte seine Ausgaben nicht ein, hielt sich eine Equipage und so weiter. Bald danach wurde er an den Beinen gelähmt und saß die letzten zehn Jahre lang in einem bequemen Lehnstuhl, der, sobald er es, wünschte, von zwei baumlangen Lakaien geschaukelt wurde, die aber von ihm nie etwas anderes als die mannigfaltigsten Schimpfworte zu hören bekamen. Die Equipage, die Lakaien und den Lehnstuhl bezahlte der respektlose Sohn, der seiner Mutter das Letzte, was er hatte, schickte, sein Gut übermäßig mit Hypotheken belastete, sich das Notwendigste versagte und sich in Schulden stürzte, von denen kaum abzusehen war, wie er sie bei seinem damaligen Vermögen jemals werde bezahlen können; aber dennoch hafteten ihm die Bezeichnungen als Egoist und als undankbarer Sohn unverrückbar an. Aber der Onkel hatte einen solchen Charakter, daß er schließlich selbst glaubte, er sei ein Egoist, und, um sich zu bestrafen und kein Egoist zu sein, immer mehr Geld schickte. Die Generalin vergötterte ihren Mann; am meisten gefiel ihr übrigens an ihm, daß er General und sie infolgedessen Generalin war.

Im Hause hatte sie ihre eigene besondere Wohnung inne, wo sie während der ganzen Zeit der Halbexistenz ihres Mannes in der Gesellschaft ihrer schmarotzenden Klientinnen, der städtischen Neuigkeitskrämerinnen und ihrer Busenfreundinnen, ein ganz behagliches Dasein führte. In ihrem Städtchen war sie eine wichtige Persönlichkeit. Klatschereien, Einladungen zu Taufen und Hochzeiten, Préférence um eine Kopeke den Point und der allgemeine Respekt, den man ihrem Range als Generalin entgegenbrachte, entschädigten sie vollkommen für das häusliche Ungemach. Es stellten sich bei ihr sämtliche Klatschbasen der Stadt mit ihren Berichten ein; immer und überall überließ man ihr den ersten Platz, – kurz, sie zog aus ihrer Stellung als Generalin allen Vorteil, der sich nur daraus ziehen ließ. Der General mischte sich in all das nicht ein; aber dafür machte er sich in Gegenwart anderer Leute ungeniert über seine Frau lustig, warf zum Beispiel Fragen von dieser Art auf: wie er eigentlich dazu gekommen sei, eine »solche Betschwester« zu heiraten; und niemand wagte es, ihm zu widersprechen. Allmählich aber zogen sich alle Bekannten von ihm zurück, und dabei war ihm Gesellschaft unentbehrlich: er liebte es, zu plaudern und zu disputieren, und hatte gern ständig einen Zuhörer vor sich sitzen. Er war ein Freigeist und Atheist von altem Schlag und disputierte deshalb auch gern über höhere Gegenstände.

Aber die Einwohner des Städtchens N. fanden an höheren Gegenständen keinen Geschmack, und so wurden denn die Zuhörer des Generals immer spärlicher. Er machte den Versuch, regelmäßig Whist- und Préférencepartien mit seinen Hausgenossinnen einzurichten; aber das Spiel endete gewöhnlich mit solchen Wutanfällen des Generals, daß die Generalin und ihre Parasitinnen in ihrer Angst Kerzen vor dem Altar in der Kirche aufstellten, Messen lesen ließen, aus den Bohnen und den Karten die Zukunft zu erfahren suchten, Weißbrot im Gefängnis verteilten und mit Zittern und Beben der Zeit nach dem Mittagessen entgegensahen, wo sie sich wieder zum Whist- oder Préférencespielen hinsetzen und sich für jeden Fehler anschreien, ausschimpfen und beinahe prügeln lassen mußten. Denn wenn dem General etwas nicht gefiel, so legte er sich vor keinem Menschen Zwang auf: er kreischte wie ein Weib und fluchte wie ein Kutscher; ja manchmal, wenn er die Karten zerrissen und auf den Fußboden geworfen und seine Partnerinnen weggejagt hatte, weinte er sogar vor Ärger und Wut, einzig und allein um eines Buben willen, den jemand statt einer Neun abgeworfen hatte. Zuletzt bedurfte er wegen zunehmender Augenschwäche eines Vorlesers. Da erschien Foma Fomitsch Opiskin auf dem Plane.

Ich muß gestehen, nur mit einer gewissen Feierlichkeit gehe ich daran, von dieser neuen Persönlichkeit zu berichten. Sie ist unstreitig eine der wichtigsten in meiner Erzählung. Inwieweit sie Anspruch darauf hat, den Leser zu interessieren, das werde ich nicht erörtern; es wird schicklicher sein, die Entscheidung dieser Frage dem Leser selbst zu überlassen.

Foma Fomitsch übernahm seine Obliegenheiten bei dem General Krachotkin für Wohnung und Kost: er erhielt nicht mehr und nicht weniger. Woher er kam, das ist in tiefes Dunkel gehüllt. Ich habe indes besondere Nachforschungen angestellt und wenigstens etwas über das Vorleben dieses bemerkenswerten Menschen in Erfahrung gebracht. Es hieß erstens, er sei einmal irgendwo Beamter gewesen und habe in dieser Stellung zu leiden gehabt. Es verlautete ferner, er habe sich einmal in Moskau mit schriftstellerischer Tätigkeit abgegeben. Darin liegt nichts Wunderbares; die krasse Unwissenheit Foma Fomitschs konnte natürlich kein Hindernis für seine literarische Laufbahn bilden. Aber in glaubwürdiger Weise bekannt ist nur das eine, daß ihm nichts geglückt war und er sich schließlich gezwungen sah, bei dem General die Stelle als Vorleser und Märtyrer anzunehmen. Jede erdenkliche unwürdige Behandlung ertrug er, um nur vom Tische des Generals sein Essen zu erhalten. Später allerdings, nach dem Tode des Generals, als Foma selbst ganz unerwartet auf einmal eine wichtige, bedeutende Persönlichkeit geworden war, versicherte er uns zu wiederholten Malen, wenn er den Spaßmacher gespielt habe, so sei das eben nur ein großmütiges Opfer gewesen, das er der Freundschaft dargebracht habe; der General sei sein Wohltäter gewesen; dieser große, unverstandene Mann habe nur ihm, Foma, allein die verborgenen Geheimnisse seiner Seele anvertraut; und wenn schließlich er, Foma, auf Verlangen des Generals allerlei Tiere imitiert und lebende Bilder dargestellt habe, so habe er das nur getan, um den von seinen Krankheiten niedergedrückten Dulder und Freund zu zerstreuen und aufzuheitern. Aber Foma Fomitschs Versicherungen und Ausdeutungen unterliegen in diesem Falle starkem Zweifel; trotzdem jedoch spielte dieser selbe Foma Fomitsch, schon als er noch Spaßmacher war, in der Damenhälfte des Generalshauses eine ganz andere Rolle. Wie er das fertiggebracht hatte, davon kann sich jemand, der auf diesem Gebiet nicht Spezialist ist, nur schwer eine Vorstellung machen. Die Generalin hegte ihm gegenüber eine Art von mystischer Hochachtung; warum, das ist unbekannt. Allmählich gewann er über die gesamte Weiblichkeit im Hause des Generals eine erstaunliche Macht, ähnlich der Macht eines Iwan Jakowlewitsch oder vergleichbarer Weisen und Propheten, die in den Irrenhäusern von dafür passionierten Damen besucht werden. Er las ihnen Erbauungsbücher vor, erklärte ihnen mit beredten Worten und unter Tränen das Wesen verschiedener christlicher Tugenden, erzählte ihnen von seinem Leben und von seinen Taten, ging zum Gottesdienst und sogar zur Frühmesse, sagte mitunter die Zukunft voraus, verstand besonders gut, Träume zu deuten, und bekrittelte den Nächsten meisterhaft. Der General ahnte das, was in den hinteren Gemächern vorging, und tyrannisierte seinen Parasiten noch schonungsloser. Aber Fomas Märtyrertum verhalf ihm zu noch höherem Ansehen in den Augen der Generalin und all ihrer Hausgenossinnen.

Endlich änderte sich alles. Der General starb. Sein Tod war recht originell. Der frühere Freigeist und Atheist bekam es in unglaublichem Grade mit der Angst. Er weinte, bereute, ließ Heiligenbilder aus der Kirche holen und Geistliche rufen. Es wurden Gebete für ihn gesprochen und ihm die Letzte Ölung erteilt. Der arme Kerl schrie, er wolle nicht sterben, und bat sogar Foma Fomitsch unter Tränen um Verzeihung. Letzterer Umstand verlieh diesem in der Folge eine ganz besondere Glorie. Übrigens spielte sich, unmittelbar bevor sich die Seele des Generals von dem Körper trennte, noch ein eigenartiger Vorfall ab. Die Tochter der Generalin aus erster Ehe, meine Tante Praskowja Iljinitschna, die als alte Jungfer ständig im Hause des Generals lebte, der sie mit besonderer Vorliebe als Opfer seiner Launen benutzte und sie wegen ihrer steten Dienstleistungen während der ganzen zehn Jahre seiner Beinlähmung gar nicht entbehren konnte, da sie mit ihrer schlichten, unverdrossenen Sanftmut die einzige war, die es ihm recht zu machen verstand, – diese trat, heiße Tränen vergießend, an sein Bett und wollte das Kissen unter dem Kopfe des Dulders in Ordnung bringen; aber der Dulder packte sie schnell bei den Haaren und riß sie, beinah schäumend vor Wut, dreimal heftig daran. Zehn Minuten darauf starb er. Dem Oberst wurde Mitteilung davon gemacht, obgleich die Generalin erklärte, sie wolle ihn nicht sehen und würde lieber sterben, als ihn in einem solchen Augenblicke vor ihre Augen kommen zu lassen. Das Begräbnis war prunkvoll, selbstverständlich auf Kosten des respektlosen Sohnes, den die Mutter nicht sehen wollte.

In dem ganz heruntergekommenen Dorfe Knjasewka, welches das Eigentum mehrerer Besitzer war und in welchem dem General hundert Seelen gehörten, erhebt sich ein Mausoleum aus weißem Marmor, dessen Wände mit Inschriften bedeckt sind, die den Verstand, die Talente und das edle Herz des Entschlafenen preisen und seines Generalranges und seiner Orden Erwähnung tun. Bei der Abfassung dieser Inschriften hatte auch Foma Fomitsch stark mitgewirkt. Lange sträubte sich die Generalin, bis sie ihrem ungehorsamen Sohne Verzeihung gewährte. Von dem ganzen Schwarm ihrer Klientinnen und Möpse umgeben, erklärte sie schluchzend und kreischend, lieber wolle sie trockenes Brot essen und es selbstverständlich »mit ihren Tränen anfeuchten«, lieber wolle sie am Bettelstabe gehen und unter den Fenstern um Almosen bitten, als der Bitte des »ungehorsamen« Sohnes nachgeben und zu ihm nach Stepantschikowo ziehen; niemals, niemals werde sie ihren Fuß über die Schwelle seines Hauses setzen! Überhaupt klingt das Wort »Fuß«, in solchem Zusammenhange gebraucht, im Munde mancher Damen außerordentlich effektvoll. Die Generalin sprach es geradezu meisterhaft, mit vollendeter Kunst aus. Kurz, sie warf mit einer unglaublichen Menge schöner Redewendungen um sich. Aber es muß angemerkt werden, daß gleichzeitig mit diesen Zornesergüssen schon sachte mit dem Einpacken ihrer Sachen zum Zwecke der Übersiedelung nach Stepantschikowo begonnen wurde. Der Oberst hetzte alle seine Pferde halbtot, indem er fast täglich die vierzig Werst von Stepantschikowo nach der Stadt zurücklegte, erhielt aber erst vierzehn Tage nach dem Begräbnis des Generals die Erlaubnis, vor den Augen seiner beleidigten Mutter zu erscheinen. Bis dahin hatte Foma Fomitsch als Unterhändler gedient. Diese ganzen vierzehn Tage über hatte er dem ›ungehorsamen‹ Sohne die schmählichsten Vorwürfe wegen seines ›unmenschlichen‹ Benehmens gemacht, so daß derselbe aufrichtige Tränen vergoß und beinah in Verzweiflung geriet. Von diesem Zeitpunkte an begann die unbegreifliche, unmenschliche despotische Herrschaft Foma Fomitschs über meinen armen Onkel. Foma merkte, was für einen Menschen er vor sich hatte, und fühlte zugleich, daß seine Rolle als Spaßmacher zu Ende sei und er nun in Ermangelung eines ernstlichen Konkurrenten selbst den Edelmann spielen könne. So entschädigte er sich denn für die früheren Demütigungen.

»Wie würde Ihnen zumute sein«, sagte Foma, »wenn Ihre eigene Mutter, sozusagen die Urheberin Ihrer Tage, den Bettelstab in die Hand nähme und, mit ihren zitternden, vom Hunger ausgemergelten Händen auf ihn gestützt, wirklich anfinge um Almosen zu bitten? Wäre das nicht etwas ganz Ungeheuerliches, erstens im Hinblick auf ihren Rang als Generalin und zweitens im Hinblick auf ihre Tugenden? Wie würde Ihnen zumute sein, wenn sie auf einmal (selbstverständlich nur aus Versehen; aber es läge ja doch im Bereiche des Möglichen) unter Ihre eigenen Fenster käme und ihre Hand ausstreckte, während Sie, ihr leiblicher Sohn, vielleicht in demselben Augenblicke in einem Daunenbette und . . . und . . . nun überhaupt im Luxus versinken? Schrecklich, schrecklich! Aber das Allerschrecklichste (gestatten Sie, daß ich offenherzig mit Ihnen rede, Oberst!), das Allerschrecklichste ist doch dies, daß Sie jetzt wie ein gefühlloser Pfahl vor mir dastehen, den Mund aufsperren und mit den Augen klappern (was sogar unschicklich ist), während Sie schon bei der bloßen Vorstellung eines solchen Falles sich die Haare mit den Wurzeln aus dem Kopfe reißen und Bäche – was sage ich! – Ströme, Seen, Meere, Ozeane von Tränen vergießen müßten . . .«

Kurz, vor übermäßigem Eifer verstieg sich Foma zu Übertreibungen. Aber das war der gewöhnliche Ausgang seiner Schönrednerei. Selbstverständlich endete die Sache damit, daß die Generalin nebst ihren armen Klientinnen und ihren Hunden sowie nebst Foma Fomitsch und Fräulein Perepelizyna, ihrer engsten Busenfreundin, schließlich doch Stepantschikowo mit ihrer Gegenwart beglückte. Sie sagte, sie wolle nur den Versuch machen, bei ihrem Sohne zu wohnen, und ihn zunächst nur auf die Probe stellen, ob er sich auch respektvoll gegen sie benehme. Man kann sich die Situation des Obersts vorstellen, während er so auf die Probe gestellt wurde! Anfangs hielt es die Generalin in Anbetracht dessen, daß sie eben erst Witwe geworden war, für ihre Pflicht, zwei- oder dreimal in der Woche bei der Erinnerung an ihren unwiederbringlich verlorenen General in Verzweiflung zu geraten, wobei sie aus nicht recht verständlichem Grunde ausnahmslos jedesmal den Oberst gehörig ausschalt. Manchmal, namentlich wenn Besuch da war, rief sie ihren Enkel, den kleinen Ilja, und die fünfzehnjährige Alexandra, ihre Enkelin, zu sich, setzte sie neben sich, sah sie lange, lange mit traurigen, schmerzerfüllten Blicken an, als bedauere sie die Kinder, die bei einem solchen Vater zugrunde gehen müßten, seufzte tief und schwer und brach dann, ohne ein Wort zu sagen, in geheimnisvolle Tränen aus, was mindestens eine ganze Stunde lang dauerte. Wehe dem Oberst, wenn er diese Tränen nicht zu begreifen vermochte! Und er, der Ärmste, vermochte sie fast nie zu begreifen, kam durch die Tücke des Zufalls in seiner Harmlosigkeit fast jedesmal zu diesen Tränenergüssen hinzu und mußte sich dann, er mochte wollen oder nicht, einem Examen unterwerfen. Aber das Respektvolle seines Benehmens verminderte sich nicht, sondern reichte vielmehr schließlich den denkbar höchsten Grad. Kurz, beide, sowohl die Generalin wie Foma Fomitsch, hatten vollständig die Empfindung, daß die Gewitterwolke, die so viele Jahre lang in der Gestalt des Generals Krachotkin drohend über ihnen gestanden hatte, nun vorübergezogen sei und nie mehr zurückkehren werde. Manchmal ließ sich die Generalin plötzlich ohne jeden äußeren Anlaß auf das Sofa sinken und fiel in Ohnmacht. Alles rannte dann hin und her und geriet in hastige Tätigkeit. Der Oberst war ganz fassungslos und zitterte wie Espenlaub.

»Grausamer Sohn!« schrie die Generalin, wenn sie wieder zu sich kam. »Du zerreißt mein Innerstes . . . mes entrailles, mes entrailles!«

»Aber wodurch zerreiße ich denn Ihr Innerstes, liebe Mama?« erwiderte der Oberst schüchtern.

»Du hast es zerrissen! Du hast es zerrissen! Er will sich noch rechtfertigen! Er wird grob. Grausamer Sohn! Ich sterbe . . . .«

Der Oberst war natürlich ganz niedergeschmettert.

Aber merkwürdigerweise wurde die Generalin, statt zu sterben, immer wieder lebendig. Eine halbe Stunde darauf sagte dann wohl der Oberst zu einem Bekannten, den er beim Knopfe faßte:

»Na, siehst du, lieber Freund, sie ist eben eine grande dame, eine Generalin! Sie ist eine herzensgute alte Dame; aber, weißt du, sie ist an all dieses feine Wesen gewöhnt . . . und ich Tölpel passe nicht zu ihr! Jetzt ist sie böse auf mich. Gewiß, ich habe mich schuldig gemacht. Allerdings weiß ich immer noch nicht, lieber Freund, was ich eigentlich begangen habe; aber gewiß, ich werde mich schon schuldig gemacht haben . . .«

Es kam auch vor, daß Fräulein Perepelizyna es für ihre Pflicht hielt, dem Oberst die Leviten zu lesen. Sie war ein schon überreifes Mädchen, das jeden Menschen anzischte, ohne Augenbrauen, mit einer falschen Haartour, mit kleinen, giftig blickenden Augen und fadendünnen Lippen; die Hände pflegte sie sich mit Gurkenlake zu waschen.

»Das kommt daher, daß Sie sich so respektlos benehmen«, sagte sie. »Das kommt daher, daß Sie ein Egoist sind, daher, daß Sie Ihre Mama beleidigen; sie ist daran nicht gewöhnt. Sie ist eine Generalin, während Sie nur Oberst sind.«

»Das ist Fräulein Perepelizyna, lieber Freund«, sagte dann wohl der Oberst erklärend zu seinem Zuhörer, »ein ganz vortreffliches Mädchen, Mamas warme Verteidigerin! Ein Mädchen, wie man es selten findet! Glaube nicht, daß sie hier nur so herumschmarotzt; nein, lieber Freund, sie ist selbst die Tochter eines Oberstleutnants. Ja, so ist das!«

Aber selbstverständlich waren das nur erst die Blüten, aus denen sich später Früchte entwickeln sollten. Dieselbe Generalin, die sich darauf verstand, ihrem Sohne so mancherlei schreckliche Szenen zu bereiten, zitterte ihrerseits wie ein Mäuschen vor dem früheren Spaßmacher des Generals. Foma Fomitsch hatte sie vollständig in seinen Bann gebracht. Sie hatte ihm gegenüber keinen eigenen Willen, hörte mit seinen Ohren, sah mit seinen Augen. Ein Vetter dritten Grades von mir, ebenfalls ein verabschiedeter Husar, ein noch junger Mensch, der aber sein ganzes Vermögen durchgebracht hatte, tief in Schulden steckte und nun eine Zeitlang bei meinem Onkel wohnte, dieser sprach sich mir gegenüber geradezu dahin aus, nach seiner festen Überzeugung stehe die Generalin mit Foma Fomitsch in unerlaubten Beziehungen. Natürlich wies ich damals diese Vermutung als gar zu grob und plump voller Entrüstung zurück. Nein, da lag etwas anderes vor, und was dies war, das kann ich nur dadurch deutlich machen, daß ich im voraus dem Leser Foma Fomitschs Charakter so klarlege, wie ich ihn selbst in der Folge erkannt habe.

Man stelle sich einen ganz unbedeutenden, kleinmütigen Menschen vor, eine Art Fehlgeburt der Gesellschaft, einen Menschen, den niemand zu etwas gebrauchen kann, der völlig unnütz und widerwärtig ist, aber ein grenzenloses Selbstbewußtsein besitzt, jedoch ohne die geringste Begabung, durch die er sein krankhaft gereiztes Selbstbewußtsein auch nur irgendwie rechtfertigen könnte. Ich sage gleich von vornherein: Foma Fomitsch ist eine Verkörperung des grenzenlosesten Selbstbewußtseins, aber zugleich eines besonderen Selbstbewußtseins, nämlich eines Selbstbewußtseins, das mit vollkommener Wertlosigkeit verbunden ist, das, wie es unter solchen Umständen gewöhnlich der Fall ist, viele Kränkungen erlitten hat, durch schwere frühere Mißerfolge niedergebeugt ist, schon seit langer Zeit eitert und schwärt und seitdem bei jeder Begegnung, bei jedem fremden Erfolge, Neid und Gift heraustreten läßt. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß all dies mit einer häßlichen Empfindlichkeit, mit einem ganz verrückten Mißtrauen gepaart ist. Vielleicht fragt jemand: woher stammt ein solches Selbstbewußtsein? Wie kann es bei so vollständiger Wertlosigkeit, in solch kläglichen Menschen entstehen, die schon vermöge ihrer gesellschaftlichen Stellung wissen müßten, auf welchen Platz sie gehören? Was soll man auf diese Frage antworten? Wer weiß, vielleicht gibt es auch Ausnahmen, zu denen auch mein Held gehört. Und er ist tatsächlich eine Ausnahme von der Regel, wie sich das auch in der Folge herausstellen wird. Aber gestatten Sie die Frage: Sind Sie wirklich davon überzeugt, daß diejenigen, die sich schon vollständig darein ergeben haben und es als eine Ehre und ein Glück für sich ansehen, Ihre Spaßmacher, Ihre Gnadenbrotempfänger und Parasiten zu sein – sind Sie wirklich davon überzeugt, daß die schon vollständig auf jedes Selbstbewußtsein verzichtet haben? Aber der Neid, die Klatscherei, die Verleumdung, die Denunziationen, das geheime Zischeln in den Hinterzimmern Ihres eigenen Hauses, irgendwo ganz in der Nähe, an Ihrem eigenen Tisch? Wer weiß, vielleicht wird bei manchen dieser vom Schicksal erniedrigten Vagabunden, Ihrer Spaßmacher und Hansnarren, das Selbstbewußtsein durch die Erniedrigung nicht etwa ertötet, sondern vielmehr gerade durch diese Erniedrigung, durch die Stellung als Hansnarren und Spaßmacher, durch das Schmarotzertum, durch die stete notgedrungene Unterordnung und Unselbständigkeit noch mehr entflammt. Wer weiß, vielleicht ist dieses unförmig aufgeschossene Selbstbewußtsein nichts anderes als ein falsches, von vornherein verzerrtes Gefühl der eigenen Würde, die vielleicht schon in der Kindheit zum ersten Mal durch Bedrückung, Armut, Schmutz und Geringschätzung beleidigt wurde, vielleicht schon in der Person der Eltern des zukünftigen Vagabunden, vor seinen eigenen Augen? Aber ich habe gesagt, daß Foma Fomitsch überdies auch noch eine Ausnahme von der allgemeinen Regel bilde. Und das ist richtig. Er war früher einmal Schriftsteller gewesen, hatte keine Anerkennung gefunden, und das hatte ihn verbittert; denn die Schriftstellerei ist imstande, noch ganz andere Leute als Foma Fomitsch zugrunde zu richten, selbstverständlich dadurch, daß ihnen keine Anerkennung zuteil wird. Ich weiß es zwar nicht, muß aber vermuten, daß Foma Fomitsch auch schon vor seiner schriftstellerischen Tätigkeit Mißgeschick gehabt hatte; vielleicht hatte er auch auf anderen Laufbahnen statt des erhofften Lohnes nur Nasenstüber oder noch Schlimmeres erhalten. Darüber ist mir allerdings nichts Sicheres bekannt; aber ich habe später Nachforschungen angestellt und weiß zuverlässig, daß Foma tatsächlich einmal in Moskau einen kleinen Roman verfaßt hat, sehr ähnlich denen, die dort in den dreißiger Jahren jährlich zu Dutzenden fabriziert wurden, in der Art wie »Die Befreiung Moskaus«, »Der Hetman Bur«, »Ein Sohn der Liebe oder ein Russe im Jahre 1104« und so weiter und so weiter, Romane, die zu ihrer Zeit dem Witz des Barons Brambäus eine willkommene Zielscheibe darboten. Das war freilich schon lange her; aber eine Verletzung des schriftstellerischen Ehrgeizes wirkt manchmal wie ein tiefer, unheilbarer Schlangenbiß, namentlich bei unbedeutenden, einfältigen Menschen. Foma Fomitsch fühlte sich gleich bei seinem ersten Schritte auf dem Gebiete der Schriftstellerei schwer gekränkt und schloß sich gleich damals an die gewaltige Schar der Verbitterten an, aus der dann alle jene Narren und Vagabunden und Pilger hervorgehen. Schon seit jener Zeit, glaube ich, entwickelte sich bei ihm diese ungeheuerliche Prahlsucht, dieser Durst nach Lob und Auszeichnungen, nach Verehrung und Bewunderung. Schon als er noch die Stellung eines Spaßmachers bekleidete, hatte er ein Häufchen von Idioten um sich gesammelt, die ihn ehrfurchtsvoll anstaunten. Irgendwo und irgendwie der Erste zu sein, den Propheten zu spielen, sich ein Air zu geben und zu prahlen, das war ihm das wichtigste Lebensbedürfnis! Wenn ihn andere nicht lobten, so lobte er sich selbst. Ich selbst habe im Hause meines Onkels in Stepantschikowo Foma zu der Zeit, als er dort schon unumschränkter Herrscher war und für einen Propheten galt, manchmal mit einer Art von geheimnisvoller Wichtigkeit sagen hören: »Ich kann hier unter euch nicht dauernd weilen! Ich sehe mir hier die Sache an, bringe euch alle in geordnete Verhältnisse, gebe euch Anweisung und Belehrung, aber dann sage ich euch Lebewohl und gehe nach Moskau, um dort ein Journal herauszugeben! Dreißigtausend Menschen werden allmonatlich meine Artikel lesen. Dann wird mein Name endlich Klang gewinnen und dann – wehe meinen Feinden!« Aber der geniale Mensch verlangte, schon während er sich noch darauf vorbereitete, berühmt zu werden, sofortige Belohnung. Vorauszahlung zu empfangen ist überhaupt angenehm, und in diesem Falle ganz besonders. Ich weiß, daß er meinem Onkel allen Ernstes versicherte, es sei ihm, Foma, beschieden, eine gewaltige Tat zu vollbringen, eine Tat, zu der er auf dieser Welt berufen sei und zu deren Ausführung ihn eine Art von menschlichem Wesen mit Flügeln oder so etwas Ähnliches antreibe, das ihm bei Nacht erscheine. Er werde nämlich zur Rettung der Menschenseelen eine tiefsinnige Schrift verfassen, von der ein allgemeines Erdbeben ausgehen und ganz Rußland erzittern werde. Sobald aber ganz Rußland erzittere, werde er, Foma, allen Ruhm verachtend, Mönch werden und Tag und Nacht in den Kiewer Höhlen für das Heil des Vaterlandes beten. All dies übte auf meinen Onkel eine bezaubernde Wirkung aus.

Und nun stelle man sich vor, was aus diesem Foma werden konnte, der sein ganzes Leben lang unterjocht und geknechtet und vielleicht sogar geradezu geprügelt worden war, aus diesem Foma mit seiner geheimen Sinnlichkeit und seiner Selbstsucht, aus Foma, dem verbitterten Schriftsteller, aus Foma, der um des täglichen Brotes willen die Rolle des Spaßmachers gespielt hatte, aus Foma, der trotz all seiner vorhergehenden Erniedrigung und Ohnmacht doch im Grunde seiner Seele ein Despot war, aus Foma, dem Prahler, der sofort frech wurde, wenn ihm etwas geglückt war, aus diesem Foma, der auf einmal zu Ehre und Ruhm gelangt war und gelobt und verhätschelt wurde, dank einer idiotischen Gönnerin und einem verblendeten, zu allem ja sagenden Gönner, in dessen Hause er endlich nach langen Irrfahrten eine Freistatt gefunden hatte! Natürlich muß ich auch noch über den Charakter meines Onkels Näheres mitteilen; denn ohne das würde Foma Fomitschs Erfolg doch nicht recht verständlich sein. Vorher aber möchte ich noch sagen, daß bei Foma sich das Sprichwort bestätigte: ›Wenn man ihn an den Tisch setzt, so legt er gleich die Beine darauf.‹ Ja, Foma entschädigte sich für seine Vergangenheit! Eine gemeine Seele wird, wenn sie aus dem Druck herauskommt, selbst andere bedrücken. Foma war geknechtet worden, und so empfand er denn sogleich das Bedürfnis, andere zu knechten; man hatte sich über ihn lustig gemacht, nun machte er sich über andere lustig. Er war ein Possenreißer gewesen; nun fühlte er sofort das Bedürfnis, sich eigene Possenreißer zu halten. Er prahlte in ganz absurder Weise, brüstete sich unglaublich, stellte für seine Person unsinnige Ansprüche und tyrannisierte andere maßlos. Das ging so weit, daß brave Leute, die noch nicht Zeugen dieses ganzen Treibens gewesen waren, sondern davon nur hatten erzählen hören, dies alles für Fabel und Teufelsspuk hielten, sich bekreuzigten und ausspuckten.

Ich sprach von meinem Onkel und wiederhole: ohne eine genauere Schilderung dieses merkwürdigen Charakters muß eine so unverschämte Herrschaft Foma Fomitschs in einem fremden Hause natürlich unbegreiflich erscheinen, und ebenso unbegreiflich diese Metamorphose eines Possenreißers in einen großen Herrn. Mein Onkel war nicht nur außerordentlich gutmütig, sondern er war auch ein Mensch von ausgesuchtem Zartgefühl (trotz seines etwas plumpen Äußeren!), von höchstem Edelmut und von erprobter Mannhaftigkeit. Ich sage kühn ›Mannhaftigkeit‹; von der Erfüllung einer Pflicht hätte er sich nie abhalten lassen und in solchem Falle kein Hindernis gefürchtet. Seine Seele war rein wie die eines Kindes. Er war tatsächlich ein vierzigjähriges Kind, mitteilsam im höchsten Grade und immer heiter; er hielt alle Menschen für Engel, suchte bei fremden Mängeln die Schuld in sich selbst, vergrößerte gute Eigenschaften anderer übermäßig und setzte solche selbst da voraus, wo sie gar nicht vorhanden sein konnten. Er gehörte zu den Menschen von so edler Denkungsart und so keuschem Herzen, daß sie sich geradezu schämen, bei einem andern etwas Schlechtes vorauszusetzen, eiligst ihren Nächsten mit allen Tugenden ausstaffieren, sich über fremde Erfolge freuen und auf diese Weise beständig in einer idealen Welt leben, bei einem Mißgeschick aber vor allem sich selbst die Schuld geben. Sich für die Interessen anderer aufzuopfern, das ist ihre Berufung. Mancher hätte meinen Onkel wohl kleinmütig, charakterlos und schwach genannt. Allerdings war er schwach und von gar zu weichem Charakter, aber nicht aus Mangel an Festigkeit, sondern aus Furcht, jemanden zu kränken und hart zu verfahren, aus übermäßiger Achtung vor anderen und dem Menschen im allgemeinen. Übrigens war er nur dann charakterlos und kleinmütig, wenn es sich um seinen eigenen Vorteil handelte, den er im höchsten Grade vernachlässigte, wofür er sein ganzes Leben lang verspottet wurde und das sogar nicht selten von denjenigen, denen er seine Interessen zum Opfer gebracht hatte. Niemals glaubte er, daß er Feinde habe, und doch hatte er solche; aber er bemerkte es eben nicht. Vor Lärm und Geschrei im Hause hatte er die größte Angst, gab sofort in allem nach und fügte sich in alles. Er tat das aus einer Art von verlegener Gutmütigkeit, aus einer Art von schüchternem Zartgefühl; ›sei es drum‹, sagte er in seiner hastigen Weise, um alle Vorwürfe zurückzuweisen, die ihm von Fremden wegen seiner Nachgiebigkeit und Schwäche gemacht wurden, »sei es drum . . . wenn nur alle zufrieden und glücklich sind!« Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß er sich jedem edlen Einflusse gern und willig fügte. Ja noch mehr: auch ein gewandter Schurke konnte ihn vollständig in seine Gewalt bringen und ihn sogar zu einer schlechten Handlung verleiten, natürlich nur, wenn er diese schlechte Handlung als eine edle maskierte. Mein Onkel schenkte anderen außerordentlich leicht Vertrauen und beging dabei oft arge Irrtümer. Wenn er aber nach vielen trüben Erfahrungen sich endlich dazu verstand, denjenigen, der ihn betrogen hatte, für einen ehrlosen Menschen zu halten, so schrieb er sich selbst den größten Teil der Schuld, ja nicht selten die alleinige Schuld zu. Und nun stelle man sich vor, daß in seinem friedlichen Hause auf einmal ein launenhaftes, vor Alter schon idiotisch gewordenes Weib die Herrschaft ergriff, in untrennbarem Vereine mit einem andern Idioten, ihrem Abgott, eine Idiotin, die sich bisher nur vor ihrem General gefürchtet hatte, sich jetzt aber vor nichts mehr fürchtete und sogar das Bedürfnis verspürte, sich für alles Vergangene zu entschädigen, eine Idiotin, der gegenüber sich mein Onkel schon allein deswegen, weil sie seine Mutter war, zu Ehrerbietung und Gehorsam verpflichtet fühlte. Das erste, was die Ankömmlinge taten, war, dem Onkel zu beweisen, daß er roh, hitzig, ungebildet und vor allen Dingen im höchsten Grade egoistisch sei. Merkwürdig war, daß die idiotische Alte selbst an die Wahrheit dieser Beschuldigungen glaubte, und meiner Meinung nach tat dies sogar Foma Fomitsch, wenigstens zum Teil. Auch überzeugten sie den Onkel davon, daß Foma von Gott selbst zu ihm hernieder gesandt sei, um seine Seele zu retten und seine zügellosen Leidenschaften zu besänftigen, und daß er, der Onkel, stolz sei, mit seinem Reichtum prahle und es fertigbringe, seinem Hausgenossen Foma Fomitsch das bißchen Brot zum Vorwurf zu machen. Der arme Onkel kam sehr bald zu der Ansicht, daß er ein moralisch tief gesunkener Mensch sei, und war bereit, sich die Haare zu raufen und um Verzeihung zu bitten . . .

»Ich bin selbst daran schuld, lieber Freund«, sagte er manchmal, wenn er mit einem seiner Bekannten sprach; »an allem bin ich selbst schuld! Einen Menschen, dem man Gutes erweist, muß man mit verdoppeltem Zartgefühl behandeln . . . das heißt . . . was rede ich da! Dem man Gutes erweist! Da habe ich wieder einmal Unsinn geschwatzt! Ich erweise ihm überhaupt nichts Gutes; im Gegenteil, er ist es, der mir damit etwas Gutes erweist, daß er bei mir wohnt, und nicht ich ihm! Na, und doch habe ich ihm das bißchen Brot zum Vorwurf gemacht! . . . Das heißt, ich habe es ihm gar nicht zum Vorwurf gemacht; aber es muß mir offenbar so ein Wort unversehens über die Lippen gesprungen sein, – das passiert mir öfters . . . Na, aber schließlich, der Mensch hat viel gelitten, Heldenhaftes geleistet; zehn Jahre lang hat er trotz aller Kränkungen seinen kranken Freund gepflegt und gewartet: all das verlangt eine Belohnung! Na, und dann schließlich die Wissenschaft . . . Er ist Schriftsteller! Ein hochgebildeter Mensch. Ein durchaus edler Charakter, – mit einem Wort . . .«

Die Vorstellung, wie der gebildete, unglückliche Foma bei dem launenhaften, grausamen Herrn als Possenreißer fungiert hatte, erfüllte das edle Herz des Onkels mit Mitleid und Empörung. Alle Sonderbarkeiten Fomas, alle seine häßlichen Ausfälle betrachtete der Onkel stets als die natürliche Folge seiner früheren Leiden, seiner Erniedrigung und seiner Verbitterung . . . Bei seinem zartfühlenden, edlen Herzen sagte er sich jedesmal sofort, man könne von jemand, der so viel gelitten hatte, nicht dasselbe verlangen wie von einem gewöhnlichen Menschen; man müsse ihm nicht nur verzeihen, sondern vielmehr mit Sanftmut seine Wunden heilen, ihn aufrichten, ihn wieder mit der Menschheit versöhnen. Nachdem er sich dies zum Ziel gesetzt hatte, war er Feuer und Flamme dafür und verlor vollständig die Fähigkeit, zu bemerken, daß sein neuer Freund ein genußsüchtiges, launenhaftes Geschöpf, ein Egoist, Taugenichts und Tagedieb und nichts anderes war. An Fomas Gelehrsamkeit und Genialität glaubte er vorbehaltlos. Ich habe vergessen zu sagen, daß der Onkel vor den Worten »Wissenschaft« und »Literatur« einen höchst naiven Respekt empfand, obgleich er selbst nie etwas gelernt hatte.

Das war eine seiner hervorragendsten, unschuldigsten Sonderbarkeiten.

»Er schreibt ein Werk!« sagte er manchmal, wenn er, noch zwei Zimmer weit von Fomas Zimmer entfernt, auf Zehenspitzen ging. »Ich weiß nicht, was er eigentlich schreibt«, fügte er mit stolzer, geheimnisvoller Miene hinzu; »aber es wird gewiß so'n Zeug sein . . . Das heißt, Zeug im guten Sinne. Mancher mag's ja verstehen; aber für dich und mich, lieber Freund, sind das solche Rätsel, daß . . . Ich glaube, er schreibt über die Produktivkräfte, – so hat er selbst gesagt. Das ist gewiß etwas Politisches. Ja, sein Name wird einen großen Klang haben! Dann werden auch du und ich durch ihn berühmt werden. Das hat er mir selbst gesagt, lieber Freund . . .«

Ich weiß zuverlässig, daß der Onkel auf Fomas Befehl sich seinen schönen, dunkelblonden Backenbart abrasieren mußte. Foma war der Ansicht, mit dem Backenbart sehe der Onkel wie ein Franzose aus und bekunde daher wenig Vaterlandsliebe. Nach und nach begann sich Foma auch in die Verwaltung des Gutes einzumischen und weise Ratschläge zu geben. Diese weisen Ratschläge waren fürchterlich. Die Bauern merkten bald, wie die Dinge lagen und wer der eigentliche Herr war, und kratzten sich tüchtig im Nacken. Ich habe in der Folge selbst ein Gespräch Foma Fomitschs mit den Bauern angehört; ich muß gestehen, daß ich es belauschte: Foma hatte schon früher geäußert, daß er gern mit dem verständigen russischen Bauern rede. So ging er denn einmal auf die Tenne, sprach mit den Bauern über Landwirtschaft, obgleich er selbst nicht Hafer von Weizen zu unterscheiden wußte, und setzte ihnen dann in süßem Tone die heiligen Pflichten des Bauern gegen die Herrschaft auseinander, wobei er auch die Fragen der Elektrizität und der Arbeitsteilung streifte, Dinge, von denen er natürlich keine blasse Ahnung hatte, und seinen Zuhörern erklärte, wie die Erde um die Sonne gehe; endlich kam er, ganz gerührt von seinem eigenen schönen Vortrag, auf die Minister zu sprechen. Ich hatte für sein Benehmen Verständnis. Erzählt doch auch Puschkin von einem Vater, der zu seinem vierjährigen Söhnchen sagte, er, der Papa, sei so tapfer, daß der Kaiser ihn liebhabe. Dieser Vater brauchte eben einen Zuhörer, mochte derselbe auch erst vierjährig sein. Die Bauern aber hörten immer pflichtschuldig an, was Foma Fomitsch sagte.

»Aber wie ist das, Väterchen? Hast du viel Gehalt vom Kaiser bekommen?« fragte ihn auf einmal aus der Schar der Bauern ein grauhaariger Alter, Archip, mit dem Spitznamen »der Kurze«, in der deutlichen Absicht, sich dadurch einzuschmeicheln; aber Foma Fomitsch erachtete diese Frage für zu familiär, und übermäßige Familiarität konnte er nicht leiden.

»Was geht dich das an, du Tölpel?« antwortete er und sah das arme Bäuerlein verächtlich an. »Warum hältst du mir dein Mopsgesicht hin? Soll ich dir hineinspucken?«

Foma Fomitsch redete immer in diesem Ton mit dem »verständigen russischen Bauern«.

»Väterchen«, sagte ein anderer Bauer, »wir sind ungebildete Leute. Vielleicht bist du Major oder Oberst oder gar eine Exzellenz, – wir wissen gar nicht einmal, wie wir dich anreden müssen.«

»Tölpel!« betitelte Foma Fomitsch auch diesen, wurde jedoch etwas milder. »Zwischen Gehalt und Gehalt ist ein Unterschied, du einfältiger Kerl! Manch einer hat Generalsrang, bekommt aber doch nichts, weil er es nicht verdient und dem Zaren keinen Nutzen bringt. Ich aber bekam, als ich beim Minister angestellt war, zwanzigtausend Rubel; die nahm ich jedoch nicht für mich, da ich meine Amtstätigkeit um der Ehre willen ausübte und auch genug eigenes Vermögen besaß. Ich gab mein Gehalt für Zwecke der Volksbildung im Reiche hin und für die abgebrannten Einwohner von Kasan.«

»Nun sieh mal an! Also du bist es gewesen, der Kasan wieder aufgebaut hat, Väterchen?« fuhr der Bauer erstaunt fort.

Die Bauern waren überhaupt von Bewunderung für Foma Fomitsch erfüllt.

»Na ja, auch ich habe mein Teil dazu beigetragen«, antwortete Foma, anscheinend nur ungern, als ärgere er sich über sich selbst, daß er einen solchen Menschen eines solchen Gespräches würdigte.

Von anderer Art waren seine Gespräche mit dem Onkel.

»Wer waren Sie früher?« sagte Foma zum Beispiel, während er sich nach einem guten, reichlichen Mittagessen in einem bequemen Lehnstuhl rekelte, wobei ein hinter dem Lehnstuhl stehender Diener ihm mit einem frischen Lindenzweige die Fliegen wegwedeln mußte. »Was für ein Mensch waren Sie vor meiner Ankunft? Aber ich habe in Sie einen Funken jenes himmlischen Feuers hineingeworfen, das jetzt in Ihrer Seele brennt. Habe ich in Sie einen Funken des himmlischen Feuers hineingeworfen oder nicht? Antworten Sie: habe ich in Sie einen Funken hineingeworfen oder nicht?«

In Wahrheit wußte Foma Fomitsch selbst nicht, warum er diese Frage stellte. Aber das Stillschweigen und die Verlegenheit des Obersten versetzten ihn sofort in Aufregung. Er, der früher so schüchtern und geduldig gewesen war, ging jetzt bei dem geringsten Widerspruch in die Luft wie Schießpulver. Das Schweigen des Onkels schien ihm beleidigend, und nun bestand er hartnäckig auf einer Antwort.

»So antworten Sie doch: brennt der Funke in Ihnen oder nicht?«

Der Onkel krümmte und wand sich und wußte nicht, wie er reagieren sollte.

»Gestatten Sie mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß ich warte«, bemerkte Foma in gekränktem Ton.

»Mais répondez donc, Jegoruschka!« fiel die Generalin achselzuckend ein.

»Ich frage: brennt in Ihnen dieser Funke oder nicht?« wiederholte Foma herablassend und nahm ein Stück Konfekt aus der Bonbonniere, die auf Anordnung der Generalin immer vor ihm auf dem Tisch stehen mußte.

»Ich weiß es wahrhaftig nicht, Foma«, antwortete der Onkel schließlich mit verzweifelter Miene; »es muß wohl so etwas der Fall sein . . . Wirklich, frage lieber nicht; sonst rede ich noch irgendwelchen Unsinn . . .«

»Schön! Also bin ich Ihrer Meinung nach ein so wertloses Subjekt, daß ich nicht einmal eine Antwort verdiene, – das wollten Sie doch sagen? Nun, mag es denn so sein, dann bin ich also ein Nichts!«

»Aber nein doch, Foma, ich bitte dich um alles in der Welt! Wann hätte ich denn das sagen wollen?«

»Doch! Gerade das wollten Sie sagen.«

»Aber ich schwöre dir, daß es nicht so ist!«

»Schön! Dann bin ich also ein Lügner! Dann beschuldigen Sie mich also, absichtlich einen Vorwand zum Streit zu suchen. Nun, mag zu allen bisherigen Beleidigungen auch diese noch hinzukommen; ich werde alles ertragen . . .«

»Mais mon fils! . . .« schrie die Generalin auf.

»Foma Fomitsch! Mamenka!« rief der Onkel in heller Verzweiflung. »Bei Gott, ich kann nichts dafür! Es müßte mir denn unversehens ein Wort über die Lippen gerutscht sein! . . . Nimm's mit mir nicht so genau, Foma: ich bin ja nur ein dummer Kerl, ich habe selbst das Gefühl, daß ich dumm bin; ich merke das selbst, daß in mir nicht alles in Ordnung ist . . . Ich weiß, Foma, ich weiß alles! Du brauchst gar nichts weiter zu sagen!« fuhr er mit einer abwehrenden Handbewegung fort. »Vierzig Jahre lang habe ich gelebt und bis jetzt, bis zu der Zeit, wo ich dich kennenlernte, immer im stillen gedacht, daß ich ein Mensch sei . . . na, und daß alles mit mir so wäre, wie es sich gehört. Ich hatte ja bis dahin gar nicht gemerkt, daß ich ein hartnäckiger Sünder und ein Egoist erster Klasse bin und eine solche Masse Übeltaten begangen habe, daß man sich darüber wundern muß, daß mich die Erde noch trägt!«

»Ja, ein Egoist sind Sie!« bemerkte Foma Fomitsch im Tone tiefster Überzeugung.

»Das sehe ich jetzt ja auch selbst ein, daß ich ein Egoist bin! Aber ganz bestimmt: ich werde mich bessern und ein anderer Mensch werden!«

»Das gebe Gott!« schloß Foma Fomitsch das Gespräch mit einem frommen Seufzer und erhob sich von seinem Lehnstuhl, um sich zum Nachmittagsschläfchen wegzubegeben. Foma Fomitsch schlief immer nach Tisch.

Am Schluß dieses Kapitels sei es mir erlaubt, über meine persönlichen Beziehungen zu meinem Onkel einige Worte zu sagen und zu erklären, wie es zuging, daß ich auf einmal Foma Fomitsch gegenübertrat und nolens volens plötzlich in den Strudel der wichtigsten Ereignisse hineingeriet, die sich jemals in dem lieben, guten Stepantschikowo zugetragen haben. Damit beabsichtige ich meine Vorrede zu beschließen und werde dann sofort zur Erzählung übergehen.

In meiner Kindheit, als ich eine Waise geworden und allein auf der Welt zurückgeblieben war, vertrat mein Onkel an mir Vaterstelle, erzog mich auf seine Kosten und tat, kurz gesagt, für mich, was nicht immer ein leiblicher Vater für seinen Sohn tut. Gleich vom ersten Tage an, wo er mich zu sich nahm, schloß ich mich von ganzem Herzen an ihn an. Ich war damals zehn Jahre alt, und ich erinnere mich, daß wir uns bald anfreundeten und einander vollkommen verstanden. Wir spielten zusammen Brummkreisel und stahlen einer bösen alten Dame, die mit uns beiden verwandt war, eine Haube. Die Haube band ich sofort an den Schwanz eines Drachens und ließ sie mit diesem an die Wolken steigen. Viele Jahre später sah ich den Onkel auf kurze Zeit in Petersburg wieder, wo ich damals auf seine Kosten studierte. Diesmal schloß ich mich ihm mit dem ganzen Feuer der Jugend an: der Edelmut, die Milde, die Aufrichtigkeit, die Heiterkeit und die grenzenlose Naivität seines Charakters imponierten mir, wie sich denn jeder unwillkürlich davon angezogen fühlte. Nach meinem Abgang von der Universität blieb ich noch einige Zeit in Petersburg; ich hatte zunächst keine eigentliche Beschäftigung, war aber, wie das bei Grünschnäbeln häufig vorkommt, davon überzeugt, daß ich in kürzester Frist viel Bedeutsames und sogar Großartiges leisten würde. Ich mochte Petersburg nicht verlassen. Mit dem Onkel korrespondierte ich nur ziemlich selten und nur, wenn ich Geld brauchte, das er mir nie abschlug. Inzwischen kam einmal jemand von den Gutsleuten meines Onkels in Geschäften nach Petersburg, und von diesem hörte ich, daß bei ihnen in Stepantschikowo wunderliche Dinge vorgingen. Diese ersten Gerüchte erregten mein Interesse und versetzten mich in Erstaunen. Ich begann, häufiger an meinen Onkel zu schreiben. Seine Antworten klangen immer etwas dunkel und seltsam, und er bemühte sich in jedem Briefe, nur von den Wissenschaften zu reden; denn er erwartete von mir auf dem Gebiete der Gelehrsamkeit in der Zukunft außerordentlich viel und war schon im voraus auf meine künftigen Erfolge stolz. Auf einmal erhielt ich von ihm nach einem ziemlich langen Stillschweigen einen ganz wunderlichen Brief, der mit allen seinen früheren Briefen nicht die geringste Ähnlichkeit hatte. Er war mit so sonderbaren Andeutungen und mit einem solchen Sammelsurium von Widersprüchen angefüllt, daß ich anfänglich fast nichts davon verstand. Klar war nur, daß der Schreiber sich in ungewöhnlicher Aufregung befunden hatte. Eines in diesem Brief war deutlich: der Onkel machte mir allen Ernstes mit dringenden, fast flehenden Worten den Vorschlag, ich möchte so bald wie möglich seine frühere Pflegetochter heiraten; es war dies die Tochter eines ganz armen Provinzialbeamten namens Jeshewikin, die in einem Moskauer Erziehungsinstitut auf Kosten des Onkels eine vortreffliche Bildung genossen hatte und jetzt die Gouvernante seiner Kinder war. Er schrieb, sie sei unglücklich; ich könne sie glücklich machen, und es würde sogar eine hochherzige Handlung meinerseits sein; er wandte sich an den Edelmut meines Herzens und versprach, ihr eine Mitgift zu geben. Von der Mitgift sprach er übrigens nur in einer geheimnisvollen, ängstlichen Weise und schloß den Brief mit der dringenden Bitte, ich möchte über all dies tiefstes Stillschweigen bewahren. Dieser Brief setzte mich dermaßen in Erstaunen, daß mir schließlich im Kopf ganz schwindlig wurde. Und auf welchen jungen Mann, der, wie ich, eben erst von der Lehrbank aufgesprungen war, hätte ein solcher Vorschlag auch nicht einen starken Eindruck gemacht, schon allein durch das Romantische, das darin lag? Überdies hatte ich gehört, daß diese junge Gouvernante sehr hübsch sei. Ich wußte jedoch nicht, was ich für einen Entschluß fassen sollte, wiewohl ich meinem Onkel umgehend schrieb, ich würde unverzüglich nach Stepantschikowo kommen. Der Onkel hatte mir mit demselben Brief auch das Reisegeld geschickt. Dennoch zögerte ich, von Zweifeln und Unruhe erfüllt, mit der Abreise und blieb noch drei Wochen in Petersburg. Auf einmal traf ich zufällig einen früheren Kameraden meines Onkels vom Militär, der auf der Rückreise vom Kaukasus nach Petersburg unterwegs in Stepantschikowo mit herangefahren war. Es war dies ein schon älterer, verständiger Mann, ein eingefleischter Junggeselle. Voller Entrüstung erzählte er mir von Foma Fomitsch und teilte mir zugleich etwas mit, wovon ich bisher noch keine Ahnung gehabt hatte, nämlich daß Foma Fomitsch und die Generalin auf den Gedanken gekommen seien und die Absicht hätten, den Onkel mit einer sehr sonderbaren halbverdrehten alten Jungfer zu verheiraten, die eine merkwürdige Lebensgeschichte und eine Mitgift von beinah einer halben Million habe; die Generalin habe sie bereits zu der Überzeugung gebracht, daß sie mit ihr verwandt sei, und sie dadurch veranlaßt, nach Stepantschikowo zu ziehen; der Onkel sei allerdings in Verzweiflung; aber allem Anschein nach werde die Sache doch damit enden, daß er die halbe Million heirate. Endlich erfuhr ich auch noch, daß die beiden Intriganten, die Generalin und Foma Fomitsch, die arme, schutzlose Gouvernante der Kinder des Onkels in einer entsetzlichen Weise peinigten und mit aller Gewalt aus dem Hause zu treiben suchten, wahrscheinlich aus Furcht, daß der Oberst sich in sie verlieben könne, möglicherweise auch, weil er sich bereits in sie verliebt habe. Diese letzten Worte waren mir auffällig. Indes auf all meine Fragen, ob der Onkel sich wirklich schon verliebt habe, konnte oder wollte der Erzähler mir keine genaue Antwort geben; überhaupt erzählte er sehr wortkarg und nur ungern und vermied es augenscheinlich, nähere Aufklärungen zu geben. Ich wurde nachdenklich; diese Nachricht stand mit dem Brief des Oheims und mit seinem Vorschlag in einem gar zu seltsamen Widerspruch … Aber länger zu zögern hatte keinen Zweck. Ich beschloß, nach Stepantschikowo zu fahren, um nicht nur meinen Onkel zur Vernunft zu bringen und zu beruhigen, sondern auch, wenn möglich, ihn zu retten, das heißt Foma aus dem Hause zu jagen, die garstige Heirat mit der alten Jungfer zu vereiteln und endlich, da nach meiner endgültigen Überzeugung die Liebe meines Onkels nur ein verrückter Einfall Foma Fomitschs war, das unglückliche, aber gewiß interessante junge Mädchen durch einen Heiratsantrag glücklich zu machen und so weiter und so weiter. Allmählich steigerte ich mich in eine solche Begeisterung hinein, daß ich infolge meiner Jugend und infolge des Mangels an ernster Beschäftigung von den Zweifeln und Bedenken zum entgegengesetzten Extrem überging: ich brannte nun vor Begierde, möglichst bald allerlei Wundertaten zu vollbringen. Es schien mir sogar, daß ich eine außerordentliche Großmut bewiese, indem ich mich edelmütig aufopferte, um ein unschuldiges, reizendes Geschöpf glücklich zu machen; kurz, ich erinnere mich, daß ich während der ganzen Fahrt sehr mit mir zufrieden war. Es war Juli, die Sonne schien hell, ringsumher dehnten sich in unabsehbarer Weite Felder mit reifem Getreide aus. Ich aber war so lange in Petersburg wie in einer Flasche eingesperrt gewesen, daß mir zumute war, als ob ich erst jetzt wirklich Gottes Welt erblickte!

II

Herr Bachtschejew

Ich näherte mich schon dem Ziel meiner Reise. Als ich durch das kleine Städtchen B. kam, von wo ich nur noch zehn Werst bis Stepantschikowo hatte, war ich gezwungen, bei der Schmiede dicht am Schlagbaum anzuhalten, weil die Schiene an dem einen Vorderrad meines Reisewagens gebrochen war. Sie konnte in verhältnismäßig kurzer Zeit so weit festgemacht werden, daß sie für die noch fehlenden zehn Werst vorhielt, und daher beschloß ich, nicht erst in ein Wirtshaus zu gehen, sondern bei der Schmiede zu warten, bis die Schmiedegesellen mit der Arbeit fertig sein würden. Als ich aus dem Wagen stieg, sah ich einen dicken Herrn, der, ebenso wie ich, genötigt war, wegen einer Reparatur seiner Equipage zu halten. Er stand schon eine ganze Stunde in der unerträglichen Sonnenglut da, schrie und schimpfte und trieb mit mürrischer Ungeduld die Schmiedegesellen an, die an seiner schönen Kutsche arbeiteten. Gleich beim ersten Blick machte mir dieser ärgerliche Herr den Eindruck eines ewigen Nörglers. Er war ungefähr fünfundvierzig Jahre alt, von mittlerer Größe, sehr wohlbeleibt und pockennarbig. Seine Dicke, sein Doppelkinn und die quabbligen Hängebacken zeugten von dem behäbigen Leben eines Gutsbesitzers. Etwas Weibisches lag in seiner ganzen Erscheinung und fiel einem sogleich ins Auge. Sein Anzug war weit, bequem und sauber, aber durchaus nicht modern.

Ich begriff nicht, warum er auch auf mich ärgerlich war, um so weniger, da er mich zum ersten Mal im Leben sah und noch kein Wort mit mir gesprochen hatte. Ich bemerkte das, sowie ich aus dem Wagen stieg, an seinem ungewöhnlich zornigen Blick. Ich jedoch hatte die größte Lust, seine Bekanntschaft zu machen. Denn aus den Reden seiner Diener entnahm ich, daß er eben aus Stepantschikowo von meinem Onkel kam, und ich hatte daher die Möglichkeit, mich nach vielem zu erkundigen. Ich lüftete also die Mütze und bemerkte in möglichst liebenswürdigem Tone, wie unangenehm doch manchmal ein solcher unfreiwilliger Aufenthalt unterwegs sei; aber der Dicke musterte mich nur mit einem unzufriedenen, mürrischen Blick vom Kopf bis zu den Füßen, brummte etwas vor sich hin und wandte mir schwerfällig den Rücken zu. Diese Seite seiner Person war zwar ein sehr interessanter Gegenstand für einen Beschauer; aber natürlich war ein angenehmes Gespräch von ihr nicht zu erwarten.

»Grischka! Was brummst du da vor dich hin! Ich lasse dich durchpeitschen! . . .« schrie er auf einmal seinen Kammerdiener an, als hätte er das, was ich über unerwünschten Aufenthalt auf der Reise gesagt hatte, gar nicht gehört.

Dieser ›Grischka‹ war ein grauhaariger, altmodischer Diener mit einem langschößigen Rock und einem sehr großen, grauen Backenbart. Nach einigen Anzeichen zu urteilen, war er ebenfalls sehr ärgerlich und murmelte verdrießlich etwas vor sich hin. Zwischen dem Herrn und dem Diener fand nun sofort eine Auseinandersetzung statt.

»Durchpeitschen willst du mich lassen! Na, schrei doch noch lauter!« brummte Grischka, anscheinend nur so für sich, aber so laut, daß alle es hörten. Dann wandte er sich entrüstet ab, um etwas im Wagen in Ordnung zu bringen.

»Was? Was hast du gesagt? ›Schrei doch noch lauter‹? Welche Unverschämtheit!« schrie der Dicke, dunkelrot im Gesicht.

»Warum fahren Sie mich denn eigentlich so an? Man darf wohl nicht einmal mehr ein Wort sagen?«

»Warum ich ihn anfahre! Hört ihr das? Er brummt über mich, und ich soll ihn nicht einmal anfahren!«

»Weshalb sollte ich denn brummen?«

»Weshalb er brummen sollte! Gar nicht brauchst du zu brummen. Ich weiß aber, worüber du brummst: darüber, daß ich weggefahren bin, ehe das Mittagessen zu Ende war. Das ist der Grund!«

»Was geht das mich an! Meinetwegen brauchen Sie überhaupt nicht zu Mittag zu essen. Ich brumme nicht über Sie, ich habe nur den Schmieden ein Wort gesagt.«

»Den Schmieden . . . Aber was hast du denn über die Schmiede zu brummen?«

»Über die brumme ich auch nicht; ich brumme über die Kutsche.«

»Aber was hast du über die Kutsche zu brummen?«

»Weil sie entzweigegangen ist! Sie soll künftig nicht wieder entzweigehen, sondern hübsch ganz bleiben.«

»Über die Kutsche . . . Nein, du hast über mich gebrummt, und nicht über die Kutsche. Er ist selbst schuld, und dann will er noch schimpfen!«

»Aber warum sind Sie denn eigentlich über mich hergefallen, gnädiger Herr? Bitte lassen Sie mich doch in Ruhe!«

»Aber warum hast du denn während der ganzen Fahrt wie eine Eule dagesessen und kein Wort mit mir gesprochen, he? Du redest doch sonst auch!«

»Es war mir eine Fliege in den Mund gekrochen; darum schwieg ich und saß wie eine Eule da. Soll ich Ihnen etwa Märchen erzählen? Dann nehmen Sie doch die Märchenerzählerin Malanja mit, wenn Sie gern Märchen hören!«

Der Dicke machte schon den Mund zu einer Erwiderung auf, fand aber offenbar keine Antwort und schwieg daher. Der Diener aber, der mit seiner eigenen Schlagfertigkeit und mit seiner vor Zeugen bewiesenen Macht über seinen Herrn sehr zufrieden war, wandte sich mit verdoppelter Gravität zu den Gesellen und begann, ihnen etwas auseinanderzusetzen.

Mein Versuch, die Bekanntschaft des Herrn zu machen, war erfolglos geblieben, namentlich wegen meiner Ungeschicklichkeit; aber ein unvorhergesehener Umstand kam mir zu Hilfe. Aus dem Fenster eines geschlossenen Wagenkastens, der seit undenklichen Zeiten ohne Räder bei der Schmiede stand und täglich, aber vergeblich auf seine Reparatur wartete, blickte auf einmal ein verschlafenes, ungewaschenes und ungekämmtes Gesicht heraus. Bei dem Erscheinen dieses Gesichtes erhob sich unter den Schmiedegesellen ein allgemeines Gelächter. Die Sache war die, daß der Mensch, der aus dem Wagenkasten heraussah, darin fest eingesperrt war und jetzt nicht herauskonnte. Nachdem er darin seinen Rausch ausgeschlafen hatte, bat er jetzt vergebens um seine Befreiung; schließlich fing er an zu bitten, es möchte ihm jemand sein Handwerkszeug holen. Alles dies diente zu großer Erheiterung der Anwesenden.

Es gibt Naturen, denen recht sonderbare Dinge die größte Freude und das größte Vergnügen machen. Die Grimassen eines betrunkenen Bauern, ein Mensch, der auf der Straße stolpert und hinfällt, das Gezänk zweier Weiber und so weiter rufen bei manchen Leuten aus nicht recht verständlichem Grunde ein durchaus gutmütiges Entzücken hervor. Der dicke Gutsbesitzer gehörte gerade zu dieser Menschenklasse. Allmählich verwandelte sich seine Miene aus einer mürrischen und ingrimmigen in eine zufriedene und freundliche und hellte sich schließlich vollständig auf.

»Ist das nicht Wassiljew?« fragte er lebhaft interessiert. »Wie kommt denn der da 'rein?«

»Jawohl, gnädiger Herr Stepan Alexejewitsch; es ist Wassiljew!« wurde von allen Seiten gerufen.

»Er hat sich in den Schenken umhergetrieben, gnädiger Herr«, fügte einer der Gesellen hinzu, ein schon älterer, hochgewachsener, hagerer Mann mit pedantisch solidem Gesichtsausdruck; unter den Gesellen schien er der oberste zu sein. »Er hat sich in den Schenken herumgetrieben, gnädiger Herr; vorgestern ist er von seinem Meister weggegangen, nun versteckt er sich bei uns, hat sich an uns herangemacht! Jetzt fragt er nach seinem Stemmeisen. Na, wozu brauchst du jetzt das Stemmeisen, du Dummkopf? Gewiß will er sein letztes Handwerkszeug versetzen!«

»Ach, lieber Archip! Das Geld ist wie die Tauben: sie kommen zugeflogen und fliegen wieder weg! Laß mich 'raus, um des himmlischen Schöpfers willen!« bat Wassiljew mit hoher, zitternder Stimme, indem er den Kopf aus dem Wagenkasten herausstreckte.

»Bleib du nur da sitzen, du Taugenichts, es ist zu deinem Besten, daß wir dich da eingesperrt haben!« antwortete Archip finster. »Schon seit vorgestern ist er sinnlos betrunken; von der Straße haben wir ihn heute frühmorgens hergeschleppt; danke Gott, daß wir dich versteckt haben! Und zu Matwej Iljitsch haben wir gesagt, du wärest krank geworden; du hättest bei uns das Faulfieber bekommen.«

Wieder lachte alles.

»Aber wo ist mein Stemmeisen?«

»Unser Küchenjunge hat es an sich genommen! Immer dieselbe Frage! Er ist ein richtiger Trunkenbold, gnädiger Herr Stepan Alexejewitsch.«

»He-he-he! Ach, du Kanaille! Also so arbeitest du in der Stadt: dein Handwerkszeug versetzt du!« rief der Dicke mit seiner heiseren Stimme; er erstickte fast vor Lachen, fühlte sich höchst zufrieden und war auf einmal in die vergnügteste Stimmung geraten.

»Und dabei ist er ein Tischler, wie man ihn selbst in Moskau lange suchen kann! Aber so führt er sich immer auf, der Schurke«, fügte er hinzu, indem er sich völlig unerwarteterweise an mich wandte. »Laß ihn heraus, Archip: vielleicht hat er auch ein leibliches Bedürfnis.«

Man gehorchte dem Herrn. Der Nagel, mit dem sie den Wagenschlag zugemacht hatten, um sich über Wassiljew nach seinem Aufwachen zu amüsieren, wurde herausgezogen, und Wassiljew erschien im Freien, beschmutzt, unordentlich und mit zerrissenen Kleidern. Er kniff die Augen vor der hellen Sonne zusammen, nieste und taumelte; dann hielt er sich die Hand als Schirm über die Augen und blickte um sich.

»So 'ne Menge Menschen, so 'ne Menge Menschen!« sagte er, den Kopf hin und her wiegend, »und alle nüchtern, glaub ich«, fügte er, die Worte dehnend, hinzu, als ob er in trübes Nachdenken versunken sei und sich selbst Vorwürfe mache. »Na, guten Morgen, Brüder!«

Von neuem erfolgte ein allgemeines Gelächter.

»›Guten Morgen!‹ Mach doch die Augen auf und sieh, was für eine Tageszeit ist, du verdrehter Mensch!«

»Du lügst, Jemelja! Das ist wohl deine Woche!«

»Sicher, wenn auch nur für eine Stunde, aber im Galopp!«

»He-he-he! Ein Prachtkerl!« rief der Dicke, wobei er sich noch einmal vor Lachen schüttelte und mich wieder freundlich anblickte. »Schämst du dich denn gar nicht, Wassiljew?«

»Ich habe mich doch nur aus Kummer betrunken, gnädiger Herr Stepan Alexejewitsch, nur aus Kummer«, antwortete Wassiljew ganz ernst und mit einer Handbewegung, die sein schweres Leid ausdrücken sollte. Er war offenbar sehr zufrieden damit, daß sich eine Gelegenheit bot, noch einmal von seinem Kummer zu sprechen.

»Aus was für Kummer denn, du Dummkopf?«

»Wegen eines Unglücks, wie wir es bisher noch nie erlebt haben: wir gehen in Foma Fomitschs Besitz über.«

»Wer? Wann?« schrie der Dicke ganz aufgeregt.

Ich tat ebenfalls einen Schritt vorwärts: ganz unerwarteterweise berührte die Sache auch mich.

»Wir alle in Kapitonowka. Unser Herr, der Oberst (Gott gebe ihm Gesundheit!), will unser ganzes Dorf Kapitonowka, sein Stammgut, diesem Foma Fomitsch schenken; ganze siebzig Seelen will er ihm überlassen. ›Da nimm sie hin, Foma!‹ sagte er. ›Bis jetzt hast du nichts gehabt; du bist nur ein kleiner Gutsbesitzer; es gehören dir nur zwei Stinte im Ladoga-See, die an dich Abgabe zu entrichten haben; mehr Seelen hast du von deinem verstorbenen Vater nicht geerbt. Denn dein Vater‹«, fuhr Wassiljew mit boshaftem Vergnügen fort, indem er in seiner Erzählung alles, was sich auf Foma Fomitsch bezog, gleichsam mit Pfeffer bestreute, »›denn dein Vater war von altem Adel, nur daß niemand wußte, woher er stammte und wer er war; er hat ebenso wie du bei Herrschaften gelebt, die ihm aus Gnade und Barmherzigkeit erlaubten, in der Küche zu sitzen. Aber jetzt, wenn ich dir Kapitonowka übertrage, wirst auch du ein Gutsbesitzer sein, ein vornehmer Edelmann, und wirst deine eigenen Leute haben und kannst dich auf den Ofen legen und wie ein Edelmann leben . . .‹«

Aber Stepan Alexejewitsch hörte nicht mehr zu. Die Wirkung, die die Erzählung des halbbetrunkenen Wassiljew bei ihm hervorbrachte, war eine ganz außerordentliche. Der Dicke war so aufgebracht, daß er purpurrot wurde; sein Doppelkinn zitterte; die kleinen Augen unterliefen mit Blut. Ich dachte, es würde ihn im nächsten Augenblick der Schlag rühren. »Das fehlte nur noch!« sagte er keuchend. »Dieser Schuft, dieser Schmarotzer, der Foma, ein Gutsbesitzer! Pfui Deibel! Hole euch alle der Henker! He, ihr, macht schnell, daß ihr fertig werdet! Nach Hause!«

»Gestatten Sie mir eine Frage«, sagte ich, unentschlossen herantretend; »Sie erwähnten soeben einen gewissen Foma Fomitsch; sein Familienname ist ja wohl, wenn ich nicht irre, Opiskin. Sehen Sie, ich würde gern . . . kurz gesagt, ich habe besondere Ursachen, mich für diese Persönlichkeit zu interessieren, und würde meinerseits sehr gern erfahren, inwieweit man den Worten dieses braven Mannes Glauben schenken kann, daß sein Herr, Jegor Iljitsch Rostanew, eines seiner Dörfer jenem Foma Fomitsch schenken will. Es interessiert mich das ganz außerordentlich, und ich . . .«

»Aber erlauben Sie, daß ich Sie meinerseits frage«, unterbrach mich der dicke Herr, »von welcher Art das Interesse ist, das Sie an dieser ›Persönlichkeit‹ nehmen, wie Sie sich ausdrückten; denn nach meiner Ansicht muß man ihn einen verdammten Schurken nennen und nicht eine Persönlichkeit! Was ist er denn für eine Persönlichkeit, dieser räudige Hund! Ein Lump ist er, aber keine Persönlichkeit!«

Ich setzte ihm auseinander, daß ich mich in betreff dieses Menschen einstweilen noch in Unkenntnis befände, daß aber Jegor Iljitsch Rostanew mein Onkel und ich selbst Sergej Alexandrowitsch Soundso sei.

»Also Sie sind dieser gelehrte Mann? Bester Herr, Sie werden ja dort mit der größten Ungeduld erwartet!« schrie der Dicke in maßloser Freude. »Ich komme ja jetzt eben von ihnen her, aus Stepantschikowo; vom Mittagstisch bin ich aufgestanden, gerade beim Pudding, und weggefahren: ich konnte mit diesem Foma nicht länger an einem Tische sitzen! Um dieses verfluchten Foma willen habe ich mich dort mit allen verzankt . . . Das ist einmal eine Begegnung! Nehmen Sie mir nichts übel, liebster Freund! Ich bin Stepan Alexejewitsch Bachtschejew und erinnere mich Ihrer noch, als Sie so klein waren« (er zeigte es mit der Hand) . . . »Na, wer hätte das gedacht? . . . Aber erlauben Sie, daß ich Sie . . .«

Und der Dicke machte sich daran, mich abzuküssen.

Nach den ersten Minuten der Aufregung nahm ich sofort meine Erkundigungen in Angriff; die Gelegenheit war doch gar zu günstig.

»Aber wer ist denn dieser Foma?« fragte ich. »Wie ist es denn zugegangen, daß er sich das ganze Haus untertänig gemacht hat? Warum jagt man ihn nicht mit der Peitsche fort? Ich muß gestehen . . .«

»Ihn fortjagen, ihn? Haben Sie den Verstand verloren? Jegor Iljitsch geht ja in seiner Nähe nur auf den Fußspitzen! Foma aber befahl einmal sogar, es solle statt Donnerstag Mittwoch sein, und so nannten sie denn dort sämtlich den Donnerstag Mittwoch. ›Ich will nicht, daß Donnerstag sei; es soll Mittwoch sein!‹ sagte er. Da hatten sie nun in einer Woche zwei Mittwoche. Glauben Sie, ich schwindle Ihnen was vor? Da, nicht so viel habe ich geschwindelt!« (Er zeigte es an seinem Finger.) »Es passieren dort tolle Geschichten, lieber Freund!«

»Das habe ich gehört; aber ich muß gestehen . . .«

»›Ich muß gestehen, ich muß gestehen!‹ Das sagen Sie ja fortwährend! Was ist denn da zu gestehen? Fragen Sie mich doch lieber einfach und geradezu; Sie haben es ja doch mit einem schlichten, natürlichen Menschen zu tun. Die Mutter des Obersten ist zwar eine sehr würdige Dame und überdies Generalin; aber meiner Ansicht nach hat ihr Geist durch das Alter schon sehr gelitten; sie zittert ja ordentlich vor diesem dreimal verfluchten Foma. An allem ist sie schuld: sie ist es gewesen, die ihn ins Haus gebracht hat. Er hat sie so behext, daß sie ganz widerstandslos geworden ist, wenn sie auch Exzellenz genannt wird, weil sie als Fünfzigjährige mit aller Gewalt den General Krachotkin geheiratet hat! Von Jegor Iljitschs Schwester Praskowja Iljinitschna, dieser vierzigjährigen Jungfer, mag ich schon gar nicht reden. Immer ächzt und stöhnt sie und gackert wie ein Huhn; ganz zuwider ist sie mir geworden, hol sie dieser und jener! Das einzige, was an ihr zu respektieren ist, ist ihre Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht! Aber pfui Deibel, es ist unanständig von mir, so zu reden, da sie ja Ihre Tante ist. Bloß Alexandra Jegorowna, die Tochter des Obersten, sie ist ja noch ein kleines Kind, erst fünfzehn Jahre alt, aber die ist meiner Ansicht nach klüger als sie alle zusammen, die hat vor Foma keinen Respekt; es war ordentlich amüsant, es mit anzusehen. Ein liebes Fräulein, das muß man sagen! Und wie kann ihn eigentlich auch jemand achten? Er, dieser Foma, hat ja bei dem verstorbenen General Krachotkin die Stellung eines Possenreißers bekleidet! Um den General zu amüsieren, hat er allerlei Tiere nachgemacht. Es ist, wie es in dem Verschen heißt: ›Früher hackt' und grub Iwan, jetzt ist er ein Edelmann.‹ Und der Oberst, Ihr Onkel, verehrt den ehemaligen Possenreißer wie einen leiblichen Vater, macht einen Götzen aus dem Schurken und verbeugt sich tief vor seinem eigenen Schmarotzer – pfui Deibel!«

»Aber Armut ist noch kein Laster . . . und . . . ich muß Ihnen gestehen . . . gestatten Sie die Frage: ist er denn schön oder klug?«

»Foma? Bildschön!« antwortete Bachtschejew, und seine Stimme zitterte nur so vor Ingrimm. Meine Fragen schienen ihn zu reizen, und er fing schon an, mich mißtrauisch anzusehen. »Bildschön! Hört nur, liebe Leute: etwas ganz Neues: Foma ist ein schöner Mensch! Nein, lieber Freund, mit allen Bestien hat er Ähnlichkeit, wenn Sie schon alles genau wissen wollen. Und wenn er noch klug wäre und wenigstens durch Klugheit die Oberherrschaft behauptete, der Halunke – na, dann würde ich allenfalls meinen Ärger unterdrücken und um seiner Klugheit willen nichts dagegen haben. Aber auch von Klugheit ist bei ihm nicht die Rede! Er muß ihnen geradezu einen Zaubertrank eingegeben haben, der Hexenmeister! Pfui Deibel! Die Zunge ist mir ganz müde geworden. Das Richtige ist: ausspucken und schweigen. Sie haben mich ganz aufgebracht durch Ihre Fragen, lieber Freund! Heda, ihr! Ist der Wagen fertig?«

»Der Rappe muß noch beschlagen werden«, bemerkte Grigori mürrisch.

»So! Ich werde dich lehren! Jetzt kommst du damit, daß der Rappe beschlagen werden muß! . . . Ja, mein Herr, ich kann Ihnen Dinge erzählen, daß Sie Mund und Nase aufsperren und in dieser Stellung bis zum Jüngsten Tag verharren werden. Ich habe ja früher selbst vor ihm Respekt gehabt; was sagen Sie dazu? Ich gestehe es, ich gestehe es offen: ich war ein Schafskopf! Auch mich hatte er betört. Ein Alleswisser! Alle Geheimnisse kennt er; alle Wissenschaften hat er studiert! Er hat mir Tropfen gegeben; denn ich bin ja ein kranker Mensch, lieber Freund, ich habe einen aufgedunsenen Körper. Sie glauben es vielleicht nicht; aber ich bin wirklich krank. Na, seine Tropfen haben mich damals an den Rand des Grabes gebracht. Schweigen Sie jetzt nur still und hören Sie mir zu; und wenn Sie hinkommen, werden Sie ja alles selbst sehen. Der Oberst wird um seinetwillen noch blutige Tränen weinen; aber dann wird es zu spät sein. Die ganze Umgegend hat ja schon den Verkehr mit ihnen wegen dieses dreimal verfluchten Foma abgebrochen. Denn jedem, der hinkommt, fügt er Beleidigungen zu. Von mir gar nicht zu reden; aber auch hochgestellte Personen verschont er nicht! Jedem hält er eine Strafpredigt; denn er hat sich jetzt auf die Moral geworfen, der Halunke. ›Ich bin ein Weiser‹, sagt er, ›ich bin klüger als ihr alle; hört auf niemanden als auf mich! Ich bin ein Gelehrter.‹ Aber was macht das, daß er ein Gelehrter ist? Braucht er denn deshalb, weil er ein Gelehrter ist, notwendig die Ungelehrten zu malträtieren? . . . Und wenn er mit seiner gelehrten Zunge zu plappern anfängt, dann geht das immer: Ta-ta-ta, ta-ta-ta! Das ist eine so geschwätzige Zunge, sage ich Ihnen: wenn man sie herausschneidet und auf den Mist wirft, so schwatzt sie noch immer weiter, bis die Krähen sie zerpicken. Er ist stolz und hochmütig geworden wie die Maus in der Grütze! Er versteigt sich da jetzt zu Dingen, die absolut unmöglich sind. Denken Sie sich: er ist auf den Einfall gekommen, das Gutsgesinde Französisch lernen zu lassen! Wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie es nicht zu glauben! ›Das ist ihnen nützlich‹, sagt er. Einem Knechte, einem Diener! Pfui Deibel! Ein verdammter Schandkerl ist er, weiter nichts! Wozu braucht ein Leibeigener Französisch zu verstehen, frage ich Sie? Ja, wozu braucht auch unsereiner Französisch zu verstehen, wozu eigentlich? Um mit den jungen Damen bei der Mazurka Süßholz zu raspeln und fremden Frauen Liebenswürdigkeiten zu sagen? Ein Mittel zur Liederlichkeit ist es, weiter nichts! Meine Ansicht ist die: trink eine Flasche Schnaps, dann kannst du alle Sprachen sprechen. Das ist meine Hochachtung vor Ihrem Französisch! Sie plappern gewiß auch Französisch! ›Táta, táta, táta, táta, unsre Katz heirat't den Kater!‹« fügte Bachtschejew hinzu und sah mich verächtlich und entrüstet an. »Sie sind ein Gelehrter, lieber Freund – was? Haben sich auf die Gelehrsamkeit geschmissen?«

»Ja . . . ich interessiere mich zum Teil . . .«

»Da haben Sie wohl alle Wissenschaften studiert?«

»Ja, das heißt nein . . . Ich muß Ihnen gestehen, ich interessiere mich jetzt mehr dafür, Welt und Menschen zu beobachten. Ich habe immer in Petersburg gelebt, und jetzt fahre ich zu meinem Onkel . . .«

»Was zieht Sie denn zu Ihrem Onkel hin? Sie hätten ruhig zu Hause bleiben sollen, wenn Sie ein Zuhause hatten. Nein, lieber Freund, das kann ich Ihnen sagen, dort werden Sie mit Ihrer Gelehrsamkeit herzlich wenig erreichen und da wird Ihnen auch kein Onkel helfen; Sie werden bald den Fangstrick um den Hals haben! Ich bin bei denen innerhalb von vierundzwanzig Stunden ganz mager geworden. Na, glauben Sie es, daß ich bei denen mager geworden bin? Nein, ich sehe Ihnen an, daß Sie es nicht glauben. Na gut, meinetwegen, dann glauben Sie es nicht!«

»Aber nicht doch, ich bitte Sie, ich glaube Ihnen vollständig; ich verstehe nur noch nicht alles«, erwiderte ich; ich wurde immer verlegener.

»Ja, Sie sagen: ›Ich glaube Ihnen‹; aber ich für meine Person glaube Ihnen nicht! Ihr seid allesamt Faxenmacher mit eurer Gelehrsamkeit. Möchtet immer auf einem Bein herumhüpfen und euch zeigen! Ich kann die Gelehrsamkeit nicht leiden, mein Freund; sie liegt mir schwer im Magen! Ich bin früher schon mit euch Petersburgern zusammengestoßen – ein nichtsnutziges Volk! Lauter Freigeister. Sie verbreiten Unglauben; ein Glas Schnaps zu trinken, davor fürchtet sich so einer, als ob es ihn beißen würde, – pfui Deibel! Sie, mein Lieber, haben mich ganz böse gemacht, und ich will Ihnen nichts weiter erzählen! Ich habe mich ja auch wirklich nicht dazu verdingt, Ihnen hier Geschichten zu erzählen, meine Zunge ist schon ganz lahm. Über alle kann man ja doch nicht schimpfen, lieber Freund, und es wäre auch nicht recht. Aber jetzt eben hat er bei Ihrem Onkel den Lakaien Widopljassow beinah verrückt gemacht, Ihr Gelehrter! Widopljassow hat durch Foma Fomitschs Schuld den Verstand verloren . . ..«

»Ich aber würde diesen Widopljassow«, mischte sich Grigori ein, der bis dahin mit ehrbarer, ernster Miene dem Gespräch gefolgt war, »ich aber würde diesen Widopljassow so mit Ruten peitschen lassen, daß er das Aufstehen vergäße! Wenn er mit mir anbände, würde ich ihm die deutschen Dummheiten schon austreiben! Ich würde ihm so viele Hiebe verabreichen lassen, daß ihm das Zählen schwer werden sollte.«

»Schweig still!« rief der Herr. »Hüte deine Zunge; mit dir redet niemand!«

»Widopljassow«, sagte ich (ich war ganz verwirrt und wußte nicht, was ich sagen sollte), »Widopljassow . . . sagen Sie mal, was ist das für ein sonderbarer Name?«Er läßt sich etwa mit ›Scheintänzer‹ übersetzen.

»Wieso soll er sonderbar sein? Nun fangen Sie auch noch so an! Ach, Sie Gelehrter, Sie Gelehrter!«

Ich verlor die Geduld.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich; »aber warum sind Sie denn auf mich so böse? Was habe ich denn begangen? Ich muß Ihnen gestehen, ich höre Ihnen nun schon eine halbe Stunde zu und begreife nicht einmal, um was es sich handelt . . . .«

»Aber warum fühlen Sie sich denn gekränkt, mein Bester?« antwortete der Dicke. »Dazu ist doch gar kein Grund vorhanden! Ich rede ja mit Ihnen in aller Freundschaft. Daraus brauchen Sie sich doch nichts zu machen, daß ich ein solcher Schreier bin und eben meinen Diener angebrüllt habe. Er ist zwar eine Kanaille durch und durch, mein Grigori; aber gerade deswegen habe ich ihn gern, den Schurken. Mein empfindsames Herz hat mich zu Schaden gebracht, das sage ich ganz offen; und an alledem ist allein dieser Foma schuld! Er bringt mich noch um; ich versichere Ihnen, daß er mich noch umbringt! Ihm habe ich es zu verdanken, daß ich hier jetzt zwei Stunden in der Sonne brate. Ich wollte schon den Protopopen besuchen, bis diese dummen Trödelfritzen mit der Reparatur fertig sind. Ein prächtiger Mensch, der hiesige Protopope. Aber er hat mich in solche Erregung versetzt, dieser Foma, daß ich auch den Protopopen nicht besuchen mochte! Na, hol sie alle zusammen dieser und jener! Hier gibt es ja nicht einmal ein ordentliches Wirtshaus. Alle sind sie Schurken, sage ich Ihnen, alle ohne Ausnahme! Wenn er wenigstens noch einen hohen Rang hätte«, fuhr Bachtschejew, wieder auf Foma Fomitsch zurückkommend, fort, von dem er offenbar gar nicht loskommen konnte, »na, dann könnte man sein Benehmen allenfalls mit seinem Range entschuldigen; aber er hat ja schlechterdings gar keinen Rang; ich weiß zuverlässig, daß es so ist. Er sagt, er habe irgendwo für Wahrheit und Recht gelitten; wer weiß, wann das gewesen ist; und dafür soll man ihn nun fußfällig verehren! Mit dem Teufel kann man nicht brüderlich verkehren! Sowie etwas nicht nach seinem Sinne ist, springt er auf und schreit: ›Man beleidigt mich; man spottet meiner Armut; man hat keine Achtung vor mir!‹ Ohne Foma wagt niemand sich an den Tisch zu setzen; aber er kommt nicht ins Eßzimmer: ›Man hat mich gekränkt‹, sagt er; ›ich bin ein armer Pilger; ich kann mich auch von Schwarzbrot nähren.‹ Aber kaum haben sie sich zu Tische gesetzt, so erscheint auch er, und nun geht die Leier wieder los: ›Warum hat man sich ohne mich zu Tische gesetzt? Also mich achtet man für nichts!‹ Kurz, es ist ein Hauptvergnügen! Ich schwieg lange, lieber Freund. Er dachte, auch ich würde wie ein Hündchen vor ihm auf den Hinterbeinen tanzen: ›Da, mein Tierchen, nimm, friß!‹ Nein, mein Lieber, setz du dich auf den Bock, und ich werde mich in den Wagen setzen! Ich habe ja mit Jegor Iljitsch in ein und demselben Regiment gedient. Ich nahm schon als Fähnrich den Abschied, und er besuchte mich im vorigen Jahre als Oberst a. D. auf meinem Gute. Ich habe zu ihm gesagt: ›Hören Sie mal, Sie richten sich zugrunde; verwöhnen Sie diesen Foma nicht! Es wird Ihnen noch leid tun!‹ – ›Nein‹, antwortete er, ›er ist ein ganz vortrefflicher Mensch‹ (das sagte er von Foma!); ›er ist mein Freund; er unterweist mich in der Moral.‹ – ›Na‹, dachte ich, ›gegen die Moral kann man nicht aufkommen; wenn er schon angefangen hat, ihn in der Moral zu unterweisen, dann ist die Sache hoffnungslos.‹ Was glauben Sie wohl, weshalb er heute wieder einen argen Skandal angerichtet hat? Morgen ist Eliastag (Herr Bachtschejew bekreuzigte sich); da hat Ilja, der kleine Sohn Ihres Onkels, seinen Namenstag. Ich hatte eigentlich vor, auch diesen Tag noch bei ihnen zu verleben und dort zu Mittag zu essen, und hatte ein Spielzeug aus der Residenz kommen lassen: ein Deutscher küßt mittels eines Mechanismus seiner Braut die Hand, und die wischt sich mit dem Taschentuch eine Träne weg – ein vorzügliches Ding! (Jetzt werde ich es nicht mehr schenken; fällt mir nicht ein! Es liegt da in meinem Wagen, und dem Deutschen ist schon die Nase abgebrochen; ich nehme es wieder mit nach Hause.) Jegor Iljitsch selbst wäre nicht abgeneigt gewesen, an einem solchen Tage ein kleines Fest zu veranstalten; aber Foma verbot es: ›Warum‹, sagte er, ›haben Sie angefangen, sich so viel mit Ilja zu beschäftigen? Ich werde jetzt gar nicht mehr gebührend beachtet!‹ Was sagen Sie dazu? So ein Dummerjan: beneidet einen achtjährigen Knaben um seinen Namenstag! ›Aber‹, sagte er, ›ich habe morgen ebenfalls meinen Namenstag!‹ Es wurde ihm entgegengehalten, morgen sei doch Eliastag und nicht Thomastag. ›Nein‹, sagte er, ›ich begehe morgen auch meinen Namenstag.‹ Ich hörte das mit an, sagte aber nichts dazu. Was meinen Sie nun wohl? Jetzt gehen sie da auf den Zehenspitzen umher und beraten flüsternd, wie sie sich verhalten sollen. Sollen sie den Eliastag für seinen Namenstag ansehen oder nicht? Ihm gratulieren oder nicht? Gratulieren sie ihm nicht, so kann er sich beleidigt fühlen, und gratulieren sie ihm, so faßt er es womöglich als Spott auf. Pfui Deibel noch einmal! Wir setzten uns zu Tisch. . . . Aber hören Sie eigentlich zu, lieber Freund?«

»Aber ich bitte Sie, natürlich höre ich zu; sogar mit besonderem Vergnügen höre ich zu; denn durch Sie habe ich ja jetzt erfahren . . . und . . . ich muß gestehen . . . .«

»Hm, hm, mit besonderem Vergnügen! Das kann ich mir denken, das besondere Vergnügen. . . . Ist das auch nicht etwa Ironie, was Sie mir da von Ihrem Vergnügen sagen?«

»Ich bitte Sie, wieso denn Ironie? Durchaus nicht. Und zudem, Sie drücken sich so originell aus, daß ich sogar Lust hätte, Ihre Worte aufzuschreiben.«

»Wie meinen Sie das, lieber Freund: aufzuschreiben?« fragte Herr Bachtschejew mit einem gelinden Schrecken und sah mich mißtrauisch an.

»Nun, ich werde sie vielleicht auch nicht aufschreiben . . . ich habe das nur so hingeredet.«

»Sie wollen mich gewiß in eine Falle locken?«

»Wieso in eine Falle locken?« fragte ich erstaunt.

»Folgendermaßen: Sie verführen mich jetzt dazu, Ihnen alles zu erzählen; ich Dummerjan tue das, und Sie schildern mich dann irgendwo in einem Schriftwerk.«

Ich versicherte Herrn Bachtschejew sofort, daß ich nicht zu diesen Leuten gehörte; aber er blickte mich immer noch mißtrauisch an.

»Hm, hm, Sie sagen, Sie gehören nicht zu diesen Leuten! Aber wer kennt Sie? Vielleicht sind Sie sogar noch schlimmer. Auch Foma hat mir gedroht, er wolle mich schildern und es drucken lassen.«

»Gestatten Sie mir eine Frage«, unterbrach ich ihn in dem Wunsch, das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu bringen; »sagen Sie, ist das wahr, daß mein Onkel heiraten will?«

»Na, was ist denn dabei, wenn er das will? Das wäre ja noch nichts Schlimmes. Mag einer doch heiraten, wenn's ihn dazu treibt; das ist weiter nicht schlimm; aber etwas anderes ist schlimm . . .« fügte Herr Bachtschejew nachdenklich hinzu. »Hm! Darauf, lieber Freund, kann ich Ihnen keine zuverlässige Antwort geben. Es hat sich jetzt dort viel Weibervolk von allerlei Art zusammengefunden wie Fliegen beim Eingemachten; da wird man nicht leicht daraus klug, welche von ihnen heiraten will. Aber ich sage Ihnen, mein Bester, freundschaftlich: ich kann das Weibervolk nicht leiden! Es ist nur so ein Gerede, daß sie auch Menschen seien; doch in Wirklichkeit sind sie eine Schmach und schaden unserem Seelenheil. Aber daß Ihr Onkel verliebt ist wie ein sibirischer Kater, das kann ich Ihnen versichern. Davon jedoch, lieber Freund, will ich jetzt nicht reden; Sie werden ja selbst sehen; dumm ist nur, daß er die Sache aufschiebt. Willst du heiraten, dann heirate; aber er fürchtet sich, es diesem Foma zu sagen, und auch seiner Alten es zu sagen, hat er Angst; die würde ebenfalls ein Geschrei machen, daß man's durchs ganze Dorf hört, und mit den Hinterbeinen ausschlagen. Sie steht auf Fomas Seite, und für Foma wäre es ein schwerer Schlag, wenn die, die der Onkel liebt, als Gattin ins Haus einzöge; denn dann könnte Foma keine zwei Stunden mehr im Hause bleiben. Die Gattin würde ihn, wenn sie nicht dumm ist, eigenhändig im Nacken packen und mit Fußtritten unter solchem Eklat aus dem Hause treiben, daß er nachher im ganzen Kreise keine Stelle mehr fände! Darum intrigiert er auch jetzt im Verein mit der Mama, und sie möchten Ihrem Onkel so eine von andrer Art andrehen . . . Aber warum haben Sie mich unterbrochen, lieber Freund? Ich wollte Ihnen gerade die Hauptgeschichte erzählen, und da unterbrachen Sie mich! Ich bin älter als Sie, und es schickt sich nicht, einen bejahrten Mann zu unterbrechen . . .«

Ich bat um Entschuldigung.

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen! Ich möchte Ihnen, lieber Freund, als einem gelehrten Mann, zur Beurteilung vorlegen, wie er mich heute beleidigt hat. Na, urteilen Sie selbst, wenn Sie ein guter Mensch sind! Wir setzten uns zum Mittagessen hin, und während des Essens hat er mich, sage ich Ihnen, beinahe zu Tode gequält! Gleich zu Beginn der Mahlzeit sah ich: er saß da und ärgerte sich, daß er innerlich nur so knirschte. Er hätte sich gefreut, wenn er mich in einem Löffel voll Wasser hätte ertränken können, der boshafte Kerl! Er ist ein so eingebildeter, egoistischer Mensch, daß er beinah platzt! Und da fiel es ihm ein, mit mir Händel zu suchen und auch mich in der Moral zu unterweisen. Er ging mir mit der Frage zu Leibe, warum ich nicht dünn wäre, sondern so dick. Na, sagen Sie, lieber Freund, was ist das für eine Frage? Steckt da ein Witz darin? Ich antwortete ihm verständig: ›Das hat Gott nun einmal so eingerichtet, Foma Fomitsch: der eine ist dick, und der andere ist dünn; gegen die allweise Vorsehung kann ein Sterblicher nicht ankämpfend.‹ Das war doch verständig geantwortet; meinen Sie nicht auch? ›Nein‹, sagte er, ›Sie haben fünfhundert Seelen und leben üppig von Ihren Einnahmen, bringen aber dem Vaterlande keinen Nutzen. Sie müßten ein Amt bekleiden; aber statt dessen sitzen Sie immer zu Hause und spielen Harmonika.‹ Und das ist richtig: wenn mir mal traurig zumute ist, dann spiele ich gern ein bißchen auf meiner Harmonika. Ich antwortete wieder ganz verständig: ›Was soll ich denn für ein Amt übernehmen, Foma Fomitsch? In was für eine Uniform soll ich denn meinen dicken Körper hineinzwängen? Wenn ich eine Uniform anziehe, wenn ich mich wirklich hineinzwänge und dann niesen muß, dann springen ja alle Knöpfe ab, womöglich noch in Gegenwart meines höchsten Vorgesetzten, und dann hält man das (Gott soll mich davor bewahren!) am Ende noch für einen dummen Witz von mir; was dann?‹ Na, sagen Sie selbst, lieber Freund, hatte ich damit etwas Lächerliches gesagt? Aber er wollte sich ausschütten vor Lachen über mich; es ging nur immer: ›Hahaha‹ und ›Hihihi‹ . . . Anstandsgefühl besitzt er überhaupt nicht die Bohne, kann ich Ihnen sagen. Und dann erdreistete er sich noch, mich auf französisch zu beschimpfen: ›Cochon‹, sagte er. Na, cochon, was das heißt, das verstehe ich auch. ›Ach du verfluchter Marktschreier‹, dachte ich; ›glaubst du, daß ich vor dir zu Kreuze krieche?‹ Ich bezwang mich lange; aber auf die Dauer hielt ich es doch nicht aus, stand vom Tisch auf und sagte ihm vor der ganzen ehrenwerten Tafelrunde direkt ins Gesicht: ›Ich habe Ihnen unrecht getan, teuerster Foma Fomitsch‹, sagte ich; ›ich dachte, Sie wären ein wohlerzogener Mensch; aber nun stellt es sich heraus, lieber Freund, daß Sie genauso ein Schweinehund sind wie wir alle.‹ So sagte ich, stand vom Tisch auf, wo gerade der Pudding herumgereicht wurde, und ging hinaus. ›Hol euch mitsamt eurem Pudding der Kuckuck!‹ dachte ich.«

»Entschuldigen Sie«, sagte ich, nachdem ich Herrn Bachtschejews ganze Erzählung angehört hatte, »ich stimme Ihnen natürlich gern in allen Punkten bei. Etwas Positives weiß ich allerdings noch nicht . . . Aber sehen Sie, es sind mir darüber soeben besondere Gedanken gekommen.«

»Was sind denn das für Gedanken, die Ihnen gekommen sind, lieber Freund?« fragte Herr Bachtschejew mißtrauisch.

»Sehen Sie«, begann ich einigermaßen verwirrt, »der jetzige Zeitpunkt ist dazu vielleicht nicht geeignet; aber ich bin doch gern bereit, sie Ihnen mitzuteilen. Ich denke folgendermaßen: vielleicht befinden wir uns beide über Foma Fomitsch im Irrtum; vielleicht verbirgt sich hinter all diesen Sonderbarkeiten eine eigenartige, vielleicht sogar eine hochbegabte Natur; wer weiß das? Vielleicht ist das ein verbitterter, durch viele Leiden sozusagen zerschlagener Charakter, der sich nun an der ganzen Menschheit rächt. Ich habe gehört, daß er früher eine Art von Possenreißer gewesen ist: vielleicht hat ihn das entwürdigt, beleidigt, gebeugt? . . . Sie verstehen: ein vornehm denkender Mensch . . . der Selbstbewußtsein besitzt . . . und da muß er die Rolle eines Possenreißers spielen! . . . Und da ist er denn mißtrauisch gegen die ganze Menschheit geworden, und . . . und vielleicht, wenn man ihn mit der Menschheit versöhnt . . . das heißt mit den Menschen, so erweist er sich vielleicht als eine eigenartige Natur, vielleicht sogar als eine sehr merkwürdige Natur, und . . . und . . . und es muß doch wirklich etwas an diesem Menschen dran sein; es muß doch ein Grund vorhanden sein, weswegen sich alle vor ihm beugen?«

Ich hatte selbst die Empfindung, daß ich in schrecklicher Weise aus dem Konzept gekommen war. Man konnte mir das wegen meiner Jugend noch verzeihen. Aber Herr Bachtschejew verzieh mir nicht. Ernst und streng sah er mir in die Augen und wurde schließlich puterrot.

»Also Foma soll ein besonderer Mensch sein?« fragte er kurz und scharf.

»Wohlgemerkt: ich glaube selbst noch nichts von dem, was ich jetzt gesagt habe. Ich habe es nur so als Vermutung ausgesprochen . . .«

»Erlauben Sie eine neugierige Frage, lieber Freund: haben Sie etwa Philosophie studiert?«

»Das heißt . . . in welchem Sinne?« fragte ich erstaunt.

»Nein, nicht in einem Sinne; sondern antworten Sie mir geradezu, lieber Freund, ohne jeden Sinn: haben Sie Philosophie studiert?«

»Ich muß gestehen, ich beabsichtige es allerdings, aber . . .«

»Na, da haben wir's!« rief Herr Bachtschejew, seiner Entrüstung freien Lauf lassend. »Noch bevor Sie den Mund aufmachten, lieber Freund, habe ich es mir gedacht, daß Sie Philosophie studiert hätten! Mich betrügt man nicht! Kein Gedanke daran! Auf drei Werst Entfernung wittre ich einen Philosophen! Küssen Sie nur Ihren Foma Fomitsch! Da haben Sie also einen besonderen Menschen entdeckt! Pfui Deibel! Mag alles in der Welt verrotten und verderben! Ich hatte schon gedacht, Sie wären auch ein vernünftiger Mensch; aber Sie . . . Fahr vor!« rief er seinem Kutscher zu, der bereits auf den Bock der reparierten Equipage gestiegen war. »Nach Hause!«

Nur mit Mühe gelang es mir, ihn einigermaßen zu beruhigen; schließlich geriet er in mildere Stimmung; aber es dauerte doch recht lange, bis er sich entschloß, vom Zorn zur Freundlichkeit überzugehen. Unterdessen war er mit Grigoris und Archips Beihilfe in den Wagen gestiegen, eben jenes Archip, der dem trunksüchtigen Wassiljew eine Strafpredigt gehalten hatte.

»Gestatten Sie die Frage«, sagte ich, an den Wagen herantretend: »werden Sie meinen Onkel nun nie mehr besuchen?«

»Ihren Onkel? Spucken Sie jeden an, der Ihnen das einreden will! Sie glauben wohl, ich sei ein charakterfester Mensch und könne es aushalten, dauernd wegzubleiben? Das ist ja eben mein Kummer, daß ich ein solcher Waschlappen bin! Es wird keine Woche vergehen, dann komme ich da wieder angeschlichen. Warum ich das tue? Sehen Sie, das weiß ich selbst nicht, warum; aber ich werde wieder hinfahren und mich mit Foma herumbalgen. Das ist eben mein Kummer, lieber Freund! Zur Strafe für meine Sünden hat mir Gott diesen Foma gesandt. Ich habe einen weibischen Charakter; es fehlt mir durchaus an Standhaftigkeit! Ich bin ein Feigling erster Sorte, lieber Freund . . .«

Wir schieden ganz freundschaftlich voneinander; er lud mich sogar ein, bei ihm einmal zu Mittag zu essen.

»Kommen Sie zu mir, lieber Freund, kommen Sie zu mir; dann wollen wir mal speisen! Ich habe mir ein feines Schnäpschen aus Kiew kommen lassen, und mein Koch ist in Paris gewesen. Der macht Ihnen solche Ragouts und Fischpasteten, daß Sie sich nachher die Finger ablecken und ihm eine tiefe Verbeugung machen, dem Schurken. Er ist ein gebildeter Mensch! Ich habe ihn nur seit längerer Zeit nicht durchpeitschen lassen; ich verwöhne ihn . . . gut, daß Sie mich jetzt daran erinnert haben . . . Kommen Sie nur! Ich würde Sie schon heute zu mir einladen; aber ich bin ganz kaputt, ganz zermürbt; die Hinterbeine versagen den Dienst. Ich bin ja ein kranker Mensch, habe einen aufgedunsenen Körper. Sie glauben es vielleicht nicht . . . Na, dann leben Sie wohl, lieber Freund! Es ist auch für mich Zeit, abzusegeln. Sehen Sie, Ihr Reisewagen ist auch fertig geworden. Diesem Foma aber sagen Sie, er möchte mir nicht über den Weg laufen; sonst würde ich ihm einen so zärtlichen Empfang bereiten, daß er . . .«

Aber die letzten Worte konnte ich nicht mehr hören. Der Wagen, von vier kräftigen Pferden gleichzeitig angezogen, verschwand in den Staubwolken. Auch mein Reisewagen fuhr vor; ich stieg ein, und wir fuhren sogleich durch das Städtchen hindurch. »Gewiß, dieser Herr übertreibt«, sagte ich zu mir; »er ist zu erbost und kann nicht unparteiisch sein. Aber auf der anderen Seite ist alles, was er über den Onkel gesagt hat, sehr bemerkenswert. Da stimmen nun schon zwei Aussagen darin überein, daß der Onkel dieses junge Mädchen liebt . . . Hm! Heirate ich, oder heirate ich nicht?« Diesmal wurde ich doch recht nachdenklich.

III

Der Onkel

Ich muß gestehen, ich hatte sogar ein bißchen Angst. Meine romanhaften Träumereien kamen mir auf einmal sehr wunderlich, ja töricht vor, als ich in Stepantschikowo einfuhr. Es war gegen fünf Uhr nachmittags. Die Landstraße führte an dem herrschaftlichen Hause vorbei. Nach langen Jahren des Fernseins erblickte ich wieder diesen gewaltig großen Garten, in welchem ich als Kind so manchen glücklichen Tag verlebt und von dem ich nachher oft in den Schlafsälen der Schulen, die sich mit meiner Bildung abmühten, geträumt hatte. Ich sprang aus dem Wagen und ging geradeswegs durch den Garten auf das Gutshaus zu. Es war mir sehr daran gelegen, unauffällig anzukommen, Erkundigungen einzuziehen, diesen und jenen zu befragen und vor allen Dingen mit meinem Onkel zu sprechen. Das gelang mir denn auch. Nachdem ich die Allee von hundertjährigen Linden durchschritten hatte, trat ich auf die Terrasse, von der man durch eine Glastür direkt in die inneren Räume kam. Diese Terrasse war von Blumenbeeten umgeben und mit kostbaren Topfpflanzen besetzt. Hier traf ich einen der Hausleute, den alten Gawrila, meinen ehemaligen Hüter, jetzt meines Onkels ehrwürdigen Kammerdiener. Der alte Mann hatte eine Brille auf und hielt in der Hand ein Heft, in dem er eifrig las. Wir hatten uns vor zwei Jahren in Petersburg gesehen, wohin er mit meinem Onkel gekommen war, und daher erkannte er mich jetzt sofort. Mit Freudentränen stürzte er auf mich zu, um mir die Hände zu küssen, wobei ihm die Brille von der Nase auf die Erde fiel. Eine solche Anhänglichkeit des alten Mannes rührte mich tief. Aber da ich noch durch das unlängst mit Herrn Bachtschejew geführte Gespräch aufgeregt war, so wandte sich meine Aufmerksamkeit vor allen Dingen dem verdächtigen Heft zu, das Gawrila in der Hand hatte.

»Was ist das, Gawrila? Mußt auch du jetzt etwa Französisch lernen?« fragte ich den Alten.

»Jawohl, junger Herr; das muß ich auf meine alten Tage lernen wie ein Starmatz«, antwortete Gawrila betrübt.

»Unterrichtet dich Foma selbst?«

»Ja, junger Herr. Er muß doch ein sehr kluger Mensch sein.«

»Das muß man ihm lassen; ein kluger Mensch! Unterrichtet er dich mündlich?«

»Nein, nach dem Heft, junger Herr.«

»Nach dem, das du da in der Hand hast? Ah! Französische Wörter mit russischen Buchstaben – eine schlaue Einrichtung! Und einem solchen Tölpel und Erznarren fügt ihr euch? Schämst du dich nicht, Gawrila?« rief ich; ich hatte in einem Augenblicke alle meine großmütigen Vermutungen über Foma Fomitsch vergessen, für die mich erst vor kurzem Herr Bachtschejew heruntergemacht hatte.

»Aber, junger Herr«, antwortete der Alte, »wie kann er denn ein Narr sein, wenn er doch unsere Herrschaft so nach seinem Willen lenkt?«

»Hm! Vielleicht hast du recht, Gawrila«, murmelte ich, durch diese Bemerkung in meinem Zornesausbruch gehemmt. »Führe mich zu meinem Onkel!«

»Ach, du mein Falke! Ich kann mich ja gar nicht vor ihm zeigen; ich wage es nicht. Ich habe schon angefangen, mich auch vor ihm zu fürchten. Da sitze ich nun hier in meiner Trübsal, und wenn er kommt, gehe ich hinter die Büsche.«

»Aber warum fürchtest du dich denn?«

»Ich habe vorhin meine Aufgabe nicht gekonnt; Foma Fomitsch wollte mich zur Strafe knien lassen; aber das tat ich nicht. Ich bin zu alt geworden, junger Herr Sergej Alexandrowitsch, als daß ich solche Späße mitmachen könnte! Der gnädige Herr wurde böse darüber, daß ich Foma Fomitsch nicht gehorchte. ›Er gibt sich Mühe, dir Bildung beizubringen, alter Graukopf‹, sagte er; ›er will dich die Aussprache lehren.‹ Da gehe ich denn hier umher und lerne Vokabeln. Foma Fomitsch hat versprochen, er wolle mich am Abend noch einmal examinieren.«

Mir schien dabei etwas unklar zu sein.

›Mit diesem Französisch‹, dachte ich, ›muß es doch wohl eine besondere Bewandtnis haben, die mir der alte Mann nicht erklären kann.‹

»Noch eine Frage, Gawrila: wie sieht er denn aus? Ist er stattlich, hochgewachsen?«

»Foma Fomitsch? Nein, junger Herr, der ist so ein mickriges Kerlchen.«

»Hm! Nun, habe nur Geduld, Gawrila; das alles wird vielleicht noch in Ordnung kommen; es wird sogar bestimmt in Ordnung kommen, das verspreche ich dir! Aber . . . wo ist denn der Onkel?«

»Er empfängt hinter den Pferdeställen die Bauern. Die Ältesten von Kapitonowka sind mit einem Bittgesuch gekommen. Sie haben gehört, daß sie an Foma Fomitsch abgetreten werden sollen, und da bitten sie, daß das nicht geschehen möchte.«

»Aber warum denn hinter den Pferdeställen?«

»Er fürchtet sich, junger Herr . . .«

In der Tat fand ich meinen Onkel hinter den Pferdeställen. Dort stand er auf einem freien Platz vor einer Anzahl von Bauern, die ihn mit vielen Verbeugungen angelegentlich um etwas baten. Der Onkel war eifrig beschäftigt, ihnen etwas auseinanderzusetzen. Ich trat näher heran und rief ihn. Er wandte sich um, und wir fielen einander in die Arme.

Er freute sich außerordentlich über meine Ankunft und war geradezu entzückt darüber. Er umarmte mich und drückte mir die Hand, als ob sein leiblicher Sohn nach Rettung aus irgendwelcher Lebensgefahr zurückgekehrt wäre oder als ob ich durch meine Ankunft ihn selbst aus irgendwelcher Lebensgefahr gerettet und Befreiung von allen Zweifeln sowie lebenslängliche Freude und Glückseligkeit für ihn und alle, die er liebte, mitgebracht hätte. Allein hätte mein Onkel nie glücklich sein mögen. Nach den ersten Ausbrüchen des Entzückens fing er von allem möglichen zu reden an, so daß er schließlich ganz konfus wurde. Er überschüttete mich mit Fragen und wollte mich unverzüglich zu seiner Familie führen. Wir waren auch schon auf dem Weg dahin; aber der Onkel kehrte wieder um, da er mich zuerst den Bauern von Kapitonowka vorzustellen wünschte. Dann fing er ohne ersichtlichen Anlaß auf einmal von einem Herrn Korowkin zu reden an, der ein ganz außerordentlicher Mensch sei; er hatte ihn vor drei Tagen irgendwo auf der Chaussee getroffen und erwartete jetzt dessen Besuch bei sich zu Hause mit größter Ungeduld. Darauf sprang er auch von Korowkin ab und begann von etwas anderem zu reden. Ich blickte ihn mit wirklicher Freude an. Auf seine eiligen Fragen antwortend, sagte ich ihm, es sei nicht meine Absicht, in den Staatsdienst zu treten, sondern mich weiter mit den Wissenschaften zu beschäftigen. Sowie ich die Wissenschaften erwähnt hatte, zog der Onkel auf einmal die Augenbrauen zusammen und machte ein höchst wichtiges Gesicht. Als er hörte, daß ich mich in der letzten Zeit mit Mineralogie beschäftigt hatte, hob er den Kopf und blickte stolz rings um sich, wie wenn er selbst allein ohne jede fremde Beihilfe die ganze Mineralogie erforscht und aufgezeichnet hätte. Ich habe schon gesagt, daß er vor dem Worte ›Wissenschaft‹ einen durchaus uneigennützigen Respekt hatte, einen um so uneigennützigeren, da er selbst absolut nichts wußte.

»Ach ja, lieber Freund, es gibt auf der Welt Leute, die alles durch und durch verstehen!« sagte er einmal zu mir, und seine Augen leuchteten dabei vor Entzücken. »Da sitzt man so unter ihnen und hört zu und weiß ja selbst, daß man nichts davon versteht; aber dennoch hüpft einem das Herz vor Freude. Und warum? Weil das Nutzen schafft; weil da Verstand darin steckt; weil dadurch die allgemeine Glückseligkeit gefördert wird! Dafür habe ich Verständnis. Da fahre ich zum Beispiel jetzt auf der Eisenbahn; aber mein Sohn IIja wird vielleicht durch die Luft fliegen . . . Na ja, schließlich auch der Handel, die Industrie, diese belebenden Kräfte sozusagen . . . das heißt, ich will sagen: wie man es auch dreht, ist es nützlich . . . Es ist doch nützlich, nicht wahr?«

Aber kehren wir zu unserem Wiedersehen zurück.

»Warte nur, Freundchen, warte nur«, begann er in seiner üblichen Hast und rieb sich dabei die Hände, »du wirst einen Menschen kennenlernen – ich sage dir, er ist ein seltener Mensch, ein Gelehrter, ein Mann der Wissenschaft, ein Koryphäe des Jahrhunderts. Das ist doch ein schöner Ausdruck: ›ein Koryphäe des Jahrhunderts‹, nicht wahr? Foma hat ihn mir erklärt . . . Warte nur, ich werde dich mit ihm bekannt machen.«

»Sprichst du von Foma Fomitsch, lieber Onkel?«

»Nein, nein, mein Freund! Jetzt spreche ich von Korowkin. Das heißt, Foma ist ebenfalls . . . auch er . . . Aber jetzt sprach ich nur von Korowkin«, fügte er hinzu; ohne verständlichen Grund errötete er jedesmal und wurde verlegen, wenn die Rede auf Foma kam.

»Mit was für Wissenschaften beschäftigt er sich denn, lieber Onkel?«

»Mit den Wissenschaften, mein Lieber, mit den Wissenschaften, überhaupt mit den Wissenschaften. Ich kann dir nur nicht genauer sagen, mit welchen Wissenschaften; ich weiß nur, daß er sich mit den Wissenschaften beschäftigt. Ach, wie der von der Eisenbahn redet! Und weißt du«, fügte mein Onkel beinahe flüsternd hinzu, indem er das rechte Auge vielsagend zusammenkniff, »er hat auch so ein bißchen freisinnige Ideen! Das habe ich bemerkt, namentlich als er von dem Glück des Familienlebens zu reden anfing . . . Schade, daß ich nur wenig davon verstanden habe (es war zu wenig Zeit); sonst würde ich dir alles wie am Schnürchen erzählen. Und überdies besitzt er die edelsten Eigenschaften! Ich habe ihn eingeladen, bei mir zu logieren. Ich erwarte ihn stündlich.«

Unterdessen sahen mich die Bauern mit offenem Munde und weit aufgerissenen Augen an wie ein Wundertier.

»Hören Sie, lieber Onkel«, unterbrach ich ihn, »ich bin, wie es scheint, den Bauern in die Quere gekommen. Gewiß sind sie in einer dringlichen Angelegenheit hier. Was wollen sie denn? Ich muß gestehen, ich habe so eine Vermutung und würde sehr gern hören, was die Leute sagen . . .«

Der Onkel geriet auf einmal in hastige, unruhige Bewegung.

»Ach ja, das hatte ich ganz vergessen! Ja, siehst du . . . was soll ich mit ihnen anfangen? Sie sind auf den Gedanken gekommen (und ich möchte bloß gern wissen, wer von ihnen als erster diese Idee hatte), ich hätte die Absicht, sie und ganz Kapitonowka wegzugeben (du erinnerst dich wohl noch an Kapitonowka? Wir pflegten immer abends mit meiner seligen Katerina Spazierfahrten dorthin zu machen), ganz Kapitonowka, ganze achtundsechzig Seelen, und zwar an Foma Fomitsch! Nun kommen sie und sagen: ›Wir wollen nicht von dir weg, unter keinen Umständen!‹«

»Also ist es nicht wahr, lieber Onkel? Sie wollen ihm Kapitonowka nicht schenken?« rief ich hocherfreut.

»Fällt mir nicht ein; ist mir nie in den Sinn gekommen! Aber von wem hast du es denn gehört? Es ist mir einmal so ein Wort entschlüpft, und daraus hat man nun wer weiß was gemacht. Warum können sie nur Foma gar nicht leiden? Warte nur, Sergej, ich werde dich mit ihm bekannt machen«, fügte er hinzu; er blickte mich dabei schüchtern an, als ahne er schon in mir einen Feind Foma Fomitschs. »Das ist ein Mensch, lieber Freund . . .«

»Wir wollen keinen andern Herrn haben als dich!« riefen die Bauern auf einmal kläglich im Chor. »Du bist unser Vater, und wir sind deine Kinder!«

»Hören Sie, lieber Onkel«, antwortete ich, »ich habe Foma Fomitsch noch nicht gesehen; aber . . . sehen Sie . . . ich habe so einiges gehört. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich heute mit Herrn Bachtschejew zusammengetroffen bin. Übrigens habe ich vorläufig darüber so meine eigenen Ideen. Jedenfalls möchte ich vorschlagen, lieber Onkel, daß Sie die Bauern jetzt entlassen; dann können wir beide allein, ohne Zeugen, miteinander reden. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich gerade zu diesem Zweck hergekommen bin . . .«

»Richtig, richtig«, fiel der Onkel ein, »ganz richtig! Ich werde die Bauern fortschicken, und dann wollen wir miteinander reden, weißt du, so recht freundschaftlich, vertraulich und gründlich! Na«, fuhr er, sich zu den Bauern wendend, in seiner eilfertigen Art fort, »dann geht jetzt nur, liebe Leute! Und kommt künftig immer zu mir, wenn ihr etwas braucht, immer zu mir; ja, ja, wendet euch direkt an mich, zu jeder Zeit!«

»Du bist unser Vater, gnädiger Herr, und wir sind deine Kinder! Laß uns nichts von Foma Fomitsch zuleide geschehen! Darum bitten wir Ärmsten dich alle!« riefen die Bauern noch einmal.

»Ach ihr Dummköpfe! Ich habe euch ja gesagt: ich werde euch nicht weggeben!«

»Sonst wird er uns noch ganz zu Tode peinigen, Väterchen, mit seinem Unterricht! Die Hiesigen, heißt es, hat er schon ganz damit zermartert.«

»Unterrichtet er wirklich auch euch in Französisch?« rief ich ordentlich erschrocken.

»Nein, junger Herr, bis jetzt ist uns Gott noch gnädig gewesen!« antwortete einer der Bauern, wahrscheinlich der redegewandteste unter ihnen, ein rothaariger Mensch mit einer gewaltigen Glatze auf dem Hinterkopf und einem langen, dünnen, keilförmigen Bärtchen, das sich, wenn er sprach, so flink bewegte, wie wenn es eigenes Leben hätte. »Nein, junger Herr, bis jetzt ist uns Gott noch gnädig gewesen.«

»Worin unterrichtet er euch denn?«

»Er unterrichtet uns so, Euer Gnaden: wir haben verstanden, wir sollen einen goldenen Kasten kaufen und eine Kupfermünze hineinlegen.«

»Was soll das heißen, eine Kupfermünze?«

»Sergej, du irrst dich; es ist eine Verleumdung!« rief mein Onkel, der ganz rot und schrecklich verlegen geworden war. »Die Dummköpfe haben nicht verstanden, was er zu ihnen gesagt hat. Er hat das nur bildlich gesagt . . . von einer wirklichen Kupfermünze ist nicht die Rede . . . Aber du verstehst das alles nicht, und darum solltest du lieber den Mund halten«, fuhr der Onkel, sich vorwurfsvoll an den Bauern wendend, fort. »Er hat dir Dummkopf Gutes tun wollen, und du verstehst das nicht und machst ein Geschrei!«

»Aber ich bitte Sie, lieber Onkel, und das Französische?«

»Das will er doch nur wegen der Aussprache, lieber Sergej, einzig und allein wegen der Aussprache«, erwiderte der Onkel in flehendem Tone. »Er hat das selbst gesagt, daß er es nur wegen der Aussprache will . . . Außerdem hat sich hier ein besonderer Vorfall zugetragen – du weißt davon nichts; aber ebendarum kannst du nicht darüber urteilen. Zuerst, lieber Freund, muß man in die Sache eindringen; dann erst darf man Beschuldigungen aussprechen . . . Beschuldigungen auszusprechen ist leicht!«

»Aber wie benehmt ihr euch auch!« rief ich, mich zornig von neuem zu den Bauern wendend. »Ihr hättet ihm alles geradeheraus sagen sollen. Ihr mußtet sagen: ›Das geht nicht, Foma Fomitsch; aus dem und dem Grunde!‹ Ihr habt doch einen Mund?«

»Wo ist die Maus, die der Katze die Schelle anhängt, junger Herr? Er sagt: ›Ich will dich rohen Bauer Reinlichkeit und Ordnung lehren. Warum ist dein Hemd unsauber?‹ Aber unsereiner schwitzt viel; da kann das Hemd nicht sauber sein. Wir können nicht jeden Tag ein reines Hemd anziehen. Peinlichkeit schützt nicht vorm Sterben; Schmutz bringt keinen ins Verderben.‹«

»Neulich kam er auf die Tenne«, begann ein anderer Bauer, ein großer, hagerer Mann, der vielfach geflickte Kleider und sehr schlechte Bastschuhe trug, anscheinend einer von jenen Leuten, die beständig mit etwas unzufrieden sind und immer ein scharfes, giftiges Wort in Bereitschaft haben. Bis dahin hatte er sich hinter dem Rücken der anderen Bauern verborgen gehalten, in finsterem Schweigen zugehört und die ganze Zeit über ein zweideutiges, bitteres, schlaues Lächeln nicht von seinem Gesicht verschwinden lassen. »Er kam auf die Tenne. ›Wißt ihr auch wohl, wieviel Werst es bis zur Sonne sind?‹ fragte er. Aber wer von uns kann das wissen? Das ist keine Wissenschaft für uns Bauern, sondern eine für die Herren. ›Nein‹, sagte er, ›du bist ein Dummkopf, ein Tölpel und kennst deinen Vorteil nicht; aber ich‹, sagte er, ›bin Astrolom! Ich kenne alle Planiden am Himmel.‹«

»Na, hat er dir denn gesagt, wieviel Werst bis zur Sonne sind?« mischte sich der Onkel ein, der auf einmal lebhaft wurde und mir vergnügt zublinzelte, als ob er sagen wollte: ›Paß mal auf, was da herauskommen wird!‹

»Ja, er nannte eine große Zahl«, antwortete der Bauer mißmutig, da er eine solche Frage nicht erwartet hatte.

»Na, wieviel hat er denn gesagt, wieviel genau?«

»Das ist Euer Gnaden besser bekannt; wir sind unwissende Leute.«

»Ich, mein Lieber, weiß es; aber hast du es auch behalten?«

»›Soundso viel Hunderte oder Tausende‹, sagte er, ›sind es.‹ Es war eine große Zahl. Auf drei Fuhren kann man sie nicht wegfahren.«

»Na ja, so etwas mußt du dir merken, mein Bester! Du hast gewiß gedacht, es sei ungefähr eine Werst weit, man könne ja mit der Hand hinlangen. Nein, mein Lieber, die Erde, siehst du wohl, das ist eine Art runder Ball – verstehst du?« fuhr der Onkel fort, indem er mit den Händen in der Luft die Gestalt eines Balles zur Darstellung brachte.

Der Bauer lächelte bitter.

»Ja, eine Art Ball! Sie hält sich so von selbst in der Luft und wandert um die Sonne herum. Die Sonne aber steht still auf einem Fleck; das scheint dir nur so, daß sie wandert. Ja, so eine verschmitzte Sache ist das! Entdeckt hat das alles Kapitän Cook, ein Seefahrer . . . Aber weiß der Teufel, wer es eigentlich entdeckt hat«, fügte er, sich zu mir wendend, im Flüstertone hinzu. »Ich weiß es selbst nicht, lieber Freund . . . Aber weißt du, wieviel Werst es bis zur Sonne sind?«

»Das weiß ich, lieber Onkel«, antwortete ich; ich betrachtete diese ganze Szene sehr erstaunt. »Aber höre, was ich denke: gewiß, ein Mangel an Bildung ist ja eine Art von Unsauberkeit; aber andrerseits . . . die Bauern in der Astronomie zu unterweisen . . .«

»Richtig, richtig, richtig, eine Art von Unsauberkeit!« unterbrach mich mein Onkel, entzückt über den von mir gebrauchten Ausdruck, der ihm außerordentlich treffend zu sein schien. »Ein vortrefflicher Gedanke! Ganz richtig, eine Art von Unsauberkeit! Das habe ich immer gesagt . . . das heißt, gesagt habe ich es niemals, aber ich habe es gefühlt. Hört mal«, rief er den Bauern zu, »der Mangel an Bildung ist eine Art von Unsauberkeit, eine Art Schmutz! Deswegen wollte euch Foma auch unterrichten. Er wollte euch etwas Gutes lehren; damit tut er euch nichts zuleide. Weißt du, lieber Freund, das ist ganz dasselbe, wie wenn er ein Amt verwaltete, und er wäre würdig, dafür einen hohen Rang zu erhalten. Da seht ihr, was das für ein Ding ist, die Wissenschaft! Nun gut, gut, liebe Leute! Geht mit Gott; ich freue mich, ich freue mich . . . seid ganz beruhigt; ich werde euch nicht verlassen.«

»Beschütze uns, du unser Vater!«

»Laß uns unseres Lebens froh werden, Väterchen!«

Die Bauern warfen sich ihm zu Füßen.

»Nun, nun, das ist dummes Zeug! Kniet vor Gott und dem Zaren, aber nicht vor mir . . . Na, nun geht nur und verhaltet euch ordentlich, so daß ihr eine freundliche Behandlung verdient . . . weiter ist nichts nötig . . . Weißt du«, sagte er, sich zu mir wendend, sobald die Bauern weggegangen waren, und sein Gesicht strahlte ordentlich vor Freude, »der Bauer hat das gern, wenn man ein gutes Wort zu ihm redet, und auch ein kleines Geschenk schadet nichts. Soll ich ihnen etwas schenken? Wie denkst du darüber? Deiner Ankunft zu Ehren . . . Soll ich ihnen etwas schenken, ja?«

»Sie sind ja, wie ich sehe, ein wahrer Wohltäter Ihrer Bauern, lieber Onkel.«

»Na, das ist notwendig, lieber Freund, das ist notwendig; nicht der Rede wert. Ich wollte ihnen schon längst etwas schenken«, fügte er wie zur Entschuldigung hinzu. »Aber kommt es dir auch nicht komisch vor, daß ich die Bauern in den Wissenschaften unterrichtet habe? Nein, lieber Freund, das habe ich bloß so aus Freude darüber getan, daß ich dich wiedersehe, lieber Sergej. Ich wollte einfach, daß auch der Bauer erfahren sollte, wie weit es zur Sonne ist, und daß er darüber den Mund aufsperren möchte. Es ist so amüsant, lieber Freund, zu sehen, wenn er den Mund aufsperrt . . . Man freut sich geradezu um seinetwillen. Nur, weißt du, lieber Freund, sage da im Salon nichts davon, daß ich mich hier mit den Bauern ausgesprochen habe. Ich habe sie absichtlich hinter den Pferdeställen empfangen, damit es von dort nicht zu sehen ist. Da auf dem Hof ging es nicht, lieber Freund; es ist eine kitzlige Sache; und sie waren auch selbst heimlich hergekommen. Ich habe das auch in der Hauptsache um ihretwillen getan . . .«

»Na, sehen Sie, lieber Onkel, da bin ich also gekommen!« begann ich in dem Wunsche, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben und so schnell wie möglich zur Hauptsache zu gelangen. »Ich muß Ihnen gestehen, Ihr Brief hat mich dermaßen in Erstaunen versetzt, daß ich . . .«

»Lieber Freund, kein Wort davon!« unterbrach mich der Onkel; er schien einen Schreck bekommen zu haben und sprach sogar leiser. »Später, später wird sich alles aufklären. Ich habe vielleicht dir gegenüber eine Schuld auf mich geladen, vielleicht sogar eine große Schuld . . .«

»Sie hätten mir gegenüber eine Schuld auf sich geladen, lieber Onkel?«

»Später, später, lieber Freund, später! All das wird seine Aufklärung finden. Aber was du für ein prächtiger Bursche geworden bist! Du lieber Mensch du! Und wie ich dich erwartet habe! Ich wollte dir sozusagen mein Herz ausschütten . . . du bist ein Gelehrter; du bist der einzige Mensch, den ich habe . . . du und Korowkin. Ich muß dich darauf aufmerksam machen, daß hier alle auf dich böse sind. Sieh dich vor; benimm dich recht vorsichtig; sei auf der Hut!«

»Böse auf mich?« fragte ich und sah den Onkel erstaunt an, da ich nicht begriff, wodurch ich Leute erzürnt haben könne, die ich überhaupt nicht kannte. »Böse auf mich?«

»Ja, auf dich, lieber Freund. Was ist zu machen? Foma Fomitsch ist nun einmal ein bißchen . . . na, und Mama folgt seinem Beispiel. Überhaupt, sei vorsichtig, respektvoll, widersprich nicht, vor allem aber sei respektvoll . . .«

»Gegen Foma Fomitsch soll ich respektvoll sein, lieber Onkel?«

»Was soll man machen, mein Freund? Ich verteidige ihn ja nicht. Er hat vielleicht wirklich seine Fehler; und gerade jetzt, in diesem Augenblick . . . Ach, lieber Sergej, wie mich das alles beunruhigt! Wenn sich das doch alles in Ordnung bringen ließe und wir alle zufrieden und glücklich lebten! . . . Aber freilich, wer ist ohne Fehler? Wir sind ja nicht von Gold!«

»Aber ich bitte Sie, lieber Onkel! Bedenken Sie doch nur, was er tut . . .«

»Ach, lieber Freund, es ist ja alles nur leeres Gezänk und weiter nichts! Da will ich dir zum Beispiel etwas erzählen: jetzt ist er auf mich böse, und was meinst du wohl, warum? . . . Übrigens bin ich vielleicht selbst mit daran schuld. Ich werde es dir lieber ein andermal erzählen . . .«

»Wissen Sie, lieber Onkel, ich bin zu einer eigenartigen Auffassung gelangt«, unterbrach ich ihn, da ich es eilig hatte, meine Auffassung auszusprechen. Auch hatten wir es alle beide eilig. »Erstens ist er Possenreißer gewesen; das hat ihn verbittert, gebeugt, ihm seine Ideale zerstört; und so hat sich denn bei ihm ein krankhafter Ingrimm herausgebildet, ein Verlangen, sich sozusagen an der ganzen Menschheit zu rächen . . . Aber wenn man ihn mit der Menschheit versöhnen, seine bessere Natur wiederherstellen könnte . . .«

»Richtig, richtig!« rief mein Onkel ganz entzückt; »ganz richtig! Ein ausgezeichneter Gedanke! Wir müßten uns schämen, und es wäre unedel von uns, wenn wir ihn verdammen wollten! Ganz richtig! . . . Ach, mein Freund, du verstehst mich; du hast mir Trost gebracht! Wenn doch bloß dort alles wieder in Ordnung käme! Weißt du, ich fürchte mich sogar, mich dort zu zeigen. Da bist du nun angekommen, und ich werde dafür mit Sicherheit gehörig etwas abkriegen!«

»Lieber Onkel, wenn es so ist . . .«, begann ich, durch dieses Geständnis in arge Verlegenheit versetzt.

»Nein, nein, nein! Um keinen Preis in der Welt!« rief er und ergriff meine Hände. »Du bist mein Gast, und ich will es so!«

Alles dies erregte mein größtes Erstaunen.

»Lieber Onkel, sagen Sie mir doch gleich«, begann ich in energischem Tone, »warum Sie mich hergerufen haben. Was erhoffen Sie von mir, und vor allem: inwiefern haben Sie mir gegenüber eine Schuld auf sich geladen?«

»Mein Freund, frage nicht danach! Später, später! Alles dies wird später seine Aufklärung finden! Ich habe mich vielleicht in vieler Hinsicht schuldig gemacht; aber ich wollte wie ein ehrenhafter Mensch verfahren, und . . . und . . . du wirst sie heiraten! Du wirst sie heiraten, wenn du nur einen Funken edler Gesinnung besitzt!« fügte er hinzu; er errötete über das ganze Gesicht infolge einer Empfindung, die ihn plötzlich überkam, und drückte mir entzückt und kräftig die Hand. »Aber genug; kein Wort mehr! Du wirst bald alles erfahren. Alles wird von dir abhängen . . . Die Hauptsache ist, daß du jetzt dort gefällst und einen guten Eindruck machst. Vor allem: werde nicht verlegen!«

»Aber hören Sie, lieber Onkel, wer ist denn da bei Ihnen? Ich muß gestehen, ich habe mich so wenig in Gesellschaft bewegt, daß . . .«

»Daß du ein bißchen Bange hast?« unterbrach mich der Onkel lächelnd. »Ach, dazu ist kein Grund! Es sind lauter Verwandte und gute Bekannte; nur Courage! Vor allem habe Courage und fürchte dich nicht! Ich selbst fürchte mich etwas um deinetwillen. Wer da bei uns ist, fragst du? Ja, wer ist denn bei uns? Erstens Mama«, begann er eilig. »Du erinnerst dich wohl noch an Mama? Eine sehr gutherzige, vornehm denkende alte Dame; ohne Ansprüche, kann man sagen; ein bißchen altmodisch; aber das ist gerade nett. Na, weißt du, manchmal hat sie so wunderliche Anschauungen und redet so ein bißchen eigentümlich; mir ist sie jetzt böse; aber ich bin selbst schuld daran; ich weiß, daß ich daran schuld bin! Na, schließlich – sie ist ja, was man nennt, eine grande dame, eine Generalin . . . ihr Mann war ein ganz vortrefflicher Mensch: erstens war er General, ein gebildeter Mensch; Vermögen hinterließ er nicht; aber dafür war er ganz mit Wunden bedeckt; kurz, er hatte sich die allgemeine Achtung erworben! Dann Fräulein Perepelizyna. Nun ja, die . . . ich weiß nicht . . . in der letzten Zeit war sie so merkwürdig . . . so ein eigenartiger Charakter . . . Aber freilich, man darf nicht über einen jeden den Stab brechen . . . Na, ich will ihr nichts Schlechtes nachsagen . . . Glaube nur nicht, daß sie so eine Schmarotzerin wäre. Sie ist selbst eine Oberstleutnantstochter, lieber Freund. Mamas Busenfreundin! Dann, mein Bester, ist da meine Schwester Praskowja Iljinitschna. Na, von der brauche ich nicht viel zu sagen: ein schlichtes, gutherziges Wesen; etwas zu geschäftig und neugierig; aber dafür hat sie ein prächtiges Herz! Sieh du nur besonders auf das Herz; sie ist ein altes Jüngferchen; aber, weißt du, dieser wunderliche Kauz, der Bachtschejew, macht ihr anscheinend den Hof und will sich um sie bewerben. Aber schweig davon; es ist ein großes Geheimnis! Na, wer ist denn noch von unseren Leuten da? Von den Kindern rede ich nicht; du wirst sie ja selbst sehen. Ilja hat morgen seinen Namenstag . . . Ja, halt! Beinah hätte ich das vergessen: es logiert bei uns, siehst du, schon einen ganzen Monat lang Iwan Iwanowitsch Misintschikow; er ist ja wohl dein Vetter dritten Grades; ja, ganz richtig, dritten Grades. Er hat vor kurzem als Husarenleutnant seinen Abschied genommen; er ist ein noch junger Mann. Eine herrliche Seele! Aber, weißt du, er hat sein Vermögen so durchgebracht, daß ich gar nicht begreife, wie er das so schnell fertiggekriegt hat. Übrigens, viel hat er nicht besessen; aber er hat es durchgebracht und Schulden gemacht. Jetzt wohnt er bei mir. Ich hatte bis dahin überhaupt nichts von ihm gewußt; er kam an und stellte sich selbst vor. Ein liebenswürdiger, gutmütiger, friedlicher, respektvoller Mensch. Bis jetzt hat ihn noch keiner reden hören. Er schweigt immer. Foma hat ihm spottweise den Spitznamen ›der schweigsame Unbekannte‹ gegeben; aber er macht sich nichts daraus; er nimmt es nicht übel. Foma ist mit ihm zufrieden; er sagt von Iwan, es sei nicht viel mit ihm los. Übrigens widerspricht ihm Iwan nie und stimmt ihm in allen Dingen bei. Hm! Er ist so niedergeschlagen . . . Na, Gott helfe ihm auf! Du wirst ja selbst sehen. Dann sind da noch Gäste aus der Stadt: Pawel Semjonowitsch Obnoskin mit seiner Mutter; ein junger Mensch, aber außerordentlich vernünftig; er hat so etwas Gereiftes, weißt du, Unerschütterliches . . . Ich kann mich nur nicht so recht ausdrücken. Und außerdem ist er von einer hervorragenden Sittsamkeit und hat strenge moralische Grundsätze! Na, und endlich logiert bei uns noch, siehst du, eine gewisse Tatjana Iwanowna; sie wird wohl ganz entfernt mit uns verwandt sein; du kennst sie nicht; sie ist unverheiratet, nicht mehr jung, das muß man zugeben; aber – ein angenehmes Mädchen; sie ist so reich, lieber Freund, daß sie zwei solche Güter wie Stepantschikowo kaufen könnte; sie hat erst kürzlich geerbt; bis dahin führte sie ein klägliches Leben. Behandle sie bitte recht behutsam, lieber Sergej: sie hat etwas Krankhaftes . . . weißt du, etwas Exaltiertes in ihrem Charakter. Na, du bist ja ein edeldenkender Mensch und wirst dafür Verständnis haben; weißt du, sie hat viel Unglück durchgemacht! Denke übrigens nichts Schlimmes von ihr! Gewiß, sie hat ihre Schwächen: sie spricht zu schnell, verhaspelt sich manchmal, trifft nicht das richtige Wort; nicht daß sie löge, glaube das nicht . . . das alles, lieber Freund, kommt bei ihr sozusagen aus einem reinen, edlen Herzen; das heißt, wenn sie wirklich etwas hinzulügt, so tut sie das doch einzig und allein aus übermäßigem Edelsinn ihres Herzens – du verstehst?«

Es schien mir, daß der Onkel schrecklich verlegen geworden war.

»Hören Sie, lieber Onkel«, sagte ich, »ich habe Sie so herzlich lieb . . . verzeihen Sie mir eine offenherzige Frage: werden Sie eine dieser Damen heiraten?«

»Von wem hast du denn so etwas gehört?« antwortete er und wurde dabei rot wie ein Kind. »Siehst du, mein Freund, ich will dir alles auseinandersetzen. Erstens werde ich nicht heiraten. Mama, zum Teil auch meine Schwester und ganz besonders Foma Fomitsch, den Mama vergöttert (und mit Grund, mit Grund; denn er hat viel für sie getan), die wollen alle, daß ich ebendiese Tatjana Iwanowna heiraten soll, aus Vernunftgründen, das heißt zum Segen für die Familie. Gewiß, sie wünschen ja nur mein Bestes, das sehe ich ein; aber ich will um keinen Preis heiraten; das habe ich mir fest vorgenommen. Trotzdem habe ich es nicht verstanden, auf den Vorschlag zu antworten: ich habe weder Ja noch Nein gesagt. Das geht mir immer so, lieber Freund. Sie haben gedacht, ich sei einverstanden, und wollen nun durchaus, daß ich ihr morgen bei dem Familienfest einen Antrag machen soll . . . und so stehen mir denn für morgen solche Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten bevor, daß ich gar nicht weiß, was ich anfangen soll! Überdies ist Foma Fomitsch auf mich böse, ich weiß nicht warum, und Mama ebenfalls. Ich muß dir gestehen, lieber Freund, ich habe dich und Korowkin sehnsüchtig erwartet . . . ich wollte euch mein Herz ausschütten, sozusagen . . .«

»Aber inwiefern wird Ihnen denn Korowkin helfen, lieber Onkel?«

»Er wird mir helfen, lieber Freund, er wird mir helfen. Er ist dazu imstande; mit einem Wort: er ist ein Mann der Wissenschaft! Ich setze meine Hoffnung auf ihn wie auf einen Felsenberg; er hat so etwas Sieghaftes an sich! Wie er über das Glück des Familienlebens reden kann! Ich muß gestehen, auch auf dich habe ich gehofft; ich dachte, du wirst sie schon zur Vernunft bringen. Sage doch selbst: nun ja, allerdings, ich habe mich schuldig gemacht, ich habe mich tatsächlich schuldig gemacht; das sehe ich alles ein; ich bin ja nicht unverständig und gefühllos. Na, aber sie könnten mir doch auch endlich einmal verzeihen! Was würden wir dann für ein Leben führen! . . . Ach, lieber Freund, wie ist meine Alexandra herangewachsen; sie könnte gleich vor den Traualtar treten! Und was für ein hübscher Bursche ist mein Ilja geworden! Morgen feiert er seinen Namenstag. Meine heißblütige Alexandra macht mir einige Sorge . . . ja, ja!«

»Lieber Onkel, wo ist denn mein Koffer? Ich werde mich umkleiden und sogleich dort erscheinen, und dann . . .«

»Im Zwischengeschoß, lieber Freund, im Zwischengeschoß. Ich hatte schon im voraus Befehl gegeben, dich, sobald du ankämest, geradeswegs nach dem Zwischengeschoß zu führen, damit dich niemand sähe. Gewiß, gewiß, zieh dich um! Das ist gut, sehr schön, sehr schön! Ich aber werde inzwischen dort alle ein bißchen vorbereiten. Na, Gott möge uns helfen! Weißt du, lieber Freund, man muß schlau vorgehen. Man wird, ob man nun will oder nicht, zu einem Talleyrand. Nun, das schadet nichts! Dort sind sie jetzt beim Teetrinken. Der Tee wird bei uns früh getrunken; denn Foma Fomitsch trinkt ihn gern, gleich wenn er vom Mittagsschläfchen aufwacht; und das ist ja auch besser, weißt du . . . Na, dann will ich also hingehen, und du komm mir nur möglichst bald nach; laß mich nicht allein; es ist mir unbehaglich, lieber Freund, wenn ich da so mit ihnen allein bin . . . Ja! Warte! Da habe ich noch eine Bitte; schilt mich dort nicht, wie du es soeben hier getan hast, ja? Wenn du mir eine tadelnde Bemerkung machen willst, so tue es nachher, hier, unter vier Augen; aber bis dahin beherrsche dich und warte! Ich bin dort sowieso schon unten durch. Sie sind auf mich böse . . .«

»Hören Sie, lieber Onkel, nach allem, was ich gesehen und gehört habe, scheint es mir, daß Sie . . .«

»Eine Nachtmütze sind, nicht wahr? Sprich es nur ruhig aus!« unterbrach er mich ganz unerwartet. »Was soll ich tun, lieber Freund? Ich weiß das ja auch selbst. Na, also, du wirst kommen? Bitte, komm so bald wie möglich!«

Als ich nach oben gekommen war, öffnete ich eilig meinen Koffer, um mich nach der Weisung meines Onkels möglichst schnell nach unten zu begeben. Beim Umkleiden wurde mir klar, daß ich von dem, was ich erfahren wollte, noch fast nichts wußte, obwohl mein Gespräch mit dem Onkel eine ganze Stunde gedauert hatte. Das frappierte mich. Nur eines war mir einigermaßen klar: der Onkel wünschte immer noch energisch, daß ich heiraten möchte; folglich waren alle gegenteiligen Gerüchte, nämlich daß der Onkel in ebendiese junge Person selbst verliebt sei, unzutreffend. Ich erinnere mich, daß ich mich in großer Unruhe befand. Unter anderm kam mir der Gedanke, daß ich durch meine Ankunft und durch mein Schweigen dem Onkel gegenüber beinahe ein Versprechen erteilt, mein Wort gegeben und mich für das ganze Leben gebunden hatte. ›So leicht ist es‹, dachte ich, ›ein Wort zu sagen, das einen dann lebenslänglich an Händen und Füßen bindet. Und dabei habe ich das junge Mädchen noch nicht einmal gesehen!‹ Und dann wieder fragte ich mich: ›Woher denn diese Feindschaft der ganzen Familie gegen mich? Was veranlaßt sie alle, nach der Versicherung des Onkels, meine Ankunft mit so mißgünstigen Blicken anzusehen? Und was für eine sonderbare Rolle spielt mein Onkel selbst hier in seinem eigenen Haus? Woher sein geheimnisvolles Benehmen? Woher all seine Angst und Pein?‹ Ich muß gestehen, daß das alles mir auf einmal als völliger Nonsens erschien; meine romantischen, heroischen Träumereien aber waren beim ersten Zusammenstoß mit der Wirklichkeit gänzlich zerstoben. Erst jetzt, nach dem Gespräch mit meinem Onkel, trat mir die ganze Ungereimtheit, die ganze Absurdität seines Vorschlags vor Augen, und ich sagte mir, daß einen solchen Vorschlag unter solchen Umständen eben nur mein Onkel zu machen fähig war. Ich sagte mir ferner, daß auch ich selbst, der ich auf seine erste Aufforderung hin im Entzücken über seinen Vorschlag Hals über Kopf hierhergejagt war, sehr viel Ähnlichkeit mit einem Dummkopf hatte. Ich kleidete mich eilig um und war dabei so stark mit meinen unruhigen Gedanken beschäftigt, daß ich anfänglich den Diener, der mir behilflich war, gar nicht bemerkte.

»Belieben Sie die adelaidenfarbene Krawatte anzulegen oder diese kleinkarierte?« fragte der Diener auf einmal, indem er sich mit außerordentlich gekünstelter Höflichkeit an mich wandte.

Ich sah ihn an und hatte den Eindruck, daß auch er Beachtung verdiente. Er war ein noch junger Mann, für einen Diener sehr schön gekleidet, nicht schlechter als mancher Stutzer in einer Gouvernementsstadt. Der braune Frack, die weißen Beinkleider, die strohgelbe Weste, die Halbstiefel von Lackleder und die rosa Krawatte waren augenscheinlich mit besonderer Sorgfalt ausgewählt. Alles dies mußte den Beschauer sofort auf den feinen Geschmack des jungen Elegants aufmerksam machen. Die Uhrkette war zweifellos zu gleichem Zweck sehr sichtbar angebracht. Sein Gesicht war blaß, ja grünlich, die Nase groß, gebogen, schmal und ungewöhnlich weiß, als wäre sie von Porzellan. Das Lächeln auf seinen schmalen Lippen brachte eine gewisse Traurigkeit, eine feine Traurigkeit zum Ausdruck. Die großen, vorstehenden, gläsern aussehenden Augen hatten einen außerordentlich stumpfen Blick; aber doch leuchtete aus ihnen gleichzeitig ebenjene Feinheit heraus. Seine dünnen, weichen Ohren waren um der Feinheit willen mit Watte zugestopft. Das lange, hellblonde, dünne Haar war in Locken gedreht und pomadisiert. Seine kleinen Hände waren weiß und sauber und wohl mit Rosenwasser gewaschen; die Finger endeten mit stutzerhaften, langen, rosafarbenen Nägeln. All das zeugte von Verwöhnung, Geckenhaftigkeit und Vermeidung gröberer Arbeit. Er lispelte und sprach nach neuester Mode das R nicht richtig aus, richtete die Augen abwechselnd nach oben und nach unten und seufzte und kokettierte in einer unglaublichen Weise. Er duftete nach Parfüm. Er war von kleiner Statur, schwächlich und welk und knickte beim Gehen in eigentümlicher Weise ein, wahrscheinlich weil er darin die höchste Feinheit sah, – kurz, er war ganz von Feinheit, auserlesenem Geschmack und einem außerordentlichen Gefühle der eigenen Würde durchtränkt. Letzterer Umstand mißfiel mir sehr stark, ohne daß ich mir über den Grund hätte Rechenschaft geben können.

»Also diese Krawatte ist adelaidenfarben?« fragte ich und sah den jungen Diener ernst an.

»Jawohl, adelaidenfarben«, antwortete er, ohne sich in seinem feinen Benehmen beirren zu lassen.

»Aber gibt es keine Agrafena-Farbe?«

»Nein; eine solche Farbe kann es gar nicht geben.«

»Warum denn nicht?«

»Weil Agrafena ein unfeiner Name ist.«

»Wieso unfein? Warum?«

»Nun, das ist klar: Adelaida ist wenigstens ein ausländischer Name und hat dadurch einen edlen Klang; aber Agrafena kann jedes Weib aus den niedrigsten Ständen heißen.«

»Du hast wohl den Verstand verloren?«

»Durchaus nicht; ich bin bei vollem Verstand. Allerdings steht es ganz in Ihrem Belieben, mich in jeder erdenklichen Weise zu schelten; aber viele Generale und sogar mehrere Grafen in der Residenz sind mit meiner Redeweise zufrieden gewesen.«

»Wie heißt du denn?«

»Widopljassow.«

»Ah! Also du bist Widopljassow?«

»Ganz richtig.«

»Nun, warte nur, lieber Freund; wir werden uns auch noch näher kennenlernen.«

»Das ist ja hier fast so, als ob man in Bedlam wäre« dachte ich bei mir, während ich nach unten ging.

IV

Beim Tee

Das Teezimmer war ebenjenes Zimmer, von dem aus man auf die Terrasse kam, wo ich vorhin Gawrila getroffen hatte. Die geheimnisvollen Voraussagen meines Onkels über den mir bevorstehenden Empfang beunruhigten mich sehr. Die Jugend ist manchmal maßlos eitel, und diese jugendliche Eitelkeit ist fast immer mit Feigheit gepaart. Man kann sich daher denken, wie unangenehm mir der folgende Vorfall war. Kaum war ich in die Tür getreten und hatte die ganze um den Teetisch versammelte Gesellschaft überblickt, als ich über den Teppich stolperte und stark ins Schwanken geriet; zwar gelang es mir noch, das Gleichgewicht zu bewahren; aber ich flog doch in recht unerwarteter Weise mitten ins Zimmer hinein. Vollkommen bestürzt, als hätte ich mit einem Mal meine ganze Karriere verdorben und meine Ehre und meinen guten Namen verloren, stand ich regungslos da, wurde rot wie ein Krebs und starrte gedankenlos die Anwesenden an. Ich erwähne diesen an sich ganz unerheblichen Vorfall einzig deswegen, weil er großen Einfluß auf meine Gemütsstimmung für fast den ganzen Rest jenes Tages und somit auch auf meine Beziehungen zu einigen der handelnden Personen meiner Erzählung hatte. Ich versuchte, eine Verbeugung zu machen, führte dies aber nicht bis zu Ende durch, sondern stürzte, noch tiefer errötend, auf meinen Onkel zu und ergriff seine Hand.

»Guten Tag, lieber Onkel«, sagte ich, mühsam atmend; ich hatte zwar etwas ganz anderes, weit Geistreicheres sagen wollen; aber unversehens brachte ich nur dieses ›Guten Tag‹ heraus.

»Guten Tag, guten Tag, lieber Freund!« antwortete mein Onkel, dem ich offenbar leid tat; »wir haben uns ja schon begrüßt. Sei nur nicht verlegen!« fügte er flüsternd hinzu; »das kann jedem passieren, und es ging ja noch glücklich ab! Mancher fällt dabei längelang hin! . . . Nun, aber jetzt, Mama, gestatten Sie, daß ich Ihnen unsern jungen Mann hier vorstelle; er ist ein bißchen verlegen geworden; aber Sie werden ihn sicherlich liebgewinnen. Mein Neffe Sergej Alexandrowitsch«, fügte er, sich zu allen insgesamt wendend, hinzu.

Aber bevor ich in der Erzählung fortfahre, möge mir der liebenswürdige Leser gestatten, ihm die ganze Gesellschaft, in die ich so plötzlich hereingeschneit war, mit Namen vorzustellen. Das ist sogar für das richtige Verständnis der Erzählung notwendig.

Die ganze Gesellschaft bestand aus mehreren Damen und nur zwei Herren, wenn ich mich und den Onkel nicht mitzähle. Foma Fomitsch, den ich so sehr zu sehen wünschte und der, wie ich schon damals fühlte, der allmächtige Herrscher des ganzen Hauses war, befand sich nicht im Zimmer: er glänzte durch Abwesenheit, und es schien, als habe er alle Helligkeit aus dem Zimmer mit sich fortgenommen. Alle waren ernst und düster. Das mußte einem beim ersten Blicke auffallen; wie verwirrt und verlegen ich auch selbst in diesem Augenblick war, so sah ich doch, daß zum Beispiel mein Onkel beinah ebenso verlegen war wie ich, obwohl er die größten Anstrengungen machte, seine Unruhe unter scheinbarer Zwanglosigkeit zu verbergen. Es lastete gleichsam ein schwerer Stein auf seinem Herzen. Einer der beiden im Zimmer anwesenden Männer war noch recht jung, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, ebenjener Obnoskin, von dem mein Onkel vorher gesprochen hatte, indem er seinen Verstand und seine Moral lobte. Dieser Herr mißfiel mir außerordentlich; alles an ihm ließ einen gewissen Schick, gleichzeitig aber auch schlechten Geschmack erkennen; sein Anzug machte trotz des Schicks einen schäbigen, kümmerlichen Eindruck; auch in seinem Gesicht lag etwas Schäbiges. Sein hellblonder, dünner Schnurrbart und sein mißlungenes, flockiges Kinnbärtchen waren augenscheinlich dazu bestimmt, einen selbständig und vielleicht freigeistig denkenden Menschen erkennen zu lassen. Er kniff fortwährend die Augen zusammen, lächelte in einer gekünstelt giftigen Manier, rutschte auf seinem Stuhl herum und sah mich alle Augenblicke durch seine Lorgnette an, ließ dieselbe aber, sobald ich mich ihm zuwandte, sofort sinken, als ob er Angst bekäme. Der andere Herr, ebenfalls ein noch junger Mann von etwa achtundzwanzig Jahren, war mein entfernter Vetter Misintschikow. Er war tatsächlich außerordentlich schweigsam. Beim Tee sprach er die ganze Zeit über auch nicht eine Silbe und lachte nicht mit, wenn alle andern lachten; aber ich nahm an ihm durchaus nicht jene Niedergeschlagenheit wahr, die mein Onkel an ihm gesehen hatte; im Gegenteil bekundete der Blick seiner hellbraunen Augen einen festen, bestimmten Charakter. Misintschikow hatte einen dunklen Teint, schwarzes Haar und war recht hübsch; er war sehr anständig gekleidet, wie ich nachher erfuhr, auf Kosten meines Onkels. Von den Damen fiel mir vor allen Fräulein Perepelizyna durch ihr ungewöhnlich boshaftes, blutleeres Gesicht auf. Sie saß neben der Generalin (von der später besonders die Rede sein wird), aber nicht in einer Reihe mit ihr, sondern aus Respekt etwas zurück; alle Augenblicke bog sie sich zu ihrer Gönnerin hin und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Zwei oder drei bejahrte arme Klientinnen saßen völlig stumm in einer Reihe am Fenster, warteten in aller Ergebenheit darauf, daß ihnen Tee gereicht werde, und blickten die Generalin mit weitaufgerissenen Augen an. Mein Interesse erregte auch eine dicke, ganz auseinandergegangene Dame von ungefähr fünfzig Jahren; sie war sehr geschmacklos und grellfarben gekleidet, anscheinend geschminkt und hatte fast keine Zähne mehr; an deren Stelle ragten in ihrem Munde nur einige schwärzliche, abgebrochene Stummel hervor; dies hinderte sie aber nicht, mit gezierter Stimme zu sprechen, die Augen zusammenzukneifen, sich mit modischer Affektiertheit zu benehmen und sogar zu kokettieren. Sie war mit einer Menge Kettchen behängt und richtete, ebenso wie Monsieur Obnoskin, fortwährend ihre Lorgnette auf mich. Dies war seine Mutter. Die stille, friedliche Praskowja Iljinitschna, meine Tante, goß den Tee ein. Sie hatte offenbar die größte Lust, mich nach der langen Trennung zu umarmen und selbstverständlich dabei zu weinen; aber sie wagte es nicht. Alles hier schien sich unter einem Banne zu befinden. Neben ihr saß ein sehr hübsches, schwarzäugiges, fünfzehnjähriges Mädchen, das mich unverwandt mit kindlicher Neugier betrachtete, meine Kusine Alexandra. Endlich und vielleicht am allermeisten fiel mir noch eine sehr seltsame Dame auf, welche luxuriös und sehr jugendlich gekleidet war, obwohl sie keineswegs mehr zur Jugend gehörte, sondern mindestens fünfunddreißig Jahre alt sein mochte. Ihr Gesicht war sehr mager, blaß und vertrocknet, wirkte aber überaus enthusiastisch. Eine helle Röte erschien alle Augenblicke auf ihren blassen Wangen, fast bei jeder Gemütsbewegung, bei jeder Erregung. In Erregung war sie ununterbrochen; sie rutschte auf ihrem Stuhl herum und schien nicht imstande zu sein, auch nur einen Augenblick ruhig zu sitzen. Sie betrachtete mich mit größter Neugier und bog sich fortwährend zu Alexandra oder ihrer anderen Nachbarin hinüber, um diesen etwas ins Ohr zu flüstern, und brach dann immer sogleich in ein sehr gutherziges, kindlich vergnügtes Gelächter aus. Aber all ihr seltsames Gebaren zog zu meiner Verwunderung niemandes Aufmerksamkeit auf sich, als wäre das vorher abgesprochen worden. Ich erriet, daß dies Tatjana Iwanowna war, ebendie Dame, die nach dem Ausdrucke meines Onkels etwas Exaltiertes an sich hatte, die man ihm zur Braut bestimmt hatte und der fast alle im Hause wegen ihres Reichtums den Hof machten. Übrigens gefielen mir ihre blauen, sanften Augen, und obgleich um diese Augen herum schon kleine Fältchen sichtbar waren, so war doch der Blick derselben so harmlos, heiter und gutmütig, daß es eine besonders angenehme Empfindung war, ihm zu begegnen. Von dieser Tatjana Iwanowna, einer der wirklichen ›Heldinnen‹ meiner Erzählung, werde ich später ausführlicher sprechen; ihre Biographie ist sehr interessant.

Etwa fünf Minuten nach meinem Erscheinen im Teezimmer kam aus dem Garten ein sehr hübscher Knabe hereingelaufen, mein Vetter Ilja, dessen Namenstag morgen gefeiert werden sollte; seine beiden Taschen waren mit Knöcheln zum Spielen vollgestopft, und in der Hand trug er einen Brummkreisel. Hinter ihm trat ein junges, schlankes Mädchen ein, das etwas blaß und anscheinend müde, aber sehr hübsch war. Sie überflog alle mit einem forschenden, mißtrauischen und sogar ängstlichen Blick, sah mich durchdringend an und setzte sich neben Tatjana Iwanowna. Ich erinnere mich, daß mein Herz unwillkürlich stark zu klopfen begann: ich erriet, daß dies eben jene Gouvernante war. Ich erinnere mich auch, daß der Onkel bei ihrem Erscheinen mir auf einmal einen schnellen Blick zuwarf, über und über errötete, dann sich bückte, den kleinen Ilja auf den Arm nahm und ihn zu mir trug, damit ich ihn küßte. Ich bemerkte ferner, daß Madame Obnoskina zuerst starr meinen Onkel ansah und dann ihre Lorgnette mit einem spöttischen Lächeln auf die Gouvernante richtete. Der Onkel war sehr verlegen, und da er nicht wußte, was er tun sollte, wollte er Alexandra herbeirufen, um sie mit mir bekannt zu machen; aber diese stand nur auf und machte mir schweigend und mit würdevollem Ernst einen Knicks. Dies gefiel mir übrigens sehr, weil es ihr gut stand. Im selben Augenblick konnte die gute Tante Praskowja Iljinitschna sich nicht länger beherrschen, unterbrach das Teeeingießen und eilte zu mir, um mich zu küssen; aber ich hatte noch nicht zwei Worte zu ihr sagen können, als schon Fräulein Perepelizynas scharfe, kreischende Stimme ertönte: »Praskowja Iljinitschna, Sie scheinen die Mama« (die Generalin) »ganz vergessen zu haben; die Mama hat Tee verlangt; aber Sie gießen nicht ein, und sie muß warten.« So verließ mich denn Praskowja Iljinitschna und kehrte eiligst zu ihren pflichtmäßigen Obliegenheiten zurück. Diese Generalin, die wichtigste Person in diesem ganzen Kreis, der alle auf den leisesten Wink parierten, war eine hagere, böse alte Dame, die ganz in Schwarz gekleidet war; ihre Bosheit rührte übrigens hauptsächlich von ihrem Alter und von dem Verluste der letzten geistigen Fähigkeiten her, deren sie auch früher nicht allzu viele besessen hatte. Früher war sie nur launisch gewesen; aber die Rangerhöhung zur Generalin hatte sie noch dümmer und hochmütiger gemacht. Wenn sie sich ärgerte, glich das ganze Haus einer Hölle. Sie hatte zwei Arten, sich zu ärgern. Die erste Art war die schweigsame, wobei die alte Frau ganze Tage lang ihren Mund nicht auftat, hartnäckig schwieg und alles, was vor sie hingestellt wurde, wegstieß und manchmal sogar auf den Fußboden warf. Die andere Art war die völlig entgegengesetzte: die wortreiche. Es begann gewöhnlich damit, daß die Großmutter (sie war ja doch meine Großmutter) in ungewöhnliche Melancholie versank, den Untergang der Welt und ihrer ganzen Wirtschaft erwartete, Armut und alles mögliche Unglück voraussah, sich an ihren eigenen Prophezeiungen begeisterte, die bevorstehenden Leiden an den Fingern aufzählte und bei diesem Herrechnen in eine Art von frenetischem Jähzorn geriet. Natürlich erklärte sie, sie habe das alles schon längst vorhergesehen und nur deshalb geschwiegen, weil man sie ›in diesem Hause‹ mit Gewalt zum Schweigen zwinge. Aber wenn man sie nur respektieren und rechtzeitig auf sie hören wollte, dann und so weiter und so weiter. Alles dies wurde sofort von der Schar der armen Klientinnen und von Fräulein Perepelizyna als durchaus richtig anerkannt und schließlich von Foma Fomitsch feierlich bestätigt. In jenem Augenblick, als ich ihr vorgestellt wurde, war sie furchtbar zornig, und zwar, wie es schien, auf die erste, die schweigsame Manier, welche die schrecklichere der beiden war. Alle blickten voller Angst zu ihr hin. Nur Tatjana Iwanowna, der geradezu alles nachgesehen wurde, war in vorzüglicher Stimmung. Der Onkel führte mich in besonderer Absicht und sogar mit einer gewissen Feierlichkeit zur Großmutter hin; aber diese schnitt ein verdrießliches Gesicht und stieß ärgerlich ihre Tasse von sich.

»Ist das jener Vol-ti-geur?« wandte sie sich, kaum den Mund öffnend, in gedehntem Tone an Fräulein Perepelizyna.

Diese dumme Frage brachte mich vollständig aus der Fassung. Ich begriff nicht, warum sie mich einen Voltigeur nannte. Aber solche Fragen waren bei ihr noch nicht das Schlimmste. Fräulein Perepelizyna neigte sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr; aber die Alte winkte ärgerlich ab. Ich stand mit offenem Munde da und sah den Onkel fragend an. Alle wechselten Blicke miteinander; und Obnoskin grinste sogar, was mir höchlichst mißfiel.

»Sie verspricht sich manchmal, lieber Freund«, flüsterte mir der Onkel zu, der ebenfalls etwas betroffen war; »aber das hat nichts zu bedeuten; sie meint es nicht schlimm; es kommt aus gutem Herzen. Sieh nur vor allem auf das Herz!«

»Ja, das Herz, das Herz!« erscholl auf einmal die helle Stimme Tatjana Iwanownas, die während der ganzen Zeit ihren Blick nicht von mir gewandt hatte und nicht ruhig auf ihrem Platz sitzen konnte; wahrscheinlich war das geflüsterte Wort ›Herz‹ an ihr Ohr gedrungen.

Aber sie sprach nicht zu Ende, obwohl sie offenbar Lust hatte, noch etwas zu sagen. War sie nun verlegen geworden oder hatte sie irgendeinen andern Grund, genug, sie verstummte auf einmal, wurde dunkelrot, beugte sich schnell zu der Gouvernante hin, flüsterte ihr etwas ins Ohr und brach plötzlich, den Mund mit einem Taschentuch bedeckend und sich gegen die Lehne des Sessels zurückwerfend, in ein krampfhaftes Gelächter aus. In größtem Erstaunen blickte ich alle ringsum an; aber zu meiner Verwunderung waren sie alle ganz ernst und machten Gesichter, als hätte sich nichts Besonderes ereignet. Ich begriff nun natürlich, was mit Tatjana Iwanowna los war. Endlich wurde mir Tee gereicht, und ich konnte mich ein wenig sammeln. Ich weiß nicht warum, aber ich glaubte auf einmal, ich sei verpflichtet, ein recht liebenswürdiges Gespräch mit den Damen anzuknüpfen.

»Sie hatten recht, lieber Onkel«, begann ich, »als Sie mir vorhin prophezeiten, es sei leicht möglich, daß ich verlegen werden würde. Ich gestehe offenherzig (wozu soll ich es verbergen?)«, fuhr ich fort, indem ich mich mit einem einschmeichelnden Lächeln an Madame Obnoskina wandte, »daß ich mich bisher fast noch gar nicht in Damengesellschaft bewegt habe, und als mir jetzt bei meinem Eintritt jenes Mißgeschick begegnete, da hatte ich die Empfindung, daß meine theatralische Stellung mitten im Zimmer wohl sehr lächerlich sei und einigermaßen an den ›Weichling‹ erinnere; nicht wahr? Sie haben gewiß den ›Weichling‹ gelesen?« schloß ich. Ich war immer mehr in Verwirrung geraten, errötete über meine schmeichlerische Offenherzigkeit und blickte drohend Monsieur Obnoskin an, der mich immer noch grinsend von Kopf bis Fuß musterte.

»Richtig, richtig, richtig!« rief der Onkel auf einmal mit großer Lebhaftigkeit; er freute sich aufrichtig darüber, daß das Gespräch ein bißchen in Gang kam und ich meine Fassung wiedergewonnen hatte. »Das ist noch nichts, was du da sagst, lieber Freund, daß man leicht verlegen werden kann. Na, wenn einer verlegen geworden ist, davon spricht nachher kein Mensch mehr! Aber ich, lieber Freund, habe bei meinem ersten Debüt sogar gelogen; kannst du das glauben? Nein, wirklich, Anfissa Petrowna, ich kann Ihnen sagen, es ist eine interessante Geschichte. Ich war soeben als Fähnrich eingetreten, da kam ich nach Moskau und begab mich mit einem Empfehlungsbrief zu einer sehr vornehmen Dame; das heißt, sie war sehr hochmütig, aber im Grunde wirklich herzensgut; da war nichts dagegen zu sagen. Ich kam hin und wurde empfangen. Der Salon war voller Menschen, lauter vornehmes Volk. Ich verbeugte mich und nahm Platz. Gleich beim zweiten Satz fragte sie mich: ›Haben Sie auch ein Gut, lieber Freund?‹ Nun besaß ich damals auch nicht ein einziges Huhn; was sollte ich antworten? Ich war entsetzlich verlegen. Alle sahen mich an; na, und ich war doch nur so ein armseliger Fähnrich! Nun, warum hätte ich nicht sagen können: ›Nein‹; das wäre anständig gewesen; denn ich hätte damit die Wahrheit gesagt. Aber ich brachte es nicht fertig! ›Ja‹, antwortete ich, ›hundertsiebzehn Seelen.‹ Und warum hängte ich noch diese siebzehn daran? Wenn ich denn einmal log, so hätte ich doch eine runde Zahl erfinden sollen, nicht wahr? Einen Augenblick darauf hatte sich durch meinen Empfehlungsbrief herausgestellt, daß ich kahl wie eine Kirchenmaus war und obendrein gelogen hatte! Na, was sollte ich tun? Ich machte schleunigst, daß ich davonkam, und ließ mich seitdem nie wieder dort blicken. Ich besaß ja damals noch gar nichts. Was ich jetzt habe, habe ich alles erst später bekommen: dreihundert Seelen vom Onkel Afanassi Matwejewitsch und zweihundert Seelen nebst Kapitonowka schon vorher von der Großmutter Akulina Panfilowna, zusammen etwas über fünfhundert; das ist ein schöner Besitz! Aber dem Lügen habe ich seitdem abgeschworen und lüge nicht mehr.«

»Na, ich hätte dem an Ihrer Stelle nicht abgeschworen. Gott weiß, was noch kommen kann«, bemerkte Obnoskin, spöttisch lächelnd.

»Nun ja, da haben Sie recht, da haben Sie recht! Gott weiß, was noch kommen kann«, stimmte ihm der Onkel gutmütig bei.

Obnoskin lachte laut auf und warf sich gegen die Stuhllehne zurück; seine Mama lächelte; in einer besonders widerwärtigen Weise kicherte auch Fräulein Perepelizyna; auch Tatjana Iwanowna lachte, ohne zu wissen warum, und klatschte sogar in die Hände, – kurz, ich sah klar, daß der Onkel in seinem eigenen Haus als eine Null galt. Alexandra blickte mit ingrimmig funkelnden Augen unverwandt Obnoskin an. Die Gouvernante errötete und schlug die Augen nieder. Der Onkel war erstaunt.

»Was ist denn? Was ist passiert?« fragte er und blickte uns alle verwundert an.

Diese ganze Zeit über saß mein Vetter Misintschikow etwas abseits und schwieg; er lächelte nicht einmal, als alle laut loslachten. Er trank eifrig seinen Tee, betrachtete das ganze Publikum wie ein Philosoph und schickte sich mehrmals, wie in einem Anfalle von unerträglicher Langerweile, dazu an, zu pfeifen, wahrscheinlich aus alter Gewohnheit, hielt aber jedesmal noch rechtzeitig inne. Obnoskin, der sich über meinen Onkel lustig gemacht hatte und offenbar auch gegen mich ein Attentat plante, wagte, wie es schien, nicht, Misintschikow auch nur anzusehen: das fiel mir auf. Es fiel mir auch auf, daß mein schweigsamer Vetter häufig und sogar mit sichtlicher Neugier zu mir hinüberblickte, als wollte er gern genau feststellen, was für ein Mensch ich sei.

»Ich bin davon überzeugt«, plapperte auf einmal Madame Obnoskina los, »ich bin vollständig davon überzeugt, Monsieur Serge (so war ja doch wohl Ihr Name?), daß Sie in Ihrem Petersburg kein großer Verehrer der Damen gewesen sind. Ich weiß, es gibt jetzt dort viele, sehr viele junge Leute, die sich von Damengesellschaft völlig fernhalten. Aber meiner Ansicht nach sind das lauter Freigeister. Ich kann das nur als unverzeihliche Freigeisterei bezeichnen. Und ich muß Ihnen gestehen, das setzt mich in Erstaunen, das setzt mich in Erstaunen, junger Mann, das setzt mich geradezu in Erstaunen! . . .«

»Ich habe mich überhaupt nicht in Gesellschaft bewegt«, erwiderte ich mit großer Lebhaftigkeit. »Aber das macht nichts; so glaube ich wenigstens . . . Ich habe da nur so für mich gelebt . . . aber das macht nichts, versichere ich Ihnen. Ich werde nun Bekanntschaften suchen; bisher habe ich immer zu Hause gesessen . . .«

»Er hat sich mit den Wissenschaften beschäftigt«, bemerkte mein Onkel mit stolzer Miene.

»Ach, lieber Onkel, Sie immer mit Ihren Wissenschaften! . . . Stellen Sie sich vor«, fuhr ich, mich von neuem an Madame Obnoskina wendend, in sehr ungezwungenem Ton und mit einem liebenswürdigen Schmunzeln fort, »mein teurer Onkel ist von den Wissenschaften so begeistert, daß er auf der Chaussee einen wundertätigen, praktischen Philosophen, einen Herrn Korowkin, aufgegabelt hat; und das erste, was er heute nach so vielen Jahren der Trennung zu mir sagte, war, er erwarte diesen phänomenalen Wundertäter mit sozusagen krampfhafter Ungeduld . . . selbstverständlich aus Liebe zur Wissenschaft . . .«

Und ich fing an zu kichern in der Hoffnung, als Lohn für meine witzige Bemerkung allgemeines Gelächter hervorzurufen.

»Wer ist das? Von wem spricht er?« fragte die Generalin, sich zu Fräulein Perepelizyna wendend, in scharfem Ton.

»Jegor Iljitsch hat Gäste eingeladen, Gelehrte; er fährt auf den Chausseen herum und sucht sie zusammen«, erwiderte die alte Jungfer schadenfroh mit ihrer kreischenden Stimme.

Mein Onkel war ganz verlegen geworden.

»Ach ja! Das habe ich ganz vergessen zu sagen!« rief er, indem er mir einen vorwurfsvollen Blick zuwarf. »Ich erwarte Korowkin. Er ist ein Mann der Wissenschaft, eine Koryphäe unseres Jahrhunderts . . .«

Er brach plötzlich ab und verstummte. Die Generalin hatte eine ärgerliche Handbewegung gemacht, und diesmal so erfolgreich, daß sie dabei an ihre Tasse stieß, die vom Tisch flog und zerbrach. Es entstand allgemeine Aufregung.

»So macht sie es immer, wenn sie böse wird; dann wirft sie ohne weiteres etwas auf den Fußboden«, flüsterte mir der verlegene Onkel zu. »Aber das tut sie nur, wenn sie böse ist . . . Sieh nicht hin, lieber Freund; tu, als ob du es gar nicht bemerkt hättest; sieh beiseite . . . Warum hast du aber auch von Korowkin zu reden begonnen?«

Aber ich sah ohnehin schon beiseite: ich war soeben einem Blick der Gouvernante begegnet, und es schien mir, als liege in diesem auf mich gerichteten Blick eine Art von Vorwurf, ja sogar eine gewisse Verachtung; die Röte der Entrüstung flammte hell auf ihren blassen Wangen. Ich verstand ihren Blick und erriet, daß ich durch meinen kleinlichen, häßlichen Versuch, den Onkel lächerlich zu machen, um meine eigene Lächerlichkeit ein wenig herabzumindern, in der Achtung dieses Mädchens nicht sehr gestiegen war. Ich kann gar nicht ausdrücken, wie sehr ich mich schämte!

»Ich will mit Ihnen immerzu von Petersburg sprechen«, schwatzte Anfisa Petrowna wieder weiter, sobald die durch die zerschlagene Tasse hervorgerufene Aufregung sich gelegt hatte. »Ich erinnere mich mit solchem, ich kann sagen, Ge-nus-se an unser Leben in dieser entzückenden Residenz . . . Wir waren damals sehr nahe bekannt mit einer Familie – erinnerst du dich noch, Paul?« (Statt Pawel zu sagen, bediente sie sich der französischen Namensform.) »General Polowizyn . . . Ach, was für ein bezauberndes, be-zau-bern-des Wesen war die Generalin! Und dann, wissen Sie, diese Aristokratie, diese beau monde! . . . Sagen Sie: Sie sind den Herrschaften wahrscheinlich begegnet . . . Ich muß gestehen, ich habe Sie hier mit Ungeduld erwartet; ich hoffte von Ihnen vieles, vieles über unsere Petersburger Freunde zu erfahren . . .«

»Es tut mir sehr leid, daß ich nicht imstande bin . . . entschuldigen Sie . . . Ich sagte bereits, daß ich nur sehr selten in Gesellschaft gewesen bin; den General Polowizyn kenne ich gar nicht, habe auch nie von ihm gehört«, antwortete ich ungeduldig. An die Stelle der Bemühung, liebenswürdig zu sein, war plötzlich bei mir eine sehr verdrießliche, reizbare Stimmung getreten.

»Er hat sich mit Mineralogie beschäftigt!« fiel der unverbesserliche Onkel stolz ein. »Die Mineralogie, lieber Freund, das ist ja doch wohl die Wissenschaft, die allerlei Steinchen betrachtet?«

»Ja, lieber Onkel, sie beschäftigt sich mit den Steinen . . .«

»Hm . . . Es gibt viele Wissenschaften, und alle sind sie nützlich. Aber ich, lieber Freund, habe, die Wahrheit zu sagen, nicht einmal gewußt, was eigentlich die Mineralogie ist! Ich habe nur so von weitem etwas läuten hören. Mit anderen Dingen weiß ich noch so einigermaßen Bescheid; aber in den Wissenschaften bin ich dumm; das gestehe ich offen ein!«

»Das gestehen Sie offen ein?« fragte Obnoskin lächelnd.

»Papachen!« rief Alexandra und sah ihren Vater vorwurfsvoll an.

»Was denn, mein Herzchen? Ach, mein Gott, ich unterbreche Sie ja immer, Anfisa Petrowna«, sagte in plötzlichem Schreck der Onkel, der Alexandras Ausruf nicht verstanden hatte. »Um Himmels willen, nehmen Sie es mir nicht übel!«

»Oh, beunruhigen Sie sich deswegen nicht!« antwortete Anfissa Petrowna mit säuerlichem Lächeln. »Übrigens habe ich Ihrem Neffen schon alles gesagt, was ich ihm sagen wollte, und möchte nur noch zum Schluß hinzufügen, Monsieur Serge (so war ja wohl Ihr Name?), daß Sie sich entschieden bessern müssen. Ich glaube, die Wissenschaften und die Künste . . . zum Beispiel die Bildhauerkunst . . . nun, kurz gesagt, alle diese hohen Ideen haben sozusagen etwas Be-zau-bern-des; aber sie können die Damen nicht ersetzen! . . . Die Frauen, die Frauen, junger Mann, sind es, die Ihren Charakter bilden, und darum sind sie Ihnen unbedingt notwendig, junger Mann, unbedingt, un-be-dingt!«

»Unbedingt, unbedingt!« erscholl wieder Tatjana Iwanownas etwas kreischende Stimme. »Hören Sie«, begann sie in kindlicher Hast und wurde natürlich dabei über und über rot, »hören Sie, ich will Sie etwas fragen . . .«

»Was befehlen Sie?« erwiderte ich, sie aufmerksam anblickend.

»Ich wollte Sie fragen: sind Sie zu längerem Besuch hergekommen?«

»Das weiß ich wirklich nicht; das wird von den Umständen abhängen . . .«

»Von den Umständen! Was können denn das für Umstände sein? . . . O Sie verdrehter Mensch! . . .«

Und Tatjana Iwanowna, deren Erröten sich im höchsten Grade steigerte, verbarg sich hinter ihrem Fächer, neigte sich zu der Gouvernante hin und begann sogleich, ihr etwas zuzuflüstern. Dann lachte sie plötzlich auf und klatschte in die Hände.

»Warten Sie, warten Sie!« rief sie, indem sie von ihrer Vertrauten abließ und sich mir eilig wieder zuwandte, als hätte sie Angst, ich könnte weggehen, »hören Sie mal, wissen Sie, was ich Ihnen sagen will? Sie haben eine außerordentliche, eine außerordentliche Ähnlichkeit mit einem jungen Mann, einem ent-zük-ken-den jungen Mann! . . . Alexandra, Nastasja, erinnert ihr euch? Er hat eine außerordentliche Ähnlichkeit mit jenem verdrehten Menschen – erinnerst du dich, Alexandra? Wir begegneten ihm, als wir spazierenfuhren; er war zu Pferd und hatte eine weiße Weste an . . . er richtete noch seine Lorgnette auf mich, der Unverschämte! Erinnert ihr euch, ich zog mir noch den Schleier vors Gesicht, konnte mich dann aber doch nicht beherrschen, steckte den Kopf aus dem Wagen und rief ihm zu: ›Sie unverschämter Mensch!‹ und dann warf ich mein Bukett auf die Landstraße . . . Erinnern Sie sich, Nastasja?«

Das mannstolle Mädchen bedeckte in großer Aufregung ihr Gesicht mit den Händen; dann sprang sie plötzlich von ihrem Platz auf, lief zum Fenster, riß von einem Rosenstock eine Rose ab, warf sie in meiner Nähe auf den Fußboden und lief aus dem Zimmer. Weg war sie! Diesmal entstand sogar eine gewisse Aufregung, obgleich die Generalin, ebenso wie das erstemal, völlig ruhig blieb. Anfissa Petrowna zum Beispiel machte ein zwar nicht erstauntes, aber sorgenvolles Gesicht und blickte beunruhigt nach ihrem Sohn hin; die jungen Damen erröteten; Paul Obnoskin machte, was mir damals unerklärlich war, ein ärgerliches Gesicht, stand von seinem Stuhl auf und trat ans Fenster. Der Onkel begann mir Zeichen zu machen; aber in diesem Augenblick trat eine neue Persönlichkeit ins Zimmer und zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich.

»Ah, siehe da! Jewgraf Larionowitsch! Du kommst wie gerufen!« rief mein Onkel hocherfreut. »Nun, lieber Freund, kommst du aus der Stadt?«

›Was sind das bloß für wunderliche Menschen! Die scheinen hier alle expreß zusammengekommen zu sein!‹ dachte ich bei mir, ohne noch recht zu begreifen, was vor meinen Augen geschah, und ohne zu argwöhnen, daß auch ich diese Kollektion von wunderlichen Menschen durch mein Erscheinen vielleicht noch um ein Exemplar vergrößerte.

V

Jeshewikin

Ins Zimmer trat oder, richtiger gesagt, drängte sich durch die Tür (obgleich diese sehr breit war) eine kleine Gestalt, die sich schon in der Tür zusammenkrümmte, Verbeugungen machte, grinste und mit der größten Neugier alle Anwesenden überschaute. Es war dies ein kleiner, alter Mann, pockennarbig, mit schnellbeweglichen Spitzbubenaugen, einer Glatze und einem unbestimmten, leisen Lächeln auf den ziemlich dicken Lippen. Er hatte einen Frack an, der schon recht abgetragen und wohl von einem früheren Besitzer abgelegt war. Der eine Knopf hing nur noch an einem Faden; zwei oder drei andere fehlten gänzlich. Die zerrissenen Stiefel, die schmierige Mütze paßten zu dem schäbigen Anzug. In der Hand hatte er ein baumwollenes, kariertes Taschentuch, das von längerer Benutzung schon recht unsauber war und mit dem er sich den Schweiß von der Stirn und von den Schläfen wegwischte. Ich bemerkte, daß die Gouvernante ein wenig errötete und schnell zu mir hinblickte. Es schien mir sogar, daß in diesem Blicke etwas Stolzes, Herausforderndes lag.

»Geradeswegs aus der Stadt, mein Wohltäter! Geradeswegs von dort, Verehrtester! Ich werde alles erzählen; gestatten Sie mir nur zuerst, den Herrschaften meine Reverenz zu machen«, sagte der eingetretene alte Mann und ging gerade auf die Generalin zu; aber unterwegs blieb er stehen und wandte sich wieder an meinen Onkel.

»Sie kennen meinen wichtigsten Charakterzug, mein Wohltäter: ich bin ein Lump, ein richtiger Lump! Sobald ich irgendwo eintrete, suche ich sofort mit den Augen die wichtigste Person des Hauses; zu ihr lenke ich zuerst meine Schritte, um auf diese Weise gleich von vornherein ihre Gunst und Protektion zu erlangen. Ein Lump bin ich, mein Verehrtester, ein Lump, mein Wohltäter! Gestatten Sie mir, gnädige Frau, Exzellenz, Ihr Kleid zu küssen; denn Ihr goldenes Händchen, das Händchen einer Generalin, würde ich mit meinen Lippen beschmutzen.«

Die Generalin hielt ihm zu meiner Verwunderung ziemlich gnädig die Hand hin.

»Auch Ihnen, unserer Schönheit, mache ich meine Verbeugung«, fuhr er, sich zu Fräulein Perepelizyna wendend, fort. »Was soll man machen, gnädiges Fräulein: ich bin nun einmal ein Lump! Schon im Jahre 1841 wurde das Urteil gefällt, daß ich ein Lump sei, als ich vom Dienst ausgeschlossen wurde, gerade zu der Zeit, wo Walentin Ignatjewitsch Tichonzew hochwohlgeborener Kollegienassessor wurde; er wurde Kollegienassessor und ich ein Lump. Aber ich bin nun einmal von Natur so offenherzig, daß ich alles bekenne. Was soll man machen? Ich habe versucht, ehrenhaft zu leben, ich habe es versucht; aber jetzt muß ich es auf andere Weise versuchen. Alexandra Jegorowna, Sie unser Prachtäpfelchen«, fuhr er fort, indem er um den Tisch herumging und sich zu Alexandra durchdrängte; »erlauben Sie mir, Ihr Kleid zu küssen; von Ihnen, gnädiges Fräulein, geht ordentlich ein Duft wie nach Äpfeln und anderen delikaten Dingen aus. Dem jungen Herrn, der morgen seinen Namenstag feiert, bringe ich meinen ergebensten Gruß dar; ich habe Ihnen einen Bogen und Pfeile mitgebracht; ich habe selbst den ganzen Vormittag daran gearbeitet, und meine Kinderchen haben mir geholfen; damit können wir zusammen schießen. Wenn Sie aber groß sind, dann werden Sie Offizier werden und den Türken die Köpfe abhauen. Tatjana Iwanowna . . . ach, sie ist nicht da, meine Wohltäterin! Sonst würde ich auch ihr das Kleid küssen. Praskowja Iljinitschna, meine Hochverehrte, ich kann mich nicht zu Ihnen durchdrängen; sonst würde ich Ihnen nicht nur das Händchen, sondern auch das Füßchen küssen – ja gewiß! Anfissa Petrowna, ich drücke Ihnen meine uneingeschränkte Hochachtung aus. Noch heute habe ich für Sie, meine Wohltäterin, auf den Knien gebetet und Gott mit Tränen angefleht, und auch für Ihren lieben Sohn habe ich gebetet, daß Gott ihm alle möglichen Ehren und Talente bescheren möge, besonders alle möglichen Talente! Bei dieser Gelegenheit mache ich auch Ihnen, Iwan Iwanowitsch Misintschikow, meine untertänigste Verbeugung. Möge Gott Ihnen alles senden, was Sie sich selbst wünschen! Denn unsereiner bekommt nicht heraus, verehrter Herr, was Sie sich selbst wünschen; Sie sind gar zu schweigsam . . . Guten Tag, Nastasja! Alle meine Kleinen lassen dich grüßen; sie reden täglich von dir. Und jetzt auch dem Hausherrn meine ehrfurchtsvollste Verbeugung! Aus der Stadt komme ich, Euer Hochgeboren, direkt aus der Stadt. Dies hier ist gewiß Ihr Neffe, der auf der Universität gelehrte Studien getrieben hat? Ich bezeige Ihnen meinen tiefsten Respekt, mein Herr; gestatten Sie – Ihre Hand!«

Es wurde gelacht. Offenbar spielte der Alte freiwillig die Rolle eines Possenreißers. Seine Ankunft erheiterte die ganze Gesellschaft. Viele verstanden die sarkastischen Bemerkungen gar nicht, mit denen er fast jeden bedacht hatte. Nur die Gouvernante, die er zu meiner Verwunderung einfach Nastasja nannte, errötete und machte ein finsteres Gesicht. Ich machte Miene, meine Hand zurückzuziehen; aber darauf schien der Alte nur gewartet zu haben.

»Ich habe ja um Ihre Hand nur gebeten, um sie Ihnen zu drücken, verehrter Herr, falls Sie es erlauben, nicht aber, um sie Ihnen zu küssen. Sie dachten wohl, daß ich sie Ihnen küssen wollte? Nein, mein Teuerster, vorläufig nur drücken. Sie halten mich gewiß für einen herrschaftlichen Possenreißer, mein Wohltäter?« fragte er und sah mich dabei spöttisch an.

»N-nein, ich bitte Sie, ich . . .«

»Hm, hm, Verehrtester! Wenn ich ein Possenreißer bin, so ist es ein gewisser anderer hier ebenfalls! Sie können mir aber immerhin Achtung zollen: ich bin noch kein solcher Lump, wie Sie denken. Übrigens mag man mich meinetwegen auch einen Possenreißer nennen. Ich befinde mich in niedriger Lebensstellung und habe es mir außerdem zum Grundsatz gemacht, den Leuten zu schmeicheln. Sehen Sie, etwas profitiert man dabei doch immer, wenigstens so viel, daß man den Kinderchen Milch dafür kaufen kann. Jedem Menschen muß man Honig ums Maul schmieren; dann wird es einem besser gehn. Das teile ich Ihnen, lieber Herr, unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit; vielleicht werden auch Sie diese Lebensregel einmal nötig haben. Fortuna hat mich mißhandelt, mein Wohltäter; darum bin ich jetzt ein Possenreißer.«

»Hi-hi-hi! Ach, was ist dieser Alte für ein Spaßmacher! Immer bringt er einen zum Lachen!« quäkte Anfissa Petrowna.

»Verehrte Dame, meine Wohltäterin, man kommt ja doch als Dummkopf besser durchs Leben! Hätte ich das früher gewußt, so hätte ich mich von klein auf wie ein Dummkopf benommen; dann könnte ich jetzt vielleicht ein verständiger Mensch sein. Aber da ich in meiner Jugend verständig sein wollte, so bin ich jetzt ein alter Dummkopf geworden.«

»Sagen Sie doch«, mischte sich Obnoskin ein, dem wahrscheinlich die Bemerkung über die Talente nicht gefallen hatte; er rekelte sich mit besonderer Ungeniertheit auf seinem Lehnstuhl und betrachtete den Alten durch sein Lorgnon wie einen Käfer; »sagen Sie doch . . . ich vergesse immer Ihren Familiennamen . . . wie heißen Sie doch? . . .«

»Ach, liebster Herr! Mein Familienname? Nun, meinetwegen, ich heiße Jeshewikin; aber kommt es denn darauf an? Da sitze ich nun schon neun Jahre ohne Stelle da und lebe nur so dahin nach dem Naturgesetz. Aber Kinder habe ich, Kinder, ein ganzes Rudel! Wie es in dem Sprichwort heißt: ›Der Reiche hat viele Rinder, der Arme viele Kinder‹ . . .«

»Na ja . . . Rinder . . . aber das gehört nicht hierher. Also hören Sie mal, ich wollte Sie schon längst fragen: warum sehen Sie, wenn Sie eintreten, immer gleich nach hinten? Das wirkt sehr lächerlich.«

»Warum ich nach hinten sehe? Ich habe immer die Vorstellung, lieber Herr, als wolle mich jemand von hinten mit der flachen Hand wie eine Fliege totschlagen; darum sehe ich nach hinten. Es ist so eine fixe Idee von mir, lieber Herr.«

Wieder wurde gelacht. Die Gouvernante erhob sich halb, um wegzugehen, ließ sich dann aber doch wieder auf ihren Stuhl zurücksinken. Ihr Gesicht zeigte einen schmerzlichen, leidenden Ausdruck, trotz der Röte, die ihre Wangen übergoß.

»Weißt du, wer das ist, lieber Freund?« flüsterte mir mein Onkel zu. »Das ist ja ihr Vater!«

Ich sah den Onkel mit aufgerissenen Augen an. Der Name Jeshewikin war mir ganz aus dem Gedächtnis entschwunden gewesen. Ich hatte mich als edlen Helden gefühlt, hatte mich unterwegs angenehmen Träumereien über die mir vom Schicksal bestimmte Braut überlassen und mit Bezug auf sie großmütige Pläne entworfen, aber dabei ihren Familiennamen vollständig vergessen; oder, richtiger gesagt, ich hatte ihn von vornherein nicht beachtet.

»Wie, ihr Vater?« erwiderte ich, ebenfalls flüsternd. »Aber ich dachte, sie wäre eine Waise?«

»Es ist ihr Vater, lieber Freund, ihr Vater. Und weißt du, ein durchaus ehrenhafter, höchst anständig denkender Mensch; er trinkt nicht einmal; er spielt nur so aus freien Stücken den Possenreißer. Er lebt in schrecklicher Armut, lieber Freund; acht Kinder hat er noch außer Nastasja! Sie leben nur von Nastasjas Gehalt. Aus dem Amt hat man ihn wegen seiner scharfen Zunge hinausgeworfen. Er kommt jede Woche einmal hierher. Er ist so stolz, daß er um keinen Preis etwas annimmt. Ich habe ihm etwas angeboten, oftmals etwas angeboten; aber er nimmt nichts. Ein verbitterter Mensch!«

»Nun, lieber Jewgraf Larionowitsch, was gibt es Neues bei euch?« fragte der Onkel und schlug ihm kräftig auf die Schulter, da er bemerkte, daß der mißtrauische Alte schon auf unser Gespräch horchte.

»Was es Neues gibt, mein Wohltäter? Walentin Ignatjewitsch hat gestern in der Trischinschen Prozeßsache einen Bericht eingereicht. In Trischins Säcken hatte das Mehl nicht das volle Gewicht gehabt. Das ist derselbe Trischin, gnädige Frau, der, wenn er einen ansieht, ein Gesicht macht, als wollte er einen Samowar anblasen. Vielleicht erinnern Sie sich an ihn? Also Walentin Ignatjewitsch hat über Trischin geschrieben: ›Wenn der mehrfach erwähnte Trischin die Ehre seiner Nichte nicht hat behüten können‹ (die ist nämlich im vorigen Jahre mit einem Offizier durchgebrannt), ›wie konnte er dann fiskalisches Eigentum behüten?‹ Das hat er in seinem Bericht angebracht, wahrhaftig, ich lüge nicht.«

»Pfui! Was erzählen Sie für Skandalgeschichten!« rief Anfissa Petrowna.

»Gewiß, gewiß, gewiß! Das hättest du nicht erzählen sollen, lieber Jewgraf!« stimmte ihr der Onkel bei. »Paß auf, du wirst dich noch durch deine Zunge ins Unglück bringen! Du bist ein aufrichtiger, anständiger, ehrenhafter Mensch, das kann ich bezeugen; aber du hast eine spitze Zunge. Ich wundere mich, daß du da mit denen nicht in Frieden leben kannst! Es scheint ja doch, daß es gute, treuherzige Menschen sind . . .«

»Verehrter Wohltäter! Gerade solche treuherzigen Menschen fürchte ich!« rief der Alte besonders lebhaft.

Seine Antwort gefiel mir. Ich trat schnell auf Jeshewikin zu und drückte ihm kräftig die Hand. Die Wahrheit zu sagen, ich wollte gegen die allgemeine Meinung wenigstens dadurch protestieren, daß ich dem Alten offen meine Sympathie bekundete. Vielleicht aber (wer weiß das?), vielleicht wollte ich gern in Nastasja Jewgrafownas Achtung steigen. Aber dieser Schritt führte eigentlich zu nichts.

»Gestatten Sie die Frage«, sagte ich, wobei ich wie gewöhnlich errötete und verlegen wurde, »haben Sie von der Methode der Jesuiten gehört?«

»Nein, mein lieber Herr, davon habe ich nichts gehört; höchstens ein bißchen . . . wie sollte ich auch dazu kommen! Aber wieso?«

»Ich fragte nur so . . . Ich wollte ein Geschichtchen erzählen, das hierher paßt . . . Aber erinnern Sie mich lieber ein andermal daran! Jetzt will ich nur sagen: seien Sie versichert, daß ich Sie verstehe und . . . Sie zu schätzen weiß . . .«

In größter Verwirrung griff ich noch einmal nach seiner Hand.

»Ganz bestimmt werde ich daran denken, verehrter Herr, ganz bestimmt werde ich daran denken! Mit goldenen Buchstaben werde ich es mir ins Gedächtnis schreiben. Erlauben Sie, ich werde mir auch einen Knoten ins Taschentuch machen, um es nicht zu vergessen.«

Er suchte wirklich an seinem unsauberen und von Schnupftabak befleckten Taschentuch einen trockenen Zipfel und band einen Knoten hinein.

»Jewgraf Larionowitsch, nehmen Sie Ihren Tee!« sagte Praskowja Iljinitschna.

»Sofort, schöne Dame, sofort; das heißt: Prinzessin, nicht Dame! Das ist mein Dank für den Tee! Unterwegs habe ich Stepan Alexejewitsch Bachtschejew getroffen, meine Gnädigste! Was war der vergnügt! Zum Erstaunen! Ich dachte schon, er ginge auf Freiersfüßen. – Immer schmeicheln, immer schmeicheln!« sagte er flüsternd zu mir, als er mit seiner Teetasse an mir vorbeikam, blinzelte mir zu und kniff die Augen zusammen. »Aber wie geht es denn zu, daß der Hauptwohltäter Foma Fomitsch nicht zu sehen ist? Kommt er denn nicht zum Tee?«

Der Onkel zuckte zusammen, als ob ihm jemand einen Stich versetzt hätte, und blickte ängstlich zur Generalin hin.

»Ich weiß es wirklich nicht«, antwortete er in unsicherem Ton und in sonderbarer Verwirrung. »Er ist gerufen worden; aber er . . . Ich weiß wirklich nicht; vielleicht ist er nicht in der richtigen Stimmung. Ich habe schon Widopljassow hingeschickt und . . . aber soll ich vielleicht selbst hingehen?«

»Ich bin soeben bei ihm gewesen«, sagte Jeshewikin geheimnisvoll.

»Wirklich?« rief der Onkel erschrocken. »Nun, und wie steht's?«

»Ich bin zuallererst zu ihm gegangen, um ihm meine Aufwartung zu machen. Er sagte, er werde seinen Tee in der Einsamkeit trinken, und fügte dann hinzu, er könne sich auch mit einer trockenen Brotrinde begnügen, ja.«

Diese Worte schienen den Onkel mit wahrem Entsetzen zu erfüllen.

»Aber du hättest es ihm doch auseinandersetzen und darlegen sollen, Jewgraf Larionowitsch!« sagte der Onkel dann endlich und sah den Alten bekümmert und vorwurfsvoll an.

»Das habe ich getan, das habe ich getan.«

»Nun, und?«

»Lange Zeit gab er mir keine Antwort. Er saß über einer mathematischen Aufgabe und versuchte etwas herauszubekommen: es war offenbar etwas zum Kopfzerbrechen. Er zeichnete vor meinen Augen die Hosen des Pythagoras; ich habe selbst dabei zugesehen. Dreimal wiederholte ich ein und dasselbe; beim vierten Mal endlich hob er den Kopf, und es schien, als ob er mich da überhaupt erst gewahr werde. ›Ich werde nicht hingehen‹, sagte er. ›Da ist jetzt ein Gelehrter angekommen; neben einer solchen Leuchte der Wissenschaft ist für mich kein Platz.‹ So drückte er sich aus: ›Neben einer solchen Leuchte der Wissenschaft‹.«

Der Alte sah mich von der Seite spöttisch an.

»Na, das hatte ich mir doch gedacht!« rief der Onkel und schlug dabei die Hände zusammen. »Das hatte ich mir doch gedacht! Damit meint er dich, Sergej, wenn er sagt: ›ein Gelehrter‹. Na, was sollen wir nun tun?«

»Ich muß gestehen, lieber Onkel«, antwortete ich mit würdevollem Achselzucken, »meiner Ansicht nach ist diese Weigerung so lächerlich, daß sie gar keine Beachtung verdient, und ich wundere mich wirklich über Ihre Aufregung . . .«

»Ach, lieber Freund, das verstehst du nicht!« rief er mit einer energisch abwehrenden Handbewegung.

»Sie haben jetzt keinen Grund, sich zu beklagen«, mischte sich Fräulein Perepelizyna ein, »da Sie doch selbst der erste Urheber dieser traurigen Lage sind, Jegor Iljitsch. Wer sein Haus anzündet, darf nicht darüber jammern, daß es abbrennt. Hätten Sie Ihrer Mama gehorcht, dann brauchten Sie jetzt nicht zu weinen.«

»Aber was habe ich denn verbrochen, Anna Nilowna? Wie können Sie so etwas sagen, wenn Sie Gott fürchten!« rief der Onkel in flehendem Ton, wie wenn er sich zu einer Auseinandersetzung erböte.

»Ich fürchte Gott, Jegor Iljitsch; aber das kommt davon, daß Sie ein Egoist sind und Ihre Mutter nicht lieben«, antwortete Fräulein Perepelizyna. »Warum haben Sie gleich von vornherein ihren Willen nicht respektiert? Sie ist Ihre Mutter. Ich aber werde Ihnen keine Unwahrheit sagen. Ich bin selbst eine Oberstleutnantstochter und nicht irgend so eine.«

Es schien mir, daß sich Fräulein Perepelizyna lediglich mit der Absicht eingemischt hatte, uns allen und besonders mir, dem neu Angekommenen, mitzuteilen, daß sie eine Oberstleutnantstochter und nicht irgend so eine sei.

»Das kommt davon, daß er seine Mutter beleidigt«, sagte endlich die Generalin selbst in drohendem Ton.

»Aber Mama; erbarmen Sie sich! Wodurch beleidige ich Sie denn?«

»Dadurch, daß du ein schrecklicher Egoist bist, Jegor«, fuhr die Generalin in wachsender Erregung fort.

»Mama, Mama! Wieso bin ich denn ein schrecklicher Egoist?« rief der Onkel in heller Verzweiflung. »Fünf Tage lang, ganze fünf Tage lang sind Sie schon auf mich böse und wollen nicht mit mir sprechen! Womit habe ich das verdient? Ja, womit? Nun wohl, mag man mich richten, mag die ganze Welt mich richten! Mag man endlich einmal auch meine Rechtfertigung anhören! Ich habe lange geschwiegen, Mama; Sie wollten mich nicht anhören: mögen nun jetzt andere Menschen mich anhören! Anfissa Petrowna! Pawel Semjonowitsch, Sie sind ein Mensch von edelster Gesinnung! Sergej, mein Freund, du bist ein Unbeteiligter, du bist sozusagen nur ein Zuschauer, du kannst unparteiisch richten . . .«

»Beruhigen Sie sich, Jegor Iljitsch, beruhigen Sie sich!« rief Anfissa Petrowna. »Töten Sie Ihre Mama nicht!«

»Ich töte Mama nicht, Anfissa Petrowna; aber da ist meine Brust, durchbohren Sie sie!« fuhr der Onkel auf dem Gipfel der Aufregung fort, was manchmal bei Menschen mit schwachem Charakter vorkommt, wenn man ihre Geduld völlig erschöpft hat, obgleich ihre ganze Hitze nur ein Strohfeuer ist. »Ich will sagen, Anfissa Petrowna, daß ich niemanden beleidige. Ich sage von vornherein, daß Foma Fomitsch der edelste, ehrenhafteste Mensch und überdies ein hochbegabter Mensch ist; aber . . . aber in diesem Falle ist er ungerecht gegen mich.«

»Hm!« brummte Obnoskin, als ob er den Onkel noch mehr reizen wollte.

»Pawel Semjonowitsch, edeldenkender Pawel Semjonowitsch! Glauben Sie denn wirklich, daß ich sozusagen ein gefühlloser Stock bin? Ich sehe ja ein, ich begreife es ja, mit blutendem Herzen, kann man sagen, begreife ich es, daß alle diese Mißverständnisse nur von seiner übergroßen Liebe zu mir herrühren. Aber nehmen Sie es nicht übel, in diesem Fall hat er, weiß Gott, unrecht. Ich will alles erzählen. Ich will jetzt den ganzen Hergang erzählen, Anfissa Petrowna, in aller Klarheit und Ausführlichkeit, damit Sie sehen, wie die Sache begonnen hat, und ob Mama mit Recht auf mich deswegen böse ist, weil ich Foma Fomitsch nicht gewillfahrt habe. Höre auch du mich an, lieber Sergej«, fügte er hinzu, indem er sich zu mir wandte, was er auch während seiner ganzen Erzählung mit Vorliebe tat, als ob er sich vor den anderen Zuhörern fürchte und an ihrer Sympathie ihm gegenüber zweifle, »höre auch du mich an und entscheide dann, ob ich im Recht bin oder nicht! Siehst du wohl, die ganze Geschichte hat folgendermaßen angefangen. Vor einer Woche (ja, ganz richtig, länger ist es noch nicht her) kam mein früherer Chef, General Russapetow, mit seiner Frau und mit seiner Schwägerin auf der Durchreise in unsere Stadt. Sie hielten sich da einige Zeit auf. Ich war freudig überrascht, benutzte schleunigst diese Gelegenheit, eilte hin, stellte mich vor und lud sie zu mir zum Mittagessen ein. Er versprach zu kommen, wenn es ihm möglich sein werde. Er ist ein höchst edler Mensch, sage ich dir, mit glänzenden Tugenden geschmückt und überdies ein hoher Würdenträger! Seiner Schwägerin hat er eine Fülle von Wohltaten erwiesen; ein verwaistes junges Mädchen hat er an einen vortrefflichen jungen Mann verheiratet (er ist jetzt Advokat in Malinowo, ein noch junger Mensch, aber man kann sagen, mit allseitiger Bildung!); kurz, er ist ein Ideal von General! Na, bei uns war natürlich großer Trubel und Spektakel, Köche, Frikassees und so weiter; auch Musiker bestellte ich. Ich war selbstverständlich glückselig und machte ein Gesicht, wie wenn ich meinen Namenstag feierte. Diese meine Freude mißfiel Foma Fomitsch! Er saß bei Tisch (ich erinnere mich noch, daß seine Leibspeise, Mehlbrei mit Sahne, herumgereicht wurde), aber er schwieg und schwieg; dann sprang er auf: ›Man beleidigt mich; man beleidigt mich!‹ – ›Aber wodurch beleidigt man dich denn, Foma Fomitsch?‹ sagte ich. – ›Sie vernachlässigen mich jetzt‹, sagte er; ›Sie interessieren sich jetzt nur für Generale; Ihre Generale sind Ihnen jetzt lieber als ich!‹ Na, ich erzähle dir das jetzt selbstverständlich nur in aller Kürze, sozusagen nur die Quintessenz; aber wenn du wüßtest, was er noch alles gesagt hat . . . kurz, ich war tief erschüttert. Was sollte ich machen? Ich war natürlich ganz niedergeschlagen; die Sache ging mir außerordentlich nahe; ich lief umher wie ein begossener Pudel. Der feierliche Tag kam heran. Der General schickte her und ließ sagen, es sei ihm leider nicht möglich; er bäte um Entschuldigung, aber er könne nicht kommen. Ich ging zu Foma. ›Nun, Foma‹, sagte ich, ›beruhige dich! Er kommt nicht!‹ Aber was meinst du? Er verzieh mir nicht, schlechterdings nicht! ›Sie haben mich beleidigt‹, sagte er, ›das bleibt bestehen!‹ Ich redete dies und das. ›Nein‹, sagte er, ›gehen Sie zu Ihren Generalen; Ihre Generale sind Ihnen lieber als ich; Sie haben‹, sagte er, ›die Bande der Freundschaft zerrissen.‹ Mein lieber Freund, ich begreife ja, weswegen er böse war. Ich bin ja doch kein Stock, kein Schaf, kein Dummkopf! Er handelte ja nur aus übermäßiger Liebe zu mir so, sozusagen aus Eifersucht (das hat er selbst gesagt); er war auf den General eifersüchtig und gönnte ihm meine Zuneigung nicht; er fürchtete, meine Freundschaft zu verlieren, stellte mich auf die Probe und wollte sehen, was für Opfer ich ihm zu bringen bereit sei. ›Nein‹, sagte er, ›ich selbst bin für Sie so gut wie ein General; ich selbst bin für Sie eine Exzellenz! Ich werde mich erst dann mit Ihnen versöhnen, wenn Sie mir beweisen, daß Sie mich hochschätzen.‹ – ›Womit soll ich dir denn das beweisen, Foma Fomitsch?‹ fragte ich. – ›Nennen Sie mich einen ganzen Tag lang Exzellenz‹, sagte er; ›damit werden Sie mir Ihre Hochschätzung beweisen.‹ Ich fiel aus allen Wolken! Du kannst dir mein Erstaunen vorstellen! ›Das wird Ihnen‹, sagte er, ›eine Lehre sein, damit Sie sich künftig nicht für Generale begeistern, während andere Leute vielleicht mehr wert sind als alle Ihre Generale!‹ Na, da konnte ich mich nicht länger beherrschen, das gestehe ich. Ich gestehe es offen! ›Foma Fomitsch‹, sagte ich, ›ist denn das überhaupt möglich? Kann ich mich denn, zu so etwas hergeben? Bin ich denn befugt und berechtigt, dich zum General zu befördern? So bedenke doch, wer die Beförderungen zum General vollzieht! Na, wie kann ich denn zu dir Exzellenz sagen? Das ist ja quasi ein Attentat auf die Majestät der göttlichen Gesetze! Ein General tut doch Dienst und ist eine Zierde des Vaterlandes; ein General ist im Krieg gewesen und hat sein Blut auf dem Feld der Ehre vergossen! Wie kann ich denn zu dir Exzellenz sagen?‹ Aber er ließ nicht locker, absolut nicht! ›Ich tue ja für dich alles, was du nur willst, Foma‹, sagte ich. ›Du hast verlangt, ich sollte mir den Backenbart abrasieren, weil er unpatriotisch aussehe; ich habe ihn abrasiert, allerdings mit Stirnrunzeln, aber ich habe ihn abrasiert. Ja, ich werde auch künftig alles tun, was dir beliebt; nur verzichte auf den Generalsrang!‹ – ›Nein‹, sagte er, ›ich werde mich nicht eher mit Ihnen aussöhnen, als bis Sie zu mir Exzellenz sagen. Das wird‹ sagte er, ›für Ihre Moral nützlich sein; das wird Ihren Geist demütig machen.‹ Und nun dauert es schon eine Woche, eine ganze Woche, daß er nicht mit mir reden will; und über jeden, der zu Besuch kommt, ärgert er sich. Als er über dich hörte, daß du ein Gelehrter seiest (das war meine Schuld: ich war in Eifer geraten und schwatzte es aus), da sagte er, er werde dieses Haus für immer verlassen, wenn du herkämest. ›Denn‹, sagte er, ›ich bin ja für Sie nun kein Gelehrter mehr.‹ Und wenn er nun erst hören wird, daß Korowkin kommt, das wird erst eine schlimme Geschichte geben! Na, ich bitte dich, na, sage selbst, was trifft mich denn hierbei für eine Schuld? Na, soll ich mich denn wirklich dazu hergeben und zu ihm Exzellenz sagen? In solcher Lage zu leben, das ist ja unerträglich. Na, und warum hat er heute den armen Kerl, den Bachtschejew, vom Tisch weggejagt? Freilich, Bachtschejew hat die Astronomie nicht erfunden; aber ich habe ja die Astronomie ebenfalls nicht erfunden, und du ja auch nicht . . . Na, warum also, warum?«

»Darum, weil du neidisch bist, Jegor«, murmelte die Generalin wieder.

»Mama!« rief der Onkel ganz verzweifelt, »Sie bringen mich um den Verstand! . . . Sie sagen das nicht von sich aus, sondern wiederholen fremde Reden, Mama! Schließlich werde ich nicht mehr Ihr Sohn sein, sondern ein Pfosten, ein Prellstein, ein Laternenpfahl!«

»Ich habe gehört, lieber Onkel«, unterbrach ich ihn, erstaunt über seine Erzählung, »ich habe von Bachtschejew gehört (ich weiß übrigens nicht, ob es zutreffend ist), daß Foma Fomitsch den kleinen Ilja um seinen Namenstag beneidet und behauptet, er selbst habe morgen ebenfalls seinen Namenstag. Ich muß gestehen, dieser Charakterzug hat mich dermaßen in Verwunderung versetzt, daß ich . . .«

»Seinen Geburtstag, lieber Freund, seinen Geburtstag, nicht seinen Namenstag, sondern seinen Geburtstag!« unterbrach mich der Onkel hastig. »Er hat sich nur falsch ausgedrückt; aber er hat recht: morgen ist sein Geburtstag. Die Wahrheit, lieber Freund, geht über alles . . .«

»Er hat gar nicht Geburtstag!« rief Alexandra.

»Wie kannst du das sagen?« rief der Onkel verlegen.

»Er hat gar nicht Geburtstag, Papa! Sie sagen einfach die Unwahrheit, um sich selbst zu täuschen und um Foma Fomitsch damit einen Dienst zu erweisen. Aber sein Geburtstag war im März; erinnern Sie sich? Wir fuhren noch tags zuvor zum Gottesdienste ins Kloster, und er ließ keinen im Wagen ruhig sitzen: immer schrie er, das Kissen drücke ihn in die Seite, und kniff die andern; Tantchen hat er aus Bosheit zweimal gekniffen! Und als wir dann an seinem Geburtstag zu ihm kamen, um ihm zu gratulieren, da wurde er böse, weil in unserem Bukett keine Kamelien waren. ›Ich liebe die Kamelien‹, sagte er, ›weil ich den Geschmack der höheren Gesellschaftsschichten habe; ihr aber habt um meinetwillen keine Kamelien im Treibhaus abschneiden mögen; sie sind euch zu schade gewesenen.‹ Und den ganzen Tag machte er ein mürrisches Gesicht und maulte und wollte nicht mit uns reden . . .«

Ich glaube, wenn eine Bombe mitten ins Zimmer gefallen wäre, so hätte das nicht so ein Staunen und Entsetzen hervorgerufen wie diese offene Empörung, und Empörung von seiten wessen? Von Seiten eines Mädchens, dem nicht einmal erlaubt war, in Gegenwart seiner Großmutter laut zu reden. Die Generalin, die vor Erstaunen und Wut verstummt war, erhob sich ein wenig, richtete sich gerade und blickte, ihren Augen nicht trauend, ihre dreiste Enkelin an. Der Onkel war starr vor Entsetzen.

»So etwas wird hier geduldet! Man will die Großmutter umbringen!« schrie Fräulein Perepelizyna.

»Alexandra, Alexandra, besinne dich, was du tust! Was ist mit dir, Alexandra?« rief der Onkel und lief bald zur Generalin, bald zu Alexandra, um die letztere zum Schweigen zu bringen.

»Ich will nicht schweigen, Papa!« rief Alexandra, sprang plötzlich von ihrem Stuhl auf und stampfte mit den Füßen; ihre Augen funkelten. »Ich will nicht schweigen! Wir alle haben lange genug unter diesem Foma Fomitsch, Ihrem garstigen, widerwärtigen Foma Fomitsch gelitten! Er richtet uns alle zugrunde; ihm wird ja beständig versichert, er sei klug, hochherzig, edel, gelehrt, eine Vereinigung aller möglichen Tugenden, so eine Art Potpourri, und Foma Fomitsch, dumm wie er ist, glaubt das alles! Es sind ihm so viele süße Speisen vorgesetzt worden, daß ein anderer sich schämen würde; aber Foma Fomitsch hat alles aufgegessen, was vor ihn hingestellt wurde, und verlangt immer noch mehr. Ihr werdet sehen, er wird uns alle zu Tode quälen, und Papa ist an allem schuld! Ein abscheulicher Mensch, ein abscheulicher Mensch ist Foma Fomitsch; das sage ich geradeheraus und fürchte mich vor niemand! Er ist dumm, launenhaft, unsauber, unfein, hartherzig, ein Tyrann, ein Verleumder, ein Lügner . . . Ach, ich würde ihn unbedingt, unbedingt sofort aus dem Hause jagen; aber Papa vergöttert ihn ja, Papa ist ganz verrückt nach ihm!«

»Ach!« rief die Generalin und sank ohnmächtig auf das Sofa.

»Liebste Agafja Timofejewna, mein Engel!« rief Anfissa Petrowna, »nehmen Sie mein Flakon! Wasser, schnell Wasser!«

»Wasser, Wasser!« rief der Onkel. »Mama, Mama, beruhigen Sie sich! Auf den Knien flehe ich Sie an, sich zu beruhigen! . . .«

»Bei Wasser und Brot müßte man Sie in ein dunkles Zimmer einsperren . . . Sie Menschenmörderin!« zischte Fräulein Perepelizyna, die vor Wut zitterte, Alexandra an.

»Nun, dann werde ich bei Wasser und Brot sitzen; ich fürchte mich vor nichts!« rief Alexandra, die ihrerseits in eine Art von Verzückung hineingeriet. »Ich verteidige meinen Papa, weil er selbst sich nicht verteidigen kann. Was ist euer Foma Fomitsch denn gegen Papa? Er ißt Papas Brot und erniedrigt ihn, der Undankbare! Ich möchte ihn am liebsten in Stücke reißen, euren Foma Fomitsch! Zum Duell möchte ich ihn fordern und mit zwei Pistolen totschießen . . .«

»Alexandra, Alexandra!« schrie der Onkel verzweifelt. »Noch ein Wort, und ich bin verloren, rettungslos verloren!«

»Papa!« rief Alexandra, zu ihrem Vater hinstürzend, in Tränen ausbrechend und ihn fest mit den Armen umschlingend, »Papa! Wie können Sie, ein so guter, prächtiger, lustiger, kluger Mensch, wie können Sie sich selbst so zugrunde richten? Wie können Sie sich diesem häßlichen, undankbaren Patron unterordnen, sich zu seinem Spielzeug machen, sich dem Gelächter preisgeben? Papa, mein goldener Papa! . . .«

Sie fing heftig zu schluchzen an, schlug die Hände vors Gesicht und lief aus dem Zimmer.

Es folgte ein schrecklicher Wirrwarr. Die Generalin lag ohnmächtig da. Der Onkel kniete vor ihr und küßte ihr die Hände. Fräulein Perepelizyna war neben ihnen in geschäftiger Tätigkeit und warf uns wütende, aber triumphierende Blicke zu. Anfisa Petrowna befeuchtete die Schläfen der Generalin mit Wasser und hantierte mit ihrem Flakon. Praskowja Iljinitschna zitterte und zerfloß in Tränen. Jeshewikin hatte sich ein Winkelchen gesucht, wo er sich verbergen konnte, und die Gouvernante stand blaß und ganz fassungslos vor Furcht da. Nur Misintschikow war vollständig derselbe geblieben, der er vorher gewesen war. Er stand auf, trat ans Fenster und begann unverwandt hinauszusehen, ohne der Szene im Zimmer auch nur die geringste Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Auf einmal erhob sich die Generalin halb vom Sofa, richtete sich auf und maß mich mit einem drohenden Blick.

»Hinaus!« schrie sie mir zu und stampfte dabei mit dem Fuß.

Ich muß gestehen, daß ich das nicht im entferntesten erwartet hatte.

»Hinaus! Hinaus aus dem Haus; hinaus! Warum ist er hergekommen? Er soll sich nie wieder hier blicken lassen! Hinaus!«

»Mama, Mama, was reden Sie? Das ist ja Sergej«, murmelte der Onkel, am ganzen Leibe zitternd vor Furcht. »Er ist ja doch zu Besuch zu uns gekommen, Mama!«

»Was für ein Sergej? Hinaus! Ich will nichts hören; hinaus! Es ist Korowkin. Ich bin sicher, daß es Korowkin ist. Meine Ahnung täuscht mich nicht. Er ist gekommen, um Foma Fomitsch zu vertreiben; darum hast du ihn hergerufen. Mein Herz ahnt es. Hinaus, Taugenichts!«

»Lieber Onkel, wenn es so steht«, sagte ich, und die Stimme versagte mir fast vor edler Entrüstung, »wenn es so steht, dann will ich . . . entschuldigen Sie mich . . .« Und ich griff nach meinem Hut.

»Sergej, Sergej, was tust du? . . . Nun sieh bloß einer diesen Menschen an . . . Mama! Es ist ja Sergej . . . Aber Sergej, ich bitte dich!« rief er, mir nachlaufend und bemüht, mir den Hut abzunehmen, »du bist mein Gast; du bleibst hier; ich will es! Das redet sie ja nur so hin«, fügte er flüsternd hinzu; »so ist sie ja nur, wenn sie sich ärgert . . . Verstecke dich nur jetzt irgendwo während der ersten Zeit . . . halte dich woanders auf – und die Sache hat weiter nichts zu bedeuten; es wird alles vorübergehen. Sie wird dir verzeihen, glaube mir! Sie ist eine gute Frau; nur spricht sie manchmal Unsinn, ohne sich etwas Schlimmes dabei zu denken . . . Du hörst ja, sie hält dich für Korowkin; aber nachher wird sie dir verzeihen, glaube mir . . . Was willst du denn?« schrie er den Diener Gawrila an, der zitternd vor Furcht ins Zimmer trat.

Gawrila kam nicht allein; mit ihm erschien ein zum Gutsgesinde gehöriger, etwa sechzehnjähriger Bursche, ein sehr hübscher Mensch, der, wie ich später erfuhr, eben wegen seiner Schönheit ins Haus genommen worden war. Er hieß Falalej. Er war ganz extravagant gekleidet: ein rotes, seidenes Hemd, dessen Kragen mit Litzen benäht war, einen Gürtel von Goldtresse, schwarze Plüschhosen und bocklederne Stiefel mit roten Stulpen. Dieses Kostüm war eine eigene Erfindung der Generalin. Der junge Bursche schluchzte bitterlich, und die Tränen rollten nur so eine nach der andern aus seinen blauen Augen.

»Was ist denn das nun wieder?« rief der Onkel. »Was ist denn passiert? So rede doch, du Schlingel!«

»Foma Fomitsch hat uns befohlen hierherzugehen; er selbst kommt auch gleich«, antwortete Gawrila betrübt. »Ich soll examiniert werden, und der hier . . .«

»Nun, und der?«

»Er hat getanzt«, antwortete Gawrila weinerlich.

»Getanzt!« rief der Onkel erschrocken.

»Ja, ge-tanzt!« heulte Falalej, Tränen schluckend.

»Den Komarinski-Tanz?«

»Ja, den Ko-ma-rin-ski-Tanz.«

»Und Foma Fomitsch hat dich dabei erwischt?«

»Ja, er hat mich er-wischt.«

»Ihr bringt mich um!« rief der Onkel. »Das kostet mich den Kopf!« Und er griff mit beiden Händen nach seinem Kopf.

»Foma Fomitsch!« meldete, ins Zimmer tretend, Widopljassow.

Die Tür öffnete sich, und Foma Fomitsch erschien in höchsteigener Person vor der bestürzten Gesellschaft.

VI

Vom weißen Ochsen und vom Komarinski-Tanz

Aber bevor ich die Ehre haben werde, dem Leser den soeben ins Zimmer getretenen Foma Fomitsch persönlich vorzustellen, halte ich es für unbedingt notwendig, einige Worte über Falalej zu sagen und zu erklären, was denn eigentlich Schreckliches dabei war, daß er den Komarinski getanzt und Foma Fomitsch ihn bei dieser vergnüglichen Beschäftigung erwischt hatte. Falalej war ein Leibeigener, seit seiner frühesten Jugend Waise und ein Patenkind der verstorbenen Frau meines Onkels. Der Onkel hatte ihn sehr gern. Aber schon allein dieser Umstand war völlig ausreichend, um Foma Fomitsch, nachdem er nach Stepantschikowo übergesiedelt war und meinen Onkel unter seine Fuchtel gebracht hatte, mit Haß gegen dessen Liebling Falalej zu erfüllen. Indes gefiel der Bursche auch der Generalin ganz besonders, und so blieb er denn trotz Foma Fomitschs Zorn bei der Herrschaft: darauf bestand die Generalin selbst, und Foma Fomitsch gab nach, bewahrte aber in seinem Herzen das Gefühl, daß er beleidigt sei (er hielt alles für eine Beleidigung), und rächte sich dafür an dem völlig unschuldigen Onkel bei jeder nur möglichen Gelegenheit. Falalej war von einer erstaunlichen Schönheit. Er hatte ein Mädchengesicht, das Gesicht eines schönen Bauernmädchens. Die Generalin verhätschelte und verwöhnte ihn, hielt ihn wert wie ein hübsches, seltenes Spielzeug, und es war schwer zu sagen, wen sie lieber hatte, ihren kleinen, kraushaarigen Hund Ami oder Falalej. Von seinem Anzug, der ihre Erfindung war, haben wir schon gesprochen. Die unverheirateten Damen gaben ihm Pomade, und der Friseur Kusma mußte ihm an den Festtagen Locken brennen. Dieser Bursche war ein merkwürdiges Geschöpf. Man konnte ihn nicht als einen völligen Idioten oder Verrückten bezeichnen; aber er war so naiv, offenherzig und einfältig, daß man ihn manchmal wirklich für schwachsinnig halten konnte. Wenn er etwas geträumt hatte, so ging er sogleich zu seiner Herrschaft, um es zu erzählen. Er mischte sich in das Gespräch der Herrschaft ein, unbekümmert darum, daß er sie unterbrach. Er erzählte dann derartige Dinge, die er der Herrschaft unter keinen Umständen hätte erzählen dürfen. Er vergoß die aufrichtigsten Tränen, wenn die gnädige Frau in Ohnmacht fiel oder wenn sein Herr gar zu sehr ausgescholten wurde. Bei jedem Unglück empfand er eine herzliche Teilnahme. Manchmal trat er auf die Generalin zu, küßte ihr die Hände und bat sie, sie möchte doch nicht böse sein, und die Generalin verzieh ihm großmütig diese Dreistigkeiten. Er war höchst weichherzig und gutmütig, sanft wie ein Lämmchen und fröhlich wie ein glückliches Kind. Vom herrschaftlichen Tisch bekam er immer etwas ab.

Er stand fortwährend hinter dem Stuhl der Generalin und hatte eine wahre Leidenschaft für Zucker. Gab man ihm ein Stück Zucker, so zerbiß er es sofort mit seinen kräftigen, milchweißen Zähnen, und ein unbeschreibliches Vergnügen glänzte in seinen munteren, blauen Augen und auf seinem ganzen schönen Gesicht.

Lange zürnte Foma Fomitsch; aber da er schließlich einsah, daß er mit seinem Zorn nichts erreichte, so entschied er sich auf einmal dafür, Falalejs Wohltäter zu werden. Nachdem er zuerst den Onkel dafür ausgescholten hatte, daß er sich nicht um die Bildung seines Gutsgesindes kümmere, beschloß er, unverzüglich den armen Burschen in der Moral, in guten Manieren und in Französisch zu unterweisen. »Wie!« sagte er zur Verteidigung seines absurden Gedankens (eines Gedankens, auf den übrigens auch noch andere Leute als Foma Fomitsch verfallen sind, was der Schreiber dieser Zeilen bezeugen kann), »wie! er ist immer um seine Herrin: nun denkt sie vielleicht einmal nicht daran, daß er kein Französisch versteht, und sagt etwa zu ihm: ›Donnez-moi mon mouchoir!‹ Da muß er auch in einem solchen Fall imstande sein, sich zurechtzufinden und sie zu bedienen!« Aber es stellte sich heraus, daß es nicht nur unmöglich war, dem guten Falalej Kenntnisse im Französischen beizubringen, sondern daß auch der Koch Andron, sein Onkel, der sich in uneigennütziger Weise Mühe gegeben hatte, ihn Russisch lesen und schreiben zu lehren, schon längst die Sache als hoffnungslos aufgegeben und die Fibel wieder weggelegt hatte. Falalej zeigte sich für Bücherwissen dermaßen unempfänglich, daß er schlechterdings nichts begriff. Ja, die Sache hatte noch eine weitere Folge. Die Gutsleute gaben Falalej den Spitznamen ›der Franzose‹, und der alte Gawrila, der verdienstvolle Kammerdiener meines Onkels, erkühnte sich, öffentlich den Nutzen des Erlernens der französischen Sprache zu leugnen. Das kam Foma Fomitsch zu Ohren, und höchlichst erzürnt zwang er seinen Widersacher Gawrila, selbst Französisch zu lernen. Daraus entwickelte sich die ganze Affäre mit dem französischen Unterricht, über die sich Herr Bachtschejew so geärgert hatte. Was den Unterricht in guten Manieren anlangte, so ging es damit noch schlechter: Foma war absolut nicht imstande, Falalej nach seinen Wünschen zu bilden; trotz des Verbots kam dieser jeden Morgen zu ihm, um ihm seine Träume zu erzählen, was Foma Fomitsch höchst unschicklich und allzu familiär fand. Aber Falalej blieb hartnäckig Falalej. Selbstverständlich wurde für all dies in erster Linie mein Onkel ausgescholten.

»Wissen Sie auch, wissen Sie auch, was er heute gemacht hat?« schrie Foma einmal; er hatte sich um der größeren Wirkung willen die Zeit ausgewählt, wo alle versammelt waren. »Wissen Sie wohl, Oberst, wohin Ihre systematische Verhätschelung geführt hat? Heute verschlang er ein Stück Pastete, das Sie ihm bei Tisch gegeben hatten, und wissen Sie, was er nachher sagte? Komm mal her, komm mal her, du Mensch ohne allen Anstand; komm mal her, du Idiot, du rotgesichtige Fratze! . . .«

Falalej kam näher; er weinte und wischte sich mit beiden Händen die Augen.

»Was hast du gesagt, als du deine Pastete verschlungen hattest? Wiederhole es vor aller Ohren!«

Falalej antwortete nicht und vergoß bittere Tränen.

»Dann werde ich es an deiner Statt sagen, wenn du es nicht tust. Du hast dich auf deinen unschicklich vollgestopften Bauch geklopft und dabei gesagt: ›Ich habe mich an Pastete satt gefressen wie Martyn an Seife!eine humoristische Redensart. (Anm. des Übersetzers) Ich bitte Sie, Oberst, gebraucht man denn solche Ausdrücke in gebildeter Gesellschaft und nun gar in den höchsten Kreisen? Hast du es gesagt oder nicht? Sprich!«

»Ja, ich ha-be es ge-sagt!« antwortete Falalej schluchzend.

»Nun, dann sage mir jetzt: ißt etwa Martyn Seife? Wo hast du eigentlich diesen Martyn gesehen, der Seife ißt? Sprich, gib mir eine Vorstellung von diesem phänomenalen Martyn!«

Stillschweigen.

»Ich frage dich«, fuhr Foma hartnäckig fort, »wer eigentlich dieser Martyn ist. Ich will ihn sehen, will seine Bekanntschaft machen. Nun, was ist er denn? Ein Registrator, ein Astronom, ein Dichter, ein Capitaine d'armes, ein Leibeigener – irgend etwas muß er doch sein. Antworte!«

»Ein Leib-eige-ner«, antwortete Falalej schließlich, während er immer noch weinte.

»Wessen Leibeigener? Wer ist seine Herrschaft?«

Aber Falalej wußte nicht zu sagen, wer Martyns Herrschaft sei. Selbstverständlich endete die Sache damit, daß Foma wütend aus dem Zimmer lief und schrie, man habe ihn beleidigt; die Generalin bekam einen Ohnmachtsanfall, und der Onkel verwünschte die Stunde seiner Geburt, bat alle um Verzeihung und ging den ganzen übrigen Tag in seiner eigenen Wohnung auf Zehenspitzen.

Unglücklicherweise traf es sich, daß Falalej gleich am nächsten Tage nach der Geschichte mit Martyn und der Seife, als er am Morgen Foma Fomitsch den Tee brachte und schon Martyn und das ganze gestrige Leid vergessen hatte, ihm mitteilte, er habe in der Nacht von einem weißen Ochsen geträumt. Das hatte gerade noch gefehlt! Foma Fomitsch geriet in eine unbeschreibliche Entrüstung, ließ sofort den Onkel rufen und begann, ihn für den unpassenden Traum, den ›sein‹ Falalej gehabt hatte, auszuschelten. Diesmal wurden strenge Maßregeln getroffen: Falalej wurde bestraft; er mußte in der Ecke knien. Es wurde ihm streng verboten, solche rohen, bäuerischen Träume zu haben. »Warum bin ich denn zornig?« sagte Foma. »Abgesehen davon, daß er nicht hätte wagen dürfen, mit seinen Träumen zu mir zu kommen und am allerwenigsten mit einem weißen Ochsen, abgesehen davon (das müssen Sie selbst zugeben, Oberst), was ist denn der weiße Ochse anderes als ein Beweis der Roheit, Unwissenheit und bäuerischen Denkweise Ihres ungehobelten Falalej? Wie die Gedanken, so die Träume. Habe ich es nicht vorhergesagt, daß nichts aus ihm werden wird und daß er nicht in der Umgebung der Herrschaft bleiben dürfe? Niemals, niemals wird es Ihnen gelingen, diese unverständige, plebejische Seele zu etwas Höherem, Poetischem zu entwickeln. Kannst du denn nicht«, fuhr er, an Falalej gewandt, fort, »kannst du denn nicht von etwas Feinem, Zartem, Edlem träumen, von irgendeiner Szene aus der guten Gesellschaft, zum Beispiel von Herren, welche Karten spielen, oder von Damen, die in einem schönen Garten spazierengehen?« Falalej versprach, in der nächsten Nacht bestimmt von Herren oder Damen, die in einem schönen Garten spazierengehen, zu träumen.

Als Falalej sich schlafen legte, bat er Gott unter Tränen darum und dachte lange darüber nach, wie er es anfangen müsse, um nicht von dem verdammten weißen Ochsen zu träumen. Aber die Hoffnungen der Menschen sind trügerisch. Beim Erwachen am anderen Morgen erinnerte er sich mit Schrecken daran, daß er wieder die ganze Nacht von dem verhaßten weißen Ochsen und keineswegs von einer in einem schönen Garten spazierengehenden Dame geträumt hatte. Diesmal waren die Folgen von besonderer Art. Foma Fomitsch erklärte mit aller Bestimmtheit, er glaube nicht an die Möglichkeit eines derartigen Zufalls, einer derartigen Wiederholung; er glaube vielmehr, daß Falalej absichtlich zu dieser Angabe von einem der Hausgenossen, vielleicht vom Oberst selbst, angestiftet sei, um ihn, Foma Fomitsch, zu ärgern. Es gab viel Geschrei, Vorwürfe und Tränen. Die Generalin wurde am Abend ganz krank; alle Bewohner des Hauses ließen die Köpfe hängen. Es blieb noch die schwache Hoffnung, daß Falalej in der nächsten, das heißt der dritten, Nacht jedenfalls von etwas aus der höheren Gesellschaft träumen werde. Aber wie groß war die allgemeine Entrüstung, als Falalej eine ganze Woche hintereinander jede Nacht, die Gott werden ließ, beständig von dem weißen Ochsen träumte, und nur von dem weißen Ochsen! Von der höheren Gesellschaft kam in seinen Träumen reinweg gar nichts vor.

Aber das Interessanteste war, daß Falalej gar nicht auf den Gedanken kam zu lügen, also einfach zu sagen, daß er nicht von dem weißen Ochsen geträumt habe, sondern beispielsweise von einer Kutsche, in welcher Foma Fomitsch und mehrere Damen gesessen hätten; und das hätte er doch um so eher tun können, als das Lügen in einer solchen Notlage nicht einmal eine so arge Sünde gewesen wäre. Aber Falalej war so wahrheitsliebend, daß er einfach nicht lügen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Daher wiesen ihn auch die andern gar nicht auf dieses Mittel hin. Alle wußten, daß er sich im ersten Augenblick verraten und Foma Fomitsch ihn sogleich beim Lügen ertappen würde. Was war da zu tun? Die Lage des Onkels wurde unerträglich. Falalej war einfach unverbesserlich. Der arme Bursche wurde sogar mager vor Kummer. Die Haushälterin Malanja behauptete, er sei behext, und besprengte ihn aus einem Winkel mit Wasser. An dieser zweckmäßigen Operation beteiligte sich auch die mitleidige Praskowja Iljinitschna. Aber auch das half nichts. Nichts half!

»Hol ihn der Teufel, den verdammten Ochsen!« sagte Falalej zu den Hausgenossen. »Jede Nacht träume ich von ihm! Jedesmal bete ich am Abend: Möchte ich doch nicht von dem weißen Ochsen träumen; möchte ich doch nicht von dem weißen Ochsen träumen! Aber er ist doch immer wieder da, der verfluchte Ochse, und steht vor mir, groß, mit Hörnern und mit einer stumpfen Schnauze, u-u-u!«

Der Onkel war verzweifelt. Aber zum Glück schien Foma Fomitsch den weißen Ochsen auf einmal vergessen zu haben. Allerdings glaubte niemand, daß Foma Fomitsch einen so wichtigen Umstand wirklich vergessen könne. Alle nahmen voller Angst an, daß er den weißen Ochsen in der Hinterhand aufhebe und ihn bei der ersten besten Gelegenheit hervorholen werde. In der Folge zeigte es sich, daß Foma Fomitsch nicht in der Stimmung gewesen war, an den weißen Ochsen zu denken: er hatte andere Dinge vor und war von anderen Sorgen in Anspruch genommen; andere Pläne reiften in seinem regen, geschäftigen Kopfe. Dies war der Grund, weswegen er Falalej aufatmen ließ. Zugleich mit Falalej atmeten auch alle anderen auf. Der Bursche wurde wieder heiter und fing sogar an, das Vergangene zu vergessen; sogar der weiße Ochse begann sich immer seltener zu zeigen, obgleich er immer noch manchmal seine phantastische Existenz in Erinnerung brachte. Kurz, alles wäre gut gegangen, wenn es auf der Welt keinen Komarinski gegeben hätte.

Es muß bemerkt werden, daß Falalej vorzüglich tanzte; dies war seine Hauptfähigkeit, ja gewissermaßen seine Berufung; er tanzte mit Energie, mit unerschöpflicher Lust; und ganz besonders liebte er den Komarinski. Nicht daß ihm die unziemlichen und jedenfalls unerklärlichen Handlungen des in diesem Tanz dargestellten leichtsinnigen Bauern gefallen hätten; nein, den Komarinski zu tanzen gefiel ihm einzig und allein deswegen, weil den Komarinski zu hören und nicht nach seiner Musik zu tanzen für ihn einfach ein Ding der Unmöglichkeit war. Manchmal versammelten sich abends zwei, drei Diener und Kutscher, der Gärtner, welcher Geige spielte, und sogar einige Damen vom Gutsgesinde zu einem Kränzchen, irgendwo auf einem der abgelegensten Plätze des herrschaftlichen Grundstücks, möglichst weit von Foma Fomitsch entfernt; dann begannen Musik und Tanz, und zuletzt trat auch der Komarinski feierlich in seine Rechte. Das Orchester wurde von zwei Balalaiken, einer Gitarre, einer Geige und einem Tamburin, mit dem der Vorreiter Dmitri vortrefflich umgehen konnte, gebildet. Es war sehenswert, was dann mit Falalej vorging: er tanzte bis zur völligen Selbstvergessenheit, bis zur Erschöpfung seiner letzten Kräfte, angefeuert durch das Geschrei und Gelächter seines Publikums; er kreischte, schrie, lachte, klatschte in die Hände; er tanzte wie von einer fremden, unbegreiflichen Macht fortgerissen, der er nicht widerstehen konnte, und strengte sich hartnäckig an, mit dem immer schneller werdenden Tempo der wilden Melodie Schritt zu halten und in diesem Tempo mit den Hacken auf die Erde zu stampfen. Das waren für ihn Augenblicke wahrer Wonne; und alles wäre schön und gut gewesen, wenn das Gerücht vom Komarinski-Tanz nicht endlich auch Foma Fomitsch zu Ohren gekommen wäre.

Foma wurde starr vor Entrüstung und ließ sogleich den Oberst rufen.

»Ich wollte nur eines von Ihnen hören, Oberst«, begann Foma, »haben Sie sich geschworen, diesen unglücklichen Idioten vollständig zugrunde zu richten oder nicht? Im ersteren Fall ziehe ich mich sofort zurück; wenn Sie ihn aber nicht vollständig zugrunde richten wollen, so möchte ich . . .«

»Was gibt es denn? Was ist denn geschehen?« rief der Onkel erschrocken.

»Sie fragen noch, was geschehen ist? Wissen Sie denn nicht, daß er den Komarinski tanzt?«

»Na . . . was ist dabei?«

»Was dabei ist?« kreischte Foma. »Und das sagen Sie, sein Herr und gewissermaßen sein Vater! Aber haben Sie denn (was nach dieser Antwort zweifelhaft scheint) eine klare Vorstellung davon, was der Komarinski ist? Wissen Sie davon, daß dieses Lied einen greulichen Bauern darstellt, der in trunkenem Zustand eine höchst unmoralische Handlung plant? Wissen Sie, was dieser liederliche Kerl vorhat? Er hat die heiligsten Bande zerrissen und sozusagen mit seinen Bauernstiefeln darauf herumgetrampelt, die nur den Boden der Schenke zu betreten gewohnt sind. Verstehen Sie, daß Sie durch Ihre Antwort mein innerstes sittliches Gefühl beleidigt haben? Verstehen Sie, daß in Ihrer Antwort eine persönliche Beleidigung für mich liegt? Verstehen Sie das oder nicht?«

»Aber Foma . . . Es ist doch nur ein Lied, Foma . . .«

»Nur ein Lied! Und Sie schämen sich nicht, mir einzugestehen, daß Sie dieses Lied kennen, Sie, ein Mitglied des Adels, der Vater anständiger, unschuldiger Kinder und obendrein noch ein Oberst! Nur ein Lied! Aber ich bin davon überzeugt, daß dieses Lied auf Grund einer wahren Begebenheit verfaßt wurde! Nur ein Lied! Aber welcher anständige Mensch kann, ohne vor Scham zu vergehen, eingestehen, daß er dieses Lied kennt, daß er dieses Lied überhaupt jemals gehört hat? Wer kann das tun, wer?«

»Na, aber du selbst kennst es doch, Foma, wenn du so fragst«, antwortete der verlegene Onkel in seiner Herzenseinfalt.

»Wie! Ich kenne es? . . . Ich . . . ich . . . das heißt . . . Sie haben mich beleidigt!« schrie Foma auf einmal; er war vom Stuhl aufgesprungen und konnte vor Wut kaum reden.

Er hatte eine solch verblüffende Antwort nicht erwartet.

Ich unternehme es nicht, Foma Fomitschs Zorn zu schildern. Der Oberst wurde wegen seiner unschicklichen, schlagfertigen Antwort mit Schimpf und Schande von dem Antlitz des Wächters der Sittlichkeit verbannt. Aber seitdem stand Foma Fomitschs Entschluß fest, Falalej, wenn er den Komarinski tanzen würde, am Ort des Verbrechens zu fassen. Abends, wenn alle glaubten, daß er von irgendeiner ernsten Beschäftigung in Anspruch genommen sei, begab er sich mit Absicht heimlich in den Garten, ging um die Gemüsebeete herum und versteckte sich in den Hanfstauden, von wo in einiger Entfernung der freie Platz sichtbar war, auf dem die Tänze stattzufinden pflegten. Er stellte dem armen Falalej nach wie ein Jäger einem Stück Federwild und malte sich mit Genuß aus, wie er im Fall des Gelingens sämtliche Hausbewohner und ganz besonders den Oberst heruntermachen werde. Endlich wurden seine unermüdlichen Bemühungen von Erfolg gekrönt: er ertappte den Komarinski-Tänzer in flagranti! Danach wird man begreifen, warum der Onkel sich die Haare raufte, als er den weinenden Falalej erblickte und hörte, wie Widopljassow Foma Fomitsch anmeldete, der so unerwartet und in einem so heiklen Augenblick in eigener Person vor uns erschien.

VII

Foma Fomitsch

Ich betrachtete diesen Herrn mit gespanntem Interesse. Gawrila hatte ihn mit Recht ein mickriges Kerlchen genannt. Foma war von kleiner Statur, hatte weißliche Augenbrauen und Wimpern, graumeliertes Haar, eine gebogene Nase und kleine Runzeln im ganzen Gesicht. Am Kinn saß eine große Warze. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein. Leise, mit gemessenen Schritten und gesenkten Augen trat er ein; aber auf seinem Gesicht und in seiner ganzen pedantischen Erscheinung kam das unverschämteste Selbstbewußtsein zum Ausdruck. Zu meinem Erstaunen erschien er im Schlafrock, allerdings in einem von ausländischer Fasson, aber doch im Schlafrock, und noch dazu in Pantoffeln. Sein Hemdkragen, um den keine Krawatte geschlungen war, war á l'enfant umgeschlagen, was dem ganzen Menschen ein außerordentlich dummes Aussehen verlieh. Er ging zu einem unbesetzten Lehnstuhl, rückte ihn an den Tisch und setzte sich hin, ohne zu jemandem ein Wort zu sagen. Aller Lärm und alle Aufregung, die einen Augenblick vorher geherrscht hatten, waren sofort verschwunden. Alles war so still geworden, daß man eine Fliege hätte fliegen hören. Die Generalin war ruhig und sanft wie ein Lamm. Die ganze sklavische Verehrung, die die arme Idiotin diesem Foma Fomitsch zollte, trat jetzt klar zutage. Sie konnte sich an ihrem teuren Liebling gar nicht satt sehen und wandte kein Auge von ihm. Fräulein Perepelizyna rieb sich grinsend die Hände; die arme Praskowja Iljinitschna aber zitterte sichtlich vor Angst. Der Onkel geriet sogleich in geschäftige Bewegung.

»Tee, Tee, liebe Schwester! Nur recht süß, liebe Schwester; Foma Fomitsch trinkt den Tee nach dem Mittagschläfchen gern recht süß. – Du möchtest ihn doch wohl gern recht süß, Foma?«

»Was kümmert mich jetzt Ihr Tee!« erwiderte Foma langsam und würdevoll und machte mit tiefernster Miene eine wegwerfende Handbewegung. »Sie nur immer mit Ihrem ›recht süß‹!« Diese Worte und die in ihrer pedantischen Wichtigtuerei unglaublich lächerliche Art, wie Foma Fomitsch eingetreten war, riefen bei mir höchstes Interesse hervor. Ich war gespannt darauf, wie weit, bis zu welcher Nichtachtung alles Anstandes die Frechheit dieses hochmütigen Herrn gehen werde.

»Foma!« rief mein Onkel. »Ich erlaube mir, dir meinen Neffen Sergej Alexandrowitsch vorzustellen. Er ist soeben angekommen.«

Foma Fomitsch maß ihn von Kopf bis Fuß.

»Ich wundere mich, daß Sie mich prinzipiell stets unterbrechen, Oberst«, sagte er nach einem bedeutsamen Stillschweigen, ohne mir auch nur die geringste Beachtung zu schenken. »Ich rede zu Ihnen von einer ernsten Angelegenheit, und Sie schwatzen Gott weiß was dazwischen. Haben Sie Falalej gesehen?«

»Ja, ich habe ihn gesehen, Foma.«

»Ah, Sie haben ihn gesehen! Nun, dann werde ich ihn Ihnen noch einmal zeigen, wenn Sie ihn schon gesehen haben. Da können Sie Ihre Freude haben an Ihrem Produkt . . . das heißt Produkt im geistigen Sinne. Komm mal her, du Idiot! Komm mal her, du holländische Fratze! Na, komm, komm! Hab keine Angst!«

Falalej trat schluchzend, mit offenem Mund und Tränen schluckend, näher. Foma Fomitsch betrachtete ihn mit besonderem Genuß.

»Ich habe ihn absichtlich eine holländische Fratze genannt, Pawel Semjonowitsch«, bemerkte er, sich in seinem Lehnstuhl rekelnd und sich ein wenig zu dem neben ihm sitzenden Obnoskin hinüberneigend. »Wissen Sie, ich finde es überhaupt in keinem Fall nötig, daß man seine Ausdrücke herabmildert. Wahrheit muß Wahrheit bleiben. Und Schmutz bleibt, womit man ihn auch zudeckt, doch immer Schmutz. Also was hat es für einen Sinn, sich milde auszudrücken? Man betrügt damit nur sich selbst und andere Leute! Nur in dem dummen Kopf eines Weltmenschen konnte sich das Bedürfnis nach solchen sinnlosen Anstandsregeln herausbilden. Sagen Sie (ich nehme Sie zum Richter), finden Sie an dieser Visage etwas Schönes? Ich verstehe darunter etwas Hohes, Edles, Erhabenes, und nicht bloß so eine rote Larve.«

Foma Fomitsch sprach leise, gemessen und mit einer Art von stolzer Gleichgültigkeit.

»Ob ich an ihm etwas Schönes finde?« erwiderte Obnoskin in unverschämt nachlässigem Ton. »Mir scheint, das ist einfach ein ordentliches Stück Roastbeef, weiter nichts . . .«

»Trat heute vor den Spiegel und sah hinein«, fuhr Foma fort, indem er durch Weglassung des Fürwortes ›ich‹ seinem Satz einen großartigen Anstrich zu geben suchte. »Bin weit davon entfernt, mich für einen schönen Mann zu halten, kam aber doch unwillkürlich zu der Überzeugung, daß in diesem grauen Auge etwas liegt, was mich von einem solchen Falalej unterscheidet. Das ist der Gedanke, das Leben, der Verstand in diesem Auge! Will damit nicht speziell mich loben. Spreche im allgemeinen von Menschen unserer Art. Wie denken Sie nun jetzt darüber: kann in diesem lebenden Beefsteak auch nur eine Spur, auch nur ein Fetzen von Seele vorhanden sein? Nein, in der Tat, achten Sie einmal darauf, Pawel Semjonowitsch, was diese Menschen, die aller Denktätigkeit und aller Ideale völlig bar sind, immer für einen widerwärtig frischen Teint haben, einen Teint von einer geradezu rohen, dummen Frische! Mögen Sie den Grad seiner Denkfähigkeit kennenlernen? He, du, Ölgötze! Komm mal noch näher heran und laß dich ansehen! Warum sperrst du den Mund auf? Du willst wohl einen Walfisch verschlingen? Bist du schön? Antworte: bist du schön?«

»Ja, ich . . . bin . . . schön!« antwortete Falalej mit dumpfem Schluchzen.

Obnoskin schüttelte sich vor Lachen. Ich spürte, daß ich vor Wut zu zittern begann.

»Haben Sie das gehört?« fuhr Foma, sich triumphierend an Obnoskin wendend, fort. »Nun hören Sie weiter! Ich bin hergekommen, um ihn einem Verhör zu unterziehen. Sehen Sie, Pawel Semjonowitsch, es gibt Menschen, denen es Freude macht, diesen kläglichen Idioten sittlich ganz zugrunde zu richten. Vielleicht urteile ich zu streng und irre mich; aber ich rede aus Liebe zur Menschheit. Er hat soeben den unanständigsten Tanz getanzt, den es nur gibt. Hier kümmert sich kein Mensch darum. Aber hören Sie selbst! Antworte: was hast du eben getan? Antworte, antworte sofort! Hörst du?«

»Ich habe . . . getanzt . . .«, antwortete Falalej, sein Schluchzen gewaltsam unterdrückend.

»Was hast du denn getanzt? Was für einen Tanz? Sprich!«

»Den Komarinski . . .«

»Den Komarinski! Aber was ist das für ein Tanz? Aus dieser Antwort kann ich mir doch keinen Begriff davon machen. Nun, gib uns eine klare Vorstellung: wer wird in diesem Tanze dargestellt?«

»Ein Bau-er . . .«

»Ein Bauer! Nur ein Bauer? Da muß ich mich doch wundern! Das scheint ja ein merkwürdiger Bauer zu sein, wenn Lieder über ihn gemacht werden und er in Tänzen dargestellt wird. Nun, so antworte doch!«

Jemanden zu quälen war für Foma ein Bedürfnis. Er spielte mit seinem Opfer wie die Katze mit der Maus; aber Falalej schwieg, schluchzte und verstand die Frage nicht.

»So antworte doch!« setzte ihm Foma hartnäckig zu. »Ich frage dich: was ist das für ein Bauer? Sprich! Ist es ein freier oder gehört er einer Gutsherrschaft oder dem Staate oder einem Kloster? Es gibt allerlei Bauern . . .«

»Ei-nem Klo-ster . . .«

»Ah, er gehört einem Kloster! Hören Sie wohl, Pawel Semjonowitsch? Eine neue historische Tatsache: der Bauer dieses Tanzes gehört einem Kloster. Hm! . . . Nun, was hat denn dieser Klosterbauer getan? Für welche Großtaten wird er denn besungen und im Tanz dargestellt?«

Das war eine heikle und, da sie an einen Menschen wie Falalej gerichtet war, auch gefährliche Frage.

»Aber . . . Sie sollten doch . . .«, fing Obnoskin an, da er sah, wie seine Mutter in einer ganz besonderen Weise auf dem Sofa hin und her rutschte.

Aber was war zu machen? Foma Fomitschs Launen galten als Gesetz.

»Ich bitte Sie, lieber Onkel, wenn Sie diesem Dummkopf nicht Einhalt tun, so wird er . . . Sie hören ja, was er herauszubringen sucht . . . Falalej wird irgend etwas Arges reden, glauben Sie mir . . .«, flüsterte ich meinem Onkel zu, der völlig den Kopf verloren hatte und nicht wußte, was er tun sollte.

»Aber, Foma, du solltest doch . . .«, sagte er; »hier stelle ich dir meinen Neffen vor, einen jungen Mann, der sich mit Mineralogie beschäftigt hat . . .«

»Ich bitte Sie, Oberst, unterbrechen Sie mich nicht mit Ihrer Mineralogie, von der Sie, soviel ich weiß, nichts verstehen und vielleicht andere Leute auch nicht. Ich bin kein Kind. Er wird mir antworten, daß dieser Bauer, statt zum Wohl seiner Familie zu arbeiten, sich betrunken hat, in der Schenke seinen Halbpelz in Zahlung gegeben hat und betrunken auf die Straße gelaufen ist. Das ist bekanntlich der Inhalt dieses Liedes, durch welches die Trunksucht verherrlicht wird. Seien Sie unbesorgt, er weiß jetzt, was er zu antworten hat. – Nun, antworte mal: was hat dieser Bauer getan? Ich habe es dir ja vorgesagt und in den Mund gelegt. Ich möchte aber von dir selbst hören: was hat er getan, wodurch ist er berühmt geworden und hat so unsterblichen Ruhm verdient, daß ihn die Troubadours besingen? Nun?«

Der unglückliche Falalej blickte in seinem Kummer rings um sich, und in der Verlegenheit, was er sagen sollte, machte er den Mund auf und zu wie eine Karausche, die man aus dem Wasser auf den Sand gezogen hat.

»Ich schäme mich . . . es zu sagen!« murmelte er endlich ganz verzweifelt.

»Ah, du schämst dich, es zu sagen!« rief Foma triumphierend. »Gerade diese Antwort wollte ich hören, Oberst! Man schämt sich, es zu sagen; aber man schämt sich nicht, es zu tun. Das ist die Moral, die Sie gesät haben, die nun aufgegangen ist, und die Sie jetzt . . . begießen. Aber es ist zwecklos, noch weitere Worte zu verlieren. Geh jetzt in die Küche, Falalej. Jetzt sage ich weiter nichts zu dir aus Achtung vor den Anwesenden; aber noch heute wirst du streng und schmerzhaft bestraft werden. Sollte das aber nicht geschehen, sollte man mich auch diesmal hinter dir zurücksetzen, dann bleibe du hier und amüsiere deine Herrschaft durch den Komarinski-Tanz; ich aber werde gleich heute dieses Haus verlassen! Genug! Ich bin zu Ende! Geh!«

»Na, da sind Sie aber doch, wie mir scheint, etwas zu streng gewesen«, brummte Obnoskin.

»Gewiß, gewiß, gewiß! . . .« rief mein Onkel, brach dann aber plötzlich ab und verstummte. Foma warf ihm von der Seite einen finsteren Blick zu.

»Ich wundere mich bei dieser Lage der Dinge, Pawel Semjonowitsch«, fuhr er fort, »was denn eigentlich all diese modernen Literaten, Dichter, Gelehrten und Denker tun. Wie geht es zu, daß sie den Liedern, die das russische Volk singt und nach denen es tanzt, so gar keine Aufmerksamkeit schenken? Was haben denn all diese Männer wie Puschkin, Lermontow, Borosdna bisher getan? Das erregt mein Erstaunen. Das Volk tanzt den Komarinski, diese Apotheose der Trunksucht; sie aber besingen irgendwelche blauen Blümelein! Warum schreiben sie nicht moralischere Lieder zum Volksgebrauch und geben ihren blauen Blümelein den Laufpaß? Das ist eine soziale Frage! Sollen sie von mir aus einen Bauern darstellen, aber einen veredelten Bauern, sozusagen einen Landmann und keinen Bauern! Mögen sie diesen ländlichen Weisen in seiner ganzen Schlichtheit darstellen, meinetwegen sogar in Bastschuhen (auch dagegen habe ich nichts), aber mit solchen Tugenden ausgestattet, um die ihn (ich sage es dreist) sogar der hochberühmte Alexander von Mazedonien beneiden würde! Ich kenne Rußland, und Rußland kennt mich: darum sage ich das. Mögen sie uns diesen Bauern darstellen, wie er als grauhaariger Mann schwer für seine Familie zu arbeiten hat, in einer dumpfigen Hütte lebt, meinetwegen auch hungert, aber zufrieden ist, nicht murrt, sondern seine Armut segnet und dem Gold des Reichen gegenüber gleichgültig bleibt! Mag der Reiche selbst ihm schließlich in der Rührung seines Herzens sein Gold bringen; mag sogar in diesem Fall eine Vereinigung der Tugenden des Bauern mit den Tugenden seines Herrn, meinetwegen eines hohen Würdenträgers, stattfinden! Der Landmann und der hohe Würdenträger, auf der Stufenleiter der menschlichen Gesellschaft so weit voneinander entfernt, vereinigen sich endlich in der Tugend – das ist ein erhabener Gedanke! Aber was sehen wir in Wirklichkeit? Auf der einen Seite blaue Blümelein, und auf der anderen Seite stürzt ein Betrunkener aus der Schenke und läuft in unwürdigem Aufzug auf der Straße herum! Nun, sagen Sie selbst, was ist daran Poetisches? Worüber soll man sich da freuen? Wo stecken da Verstand und Anmut und Sittlichkeit? Das alles erregt meine Verwunderung!«

»Hundert Rubel bin ich dir für diese prächtigen Worte schuldig, Foma Fomitsch!« rief Jeshewikin mit ganz entzücktem Gesicht.

»Keine Kopeke kriegt er von mir«, flüsterte er mir leise zu. »Immer schmeicheln, immer schmeicheln!«

»Na ja . . . das haben Sie recht hübsch herausgebracht«, äußerte Obnoskin.

»Gewiß, gewiß, gewiß!« rief mein Onkel, der mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört hatte und mich triumphierend ansah.

»Was ist das für ein herrliches Thema, das da zur Sprache gekommen ist!« flüsterte er, sich die Hände reibend. »Ein vielseitiges Gespräch, hol's der Teufel! Foma Fomitsch, hier ist mein Neffe«, fügte er im Überschwang seiner Gefühle hinzu. »Er hat sich ebenfalls mit Literatur beschäftigt; ich erlaube mir, ihn dir vorzustellen.«

Foma Fomitsch beachtete es wie vorher nicht im geringsten, daß der Onkel mich vorstellte.

»Um Gottes willen, stellen Sie mich ihm nicht weiter vor! Ich bitte Sie allen Ernstes darum!« flüsterte ich meinem Onkel mit energischem Gesichtsausdruck zu.

»Iwan Iwanowitsch«, begann Foma auf einmal, indem er sich zu Misintschikow wandte und ihn fest anblickte, »wir haben jetzt gesprochen; welches ist nun Ihre Meinung?«

»Ich? Sie fragen mich?« erwiderte Misintschikow erstaunt und machte dabei ein Gesicht, als ob er eben aus dem Schlaf aufwachte.

»Ja, Sie. Ich frage Sie deswegen, weil ich auf die Meinung wirklich kluger Leute Wert lege, nicht aber auf die Meinung irgendwelcher problematischen Männer der Wissenschaft, die nur deshalb klug sind, weil sie einem beständig als kluge Köpfe, als Gelehrte vorgestellt werden, und die man sich manchmal kommen läßt, um sie wie in einer Jahrmarktsbude zur Schau zu stellen.«

Dieser Stein war gerade in meinen Garten gezielt. Und es konnte auch kein Zweifel daran sein, daß Foma Fomitsch, obwohl er mir äußerlich keinerlei Beachtung schenkte, doch diese ganze Erörterung über Literatur einzig und allein meinetwegen aufs Tapet gebracht hatte, um den Petersburger Gelehrten und Mann der Wissenschaft gleich von vornherein auf den Mund zu schlagen, ihn niederzuschmettern und zu vernichten. Ich wenigstens zweifelte nicht daran.

»Wenn Sie meine Meinung wissen wollen, so muß ich sagen, daß ich . . . daß ich ganz mit Ihnen einverstanden bin«, versetzte Misintschikow in müdem Ton und mit Widerstreben.

»Sie sind immer ganz mit mir einverstanden! Es wird einem ordentlich übel davon«, erwiderte Foma. »Ich sage Ihnen in aller Aufrichtigkeit, Pawel Semjonowitsch«, fuhr er nach kurzem Stillschweigen fort, indem er sich wieder an Obnoskin wandte, »wenn ich unsern unsterblichen Karamsin wegen einer seiner Schriften verehre, so tue ich es nicht wegen seines Geschichtswerkes, nicht wegen der ›Statthalterin Marfa‹, nicht wegen des ›Alten und neuen Rußlands‹, sondern speziell deswegen, weil er den ›Frol Silin‹ geschrieben hat, dieses großartige Epos! Das ist ein echt volkstümliches Werk und wird in Ewigkeit nicht untergehen! Ein großartiges Epos!«

»Gewiß, gewiß, gewiß! Eine großartige Epoche! Frol Silin ist ein wohltätiger Mensch! Ich erinnere mich, ich habe es gelesen; er kaufte noch zwei Mädchen los und blickte dann gen Himmel und weinte. Ein erhabener Zug!« stimmte mein Onkel, strahlend vor Vergnügen, bei.

Der arme Onkel! Er brachte es nie fertig, sich der Einmischung in ein ›gelehrtes‹ Gespräch zu enthalten. Foma lächelte boshaft, schwieg aber.

»Übrigens schreiben manche auch jetzt interessant«, bemerkte Anfissa Petrowna vorsichtig. »Da sind zum Beispiel die ›Geheimnisse von Brüssel‹.«

»Nicht meine Ansicht«, erwiderte Foma in mitleidig klingendem Tone. »Ich habe neulich ein modernes Gedicht gelesen . . . Nun, was ist darüber zu sagen? Die Blaublümelein-Sorte! Aber ich will zugeben: von den Neueren gefällt mir am besten der Berichterstatter; der hat eine gewandte Feder!«

»Der Berichterstatter!« rief Anfissa Petrowna; »das ist der, der die Briefe an das Journal schreibt? Ach, wie entzückend schreibt der! Wie er mit den Worten spielt!«

»Gewiß, er spielt mit den Worten«, erwiderte Foma. »Er spielt sozusagen mit der Feder. Er hat eine außerordentlich gewandte Feder!«

»Ja, aber er ist ein Pedant«, bemerkte Obnoskin lässig.

»Ein Pedant, ein Pedant, das bestreite ich nicht; aber ein liebenswürdiger Pedant, ein graziöser Pedant! Allerdings erweist sich keiner seiner Gedanken einer gründlichen Kritik gegenüber als stichhaltig; aber man läßt sich doch durch seine Gewandtheit mit fortreißen! Er ist ein Schwätzer, zugegeben; aber ein liebenswürdiger Schwätzer, ein graziöser Schwätzer! Erinnern Sie sich zum Beispiel, er erwähnt in einem literarischen Artikel, daß er eigene Güter besitze?«

»Güter?« fiel der Onkel ein. »Das ist ja schön! In welchem Gouvernement denn?«

Foma hielt inne, blickte den Onkel starr an und fuhr dann in demselben Tone fort:

»Nun, sagen Sie mir im Namen des gesunden Menschenverstandes: wozu brauche ich als Leser zu erfahren, daß er Güter besitzt? Wenn er welche hat, so kann man ihm ja dazu gratulieren! Aber in welcher liebenswürdigen, scherzhaften Weise macht er diese Mitteilung! Alles strahlt und sprüht bei ihm nur so von Witz und Geist. Er sprudelt geradezu! Ja, so muß man schreiben! Ich glaube, geradeso würde ich schreiben, wenn ich mich darauf einließe, für Journale zu schreiben . . .«

»Vielleicht auch noch besser«, bemerkte Jeshewikin respektvoll.

»Es liegt sogar etwas Melodisches im Stil!« stimmte der Onkel bei.

Foma Fomitsch konnte es nun doch nicht länger aushalten.

»Oberst«, sagte er, »dürfte ich Sie, natürlich in der zartesten Weise, bitten, uns nicht zu stören und uns unser Gespräch in Ruhe beenden zu lassen. Sie können über diesen Gegenstand nicht urteilen; Sie können es wirklich nicht! Unterbrechen Sie unsere angenehme literarische Unterhaltung nicht! Beschäftigen Sie sich mit Ihrer Wirtschaft, trinken Sie Tee . . . aber lassen Sie die Literatur in Ruhe! Sie wird davon keinen Schaden nehmen, glauben Sie mir!«

Das war eine Frechheit, die alle Grenzen überschritt! Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte.

»Aber du hast doch selbst einmal diesen Ausdruck gebracht, Foma«, brachte der Onkel betrübt und verlegen heraus.

»Ja, aber ich habe es auf Grund meiner Sachkenntnis gesagt und an der richtigen Stelle; Sie dagegen . . .«

»Ja, wir haben mit Verstand gesprochen«, schloß sich Jeshewikin an, der eifrig um Foma Fomitsch herumscharwenzelte. »Wir haben so ein bißchen Verstand, den müssen wir beschäftigen; zu zwei Ministerposten reicht er wohl aus; oder nein, wir würden auch mit einem dritten zurechtkommen. So steht es mit uns!«

»Na, dann habe ich also wieder einmal Unsinn geredet!« erwiderte der Onkel und lächelte in seiner gutmütigen Art.

»Wenigstens sehen Sie es selbst ein«, bemerkte Foma.

»Macht nichts, macht nichts, Foma, ich nehme es nicht übel. Ich weiß, daß du wie ein Freund, wie ein Verwandter, ein Bruder mich zurückzuhalten suchst. Das habe ich dir selbst erlaubt und dich sogar darum gebeten! Das ist vernünftig, durchaus vernünftig! Das ist zu meinem eigenen Nutzen. Ich danke dir und werde Nutzen daraus ziehen!«

Meine Geduld war erschöpft. Alles, was ich bisher über Foma Fomitsch vom Hörensagen wußte, war mir etwas übertrieben erschienen. Jetzt aber, wo ich alles selbst als Tatsache wahrnahm, war ich grenzenlos erstaunt. Ich traute meinen eigenen Sinnen nicht; eine solche Dreistigkeit, eine so freche Anmaßung auf der einen Seite und eine solche freiwillige Knechtschaft, eine so vertrauensselige Gutmütigkeit auf der anderen Seite, das war mir unbegreiflich. Übrigens war sogar der Onkel über eine solche Dreistigkeit betroffen. Das war ihm anzusehen . . . Ich brannte vor Begierde, irgendwie mit Foma anzubändeln, mich mit ihm zu messen, recht grob gegen ihn zu werden – mochte dann kommen, was da wollte! Dieser Gedanke belebte mich. Ich suchte nach einem Anlaß und zerknickte in Erwartung eines solchen meine Hutkrempe vollständig. Aber es bot sich kein Anlaß: Foma wollte mich absolut nicht bemerken.

»Du hast die Wahrheit gesagt, Foma, du hast die Wahrheit gesagt«, fuhr mein Onkel fort, der sich die größte Mühe gab, den unangenehmen Eindruck des vorhergehenden Gespräches zu verwischen und wenigstens einigermaßen abzuschwächen. »Du nimmst kein Blatt vor den Mund, Foma, und dafür bin ich dir dankbar. Man muß eine Sache verstehen; dann erst kann man über sie urteilen. Ich bekenne, daß ich es falsch gemacht habe! Ich habe mich schon mehrmals in eine solche Situation gebracht. Stell dir vor, Sergej, ich habe einmal sogar examiniert . . . Ihr lacht! Na, ihr könnt's glauben! Bei Gott, ich habe examiniert, wahrhaftig. Ich wurde eingeladen, in einem Lehrinstitut dem Examen beizuwohnen, und da wiesen sie mir einen Platz mitten unter den Examinatoren an, nur so ehrenhalber; es war da gerade ein freier Stuhl. Ich muß bekennen, ich bekam es da ordentlich mit der Angst, und Furcht überkam mich; denn ich wußte absolut von keiner Wissenschaft etwas! Was war zu machen? ›Gleich‹, dachte ich, ›werde ich selbst an die Tafel geschickt werden!‹ Na, aber dann begab sich nichts dergleichen, und alles ging gut; ich stellte sogar selbst Fragen, ich fragte: ›Wer war Noah?‹ Überhaupt antworteten die Schüler vorzüglich; dann frühstückten wir und tranken Champagner auf das Blühen und Gedeihen der Anstalt. Es war eine ausgezeichnete Anstalt!«

Foma Fomitsch und Obnoskin schüttelten sich vor Lachen.

»Ich habe nachher selbst darüber gelacht«, rief der Onkel, lachte in seiner gutmütigen Art und freute sich, daß alle heiter geworden waren. »Nein, Foma, ich will mir ein Herz fassen und euch alle amüsieren; ich will erzählen, wie ich einmal hereingefallen bin . . . Stell dir vor, Sergej, wir standen in Krasnogorsk . . .«

»Gestatten Sie eine Frage, Oberst: ist die Geschichte, die Sie erzählen wollen, lang?« unterbrach ihn Foma.

»Ach, Foma! Es ist ja eine wundervolle Geschichte; man kann dabei geradezu platzen vor Lachen. Hör nur zu; sie ist hübsch, wirklich hübsch. Ich werde erzählen, wie ich hereingefallen bin.«

»Ich höre Ihre Geschichten immer mit Vergnügen an, wenn sie von dieser Art sind«, bemerkte Obnoskin gähnend.

»Dann hilft es nichts; dann müssen wir sie eben anhören«, entschied Foma.

»Aber bei Gott, es ist eine hübsche Geschichte, Foma. Ich will erzählen, wie ich einmal hereingefallen bin, Anfissa Petrowna. Hör du auch zu, Sergej; es ist sogar lehrreich. Wir standen in Krasnogorsk«, begann mein Onkel, strahlend vor Vergnügen; er redete schnell und hastig und erging sich in zahllosen abschweifenden Vorreden, was er immer tat, wenn er etwas zur Unterhaltung der Gesellschaft zu erzählen anfing. »Kaum waren wir angekommen, so ging ich auch gleich am selben Abend ins Theater. Es gab da eine ganz vorzügliche Schauspielerin, ein Fräulein Kuropatkina; einige Zeit darauf brannte sie mit dem Stabsrittmeister Swerkow durch, ohne an dem betreffenden Abend ihre Rolle zu Ende zu spielen, so daß der Vorhang herabgelassen werden mußte. Dieser Swerkow war übrigens ein toller Kerl, im Trinken und im Kartenspiel; nicht daß er ein Trunkenbold gewesen wäre, aber er war immer bereit, mit Kameraden zusammen vergnügt zu sein. Wenn er aber einmal so richtig ins Trinken geriet, dann vergaß er alles: wo er wohnte, in welchem Land er lebte, wie er hieß, kurz, schlechterdings alles. Aber im Grunde seines Herzens war er ein prächtiger Bursche. Na also, ich saß im Theater. In der Pause stand ich auf und stieß auf meinen früheren Kameraden Kornouchow. Ich sage euch, ein ganz vorzüglicher Mensch. Wir hatten uns seit sechs Jahren nicht gesehen. Er hatte einen Feldzug mitgemacht und die Brust voll Orden; jetzt ist er, wie ich kürzlich hörte, schon Wirklicher Staatsrat; er ist in den Zivildienst übergetreten und hat es zu einer hohen Stellung gebracht. Na, selbstverständlich freuten wir uns beide. Wir redeten von diesem und jenem. Neben uns saßen in einer Loge drei Damen; diejenige, die links saß, hatte eine Visage von unerhörter Häßlichkeit. Nachher erfuhr ich, daß sie eine vortreffliche Frau, eine brave Mutter ihrer Familie war und ihren Mann glücklich machte. Na also, ich in meiner Dummheit fragte Kornouchow ohne weiteres: ›Sag mal, Bruder, weißt du nicht, was das da für eine Vogelscheuche ist?‹ – ›Welche meinst du?‹ – ›Die da.‹ – ›Das ist meine Kusine.‹ Pfui Teufel! Versetzt euch in meine Lage! Um die Sache wieder einzurenken, sagte ich: ›Nicht doch, die nicht. Hast du denn keine Augen? Die da, die auf der andern Seite sitzt; wer ist das?‹ – ›Das ist meine Schwester.‹ Donnerwetter! Und dabei war seine Schwester auch noch wie ein Röschen, ein ganz allerliebstes Wesen, und so schön geputzt mit Broschen, Handschuhen, Armbändern; kurz, wie ein Engel saß sie da. Später hat sie einen vortrefflichen Mann namens Pychtin geheiratet; sie lief mit ihm davon, und sie ließen sich ohne Erlaubnis der Eltern trauen; na, aber jetzt ist das alles in Ordnung, und sie leben im Wohlstand; die Eltern können sich gar nicht genug über die beiden freuen! Nun also weiter: ›Aber nein!‹ rief ich und wußte selbst nicht, wo ich mich hätte verkriechen können, ›die nicht! Die in der Mitte, wer ist das?‹ – ›Ja, die in der Mitte . . . na, Bruder, das ist meine Frau.‹ Unter uns gesagt: ein Frauchen, wie man es sich gar nicht appetitlicher denken kann! Ich hätte sie am liebsten vor Vergnügen aufgefressen. ›Na‹, sagte ich, ›hast du schon mal einen Dummerjan gesehen? Hier steht einer vor dir, und sein Kopf ist auch da; hau ihn ohne Erbarmen ab!‹ Er lachte. Nach dem Theater stellte er mich den Damen vor und hatte ihnen wohl inzwischen die ganze Geschichte erzählt, der Schelm. Sie lachten gewaltig. Und ich muß gestehen, ich habe nie in meinem Leben die Zeit so vergnügt verbracht. So kann man manchmal hereinfallen, lieber Foma! Ha-ha-ha-ha!«

Aber vergebens lachte mein armer Onkel; vergebens ließ er seinen heiteren, gutmütigen Blick über die Anwesenden hinschweifen: Totenstille war die Antwort auf seine lustige Geschichte. Foma Fomitsch saß in finsterem Schweigen da, und die andern machten es ihm nach; nur Obnoskin lächelte leise in Voraussicht des Verweises, den der Onkel bekommen würde. Der Onkel wurde verlegen und errötete. Gerade das hatte Foma gewünscht.

»Sind Sie fertig?« fragte er endlich, indem er sich mit würdevoller Miene an den verlegenen Erzähler wandte.

»Ja, ich bin fertig, Foma.«

»Und freuen Sie sich?«

»Was meinst du damit? Inwiefern sollte ich mich freuen?« fragte mein armer Onkel bekümmert.

»Fühlen Sie sich jetzt erleichtert? Sind Sie zufrieden, da Sie ein angenehmes literarisches Gespräch unter Freunden gestört haben, indem Sie sie unterbrachen und dadurch Ihre kleinliche Eigenliebe befriedigten?«

»Aber was redest du da, Foma! Ich wollte euch alle amüsieren, und du . . .«

»Amüsieren!« rief Foma, der plötzlich außerordentlich heftig wurde. »Aber Sie sind nur fähig, einen Menschen melancholisch zu machen, nicht ihn zu amüsieren. Amüsieren! Aber wissen Sie auch wohl, daß Ihre Geschichte beinah unmoralisch war? Davon, daß sie unanständig war, will ich erst gar nicht reden; das versteht sich von selbst. Sie haben soeben mit einer selten vorkommenden Roheit des Gemütes erklärt, daß Sie über ein unschuldiges Wesen, über eine adlige Dame sich nur deshalb lustig gemacht haben, weil sie nicht die Ehre hatte, Ihnen zu gefallen. Und uns, uns wollten Sie veranlassen mitzulachen, das heißt Ihnen zuzustimmen, ein grobes, unanständiges Benehmen zu billigen, und alles das nur deswegen, weil Sie der Herr dieses Hauses sind! Meinetwegen, Oberst, können Sie sich Schmarotzer, Speichellecker und Kumpane suchen, soviel Sie wollen, und sich solche sogar aus fernen Gegenden kommen lassen und dadurch Ihre Suite vergrößern, zum Schaden der Aufrichtigkeit und der edlen Offenheit des Herzens; aber niemals wird Foma Opiskin Ihr Schmeichler oder Ihr Speichellecker oder Ihr Schmarotzer sein! Das kann ich Ihnen auf das bestimmteste versichern! . . .«

»Ach, Foma, du hast mich nicht verstanden, Foma!«

»O doch, Oberst, ich habe Sie längst durchschaut und verstehe Sie vollständig. Eine grenzenlose Eigenliebe quält Sie; Sie erheben unmögliche Ansprüche darauf, ein geistreicher Mensch zu sein, und vergessen, daß gerade diese Ansprüche den Eindruck geistiger Stumpfheit hervorrufen. Sie . . .«

»Hör auf, Foma, um Gottes willen! Nimm doch wenigstens Rücksicht auf die Anwesenden! . . .«

»Aber es ist gar zu traurig, Oberst, das alles mit anzusehen, und wenn man es mit ansieht, so kann man unmöglich schweigen. Ich bin arm; ich lebe bei Ihrer Mutter. Da könnten die Leute womöglich noch denken, ich wollte mich durch mein Schweigen bei Ihnen einschmeicheln; aber ich will nicht, daß irgend so ein Milchbart mich für Ihren Parasiten hält! Vielleicht habe ich, als ich vorhin hier eintrat, meine wahrheitsliebende Offenherzigkeit geflissentlich stark hervortreten lassen und mich gezwungen gesehen, geflissentlich sogar bis zur Grobheit zu gehen, ebendeshalb weil Sie selbst mich in eine solche Lage bringen. Sie behandeln mich gar zu sehr von oben herab, Oberst. Man kann mich ja für Ihren Sklaven halten, für einen Klienten, der bei Ihnen das Gnadenbrot ißt. Es macht Ihnen Vergnügen, mich vor den Augen Unbekannter herabzuwürdigen, während ich Ihnen doch gleichgestellt bin, wissen Sie das? In jeder Beziehung gleichgestellt. Vielleicht erweise ich Ihnen sogar einen Dienst damit, daß ich bei Ihnen wohne, und nicht Sie mir. Ich werde von Ihnen erniedrigt; folglich muß ich mich Ihnen gegenüber loben; das ist nur natürlich! Ich kann nicht schweigen; ich muß reden, muß unverzüglich Protest erheben, und daher erkläre ich Ihnen offen und geradezu, daß Sie in phänomenaler Weise neidisch sind! Sie sehen zum Beispiel, daß jemand in einem harmlosen, freundschaftlichen Gespräch unwillkürlich seine Kenntnisse, seine Belesenheit, seinen guten Geschmack an den Tag legt: gleich ärgern Sie sich darüber und können sich nicht beherrschen: ›Da will ich doch auch meine Kenntnisse und meinen guten Geschmack zeigen!‹ Aber was besitzen Sie für einen Geschmack, mit Verlaub zu sagen? Sie verstehen vom Schönen so viel (nehmen Sie es nicht übel, Oberst) wie zum Beispiel der Esel vom Lautenspiel! Das ist schroff und derb gesagt, ich gebe es zu, aber wenigstens aufrichtig und wahrheitsgemäß. So etwas bekommen Sie von Ihren Schmeichlern nicht zu hören, Oberst.«

»Aber Foma! . . .«

»Nun ja, ›aber Foma!‹ Die Wahrheit ist bekanntlich kein Daunenbett. Nun gut, wir werden darüber später noch einmal reden; jetzt aber wollen Sie auch mir gestatten, die Gesellschaft ein wenig zu erheitern. Es ist doch nicht in Ordnung, daß Sie sich immer nur allein hervortun. Pawel Semjonowitsch! Haben Sie dieses Seeungeheuer in Menschengestalt gesehen? Ich beobachte ihn schon lange. Betrachten Sie ihn nur genauer: er würde mich am liebsten lebendig mit Haut und Haar auffressen.«

Es handelte sich um Gawrila. Der alte Diener stand an der Tür und sah und hörte wirklich mit tiefem Schmerz an, wie sein Herr heruntergeputzt wurde.

»Auch ich will Sie durch ein Schauspiel amüsieren, Pawel Semjonowitsch. Heda, du Maulaffe, komm mal her! Haben Sie die Güte, näher zu kommen, Gawrila Ignatitsch! Sehen Sie, Pawel Semjonowitsch, das ist Gawrila; zur Strafe für seine Grobheit lernt er Französisch. Wie Orpheus mildere ich hierzulande die Sitten, aber nicht durch Lieder, sondern durch die französische Sprache. Nun, du Franzose (er kann es nicht leiden, wenn ich ihn so nenne), kannst du deine Lektion?«

»Ich habe sie gelernt«, antwortete Gawrila, der den Kopf hängen ließ.

»Nun also: Parlez-vous français?«

»Wui, mußjö, sche le parl ön pö . . .«

Ich weiß nicht, war Gawrilas traurige Figur beim Aussprechen dieses französischen Satzes die Ursache oder ahnten alle Fomas Wunsch, daß sie lachen möchten, kurz, jeder schüttelte sich nur so vor Lachen, sowie Gawrila nur einen Ton sagte. Sogar die Generalin lachte mit. Anfissa Petrowna ließ sich gegen die Sofalehne zurücksinken, kreischte laut auf und verbarg ihr Gesicht hinter dem Fächer. Am lächerlichsten erschien es der Gesellschaft, daß Gawrila, als er sah, welche Wendung das Examen nahm, sich nicht mehr beherrschen konnte, ausspuckte und vorwurfsvoll sagte: »Was für eine Schande muß ich auf meine alten Tage noch erleben!«

»Was? Was hast du gesagt? Willst du etwa grob werden?«

»Nein, Foma Fomitsch«, antwortete Gawrila würdig, »meine Worte sind keine Grobheit, und mir als Leibeigenem steht es auch nicht zu, gegen dich als geborenen Herrn grob zu werden! Aber jeder Mensch trägt das Ebenbild Gottes in sich, sein Ebenbild und Gleichnis. Ich bin schon dreiundsechzig Jahre alt. Mein Vater erinnerte sich noch an den schrecklichen Pugatschow, und meinen Großvater hatte Pugatschow an ein und denselben Galgen mit seinem Herrn, Matwej Nikititsch (Gott gebe ihm das Himmelreich), aufhängen lassen; dafür wurde mein Vater von seinem Herrn, dem seligen Afanassi Matwejewitsch, achtungsvoller behandelt als die übrigen Diener: er versah die Stelle eines Kammerdieners und beschloß sein Leben als Haushofmeister. Ich aber, gnädiger Herr Foma Fomitsch, bin zwar nur ein herrschaftlicher Leibeigener; aber solche Schande wie jetzt habe ich, solange ich auf der Welt bin, nicht erlebt!«

Bei dem letzten Worte breitete Gawrila die Arme aus und ließ den Kopf sinken. Der Onkel verfolgte sein Verhalten mit großer Unruhe.

»Na, hör auf, hör auf, Gawrila!« rief er. »Wozu machst du so viele Worte! Hör auf!«

»Es schadet nichts, es schadet nichts!« sagte Foma, der ein wenig blaß geworden war und in gezwungener Manier lächelte. »Lassen Sie ihn reden; das sind ja nur die Früchte Ihrer Behandlung . . .«

»Nun, dann werde ich alles sagen«, fuhr Gawrila mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit fort, »und nichts verschweigen. Die Hände kann man mir binden, aber nicht die Zunge! Ich bin ja freilich dir gegenüber ein geringer Mensch, Foma Fomitsch, mit einem Wort: ein Knecht; aber auch ich habe ein Gefühl für Kränkungen! Zu Dienst und Gehorsam bin ich dir allzeit verpflichtet, weil ich als Knecht geboren bin und jede Obliegenheit in Furcht und Zittern erfüllen muß. Wenn du dich in dein Zimmer setzt, um ein Buch zu schreiben, so habe ich jeden zudringlichen Besucher abzuweisen; das ist meine wirkliche Pflicht. Und was nur immer zur Bedienung nötig ist, das tue ich gern und willig. Aber nun soll ich auf meine alten Tage wie ein Ausländer bellen und mich vor den Leuten zum Gespött machen! Ich wage jetzt kaum noch die Gesindestube zu betreten, weil sie zu mir sagen: ›Du Franzose, du Franzose!‹ Nein, gnädiger Herr Foma Fomitsch, nicht nur ich Dummkopf, sondern alle guten Leute sagen schon einstimmig, daß du jetzt ein böser Mensch geworden bist und daß unser Herr vor dir ganz wie ein kleines Kind ist und daß du, wenn du auch von Geburt ein Generalssohn bist und es vielleicht selbst beinahe bis zum General gebracht hast, doch ein böser Mensch bist, so eine richtige Furie.«

Gawrila war zu Ende. Ich war außer mir vor Entzücken. Foma Fomitsch saß inmitten der allgemeinen Bestürzung blaß vor Wut da und schien nach dem unerwarteten Angriff von seiten Gawrilas noch gar nicht recht zur Besinnung kommen zu können; es war, als ob er in diesem Augenblick überlegte, in welchem Maße er zornig werden müsse. Endlich erfolgte der Ausbruch.

»Wie! Er wagt es, mich zu beschimpfen? Mich? Das ist Rebellion!« kreischte Foma und sprang von seinem Stuhl auf.

Wie er, sprang auch die Generalin auf und schlug die Hände zusammen. Es entstand eine schreckliche Aufregung. Mein Onkel stürzte auf den das Verbrechen begangen habenden Gawrila zu, um ihn aus dem Zimmer zu schieben.

»In Fußfesseln muß er gelegt werden, in Fußfesseln!« schrie die Generalin. »Schick ihn sofort nach der Stadt, Jegor, und gib ihn zu den Soldaten! Wenn du das nicht tust, verweigere ich dir meinen Segen. Laß ihm gleich einen Klotz ans Bein binden und gib ihn zu den Soldaten!«

»Wie!« schrie Foma. »Knecht, Lump, Kanaille! Du hast es gewagt, mich zu beschimpfen? Er, er, dieser Wischlappen für meine Stiefel! Er hat es gewagt, mich eine Furie zu nennen?«

Ich trat mit mutiger Entschlossenheit vor.

»Ich muß gestehen, daß ich in diesem Fall ganz derselben Meinung bin wie Gawrila«, sagte ich und sah, zitternd vor Aufregung, Foma Fomitsch gerade ins Gesicht.

Er war von meinem energischen Auftreten so überrascht, daß er im ersten Augenblick seinen Ohren nicht zu trauen meinte.

»Was ist das nun wieder?« schrie er endlich, indem er wütend auf mich losstürzte und mich mit seinen kleinen, blutunterlaufenen Augen anstarrte. »Was bist du denn für einer?«

»Foma Fomitsch . . .«, begann mein Onkel, der alle Fassung verloren hatte, »das ist ja Sergej, mein Neffe . . .«

»Der Gelehrte!« brüllte Foma. »Also das ist er, der Gelehrte? Liberté, égalité, fraternité! Journal des débats! Nein, mein Freund, da irrst du dich! In Sachsen hat's das nicht gegeben! Hier ist nicht Petersburg; mich betrügst du nicht! Ich spucke auf deine fortschrittliche Richtung! Ein Gelehrter! Ich habe schon siebenmal so viel vergessen, wie du überhaupt weißt! So ein Gelehrter bist du!«

Wenn man ihn nicht festgehalten hätte, so würde er sich meines Erachtens mit den Fäusten auf mich gestürzt haben.

»Er ist ja betrunken«, sagte ich, mich erstaunt rings umsehend.

»Wer? Ich?« schrie Foma mit ganz fremd klingender Stimme.

»Ja, Sie.«

»Ich wäre betrunken?«

»Allerdings.«

Das war mehr, als Foma ertragen konnte. Er kreischte, als ob ihm jemand die Kehle durchschneiden wollte, und rannte aus dem Zimmer. Die Generalin schien in Ohnmacht fallen zu wollen, hielt es dann aber doch für besser, hinter Foma Fomitsch her zu laufen. Nach ihr liefen auch die andern hinaus, als letzter von allen mein Onkel. Als ich zur Besinnung kam und um mich blickte, sah ich im Zimmer nur Jeshewikin. Er lächelte und rieb sich die Hände.

»Sie wollten doch vorhin etwas von einem Jesuiten erzählen«, sagte er in schmeichelndem Ton.

»Was?« fragte ich, da ich nicht begriff, was er meinte.

»Sie versprachen vorhin, ein Geschichtchen von einem Jesuiten zu erzählen . . .«

Ich lief auf die Terrasse hinaus und von dort in den Garten. Mir war ganz schwindlig im Kopf.

VIII

Die Liebeserklärung

Etwa eine Viertelstunde lang irrte ich, aufgeregt und mit mir selbst äußerst unzufrieden, im Garten umher und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Die Sonne neigte sich schon zum Untergang. Auf einmal stand ich beim Einbiegen in eine dunkle Allee Nastasja gegenüber. Sie hatte Tränen in den Augen und hielt ein Taschentuch in der Hand, mit dem sie sie abwischte.

»Ich habe Sie gesucht«, sagte sie.

»Und ich Sie«, antwortete ich. »Sagen Sie: bin ich hier in einem Irrenhaus?«

»Durchaus nicht«, erwiderte sie gekränkt und blickte mich unverwandt an.

»Aber wenn das nicht der Fall ist, was geht denn dann hier vor? Um des Himmels willen, geben Sie mir einen Rat! Wohin ist mein Onkel jetzt gegangen? Kann ich auch dorthin gehen? Ich freue mich sehr, daß ich Sie getroffen habe; vielleicht können Sie mir irgendeinen Fingerzeig geben.«

»Nein, gehen Sie lieber nicht hin! Ich selbst bin von ihnen fortgegangen.«

»Aber wo sind sie denn?«

»Wer kann das wissen? Vielleicht sind sie wieder in den Gemüsegarten gelaufen«, antwortete sie in gereiztem Ton.

»In was für einen Gemüsegarten?«

»Foma Fomitsch schrie in der vorigen Woche, er wolle nicht länger in diesem Hause bleiben, lief auf einmal in den Gemüsegarten, nahm aus dem Schuppen einen Spaten und machte sich daran, die Beete umzugraben. Wir alle fragten uns erstaunt, ob er nicht etwa den Verstand verloren habe. ›Seht her‹, sagte er, ›damit man mir später nicht einen Vorwurf macht, ich hätte hier mein Brot umsonst gegessen, werde ich die Erde umgraben und das Brot, das ich hier gegessen habe, abarbeiten, dann aber fortgehen. Dahin habt ihr mich gebracht!‹ Da fingen alle an zu weinen, knieten beinah vor ihm nieder und wollten ihm den Spaten wegnehmen; aber er grub weiter; das ganze Rübenbeet hat er verdorben. Haben sie sich einmal von ihm betören lassen, so versucht er es jetzt vielleicht zum zweitenmal. Das würde ihm ähnlich sehen.«

»Und Sie . . . Sie erzählen das so kaltblütig?« rief ich in größter Entrüstung.

Sie sah mich mit blitzenden Augen an.

»Verzeihen Sie mir«, fügte ich schnell hinzu; »ich weiß nicht, was ich rede! Hören Sie, ist Ihnen bekannt, warum ich hierhergereist bin?«

»N-nein«, antwortete sie errötend, und eine peinvolle Verlegenheit spiegelte sich auf ihrem lieblichen Gesicht.

»Entschuldigen Sie«, fuhr ich fort; »ich bin jetzt ganz verstört; ich fühle, daß ich in anderer Weise hätte anfangen sollen, davon zu reden . . . namentlich mit Ihnen . . . Aber gleichviel! Meiner Ansicht nach ist Offenheit in solchen Dingen das beste. Ich muß gestehen . . . das heißt, ich wollte sagen . . . Sie kennen die Absicht meines Onkels? Er hat mir befohlen, um Ihre Hand anzuhalten . . .«

»Ach, was für ein Unsinn! Bitte, sprechen Sie nicht weiter davon!« sagte sie, indem sie mich eilig unterbrach. Sie war dunkelrot geworden.

Ich war wie vor den Kopf gestoßen.

»Wieso Unsinn? Aber er hat es mir doch geschrieben!«

»Also hat er es Ihnen wirklich geschrieben?« fragte sie lebhaft. »Nein, so ein Mann! Und er hatte mir doch versprochen, es nicht zu tun! Was für ein Unsinn! Herr Gott, was für ein Unsinn!«

»Verzeihen Sie mir«, murmelte ich und wußte vor Verlegenheit nicht, was ich sagen sollte, »vielleicht habe ich mich unvorsichtig und plump benommen . . . Aber was ist das auch für ein Augenblick! Sagen Sie selbst: um uns herum geht ja doch Gott weiß was vor . . .«

»Oh, um Gottes willen, entschuldigen Sie sich nicht! Glauben Sie, es ist mir auch so schon peinlich genug, davon zu hören; und doch hatte ich selbst gewünscht, mit Ihnen davon zu reden, um etwas Näheres zu erfahren . . . Ach, wie ärgerlich! Also er hat es Ihnen wirklich geschrieben? Gerade das hatte ich am allermeisten gefürchtet! Mein Gott, was ist er für ein Mensch! Und Sie haben es ohne weiteres geglaubt und sind Hals über Kopf hergereist? Das hat nur noch gefehlt!«

Sie verbarg ihren Ärger nicht. Meine Situation war nicht sehr angenehm.

»Ich muß gestehen, ich hatte das nicht erwartet«, sagte ich in der größten Verwirrung. »Eine solche Wendung . . . ich hatte ganz im Gegenteil geglaubt . . .«

»Ah, also Sie hatten geglaubt?« erwiderte sie mit leiser Ironie und biß sich ein wenig auf die Lippe. »Aber wissen Sie, zeigen Sie mir diesen Brief, den er Ihnen geschrieben hat!«

»Gern.«

»Und bitte, seien Sie mir nicht böse, und fühlen Sie sich nicht gekränkt; ich habe auch so schon Kummer genug!« sagte sie in bittendem Ton, wiewohl gleichzeitig ein leicht spöttisches Lächeln über ihre schönen Lippen huschte.

»Oh, ich bitte Sie, halten Sie mich nicht für einen Dummkopf!« rief ich erregt. »Aber vielleicht haben Sie eine gewisse Voreingenommenheit gegen mich? Vielleicht hat mich jemand bei Ihnen angeschwärzt? Vielleicht urteilen Sie deswegen ungünstig über mich, weil ich mich dort jetzt blamiert habe? Aber das hat nicht viel auf sich, versichere ich Ihnen. Ich begreife selbst, als was für ein Dummkopf ich jetzt vor Ihnen stehe. Bitte, lachen Sie mich nicht aus! Ich weiß nicht, was ich rede . . . Aber das kommt davon, daß ich jetzt in diesem verdammten Alter von zweiundzwanzig Jahren stehe!«

»Ach mein Gott, was macht denn das?«

»Was das macht? Wer zweiundzwanzig Jahre alt ist, dem steht es auf der Stirn geschrieben, wie mir zum Beispiel, als ich vorhin mitten ins Zimmer hineinflog, oder wie ich jetzt vor Ihnen stehe . . . Ein ganz verfluchtes Alter!«

»O nein, nein!« antwortete Nastasja, die sich kaum das Lachen verbeißen konnte. »Ich bin davon überzeugt, daß Sie ein guter, liebenswürdiger, verständiger Mensch sind, und ich sage das wirklich ganz aufrichtig! Aber . . . Sie sind nur sehr egoistisch. Das kann sich aber noch ändern.«

»Mir scheint, ich bin nur so egoistisch, wie es nötig ist.«

»Aber nein. Denken Sie nur an vorhin, als Sie verlegen wurden (und weswegen? weil Sie beim Eintritt gestolpert waren!); welches Recht hatten Sie da, Ihren guten, hochherzigen Onkel, der Ihnen so viel Gutes getan hat, dem Gelächter preiszugeben? Warum wollten Sie die Last der Lächerlichkeit auf ihn abwälzen, während Sie doch selbst lächerlich waren? Das war schlecht und häßlich von Ihnen! Das macht Ihnen keine Ehre, und ich muß Ihnen gestehen, Sie waren mir in jenem Augenblick sehr zuwider. Nun wissen Sie es!«

»Das ist richtig! Ich war ein Tölpel! Mehr sogar: ich beging eine Gemeinheit! Sie haben sie bemerkt – und ich bin schon dafür bestraft! Schelten Sie mich, lachen Sie mich aus; aber hören Sie: vielleicht werden Sie schließlich doch Ihre Meinung über mich ändern«, fügte ich, von einem eigentümlichen Gefühl hingerissen, hinzu; »Sie kennen mich noch so wenig, daß Sie später, wenn Sie mich besser kennengelernt haben werden . . . dann . . . vielleicht . . .«

»Um Gottes willen, lassen wir dieses Thema!« rief Nastasja mit sichtlicher Ungeduld.

»Gut, gut, lassen wir es! Aber . . . wo kann ich Sie wiedersehen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Aber es ist doch unmöglich, daß dies das letzte Wort sein sollte, das wir miteinander sprechen, Nastasja Jewgrafowna! Ich bitte Sie inständig, bestimmen Sie mir ein Rendezvous, gleich heute noch! Allerdings, es wird jetzt schon dunkel. Nun, dann, wenn es irgend möglich ist, morgen früh, recht früh am Tag; ich werde mich extra recht früh wecken lassen. Wissen Sie, dort am Teich ist ein Pavillon. Ich erinnere mich daran; ich kenne den Weg dorthin. Ich habe ja als Knabe hier gelebt!«

»Ein Rendezvous! Aber wozu? Wir reden ja auch ohne das jetzt miteinander.«

»Aber ich weiß jetzt noch nichts, Nastasja Jewgrafowna. Ich muß vorher erst alles von meinem Onkel in Erfahrung bringen. Er muß mir doch endlich alles auseinandersetzen, und dann werde ich Ihnen vielleicht etwas sehr Wichtiges zu sagen haben . . .«

»Nein, nein, das darf nicht sein, das darf nicht sein!« rief Nastasja. »Lassen Sie uns diesen Gegenstand ein für allemal erledigen, so daß wir später mit keinem Wort wieder darauf zurückzukommen brauchen. Und machen Sie sich nicht die vergebliche Mühe, zu jenem Pavillon zu gehen: glauben Sie mir, ich werde nicht hinkommen; und schlagen Sie sich bitte diesen ganzen Unsinn aus dem Kopf – ich bitte Sie ernstlich darum . . .«

»Dann hat sich ja aber der Onkel gegen mich wie ein Irrsinniger benommen!« rief ich in einem Anfall heftigen Ärgers. »Warum hat er mich denn hierher gerufen? . . . Aber hören Sie nur: was ist das für ein Lärm?«

Wir waren nicht mehr weit vom Haus entfernt. Aus den offenen Fenstern drangen Geschrei und auffälliges Gekreisch.

»Mein Gott!« sagte sie erbleichend, »schon wieder! Ich hatte es schon geahnt!«

»Sie hatten es geahnt? Nastasja Jewgrafowna, noch eine Frage. Ich habe allerdings nicht die geringste Berechtigung dazu; aber um des Gemeinwohls willen wage ich es, Ihnen diese letzte Frage vorzulegen. Sagen Sie mir (und ich werde Ihre Antwort als Geheimnis in meiner Brust begraben), sagen Sie mir aufrichtig: ist mein Onkel in Sie verliebt?«

»Ach! Schlagen Sie sich doch diesen Unsinn ein für allemal aus dem Kopf, ich bitte Sie darum!« rief sie, vor Zorn errötend. »Nun fangen Sie auch noch so an! Wenn er verliebt wäre, so würde er mich doch nicht mit Ihnen verheiraten wollen«, fügte sie mit bitterem Lächeln hinzu. »Und wie kommen Sie nur auf diesen Gedanken? Wissen Sie wirklich nicht, was im Gange ist? Hören Sie dieses Geschrei?«

»Aber . . . das ist ja Foma Fomitsch . . .«

»Ja freilich ist es Foma Fomitsch; aber jetzt handelt es sich um mich; denn die dort reden dasselbe wie Sie, denselben Unsinn; sie argwöhnen ebenfalls, daß er in mich verliebt sei. Und da ich ein armes, geringes Mädchen bin und man mich somit ohne Gefahr mit Schmutz bewerfen kann und sie ihn mit einer andern verheiraten wollen, so verlangen sie zur Sicherheit von ihm, er solle mich aus dem Haus jagen, zu meinem Vater. Aber wenn sie davon zu ihm reden, gerät er sofort außer sich; er ist dann imstande, selbst Foma Fomitsch in Stücke zu reißen. Da erheben sie nun wieder ein Geschrei deswegen; ich ahne schon, daß das der Grund ist.«

»Also ist das alles wahr! Also wird er bestimmt diese Tatjana heiraten?«

»Was für eine Tatjana?«

»Na, diese Närrin.«

»Sie ist ganz und gar keine Närrin! Sie ist ein herzensgutes Wesen. Sie haben kein Recht, so zu sprechen! Sie hat ein edles Herz, ein edleres als viele andere. Sie kann nichts dafür, daß sie unglücklich ist.«

»Verzeihen Sie! Nehmen wir an, daß Sie darin vollkommen recht haben; aber irren Sie sich auch nicht gerade in der Hauptsache? Sagen Sie, wie geht das zu: ich habe bemerkt, daß Ihr Vater hier gut aufgenommen wird; wenn man nun gegen Sie in dem Maß, wie Sie das sagen, feindlich gesinnt wäre und Sie aus dem Haus treiben wollte, dann würde man auch gegen ihn feindlich gesinnt sein und ihn schlecht aufnehmen.«

»Aber sehen Sie denn nicht, was mein Vater für mich tut? Er spielt vor ihnen die Rolle eines Possenreißers! Sie nehmen ihn ebendeswegen freundlich auf, weil es ihm gelungen ist, sich bei Foma Fomitsch einzuschmeicheln. Da Foma Fomitsch selbst ein Possenreißer gewesen ist, so schmeichelt es ihm, daß er jetzt einen Possenreißer hat. Was meinen Sie, für wen mein Vater das tut? Er tut es für mich, für mich allein. Für sich ließe er sich nicht dazu herbei; um seines eigenen Vorteils willen würde er vor niemandem eine Verbeugung machen. Er erscheint manchem vielleicht sehr lächerlich; aber er ist ein edler Mensch, der edelste, den es gibt! Er denkt (Gott weiß warum, aber jedenfalls nicht deswegen, weil ich hier ein gutes Gehalt bekomme, das kann ich Ihnen versichern), er denkt, daß es für mich besser ist, wenn ich hier in diesem Haus bleibe. Aber jetzt habe ich ihn völlig vom Gegenteil überzeugt. Ich habe ihm einen Brief in entschiedenem Ton geschrieben. Er ist hergekommen, um mich zurückzuholen, und zwar, wenn es nötig werden sollte, gleich morgen, da die Sache sich schon auf das äußerste zugespitzt hat; sie möchten mich am liebsten zerreißen, und ich weiß bestimmt, daß das Geschrei dort jetzt um meinetwillen stattfindet. Sie zermartern ihn« (damit meinte sie meinen Onkel) »um meinetwillen; sie richten ihn zugrunde! Er aber hat an mir Vaterstelle vertreten; ja, er ist mir mehr gewesen als mein leiblicher Vater! Ich will es nicht durch mein Zögern dahin kommen lassen. Ich weiß mehr als andere. Gleich morgen, gleich morgen gehe ich weg! Wer weiß, vielleicht verschieben sie infolgedessen seine Heirat mit Tatjana Iwanowna wenigstens für einige Zeit . . . Da habe ich Ihnen nun alles erzählt. Teilen Sie es auch ihm mit; denn ich selbst kann jetzt nicht einmal mit ihm reden, weil sie uns auflauern, besonders dieses Fräulein Perepelizyna. Sagen Sie ihm, er solle sich meinetwegen keine Sorgen machen; ich würde lieber Schwarzbrot essen und in der kümmerlichen Behausung meines Vaters leben, als die Ursache seiner hiesigen Leiden sein. Ich bin ein armes Mädchen und muß eben wie ein armes Mädchen leben. Aber mein Gott, was ist das für ein Spektakel! Was für ein Geschrei! Was geht da nur vor? Nein, mag kommen, was will, ich gehe sogleich hin! Ich werde ihnen das alles geradeheraus sagen, ich selbst, was auch immer geschehen mag! Das ist meine Pflicht. Leben Sie wohl!«

Sie lief davon. Ich blieb auf demselben Fleck stehen; mir war vollkommen klar, wie lächerlich die Rolle war, die ich soeben gespielt hatte, und ich konnte schlechterdings nicht absehen, zu welchem Ende die ganze Sache gelangen werde. Das arme Mädchen tat mir leid; und ich war um meinen Onkel in Sorge. Auf einmal stand Gawrila neben mir. Er hielt immer noch sein Heft in der Hand.

»Sie möchten zu Ihrem Herrn Onkel kommen«, sagte er in traurigem Ton. Ich kam wieder zu mir.

»Zu meinem Onkel? Wo ist er? Was ist mit ihm?«

»Im Teezimmer. Ebendort, wo Sie vorhin Tee getrunken haben.«

»Wer ist bei ihm?«

»Er ist allein und wartet.«

»Auf wen? Auf mich?«

»Er hat auch nach Foma Fomitsch geschickt. Unsere guten Tage sind nun vorbei!« fügte er mit einem tiefen Seufzer hinzu.

»Nach Foma Fomitsch? Hm! Und wo sind die andern? Wo ist die gnädige Frau?«

»In ihren Zimmern. Sie war in Ohnmacht gefallen und liegt jetzt ohne Besinnung da und weint.«

Während dieses Gespräches waren wir zur Terrasse gelangt. Draußen war es schon fast ganz dunkel. Der Onkel befand sich tatsächlich allein in ebendemselben Zimmer, in welchem mein Zusammenprall mit Foma Fomitsch stattgefunden hatte, und ging darin mit großen Schritten auf und ab. Auf dem Tisch brannten einige Kerzen. Als er mich erblickte, eilte er auf mich zu und drückte mir kräftig beide Hände. Er war blaß und atmete schwer; seine Hände zitterten, und ein nervöses Zucken lief von Zeit zu Zeit durch seinen ganzen Körper.

IX

Seine Exzellenz

»Mein Freund! Alles ist zu Ende, alles ist entschieden!« sagte er in einer Art von tragischem Flüsterton.

»Lieber Onkel«, erwiderte ich, »ich habe ein seltsames Geschrei gehört.«

»Allerdings, lieber Freund, allerdings; es hat mancherlei Geschrei gegeben! Mama ist in Ohnmacht gefallen, und jetzt herrscht die größte Aufregung. Aber ich habe meinen Entschluß gefaßt und werde auf meinem Willen bestehen. Ich fürchte mich jetzt vor niemand mehr, lieber Sergej. Ich will ihnen zeigen, daß auch ich Charakterfestigkeit besitze, und ich werde es ihnen zeigen. Und darum habe ich extra dich rufen lassen, damit du mir behilflich bist, es ihnen zu zeigen . . . Mein Herz blutet, lieber Sergej . . . aber ich muß, ich bin verpflichtet, mit aller Strenge zu verfahren. Die Gerechtigkeit ist unerbittlich!«

»Aber was ist denn vorgefallen, lieber Onkel?«

»Ich werde mich von Foma trennen«, antwortete mein Onkel in entschlossenem Ton.

»Lieber Onkel!« rief ich entzückt, »auf einen besseren Gedanken konnten Sie überhaupt nicht kommen! Und wenn ich Ihnen irgendwie bei der Ausführung Ihres Entschlusses behilflich sein kann, so verfügen Sie vollständig über mich!«

»Ich danke dir, mein Lieber, ich danke dir! Aber jetzt ist alles bereits entschieden. Ich erwarte Foma; ich habe schon nach ihm geschickt. Entweder er oder ich! Wir müssen uns trennen. Entweder verläßt Foma morgen dieses Haus, oder (das schwöre ich!) ich lasse alles im Stich und trete wieder bei den Husaren ein! Man wird mich schon nehmen und mir wieder zwei Schwadronen geben. Schluß mit dieser ganzen Art der Lebensführung! Jetzt soll ein neues Leben beginnen! Wozu hast du da das französische Heft?« schrie er grimmig, indem er sich zu Gawrila wandte. »Weg damit! Verbrenne es, zertritt es mit den Füßen, zerreiße es! Ich bin dein Herr, und ich befehle dir, kein Französisch zu lernen. Du kannst und darfst mir nicht ungehorsam sein; denn ich bin dein Herr und nicht Foma Fomitsch!«

»Gott sei Dank!« murmelte Gawrila vor sich hin.

Die Sache hatte offenbar eine ernste Wendung genommen.

»Mein Freund«, fuhr der Onkel höchst gefühlvoll fort, »sie fordern Unmögliches von mir! Du sollst mein Richter sein; du stehst jetzt als unparteiischer Richter zwischen denen da und mir. Du weißt nicht, du weißt nicht, was man von mir verlangt und schließlich in aller Form mit dürren Worten gefordert hat! Aber das läuft der Menschenliebe, dem Anstandsgefühle, der Ehre zuwider . . . Ich werde dir alles erzählen; aber zuerst . . .«

»Ich weiß bereits alles, lieber Onkel!« rief ich, ihn unterbrechend. »Ich errate, was Sie sagen wollen . . . Ich habe soeben mit Nastasja Jewgrafowna gesprochen.«

»Mein Freund, jetzt kein Wort davon, kein Wort!« unterbrach er mich hastig und wie erschrocken. »Später werde ich dir alles selbst erzählen; aber einstweilen . . . Was soll das heißen?« schrie er den eintretenden Widopljassow an; »wo ist denn Foma Fomitsch?«

Widopljassow brachte die Meldung, Foma Fomitsch wolle nicht kommen; er finde die Forderung, daß er erscheinen solle, überaus ungehörig, so daß er sich dadurch sehr beleidigt fühle.

»Bring ihn her! Schleppe ihn her! Her mit ihm! Schleppe ihn mit Gewalt her!« schrie der Onkel und stampfte dabei mit den Füßen.

Widopljassow, der seinen Herrn noch nie so zornig gesehen hatte, zog sich erschrocken zurück. Ich war höchst erstaunt.

›Es muß sich doch um etwas sehr Wichtiges handeln‹, dachte ich, ›wenn ein Mensch mit solchem Charakter fähig ist, in einen derartigen Zorn zu geraten und solche Entschlüsse zu fassen.‹

Einige Minuten lang ging der Onkel schweigend im Zimmer auf und ab, wie wenn er mit sich selbst kämpfte.

»Zerreiße das Heft doch lieber nicht!« sagte er endlich zu Gawrila. »Warte damit noch und bleib selbst hier; ich brauche dich vielleicht noch. – Mein Freund«, fügte er, sich zu mir wendend, hinzu, »ich bin wohl soeben etwas zu sehr ins Schreien geraten. Man muß alles mit Würde und Mannhaftigkeit ausführen, aber ohne Geschrei und ohne Beleidigungen. Das ist das richtige. Weißt du was, lieber Sergej? Wäre es nicht besser, wenn du von hier weggingest? Dir kann es ja gleich sein; denn ich werde dir nachher doch alles selbst erzählen; nicht wahr? Wie denkst du darüber? Tu mir die Liebe; ich bitte dich darum.«

»Fürchten Sie sich, lieber Onkel? Bereuen Sie Ihren Entschluß?« fragte ich, indem ich ihn forschend ansah.

»Nein, nein, mein Freund; ich bereue meinen Entschluß nicht!« rief er mit verdoppelter Lebhaftigkeit. »Ich fürchte jetzt nichts mehr. Ich habe energische Maßnahmen ergriffen, die allerenergischsten! Du weißt nicht, du kannst dir nicht vorstellen, was man von mir verlangt hat! Bin ich denn wirklich verpflichtet, dazu ja zu sagen? Nein, ich habe mich dagegen aufgelehnt; ich werde ihnen zeigen, daß ich einen eigenen Willen habe; das werde ich ihnen zeigen! Irgendwann muß ich es ihnen doch zeigen! Aber weißt du, mein Freund, ich bereue es, daß ich dich habe rufen lassen: es würde Foma vielleicht sehr peinlich sein, wenn du sozusagen ein Zeuge seiner Erniedrigung würdest. Siehst du, ich will ihm das Haus verbieten, auf anständige Weise, ohne jede Demütigung. Aber freilich sage ich das nur so, daß ich es ohne Beleidigung tun will. Denn die Sache selbst, lieber Freund, ist doch von der Art, daß sie immer kränkend bleibt, wenn man auch honigsüße Redensarten dabei macht. Ich aber bin ein plumper Mensch, ohne Bildung, und werde mich am Ende in meiner Dummheit noch so verrennen, daß es mir selbst nachher leid tun wird. Er hat doch viel für mich getan . . . Geh fort, mein Freund! . . . Aber da führt ihn der Diener schon her! Lieber Sergej, ich bitte dich, geh hinaus! Ich werde dir nachher alles erzählen. Geh hinaus, um Gottes willen!«

Und der Onkel führte mich im selben Augenblick auf die Terrasse hinaus, als Foma ins Zimmer trat. Aber ich muß bekennen: ich ging nicht weg; ich beschloß, auf der Terrasse zu bleiben, wo es sehr dunkel war und man mich folglich vom Zimmer aus nicht leicht sehen konnte. Ich beschloß zu horchen!

Ich will mein Verhalten durch nichts zu entschuldigen suchen; aber das kann ich kühn sagen: damit, daß ich da, ohne die Geduld zu verlieren, eine halbe Stunde lang auf der Terrasse stand, habe ich meines Erachtens eine Großtat des Märtyrertums vollführt. Von meinem Platz aus konnte ich nicht nur gut hören, sondern auch gut sehen, da die Tür eine Glastür war. Jetzt bitte ich den Leser, sich Foma Fomitsch vorzustellen, dem befohlen worden war, zu erscheinen, unter Androhung von Gewalt, falls er sich weigerte.

»Sie haben mir gedroht, Oberst? Kann ich meinen Ohren trauen?« brüllte Foma, als er ins Zimmer trat. »Ist es mir richtig bestellt worden?«

»Jawohl, jawohl, Foma, beruhige dich!« antwortete mein Onkel mutig. »Setz dich hin; laß uns ernsthaft, freundschaftlich und brüderlich miteinander reden! Setz dich doch hin, Foma!«

Foma Fomitsch nahm feierlich auf einem Lehnstuhl Platz. Der Onkel ging mit schnellen ungleichmäßigen Schritten im Zimmer hin und her; offenbar wußte er nicht recht, wie er das Gespräch beginnen sollte.

»Ja, laß uns brüderlich miteinander reden!« wiederholte er. »Du wirst mich verstehen, Foma; du bist kein kleines Kind; ich bin ebenfalls kein kleines Kind – kurz, wir sind beide schon bei Jahren . . . Hm! Siehst du, Foma, wir stimmen in einigen Punkten nicht überein . . . ja gewiß, in einigen Punkten, und daher, Foma, wäre es daher nicht das beste, lieber Freund, wenn wir uns trennten? Ich bin überzeugt, daß du ein edler Mensch bist, daß du mir alles Gute wünschst, und daher . . . Aber wozu rede ich erst noch lange? Foma, ich werde mein Leben lang dein Freund sein, das schwöre ich dir bei allen Heiligen! Da sind fünfzehntausend Rubel in Silber; das ist alles, lieber Freund, was ich zur Verfügung habe; die letzten Reste habe ich zusammengekratzt und meine Angehörigen beraubt. Nimm es dreist hin! Ich fühle mich verpflichtet, deine Zukunft sicherzustellen. Hier ist es, fast alles in Lombardbilletts, nur sehr wenig Bargeld. Nimm es ohne Furcht! Du stehst dadurch nicht in meiner Schuld, da ich niemals imstande sein werde, dir alles zu vergelten, was du an mir getan hast. Ja, ja, gewiß, ich fühle das, obwohl wir jetzt in einem sehr wichtigen Punkt nicht einer Meinung sind. Morgen oder übermorgen . . . oder wann es dir recht ist . . . wollen wir uns trennen. Ziehe in unser Städtchen, Foma, es sind ja nur zehn Werst; da ist ein Häuschen hinter der Kirche, in der ersten Seitengasse, mit grünen Fensterläden, ein allerliebstes Häuschen; es gehört einer verwitweten Popenfrau; das ist wie für dich gebaut. Sie will es verkaufen. Ich werde es für dich kaufen, zusätzlich zu diesem Geld. Laß dich da in unserer Nähe nieder! Beschäftige dich mit der Literatur, mit den Wissenschaften: du wirst dir Ruhm erwerben . . . Die Beamten dort sind sämtlich anständig denkende, treuherzige, uneigennützige Menschen; der Protopope ist ein Gelehrter. An den Festtagen kommst du als Gast zu uns – und wir werden leben wie im Paradiese! Hast du Lust dazu?«

›Also unter solchen Modalitäten wird Foma weggejagt!‹ dachte ich bei mir. ›Von dem Geld hat mir der Onkel aber nichts gesagt.‹

Lange herrschte tiefes Schweigen. Foma saß wie betäubt auf seinem Lehnstuhl und blickte, ohne sich zu rühren, den Onkel an, dem unter diesem Schweigen und von diesem Blick offenbar unbehaglich zumute wurde.

»Geld!« sagte Foma endlich mit einer erkünstelt schwachen Stimme. »Wo ist es, wo ist dieses Geld? Geben Sie es her, geben Sie es schleunigst her!«

»Da ist es, Foma: die letzten Reste, genau fünfzehntausend Rubel, alles, was da war. Es sind Banknoten und Lombardbilletts – sieh selbst . . . da!«

»Gawrila! Nimm dieses Geld für dich«, sagte Foma sanft, »es kann dir von Nutzen sein, alter Mann. – Aber nein!« schrie er auf einmal, stieß dabei einen eigentümlichen kreischenden Ton aus und sprang vom Stuhl auf, »nein! Gib es wieder her, dieses Geld, Gawrila! Gib es her! Gib es her! Gib diese Millionen her, damit ich sie mit Füßen trete; gib sie her, damit ich sie zerreiße, bespeie, umherstreue, beschimpfe, entehre! . . . Mir, mir wagt man Geld anzubieten! Mich will man bestechen, damit ich dieses Haus verlasse! Habe ich wirklich richtig gehört? Muß ich auch noch die schlimmste Schmach erleben? Da, da sind sie, Ihre Millionen! Sehen Sie her: da, da, da und da! So handelt Foma Opiskin, wenn Sie das bisher noch nicht gewußt haben, Oberst!«

Und Foma verstreute sämtliche Geldscheine im Zimmer. Bemerkenswert war, daß er keinen der Scheine zerriß oder bespie, was tun zu wollen er sich gerühmt hatte; er zerknitterte sie nur ein wenig und auch das ziemlich vorsichtig. Gawrila sammelte eilig das Geld vom Fußboden auf und übergab es nachher, als Foma weg war, sorgsam seinem Herrn.

Fomas Handlungsweise versetzte den Onkel in einen richtigen Starrkrampf. Ohne sich bewegen und einen Gedanken fassen zu können, stand er jetzt mit offenem Mund da. Foma hatte inzwischen wieder auf seinem Lehnstuhl Platz genommen und keuchte wie in unbeschreiblicher Aufregung.

»Du bist ein erhabener Mensch, Foma!« rief der Onkel endlich, als er wieder zu sich gekommen war. »Du bist der edelste aller Sterblichen!«

»Das weiß ich«, erwiderte Foma mit matter Stimme, aber mit unbeschreiblicher Würde.

»Foma, verzeih mir! Ich habe mich dir gegenüber wie ein Schurke benommen, Foma!«

»Ja, das haben Sie getan«, bestätigte Foma.

»Foma, ich wundere mich nicht über deinen Edelmut«, fuhr mein Onkel ganz entzückt fort, »sondern darüber, wie ich nur so roh, blind und gemein sein konnte, dir Geld unter solchen Bedingungen anzubieten. Aber, Foma, in einem Punkte irrst du dich: ich wollte dich überhaupt nicht bestechen, dich nicht dafür bezahlen, daß du das Haus verläßt, sondern ich wollte ganz einfach, daß du Geld hast, um nicht in Not zu kommen, wenn du von mir fortgehst. Das schwöre ich dir! Ich bin bereit, dich auf den Knien, auf den Knien um Verzeihung zu bitten, Foma, und wenn du es verlangst, werde ich sogleich vor dir niederknien . . . du brauchst es nur zu verlangen . . .«

»Ich trage kein Verlangen danach, Sie vor mir knien zu sehen, Oberst! . . .«.

»Aber mein Gott, Foma, bedenke doch: ich war ja aufgeregt, bestürzt, ich war außer mir . . . Aber sprich doch, sage mir doch: wodurch vermag ich, wodurch bin ich imstande, diese Beleidigung wiedergutzumachen? Belehre mich, sprich dich aus . . .«

»Durch nichts, durch nichts, Oberst! Und seien Sie überzeugt, daß ich gleich morgen auf der Schwelle dieses Hauses den Staub von meinen Füßen schütteln werde.«

Und Foma schickte sich an, vom Lehnstuhl aufzustehen. Erschrocken stürzte der Onkel auf ihn zu und zwang ihn beinah mit Gewalt, sitzen zu bleiben.

»Nein, Foma, du wirst nicht fortgehen, sage ich dir!« rief der Onkel. »Rede nicht von Staub und Schuhen, Foma! Du wirst nicht fortgehen, oder ich werde dir nachgehen bis ans Ende der Welt und werde immer hinter dir hergehen, bis du mir verzeihst . . . Ich schwöre dir, Foma, das werde ich tun!«

»Ich soll Ihnen verzeihen? Sie bekennen sich schuldig?« erwiderte Foma. »Aber begreifen Sie denn auch, wodurch Sie sich gegen mich vergangen haben? Begreifen Sie auch, daß Sie sich jetzt gegen mich sogar dadurch vergangen haben, daß Sie mir hier das tägliche Brot gegeben haben? Begreifen Sie auch, daß Sie jetzt in einem einzigen Augenblick alle jene früheren Brotstücke, die ich in Ihrem Hause genossen, vergiftet haben? Sie haben mir soeben diese Brotstücke, jeden Bissen Brot, den ich hier verzehrt habe, zum Vorwurf gemacht; Sie haben mir jetzt gezeigt, daß ich in Ihrem Hause als Sklave, als Lakai, als Putzlappen Ihrer Lackstiefel angesehen worden bin! Und dabei habe ich in meiner Herzensreinheit bisher gedacht, ich nähme in Ihrem Hause die Stellung eines Freundes, eines Bruders ein! Haben Sie mir nicht selbst mit Ihren Schlangenworten tausendmal diese Brüderlichkeit versichert? Warum haben Sie dann heimlich diese Netze für mich geknüpft, in die ich mich in meiner Dummheit verstrickt habe? Warum haben Sie mir in der Dunkelheit diese Wolfsgrube gegraben, in die Sie mich jetzt selbst hineingestoßen haben? Warum haben Sie mich nicht lieber vorher mit einem einzigen Keulenschlage niedergestreckt? Warum haben Sie mir nicht gleich zu Anfang den Hals umgedreht wie einem Hahn, zur Strafe dafür . . . nun zum Beispiel zur Strafe dafür, daß er keine Eier legt? Ja, genauso ist es! Ich halte an diesem Vergleich fest, Oberst, obgleich er aus dem Provinzleben genommen ist und in der Trivialität seines Tons an die zeitgenössische Literatur erinnert; ich halte an ihm deshalb fest, weil in ihm die ganze Sinnlosigkeit Ihrer Beschuldigungen anschaulich wird; denn ich habe mich Ihnen gegenüber ebensowenig schuldig gemacht wie dieser supponierte Hahn, der dadurch, daß er keine Eier legte, das Mißvergnügen seines gedankenlosen Besitzers erregte! Ich bitte Sie, Oberst! Bezahlt man denn einen Freund oder Bruder mit Geld – und wofür? Das ist die Hauptfrage: wofür? Sie sagen gleichsam: ›Da, mein lieber Bruder! Ich bin in deiner Schuld; du hast mir sogar das Leben gerettet; da hast du einige Judassilberlinge; aber pack dich fort aus meinen Augen!‹ Wie naiv, wie plump Sie mit mir verfahren! Sie glaubten, ich dürstete nach Ihrem Golde, während ich doch nur den edlen Wunsch hegte, Ihr Wohl zu fördern. Oh, wie haben Sie mein Herz verwundet! Mit meinen edelsten Gefühlen haben Sie Ihr Spiel getrieben wie ein Knabe, der mit Pfeilen nach der Scheibe schießt! Schon lange, schon lange, Oberst, habe ich das alles vorhergesehen; das ist auch der Grund, weshalb ich schon seit langem an Ihrem Brote zu ersticken glaubte! Das ist der Grund, weshalb mich Ihre Daunenbetten erdrückten, ja, erdrückten, statt mir wohlzutun! Das ist der Grund, weshalb Ihr Zucker und Ihr Konfekt mir wie Cayennepfeffer schmeckten! Nein, Oberst! Leben Sie für sich allein; seien Sie für sich allein glücklich, und lassen Sie Foma seinen traurigen Weg mit dem Bettelsack auf dem Rücken dahinwandern! So soll es sein, Oberst!«

»Nein, Foma; nein! So soll es nicht sein; das darf nicht geschehen!« stöhnte mein Onkel, der völlig geknickt war.

»Doch, Oberst, doch! Genauso soll es werden, weil es so werden muß. Gleich morgen werde ich von Ihnen weggehen. Streuen Sie Ihre Millionen hin, bedecken Sie den ganzen Weg, die ganze Landstraße bis Moskau mit Banknoten – ich werde stolz und verächtlich über Ihre Banknoten hinwegschreiten; dieser Fuß hier, Oberst, wird diese Banknoten zertreten und beschmutzen, und Foma Fomitsch wird sich allein vom Adel seiner Seele sättigen! Ich habe es gesagt und bewiesen! Leben Sie wohl, Oberst! Leben – Sie – wohl, Oberst! . . .«

Und Foma schickte sich von neuem an, sich aus dem Lehnstuhl zu erheben.

»Verzeih mir, Foma, verzeih mir! Vergiß alles! . . .« rief mein Onkel in flehendem Ton.

»›Verzeih mir!‹ Wozu begehren Sie meine Verzeihung? Nun gut, nehmen wir an, daß ich Ihnen verzeihe; ich bin ein Christ; ich fühle mich verpflichtet zu verzeihen; ich habe Ihnen auch jetzt schon beinah verziehen. Aber sagen Sie selbst: ist es denn mit dem gesunden Menschenverstand und dem Seelenadel vereinbar, wenn ich jetzt auch nur eine Minute länger in Ihrem Hause bleibe? Sie haben mich ja hinausgejagt!«

»Es ist vereinbar, es ist vereinbar, Foma! Ich versichere dir, daß es vereinbar ist!«

»Es soll vereinbar sein? Aber sind wir denn jetzt etwa Gleichstehende? Begreifen Sie wirklich nicht, daß ich Sie mit meinem Edelmut sozusagen erdrückt habe und Sie sich selbst mit Ihrer unwürdigen Handlungsweise? Sie sind erniedrigt worden und ich erhöht. Wo bleibt da die Gleichheit? Und ist Freundschaft ohne solche Gleichheit denn möglich? Ich sage das, indem ich einen schmerzlichen Klageruf ausstoße, nicht etwa triumphierend und mich über Sie hochmütig erhebend, wie Sie vielleicht denken.«

»Aber auch ich selbst stoße einen schmerzlichen Klageruf aus, Foma; ich versichere dir . . .«

»Und das ist nun derselbe Mensch«, fuhr Foma fort und änderte seinen strengen Ton in einen salbungsvollen, »das ist nur derselbe Mensch, um dessentwillen ich so oft nachts nicht schlafen konnte! Wie oft bin ich in schlaflosen Nächten vom Bett aufgestanden, habe das Licht angezündet und mir gesagt: ›Jetzt schläft er ruhig im Vertrauen auf dich. Aber du, Foma, schlafe nicht; vielleicht ersinnst du noch etwas zum Wohl dieses Menschen.‹ So dachte Foma in seinen schlaflosen Nächten, Oberst! Und so vergilt es ihm dieser Oberst! Aber genug davon, genug davon! . . .«

»Aber ich werde mir deine Freundschaft von neuem verdienen, Foma; das schwöre ich dir!«

»Wollen Sie das? Aber wo ist die Garantie dafür? Als Christ verzeihe ich Ihnen und werde Sie sogar wieder lieben; aber als Mensch, als edler Mensch, werde ich Sie unwillkürlich verachten. Dazu bin ich im Namen der Sittlichkeit verpflichtet und gezwungen, weil Sie (ich wiederhole es Ihnen) sich selbst verunehrt haben, ich aber eine sehr edle Tat ausgeführt habe. Nun, wer von Ihresgleichen würde eine ähnliche Tat ausführen? Wer von Ihnen würde auf eine so gewaltige Geldsumme verzichten, auf die doch der arme, von allen verachtete Foma aus Liebe zum Großen und Erhabenen verzichtet hat? Nein, Oberst, um sich mit mir gleichstellen zu können, müssen Sie jetzt eine ganze Reihe von großen Taten vollbringen. Zu welcher Großtat aber sind Sie fähig, da Sie ja nicht einmal ›Sie‹ zu mir wie zu einem Gleichgestellten sagen können, sondern mich wie einen Diener duzen?«

»Foma, aber ich habe doch zu dir aus Freundschaft ›du‹ gesagt!« wehklagte der Onkel. »Ich habe nicht gewußt, daß dir das unangenehm ist . . . Mein Gott! Aber wenn ich nur gewußt hätte . . .«

»Sie«, fuhr Foma fort, »Sie, der Sie mir nicht einmal die geringste, unbedeutendste Bitte erfüllen konnten oder, richtiger gesagt, erfüllen wollten, als ich Sie bat, mich wie einen General mit ›Exzellenz‹ anzureden . . .«

»Aber Foma, das wäre doch sozusagen ein Attentat auf die höchste Gewalt, Foma!«

»Ein Attentat auf die höchste Gewalt! Da haben Sie nun so eine Bücherphrase auswendig gelernt und wiederholen sie ständig wie ein Papagei! Aber wissen Sie auch, daß Sie mich durch Ihre Weigerung, mich ›Exzellenz‹ zu nennen, beschimpft und entehrt haben? Denn da Sie die Gründe meiner Forderung nicht begriffen, so stellten Sie mich als einen launischen Dummkopf hin, der fürs Irrenhaus reif sei: das war die Entehrung! Nun, ich begreife natürlich selbst, daß es lächerlich sein würde, wenn ich im Ernst den Titel ›Exzellenz‹ haben wollte, ich, der ich all diese Rangstufen und irdischen Würden verachte, die an sich wertlos sind, wenn die Tugend sie nicht in ihre Strahlen taucht. Nicht für eine Million nehme ich den Generalsrang an ohne die Tugend. Aber trotzdem hielten Sie mich für einen Wahnsinnigen! Ihrem persönlichen Nutzen brachte ich mein Ehrgefühl zum Opfer und ließ es zu, daß Sie, Sie mich für einen Wahnsinnigen halten konnten, Sie und Ihre ›Gelehrten‹! Einzig und allein, um Ihren Verstand zu erleuchten, Ihr Gefühl für Moral zu entwickeln und Sie mit den Strahlen neuer Ideen zu bescheinen, entschloß ich mich dazu, von Ihnen die Anrede ›Exzellenz‹ zu verlangen. Ich wollte eben, daß Sie in Zukunft die Generale nicht für die höchsten Leuchten auf dem ganzen Erdball halten sollten; ich wollte Ihnen beweisen, daß Rang ohne Seelengröße ein Nichts ist und daß Sie keinen Anlaß hatten, sich über die Ankunft Ihres Generals zu freuen, während es doch vielleicht auch in Ihrer nächsten Nähe Menschen gibt, die von der Tugend hellen Strahlen umgeben sind! Aber Sie haben beständig mir gegenüber mit Ihrem Rang als Oberst so großgetan, daß es Ihnen nun schwer wurde, mich ›Exzellenz‹ zu nennen. Das war der Grund! Da ist der Grund zu suchen und nicht in der Befürchtung, daß Sie damit ein Attentat auf irgendwelche höhere Ordnungen begehen würden! Der ganze Grund lag darin, daß Sie Oberst sind und ich bloß Foma . . .«

»Nein, Foma, nein! Ich versichere dir, daß es nicht so ist. Du bist ein Gelehrter; du bist nicht bloß Foma . . . ich schätze dich hoch . . .«

»Sie schätzen mich hoch! Nun gut! Dann sagen Sie mir doch, wenn Sie mich hochschätzen, wie Sie darüber denken: bin ich des Generalsranges würdig oder nicht? Antworten Sie gerade heraus und ohne zu zaudern: bin ich seiner würdig oder nicht? Ich will Ihren Verstand, Ihre geistige Entwicklung prüfen.«

»Für deine Ehrenhaftigkeit, für deine Uneigennützigkeit, für deinen Verstand, für deinen hohen Seelenadel hast du ihn verdient!« antwortete der Onkel stolz.

»Aber wenn ich seiner würdig bin, warum wollen Sie mich dann nicht ›Exzellenz‹ nennen?«

»Meinetwegen, Foma, ich will dich so nennen . . .«

»Ich verlange es! Und ich verlange es jetzt, Oberst; ich bestehe darauf und verlange es! Ich sehe, wie peinlich es Ihnen ist, und ebendarum verlange ich es. Dieses Opfer von Ihrer Seite wird der erste Schritt auf dem Wege Ihrer Großtaten sein; denn (vergessen Sie das nicht!) Sie müssen eine ganze Reihe von großen Taten ausführen, um die Gleichstellung mit mir zu erlangen; Sie müssen sich selbst überwinden; erst dann werde ich Ihnen Ihre Aufrichtigkeit glauben . . .«

»Gleich morgen werde ich zu dir ›Exzellenz‹ sagen, Foma.«

»Nein, nicht erst morgen, Oberst; morgen versteht es sich von selbst. Ich fordere, daß Sie jetzt, sofort zu mir ›Exzellenz‹ sagen.«

»Nun gut, Foma, ich bin dazu bereit . . . Aber wie soll ich denn das so ohne weiteres jetzt gleich machen, Foma?«

»Warum denn nicht jetzt gleich? Schämen Sie sich etwa? Wenn Sie sich schämen, wäre das eine Beleidigung für mich.«

»Nun ja, meinetwegen, Foma, ich bin dazu bereit . . . ich bin sogar stolz darauf . . . Aber, Foma, wie kann ich denn so mir nichts dir nichts sagen: ›Guten Tag, Exzellenz?‹ Das geht doch nicht . . .«

»Nein, nicht ›Guten Tag, Exzellenz‹; das klingt beleidigend; das sieht wie ein Spaß, wie eine Posse aus. Solche Späße mit mir kann ich nicht gestatten. Besinnen Sie sich, mit wem Sie reden, besinnen Sie sich sofort, mit wem Sie reden, Oberst! Ändern Sie Ihren Ton!«

»Du machst doch nicht etwa Spaß, Foma?«

»Erstens sollen Sie zu mir nicht ›du‹, sondern ›Sie‹ sagen, Jegor Iljitsch, vergessen Sie das nicht; und zweitens nicht Foma, sondern Foma Fomitsch.«

»Weiß Gott, Foma Fomitsch, das will ich sehr gern tun! Mit der größten Freude . . . Aber was soll ich denn nun sagen?«

»Sie genieren sich, zu dem, was Sie sagen, hinzuzufügen: ›Exzellenz‹; das ist ja begreiflich. Es ist sogar verzeihlich, namentlich wenn jemand (um mich höflich auszudrücken) kein Schriftsteller ist. Nun, ich will Ihnen behilflich sein, wenn Sie kein Schriftsteller sind. Sprechen Sie mir nach: ›Exzellenz‹!«

»Na, ›Exzellenz‹.«

»Nein, nicht: ›Na, Exzellenz‹, sondern einfach: ›Exzellenz!‹ Ich sage Ihnen, Oberst: ändern Sie Ihren Ton! Auch hoffe ich, daß Sie sich nicht beleidigt fühlen werden, wenn ich Ihnen vorschlage, eine leichte Verbeugung zu machen und den Oberkörper etwas nach vorn geneigt zu halten; es ist dies ein Ausdruck des Respektes und der Bereitwilligkeit, sozusagen zu fliegen, um die erteilten Aufträge auszuführen. Ich selbst habe mich viel in der Gesellschaft von Generalen bewegt und weiß mit all diesen Dingen Bescheid . . . Nun also: ›Exzellenz‹.«

»Exzellenz . . .«

»›Wie unaussprechlich freue ich mich, daß ich endlich eine Gelegenheit habe, Sie um Verzeihung dafür zu bitten, daß ich nicht gleich von vornherein Euer Exzellenz edles Herz erkannt habe. Ich wage es, zu versichern, daß ich in Zukunft meine schwachen Kräfte mit allem Eifer für das Gemeinwohl anstrengen werde . . .‹ Nun, das mag für Sie genug sein!«

Der arme Onkel! Er mußte diesen ganzen Unsinn Satz für Satz und Wort für Wort wiederholen! Ich stand da und errötete wie schuldbewußt. Die Wut erstickte mich beinahe.

»Nun, fühlen Sie jetzt nicht«, fuhr der Folterer fort, »daß Ihnen auf einmal leichter ums Herz geworden ist, wie wenn ein Engel in Ihre Seele herniedergeschwebt wäre? Fühlen Sie die Gegenwart dieses Engels? Antworten Sie mir!«

»Ja, Foma, es ist mir tatsächlich etwas leichter geworden«, antwortete mein Onkel.

»Wie wenn Ihr Herz nach dem Sieg, den Sie über sich selbst davongetragen haben, sozusagen in Öl getaucht worden wäre!«

»Ja, Foma, es ging wirklich wie mit Butter geschmiert.«

»Wie mit Butter geschmiert? Hm! . . . Von Butter habe ich doch nichts zu Ihnen gesagt . . . Nun, aber ganz egal! Da sieht man, was das Bewußtsein erfüllter Pflicht tut, Oberst! Besiegen Sie sich selbst! Sie sind egoistisch, außerordentlich egoistisch!«

»Ich bin egoistisch, Foma, das sehe ich«, antwortete mein Onkel mit einem Seufzer.

»Sie sind ein Egoist, ja sogar ein schrecklicher Egoist . . .«

»Ein Egoist, das bin ich, das ist wahr, Foma, und ich sehe es ein; seit ich dich kennengelernt habe, ist mir auch das zum Bewußtsein gekommen.«

»Ich will jetzt zu Ihnen wie ein Vater, wie eine zärtliche Mutter reden: Sie stoßen alle Menschen von sich weg und vergessen, daß, wie man zu sagen pflegt, ein sanftes Kalb an zwei Müttern saugt.«

»Auch das ist richtig, Foma.«

»Sie sind plump. Sie wollen sich in so plumper Manier in das Herz anderer Menschen eindrängen, suchen in so egoistischer Weise die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, daß ein ordentlicher Mensch vor Ihnen bis ans Ende der Welt fliehen möchte!«

Der Onkel seufzte noch einmal tief.

»Seien Sie zarter, aufmerksamer, liebenswürdiger gegen andere; vergessen Sie sich selbst um anderer willen; dann werden die andern auch an Sie denken. Leben und leben lassen, das ist mein Grundsatz! Dulde, mühe dich, bete und hoffe – das sind die Weisheitsregeln, die ich der ganzen Menschheit tief einprägen möchte! Befolgen Sie diese Regeln, und ich werde der erste sein, der Ihnen sein Herz aufschließt und an Ihrer Brust weint . . . wenn es nötig sein sollte . . . Bisher hat es bei Ihnen immer nur geheißen: ›Ich und ich und meine werte Person!‹ Aber Ihre werte Person wird einem schließlich direkt zum Ekel, mit Verlaub zu sagen.«

»Nein, wie süß und glatt der Mensch redet!« sagte Gawrila in andächtiger Bewunderung.

»Das ist wahr, Foma; ich fühle all das selbst«, stimmte ihm mein Onkel ganz gerührt zu. »Aber es ist nicht alles bloß meine Schuld, Foma; ich bin nun einmal so erzogen worden und habe unter Soldaten gelebt. Aber ich schwöre dir, Foma: auch ich bin nicht jeder Empfindung bar gewesen. Als ich von meinem Regiment Abschied nahm, da haben alle Husaren, meine ganzen beiden Schwadronen, geradezu geweint; sie sagten, so einen wie mich bekämen sie nie wieder! . . . Ich dachte damals, daß auch ich vielleicht kein ganz schlechter Mensch sei.«

»Wieder ein egoistischer Zug! Wieder ertappe ich Sie bei der Selbstsucht! Sie brüsten sich und machen mir so en passant einen Vorwurf aus den Tränen Ihrer Husaren. Warum brüste ich mich denn mit niemandes Tränen? Und doch hätte ich Anlaß dazu, hätte ich vielleicht Anlaß dazu.«

»Das ist mir nur so rausgerutscht, Foma; ich konnte mich nicht beherrschen; ich dachte an die alte gute Zeit.«

»Die gute Zeit fällt nicht vom Himmel, sondern wir schaffen sie selbst; sie liegt in unserm Herzen eingeschlossen, Jegor Iljitsch. Warum bin ich denn immer glücklich und trotz aller Leiden zufrieden und seelenruhig und bei allen beliebt, mit Ausnahme der Dummköpfe und der Gelehrten, die ich allerdings nicht schone und nicht schonen will. Ich kann diese Dummköpfe nicht leiden! Und was ist denn dran an diesen Gelehrten? Da sagt man: ›Ein Mann der Wissenschaft!‹ Aber seine Wissenschaft ist weiter nichts als Flunkerei und Schwindel. Na, was hat Ihr Neffe denn vorhin geredet? Bringen Sie ihn einmal her! Bringen Sie alle Gelehrten her! Ich kann alles widerlegen; alle ihre Thesen kann ich widerlegen! Ich rede gar nicht einmal vom Adel der Seele . . .«

»Gewiß, Foma, gewiß. Wer zweifelt daran?«

»Vorhin zum Beispiel bewies ich Verstand, Talent, eine kolossale Belesenheit, Kenntnis des Menschenherzens, Kenntnis der zeitgenössischen Literatur, und zeigte in glänzender Weise, wie sich unter den Händen eines talentvollen Menschen sogar aus so einem Komarinski-Tanze ein hohes Gesprächsthema entwickeln kann. Und was geschah? Verstand es auch nur einer von ihnen, mich gebührendermaßen zu würdigen? Nein, sie wandten sich ab! Ich bin davon überzeugt, daß Ihr Neffe Ihnen bereits gesagt hat, ich sei ein unwissender Mensch. Und doch hat vielleicht ein Machiavelli in eigener Person oder ein Mercadante vor ihm gesessen, dessen einziger Fehler es ist, arm und unbekannt zu sein . . . Nein, das soll ihnen nicht so durchgehen! . . . Da höre ich noch von einem gewissen Korowkin. Was ist das für ein Rindvieh?«

»Das ist ein verständiger Mensch, Foma, ein Mann der Wissenschaft . . . Ich erwarte ihn. Das wird gewiß ein guter Mensch sein, Foma.«

»Hm! Ich bezweifle es. Wahrscheinlich so ein moderner Esel, der mit Büchern beladen ist. Diese Leute haben keine Seele, Oberst, kein Herz! Und was ist die Gelehrsamkeit wert ohne Tugend?«

»Nein, Foma, nein! Wie hat er über das Glück des Familienlebens gesprochen! Das Herz geht einem ordentlich dabei auf, Foma!«

»Hm! Wir wollen sehen; wir wollen auch diesen Korowkin examinieren. Aber nun genug!« schloß Foma und erhob sich von dem Lehnstuhl. »Ich kann Ihnen noch nicht vollständig verzeihen, Oberst; die Beleidigung war gar zu arg; aber ich werde beten, und vielleicht wird Gott meinem gekränkten Herzen Frieden senden. Wir werden morgen noch weiter darüber reden; jetzt aber wollen Sie mir gestatten, mich zu entfernen. Ich bin müde und matt geworden . . .«

»Ach, Foma!« rief der Onkel besorgt. »Das mußte dich ja auch ermüden! Weißt du was? Willst du dich nicht ein bißchen stärken, einen kleinen Imbiß zu dir nehmen? Ich werde sogleich etwas kommen lassen.«

»Einen Imbiß zu mir nehmen! Ha-ha-ha! Einen Imbiß zu mir nehmen!« erwiderte Foma, verächtlich lachend. »Zuerst wird man mit Gift getränkt und dann gefragt, ob man nicht etwas essen will. Die dem Herzen geschlagenen Wunden sollen mit gesalzenen Pilzen oder eingemachten Äpfeln geheilt werden! Was sind Sie für ein kläglicher Materialist, Oberst!«

»Ach, Foma, ich habe es doch wahrhaftig nur in bester Absicht gesagt . . .«

»Nun gut; genug davon! Ich gehe. Sie aber sollten sofort zu Ihrer Mutter gehen; fallen Sie ihr zu Füßen, weinen und schluchzen Sie, und bitten Sie sie um Verzeihung; das ist Ihre Pflicht und Schuldigkeit.«

»Ach, Foma, ich habe die ganze Zeit über daran gedacht; sogar jetzt, während ich mit dir sprach, mußte ich daran denken. Gern will ich die ganze Nacht über vor ihr auf den Knien liegen. Aber bedenke doch, Foma, was man von mir verlangt! Das ist doch ungerecht; das ist doch grausam, Foma! Setze deiner Großmut die Krone auf, mache mich vollkommen glücklich, überlege, entscheide, und dann . . . dann . . . ich schwöre dir! . . .«

»Nein, Jegor Iljitsch, nein, das ist nicht meine Sache«, erwiderte Foma. »Sie wissen, daß ich mich in diese Angelegenheit nicht einmische; das heißt, Sie sind allerdings wohl davon überzeugt, daß ich der Anstifter von alledem bin; aber ich versichere Ihnen: von Anfang an habe ich mich davon vollständig ferngehalten. Dabei ist einzig und allein der Wille Ihrer Mutter von Belang, und diese wünscht selbstverständlich Ihr Bestes . . . Gehen Sie hin, eilen, fliegen Sie zu ihr, und bringen Sie die Situation durch Ihren Gehorsam in Ordnung! . . . Lasset die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen! Ich aber . . . ich werde die ganze Nacht für Sie beten. Ich weiß schon seit langer Zeit nicht mehr, was Schlaf ist, Jegor Iljitsch. Gute Nacht! Ich verzeihe auch dir, Alter«, fügte er, an Gawrila gewandt, hinzu. »Ich weiß, daß das, was du tatest, nicht auf deinem Mist gewachsen war. Verzeih auch du mir, wenn ich dich, gekränkt habe! . . . Gute Nacht euch beiden, der Herr segne euch! . . .

Foma ging hinaus. Ich stürzte sogleich ins Zimmer.

»Du hast gelauscht?« rief mein Onkel.

»Ja, lieber Onkel, ich habe gelauscht! Und Sie, Sie haben es fertiggebracht, zu ihm ›Exzellenz‹ zu sagen! . . .«

»Was sollte ich tun, lieber Freund? Ich bin sogar stolz darauf . . . Das ist noch keine Großtat; aber er, was für ein edler, uneigennütziger, großartiger Mensch ist er, Sergej. Aber du hast es ja gehört . . . Und wie konnte ich es nur mit diesem Geld versuchen; das verstehe ich einfach nicht! Mein Freund, ich war erregt, ich war ergrimmt; ich verstand ihn nicht; ich hatte ihn im Verdacht; ich beschuldigte ihn . . . Aber nein! Er konnte nicht mein Gegner sein; das sehe ich jetzt ein . . . Und erinnerst du dich wohl, was für einen edlen Ausdruck sein Gesicht zeigte, als er das Geld zurückwies?«

»Gut, lieber Onkel, seien Sie so stolz, wie es Ihnen beliebt; ich aber werde abreisen: meine Geduld ist zu Ende! Zum letzten Mal bitte ich Sie, mir zu sagen: was verlangen Sie von mir? Warum haben Sie mich hierher gerufen, und was erwarten Sie von mir? Und wenn nun alles erledigt ist und ich Ihnen nicht von Nutzen sein kann, dann werde ich abreisen. Ich kann solche Szenen nicht ertragen! Noch heute werde ich abreisen!«

»Mein Freund . . .«, entgegnete der Onkel in seiner eifrigen, hastigen Art, »warte nur noch zwei Minuten! Ich werde jetzt zur Mama gehen . . . dort muß ich die Sache zu Ende bringen . . . es ist eine große, wichtige, ungeheuer wichtige Sache! Du aber geh unterdessen auf dein Zimmer! Gawrila hier wird dich zum Sommerhäuschen führen. Du kennst doch das Sommerhäuschen noch? Es liegt mitten im Garten. Ich habe schon das Nötige angeordnet, und dein Koffer ist auch vom Zwischengeschoß dorthin gebracht worden. Ich aber will dorthin gehen, mir Verzeihung erbitten, einen Entschluß fassen (ich weiß jetzt, wie ich es machen muß) und dann sofort zu dir zurückkommen und dir alles, alles, alles bis auf das letzte Tüpfelchen erzählen und dir mein ganzes Herz ausschütten. Und . . . und . . . und es werden auch für uns einmal glückliche Tage kommen! Zwei Minuten, nur zwei Minuten, Sergej!«

Er drückte mir die Hand und ging eilig hinaus. Es blieb mir nichts anderes übrig: ich mußte mich mit Gawrila auf den Weg machen.

X

Misintschikow

Das Gebäude, zu dem mich Gawrila führte, hieß nur aus alter Gewohnheit ›das neue Häuschen‹, war aber schon vor langer Zeit von dem früheren Besitzer des Gutes errichtet worden. Es war ein hübsches Holzhäuschen, das in einiger Entfernung von dem alten Haus mitten im Garten stand. Von drei Seiten umgaben es hohe, alte Lindenbäume, die mit ihren Zweigen das Dach berührten. Alle vier Zimmer dieses Häuschens waren nett möbliert und zur Aufnahme von Gästen bestimmt. Als ich in das mir zugewiesene Zimmer trat, in welches auch mein Koffer gebracht worden war, erblickte ich auf einem Tischchen vor dem Bett ein Blatt Briefpapier, das mit vorzüglicher Schrift in verschiedenen Schriftarten bedeckt und mit Girlanden, Federzügen und Schnörkeln verziert war. Die Anfangsbuchstaben und die Girlanden waren mit verschiedenen Farben ausgemalt. Alles zusammen stellte ein sehr hübsches Werk der Kalligraphie dar. Gleich aus den ersten Worten, die ich las, ersah ich, daß dies ein an mich adressiertes Bittgesuch war, in welchem ich ein ›hochgebildeter Wohltäter‹ genannt wurde. Die Überschrift lautete: ›Widopljassows Wehklagen‹. Aber wie sehr ich auch meine Aufmerksamkeit anstrengte, um wenigstens etwas von dem Inhalt zu verstehen, so blieben doch alle meine Bemühungen fruchtlos: es war der blühendste Unsinn, in hochtrabendem Bedientenstil geschrieben. Ich erriet nur, daß Widopljassow sich in einer traurigen Lage befand, mich um Beistand bat, in irgendwelcher Hinsicht ›von wegen meiner Bildung‹, wie er sich ausdrückte, auf mich seine Hoffnung setzte und zum Schluß bat, ich möchte mich für ihn bei meinem Onkel verwenden und auf diesen durch ›meinen Mechanismus‹ einwirken; so hieß es wörtlich am Ende dieses Schreibens. Ich war noch damit beschäftigt, dasselbe zu lesen, als sich die Tür öffnete und Misintschikow hereintrat.

»Ich hoffe, Sie werden mir erlauben, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte er ungeniert, aber sehr höflich und reichte mir die Hand. »Vorhin hatte ich nicht die Möglichkeit, auch nur ein paar Worte mit Ihnen zu reden, und doch wurde in mir gleich beim ersten Blick der Wunsch wach, Sie näher kennenzulernen.«

Ich erwiderte sogleich, daß es mir ebenfalls eine Freude sei und so weiter, obwohl ich mich in der scheußlichsten Stimmung befand. Wir setzten uns.

»Was haben Sie denn da?« fragte er mit einem Blick auf das Blatt, das ich noch in der Hand hielt. »Doch nicht etwa Widopljassows Wehklagen? Wahrhaftig! Ich dachte es mir doch, daß Widopljassow auch Sie attackieren würde. Er hat auch mir ein ganz ebensolches Blatt mit denselben Wehklagen überreicht; Ihre Ankunft aber hat er schon längst erwartet und wahrscheinlich schon im voraus ein Exemplar für Sie hergestellt. Wundern Sie sich nicht darüber: es gibt hier viel Seltsames, und man findet hier wirklich viel Stoff zum Lachen.«

»Nur zum Lachen?«

»Na, etwa zum Weinen? Wenn Sie wollen, werde ich Ihnen Widopljassows Biographie erzählen, und ich bin überzeugt, daß Sie darüber lachen werden.«

»Ich muß gestehen, ich habe jetzt andere Dinge im Kopf als Widopljassow«, antwortete ich ärgerlich.

Es war mir ganz klar, daß Herr Misintschikow, wenn er meine Bekanntschaft suchte und ein liebenswürdiges Gespräch mit mir anknüpfte, dabei irgendeinen Zweck verfolgte und mich ganz einfach brauchte. Vorhin hatte er mit ernster, finsterer Miene dagesessen; jetzt aber war er heiter, lächelte und wollte offenbar lange Geschichten erzählen. Es war auf den ersten Blick deutlich, daß dieser Mensch sich ausgezeichnet zu beherrschen verstand und ein Menschenkenner war.

»Dieser verdammte Foma!« sagte ich und schlug ingrimmig mit der Faust auf den Tisch. »Ich bin überzeugt, daß er hier die Quelle alles Übels ist und überall die Hand im Spiele hat! Eine verdammte Kreatur!«

»Sie scheinen sich ja schon gehörig über ihn geärgert zu haben«, bemerkte Misintschikow.

»Na und ob!« rief ich und wurde plötzlich hitzig. »Gewiß, ich habe mich vorhin zu sehr hinreißen lassen und dadurch jedem das Recht gegeben, mich zu tadeln. Ich weiß sehr wohl, daß ich über das rechte Maß hinausgegangen bin und mich in jeder Hinsicht blamiert habe, und ich glaube, man braucht mich darauf nicht noch extra hinzuweisen! . . . Ich begreife auch, daß man sich in anständiger Gesellschaft nicht so benimmt; aber sagen Sie selbst: mußte einem da nicht mit Notwendigkeit die Galle überlaufen? Das ist ja hier geradezu eine Irrenanstalt! Und . . . und . . . schließlich . . . ich fahre einfach weg – so steht es!«

»Sind Sie Raucher?« fragte Misintschikow in aller Seelenruhe.

»Ja.«

»Dann erlauben Sie wohl, daß ich mir auch eine Zigarette anzünde. Dort ist es nicht gestattet, und ich bin schon beinah melancholisch geworden. Ich gebe zu«, fuhr er fort, nachdem er seine Zigarette angezündet hatte, »daß das alles mit einer Irrenanstalt Ähnlichkeit hat; aber seien Sie versichert, daß ich mir nicht erlaube, Sie zu tadeln; denn wenn ich an Ihrer Stelle gewesen wäre, würde ich vielleicht noch viel hitziger und heftiger geworden sein als Sie.«

»Aber warum sind Sie denn nicht heftig geworden, wenn Sie sich wirklich ebenfalls ärgerten? Aber ganz im Gegenteil erinnere ich mich, daß Sie höchst kaltblütig blieben, und ich muß gestehen, es befremdete mich sogar, daß Sie nicht für meinen armen Onkel eintraten, der doch immer bereit ist, allen und jedem Wohltaten zu erweisen!«

»Sie haben recht: er erweist vielen Leuten Wohltaten; aber für ihn einzutreten halte ich für völlig unangebracht; erstens würde es ihm nichts nützen und sogar in gewisser Hinsicht beschämend für ihn sein; und zweitens würde ich gleich morgen aus dem Haus gejagt werden. Ich bekenne Ihnen aber offen: meine Verhältnisse sind so, daß ich großen Wert darauf legen muß, hier länger Gastfreundschaft zu genießen.«

»Ich erwarte ganz und gar keine Offenheit von Ihrer Seite in bezug auf Ihre Verhältnisse . . . Indessen würde ich Sie gern etwas fragen, da Sie ja schon einen Monat lang hier wohnen . . .«

»Bitte, fragen Sie; ich stehe zu Ihren Diensten«, erwiderte Misintschikow eilig und rückte mit seinem Stuhl näher.

»Erklären Sie mir also zum Beispiel dies: soeben hat Foma Fomitsch fünfzehntausend Rubel zurückgewiesen, die er bereits in den Händen hatte; ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.«

»Was Sie sagen! Wirklich?« rief Misintschikow. »Erzählen Sie doch, ich bitte Sie!«

Ich erzählte ihm den Hergang, verschwieg aber die Anrede ›Exzellenz‹. Misintschikow hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu; sein Gesicht verklärte sich sogar ordentlich, als ich auf die fünfzehntausend Rubel zu sprechen kam.

»Sehr geschickt!« sagte er, nachdem er meine Erzählung vernommen hatte. »Das hätte ich von Foma gar nicht erwartet.«

»Aber er hat doch das Geld zurückgewiesen! Wie ist das zu erklären? Ist da wirklich sein Seelenadel die Ursache?«

»Er hat fünfzehntausend Rubel zurückgewiesen, um später dreißigtausend zu bekommen. Übrigens, wissen Sie was?« fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu, »ich zweifle doch, daß Foma dabei aus Berechnung gehandelt hat. Er ist ein unpraktischer Mensch und hat in seiner Art etwas von einem Dichter an sich. Fünfzehntausend Rubel . . . hm! Sehen Sie: er hätte das Geld gern genommen, konnte aber der Versuchung, sich ein Air zu geben, eine grandiose Pose einzunehmen, nicht widerstehen. Ich kann Ihnen sagen, er ist und bleibt ein Stoffel, eine sentimentale Nachtmütze, und zwar trotz seines grenzenlosen Egoismus!«

Misintschikow war in Erregung geraten. Offenbar ärgerte er sich sehr und schien sogar so etwas wie Neid zu empfinden. Ich beobachtete ihn mit lebhaftem Interesse.

»Hm! Da muß man sich ja auf große Veränderungen gefaßt machen«, fügte er nachdenklich hinzu. »Jetzt ist Jegor Iljitsch bereit, diesen Foma geradezu anzubeten. Und er ist am Ende auch noch imstande, aus Herzensrührung zu heiraten«, murmelte er.

»Also meinen Sie, daß diese abscheuliche, unnatürliche Ehe mit der geistesgestörten Närrin bestimmt zustande kommen wird?«

Misintschikow blickte mich forschend an.

»Die Schurken!« rief ich jähzornig.

»Übrigens ist die Idee, die die Leute da haben, eine ziemlich vernünftige: sie behaupten, er müsse etwas für die Familie tun.«

»Als ob er für sie alle nicht schon genug und übergenug getan hätte!« rief ich empört. »Und auch Sie schämen sich nicht zu sagen, daß das ein vernünftiger Gedanke sei, diese garstige Närrin zu heiraten!«

»Gewiß, ich stimme Ihnen durchaus darin bei, daß sie eine Närrin ist . . . Hm! Es ist nett von Ihnen, daß Sie Ihren Onkel so lieben; ich selbst empfinde für ihn eine herzliche Teilnahme . . . obwohl sich mit ihrem Geld das Gut prächtig erweitern ließe! Übrigens hat man noch andere Gründe: man fürchtet, Jegor Iljitsch könnte diese Gouvernante heiraten . . . Sie wissen doch, es war da noch so ein interessantes junges Mädchen?«

»Aber ist denn das . . . ist denn das etwa wahrscheinlich?« fragte ich aufgeregt. »Mir scheint, daß das nur Verleumdung ist. Ich bitte Sie inständig, sagen Sie mir, wie es damit steht; es interessiert mich außerordentlich . . .«

»Oh, er ist verliebt bis über die Ohren! Nur sucht er es selbstverständlich zu verheimlichen.«

»Er sucht es zu verheimlichen! Sie meinen, daß er es zu verheimlichen sucht? Nun, und sie? Liebt sie ihn?«

»Schon möglich, daß auch sie ihn liebt. Übrigens wäre es für sie sehr vorteilhaft, wenn sie ihn heiratete; denn sie ist sehr arm.«

»Aber welche wirklichen Gründe haben Sie für Ihre Annahme, daß die beiden sich lieben?«

»Nun, das muß ja jeder Mensch sehen; zudem haben sie, wie es scheint, heimliche Rendezvous. Es wird sogar behauptet, sie stünden in einem unerlaubten Verhältnis zueinander. Aber bitte, erzählen Sie das nicht weiter! Ich sage es Ihnen nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit.«

»Wie kann man so etwas glauben!« rief ich. »Und Sie, Sie geben zu, daß Sie es glauben?«

»Selbstverständlich glaube ich es nicht sicher; ich bin nicht dabeigewesen. Indessen ist es doch gut möglich.«

»Wie können Sie sagen, es sei gut möglich! Denken Sie doch daran, was mein Onkel für ein anständiger, ehrenhafter Mann ist!«

»Einverstanden; und trotzdem kann sich jemand hinreißen lassen, wenn er sich sagt, daß demnächst unausbleiblich die legitime Eheschließung erfolgen soll. Dergleichen kommt häufig vor. Indessen, ich wiederhole: ich verbürge mich in keiner Weise für die völlige Glaubwürdigkeit dieser Nachrichten, um so weniger, als man das junge Mädchen hier auch so schon arg mit Schmutz beworfen hat; es wurde sogar behauptet, sie habe ein Verhältnis mit Widopljassow.«

»Na, sehen Sie!« rief ich. »Mit Widopljassow! Na, ist das überhaupt denkbar? Ist es nicht ekelhaft, so etwas auch nur zu hören? Glauben Sie denn auch das?«

»Ich sage Ihnen ja, daß ich es nicht glaube«, antwortete Misintschikow in aller Ruhe; »indessen unmöglich ist auch das nicht. Auf der Welt ist alles möglich. Ich für meine Person bin nicht dabeigewesen, und außerdem geht mich die Sache meines Erachtens nichts an. Aber da Sie, wie ich sehe, an all diesen Dingen großen Anteil nehmen, so halte ich es für meine Pflicht, hinzuzufügen, daß dieses Verhältnis mit Widopljassow in der Tat wenig Wahrscheinlichkeit hat. Das sind alles nur Intrigen von Anna Nilowna, diesem Fräulein Perepelizyna; sie hat diese Gerüchte hier aus Neid ausgestreut, weil sie sich selbst früher Hoffnung machte, Jegor Iljitsch zu heiraten, und zwar weil sie eine Oberstleutnantstochter ist; wahrhaftig! Jetzt sieht sie sich in dieser Hoffnung getäuscht und ist deshalb wütend. Aber ich glaube, ich habe Ihnen bereits alles erzählt, was von diesen Dingen zu sagen ist, und ich muß gestehen, ich bin ein geschworener Feind von Klatsch, um so mehr da wir damit nur unsere kostbare Zeit verlieren. Sehen Sie, ich bin nämlich mit einer kleinen Bitte zu Ihnen gekommen.«

»Mit einer Bitte? Sprechen Sie sie aus; alles, womit ich Ihnen dienen kann . . .«

»Sehr freundlich; ich hoffe sogar, daß meine Bitte Sie interessieren wird, da Sie, wie ich sehe, Ihren Onkel lieben und an seinem Geschick in bezug auf die Heirat großen Anteil nehmen. Aber bevor ich diese Bitte ausspreche, habe ich an Sie noch eine andere, vorbereitende Bitte.«

»Welche denn?«

»Es ist folgende: vielleicht werden Sie sich bereit finden lassen, meine Hauptbitte zu erfüllen, vielleicht auch nicht; aber in jedem Falle möchte ich, ehe ich sie Ihnen vortrage, Sie ergebenst bitten, mir den großen Gefallen zu tun und mir Ihr Ehrenwort als Edelmann und anständiger Mensch zu geben, daß alles, was Sie von mir hören werden, tiefstes Geheimnis zwischen uns bleibt und daß Sie dieses Geheimnis unter keinen Umständen einem Menschen verraten, auch den Gedanken, den ich jetzt für nötig erachte, Ihnen mitzuteilen, nicht für Ihren eigenen Vorteil verwerten wollen. Sind Sie damit einverstanden?«

Die Vorrede klang sehr feierlich. Ich gab ihm mein Wort.

»Nun?« fragte ich.

»Die Sache ist im Grunde sehr einfach«, begann Misintschikow. »Sehen Sie, ich will Tatjana Iwanowna entführen und heiraten; kurz, es soll so etwas wie Gretna-Green werden; Sie verstehen?«

Ich sah Herrn Misintschikow direkt in die Augen und konnte eine Zeitlang kein Wort herausbringen.

»Ich muß Ihnen gestehen, ich begreife nichts«, sagte ich endlich. »Und außerdem«, fuhr ich fort, »da ich glaubte, mit einem vernünftigen Menschen zu tun zu haben, hatte ich meinerseits in keiner Weise geglaubt . . .«

»Da Sie glaubten, hatten Sie nicht geglaubt«, unterbrach mich Misintschikow. »Das heißt in einfacher Redeweise, daß ich dumm bin und mein Plan dumm ist, nicht wahr?«

»Durchaus nicht . . . aber . . .«

»O bitte, sprechen Sie ganz ungeniert! Seien Sie unbesorgt; Sie tun mir damit sogar einen großen Gefallen, da wir auf diese Weise schneller zum Ziel kommen. Ich gebe übrigens zu, daß dies auf den ersten Blick etwas seltsam erscheinen mag. Aber ich kann Ihnen versichern, daß mein Plan keineswegs dumm, sondern sogar höchst verständig ist; und wenn Sie so gut sein wollen anzuhören, wie die Dinge liegen . . .«

»O bitte! Ich werde mit größtem Interesse zuhören.«

»Übrigens ist dabei eigentlich fast nichts zu erzählen. Sehen Sie: ich stecke jetzt in Schulden und besitze keine Kopeke. Überdies habe ich eine Schwester, ein junges Mädchen von neunzehn Jahren, eine Waise, die bei fremden Leuten lebt und völlig mittellos ist. Das ist zum Teil meine eigene Schuld. Wir erbten vierzig Seelen. Da mußte es sich treffen, daß ich gerade um diese Zeit zum Kornett befördert wurde. Nun, zunächst nahm ich natürlich eine Hypothek darauf auf, und dann brachte ich unsere Erbschaft vollständig durch. Ich führte einen dummen Lebenswandel, wollte die erste Geige spielen, kehrte den Feinen heraus, spielte Karten, trank – kurz, ich trieb es so töricht, daß ich mich sogar schäme, daran zu denken. Jetzt bin ich anderen Sinnes geworden und will meine Lebensweise vollständig ändern. Aber dazu muß ich ganz notwendig hunderttausend Rubel haben. Da ich nun beim Militär nicht zu Geld gelangen kann, persönlich aber zu nichts tauge und fast keine Bildung besitze, so bleiben mir selbstverständlich nur zwei Wege: entweder zu stehlen oder eine reiche Heirat zu machen. Ich kam hierher fast ohne Stiefel, und ich kam zu Fuß her, nicht im Wagen. Meine Schwester hatte mir ihre letzten drei Rubel gegeben, als ich aus Moskau fortging. Hier sah ich diese Tatjana Iwanowna, und sogleich hatte ich eine Idee. Ich faßte sofort den Entschluß, mich zu opfern und sie zu heiraten. Sie werden zugeben müssen, daß dies eine verständige Handlungsweise ist. Überdies tue ich das in der Hauptsache um meiner Schwester willen . . . nun, natürlich auch um meinetwillen.«

»Aber erlauben Sie, wollen Sie ihr einen förmlichen Heiratsantrag machen?«

»Gott behüte! Ich würde sogleich von hier weggejagt werden, und sie selbst würde nicht darauf eingehen; aber wenn ich ihr eine Entführung, eine Flucht vorschlage, dazu wird sie sogleich bereit sein. Das ist es ja eben: es muß etwas Romantisches, Auffälliges dabeisein. Selbstverständlich wird das alles dann durch eine legitime Heirat seinen Abschluß finden. Ich muß sie nur erst von hier weglocken!«

»Aber woher nehmen Sie denn diese feste Überzeugung, daß sie bestimmt mit Ihnen fliehen wird?«

»Oh, da seien Sie unbesorgt! Davon bin ich vollständig überzeugt. Das ist ja eben der Grundgedanke, daß Tatjana Iwanowna imstande ist, schlechterdings mit einem jeden, der ihr über den Weg läuft, mit einem jeden, der sich mit ihr einlassen mag, eine Liebschaft anzuknüpfen. Das ist auch der Grund, weshalb ich Ihnen vorher das Ehrenwort abgenommen habe, diesen Gedanken nicht für sich auszunutzen. Sie sehen gewiß ein, daß es von mir geradezu sündhaft wäre, wenn ich diese Gelegenheit nicht nutzen würde, namentlich bei meinen Verhältnissen.«

»Dann ist sie also vollständig verrückt? . . . ach, entschuldigen Sie!« fügte ich, meinen Fehler gewahr werdend, hinzu. »Da Sie jetzt auf die Dame Absichten haben, so . . .«

»Bitte, genieren Sie sich nicht; ich habe Sie schon einmal darum gebeten. Sie fragen, ob sie vollständig verrückt sei. Was soll ich Ihnen darauf antworten? Natürlich ist sie nicht verrückt, da sie ja noch nicht im Irrenhaus sitzt; übrigens vermag ich in dieser Manie für Liebschaften wirklich keine besondere Verrücktheit zu erblicken. Sie ist trotz alledem doch ein anständiges Mädchen. Sehen Sie: sie hat sich bis zum vorigen Jahr in schrecklicher Armut befunden, hat von ihrer Kindheit an unter der Fuchtel von allerlei Wohltäterinnen gestanden. Sie besitzt ein außerordentlich gefühlvolles Herz; aber niemand wollte sie heiraten. Nun, Sie verstehen: Träumereien, Wünsche, Hoffnungen, eine innere Glut, die sie immer unterdrücken mußte, die ewigen Quälereien von seiten der Wohltäterinnen – alles dies konnte natürlich einen empfindsamen Charakter zerrütten. Und nun gelangt sie plötzlich in den Besitz eines solchen Reichtums: Sie werden selbst zugeben müssen, daß das gar mancher den Kopf verdrehen kann. Na, natürlich ist sie jetzt eine gesuchte Persönlichkeit geworden; man machte ihr den Hof, und alle ihre Hoffnungen sind wieder aufgelebt. Vorhin erzählte sie von einem Stutzer in weißer Weste: das ist eine Tatsache und hat sich buchstäblich so zugetragen, wie sie es erzählt hat. Nach dieser Begebenheit können Sie sich auch über das übrige ein Urteil bilden. Mit Seufzern, Briefchen und Verschen können Sie sie sofort betören; und wenn Sie außerdem noch auf Strickleitern, spanische Serenaden und ähnlichen Unsinn anspielen, können Sie mit ihr machen, was Sie wollen. Ich habe schon eine Probe angestellt und ohne weiteres ein geheimes Rendezvous erlangt. Indes habe ich nun vorläufig bis zum Eintritt des günstigen Zeitpunktes haltgemacht. Aber in etwa vier Tagen muß ich sie unbedingt entführen. Tags zuvor fange ich mit Schmeichelreden und Seufzern an; ich spiele nicht übel Gitarre und singe auch. In der Nacht folgt dann ein Rendezvous im Pavillon, und beim Tagesgrauen steht ein Wagen bereit; ich überrede sie, wir steigen ein und fahren davon. Sie verstehen, daß keinerlei Risiko dabei ist; sie ist mündig und handelt außerdem ganz nach ihrem freien Willen. Wenn sie aber einmal mit mir davongelaufen ist, so ist sie natürlich mir gegenüber eine Verpflichtung eingegangen. Ich werde sie zu einer anständigen, aber armen Familie bringen (ich kenne eine solche, vierzig Werst von hier), wo man sie bis zur Hochzeit unter Aufsicht halten und niemanden zu ihr lassen wird; unterdessen aber werde ich meine Zeit nicht verlieren; innerhalb von drei Tagen werden wir Hochzeit machen; das ist möglich. Selbstverständlich brauche ich vor allen Dingen Geld; aber ich habe mir ausgerechnet, daß ich für das ganze Intermezzo nicht mehr als fünfhundert Rubel nötig habe, und in dieser Hinsicht hoffe ich auf Jegor Iljitsch; er wird mir das Geld geben, natürlich ohne zu wissen, wozu es dienen soll. Haben Sie nun verstanden?«

»Ja«, erwiderte ich, da ich endlich alles vollständig begriffen hatte. »Aber sagen Sie mir: womit kann denn gerade ich Ihnen nützlich sein?«

»Oh, ich bitte Sie, in sehr vieler Hinsicht! Sonst würde ich Sie auch gar nicht gebeten haben. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich eine achtbare, aber arme Familie in Aussicht genommen habe. Sie aber können mir sowohl hier als auch dort behilflich sein und schließlich auch als Trauzeuge fungieren. Ich gestehe, daß ich ohne Ihre Hilfe nichts anfangen kann.«

»Noch eine Frage: warum haben Sie gerade mich für würdig gehalten, diese Vertrauensstellung einzunehmen, mich, den Sie noch nicht kennen, da ich erst vor einigen Stunden angekommen bin?«

»Ihre Frage«, antwortete Misintschikow mit dem liebenswürdigsten Lächeln, »Ihre Frage bereitet mir, aufrichtig gestanden, ein großes Vergnügen, da sie mir Gelegenheit gibt, Ihnen meine besondere Hochachtung auszusprechen.«

»Oh, zu viel Ehre!«

»Nein, sehen Sie, ich habe Sie vorhin ein bißchen studiert. Sie sind allerdings aufbrausend und . . . und . . . na ja, und jung; aber von einem bin ich vollkommen überzeugt: wenn Sie mir einmal Ihr Wort gegeben haben, die Sache niemandem zu erzählen, so werden Sie Ihr Versprechen auch halten. Sie sind ein anderer Mensch als Obnoskin; das ist das erste. Und zweitens sind Sie ein Ehrenmann und werden meine Idee nicht zu Ihrem eigenen Vorteil ausnutzen, ausgenommen natürlich den Fall, daß Sie Lust hätten, mit mir ein freundschaftliches Abkommen zu treffen. In diesem Falle werde ich mich vielleicht bereit finden lassen, Ihnen meine Idee, das heißt Tatjana Iwanowna, abzutreten, und bin dann erbötig, Ihnen bei der Entführung eifrig zu helfen, aber unter der Bedingung, daß ich einen Monat nach der Hochzeit von Ihnen fünfzigtausend Rubel erhalte, worüber Sie mir selbstverständlich vorher eine Sicherheit in Gestalt eines Schuldscheines ohne Verzinsung geben müßten.«

»Wie!« rief ich; »also bieten Sie mir Ihre Idee schon an?«

»Natürlich kann ich sie abtreten, wenn Sie sich dazu entschließen können und Lust haben. Allerdings verliere ich dabei etwas; aber . . . die Idee gehört mir, und für eine Idee nimmt man doch Geld. Und drittens habe ich mich an Sie gewandt, weil ich keine andere Wahl habe. Ich darf aber in Anbetracht der hiesigen Verhältnisse nicht lange zögern. Außerdem beginnen bald die Fasten vor Mariä Himmelfahrt, in denen keine Trauungen stattfinden. Ich hoffe, Sie verstehen mich jetzt völlig?«

»Völlig, und ich verpflichte mich noch einmal, Ihre Mitteilung absolut geheimzuhalten; aber Ihr Helfershelfer bei dieser Angelegenheit kann ich nicht sein, und ich halte es für meine Pflicht, Ihnen dies ungesäumt zu erklären.«

»Warum denn nicht?«

»Sie können noch fragen?« rief ich, indem ich endlich der Erregung, die sich bei mir angesammelt hatte, freien Lauf ließ. »Verstehen Sie denn wirklich nicht, daß ein solches Vorgehen unehrenhaft ist? Gesetzt, daß Ihre auf der Verstandesschwäche und der unglücklichen Manie dieses Mädchens basierende Rechnung vollkommen richtig ist, so müßte Sie als Ehrenmann doch schon ebendieser eine Umstand davon zurückhalten! Sie sagen ja selbst, daß sie trotz ihres lächerlichen Wesens achtenswert ist. Und nun wollen Sie auf einmal ihr Unglück dazu benutzen, um ihr hunderttausend Rubel abzunehmen! Sie werden ihr gegenüber gewiß nicht ein richtiger, pflichttreuer Ehemann sein, sondern werden sie zweifellos verlassen . . . Das ist so unehrenhaft, daß ich (nehmen Sie es mir nicht übel!) nicht einmal verstehe, wie Sie es haben unternehmen können, mich um meine Beihilfe zu bitten!«

»Na so was! Ist das eine romantische Anschauungsweise!« rief Misintschikow und sah mich mit echter Verwunderung an. »Übrigens liegt bei Ihnen doch wohl nicht eine romantische Anschauungsweise zugrunde, sondern, wie es scheint, verstehen Sie einfach nicht, um was es sich handelt. Sie sagen, das sei unehrenhaft; aber dabei sind doch alle Vorteile nicht auf meiner, sondern auf ihrer Seite . . . Erwägen Sie nur . . .«

»Gewiß, wenn man die Sache von Ihrem Gesichtspunkte aus ansieht, so kommt es womöglich noch so heraus, daß Sie eine höchst großmütige Tat ausführen, wenn Sie Tatjana Iwanowna heiraten«, antwortete ich mit spöttischem Lächeln.

»Aber natürlich! Gewiß ist es so, gewiß ist es eine höchst großmütige Tat!« rief Misintschikow, der nun ebenfalls heftig wurde. »Überlegen Sie nur: erstens opfere ich mich selbst dadurch, daß ich einwillige, ihr Mann zu sein – das ist doch etwas wert! Zweitens werde ich, obwohl sie dreihundertfünfzig- bis vierhunderttausend Rubel besitzt, doch nur hunderttausend Rubel nehmen und habe mir fest vorgenommen, ihr mein ganzes Leben lang, auch wenn ich es könnte, nicht eine Kopeke mehr abzunehmen: das ist wieder etwas wert! Bedenken Sie endlich noch folgendes: kann sie etwa unter den jetzigen Verhältnissen ein ruhiges Leben führen? Damit sie ein ruhiges Leben führen kann, muß man ihr eigentlich ihr Geld abnehmen und sie in eine Irrenanstalt bringen; denn sonst kann es jeden Augenblick passieren, daß irgendein Taugenichts, Schwindler oder Spekulant mit Spitzbärtchen und Schnurrbärtchen, mit einer Gitarre und Serenaden, in der Art wie dieser Obnoskin, sich an sie heranmacht, sie betört, heiratet, rein ausplündert und dann irgendwo auf der Landstraße im Stich läßt. Sehen Sie, dies hier ist zum Beispiel eine sehr ehrenwerte Familie, und doch hält man sie hier nur deshalb fest, weil man auf ihr Geld spekuliert. Vor diesen Gefahren muß man sie behüten und retten. Na aber, das werden Sie begreifen: sowie sie mich heiratet, sind alle diese Gefahren verschwunden. Ich verbürge mich dafür, daß sie dann keinerlei Unglück mehr treffen wird. Erstens werde ich sie sogleich in Moskau bei einer ehrenwerten, aber armen Familie unterbringen (das ist nicht die, von der ich vorhin sprach, sondern eine andere Familie), und meine Schwester wird beständig um Tatjana Iwanowna sein; so wird sie sich dauernd unter sorgsamer Aufsicht befinden. An Geld werden ihr zweihundertfünfzigtausend, vielleicht sogar dreihunderttausend Rubel bleiben: damit kann man schon leben, wissen Sie! Es sollen ihr alle möglichen Vergnügungen dargeboten werden, alle möglichen Zerstreuungen, Bälle, Maskenbälle, Konzerte. Sie mag sogar von Liebschaften phantasieren; nur werde ich mich selbstverständlich in dieser Hinsicht absichern: phantasieren mag sie davon, soviel sie will; aber zur Tat darf es nicht kommen! Jetzt kann sie ein jeder beleidigen, dann aber niemand: sie ist meine Gattin, sie ist Frau Misintschikowa, und ich werde meinen Namen nicht beschimpfen lassen! Was ist nicht schon dieser eine Vorteil wert? Natürlich werde ich nicht mit ihr zusammen leben. Sie wird in Moskau wohnen und ich irgendwo in Petersburg. Das bekenne ich freimütig; denn ich will Ihnen gegenüber ganz offen sein. Aber was schadet es, daß wir getrennt leben werden? Erwägen Sie es nur in aller Ruhe und bedenken Sie ihren Charakter: ist sie etwa imstande, eine richtige Ehefrau zu sein und mit ihrem Mann zusammen zu leben? Kann man denn von ihr Beständigkeit erwarten? Sie ist ja doch das leichtsinnigste Geschöpf von der Welt! Ihr ist fortwährende Abwechselung unentbehrlich: sie bekommt es fertig, gleich am nächsten Tage zu vergessen, daß sie tags zuvor geheiratet hat und Ehefrau geworden ist. Ich würde sie schließlich nur unglücklich machen, wenn ich mit ihr zusammen leben und von ihr eine strenge Erfüllung ihrer Pflichten verlangen würde. Natürlich werde ich sie einmal im Jahr oder auch öfter besuchen, aber nicht, um Geld zu holen, glauben Sie mir. Ich habe gesagt, daß ich ihr nicht mehr als hunderttausend Rubel abnehmen werde, und daran werde ich festhalten! In puncto Geld werde ich mich gegen sie höchst ehrenhaft benehmen. Wenn ich für zwei, drei Tage zu ihr zu Besuch komme, werde ich sie nicht langweilen, sondern ihr Vergnügen bereiten: ich werde mit ihr lachen, ihr Anekdoten erzählen, sie auf Bälle führen, mit ihr flirten, ihr hübsche Andenken schenken, ihr Lieder vorsingen, ihr ein Hündchen kaufen, in romantischer Weise von ihr Abschied nehmen und dann mit ihr eine verliebte Korrespondenz führen. Und sie wird von einem so romantischen, verliebten, lustigen Ehemann ganz entzückt sein! Meiner Ansicht nach zeugt das durchaus von Verstand; so sollten es alle Ehemänner machen. Lieb und wert sind die Ehemänner den Frauen nur dann, wenn sie abwesend sind, und nach meiner Methode werde ich Tatjana Iwanownas Herz in wonnevollster Weise fürs ganze Leben besitzen. Was könnte sie noch weiter wünschen? Sagen Sie selbst! Das ist ja ein Leben wie im Paradies!«

Schweigend und verwundert hörte ich ihm zu. Ich sah ein, daß es unmöglich war, mit Herrn Misintschikow darüber zu disputieren. Er war von der Rechtlichkeit und sogar von dem Edelmut seines Planes fanatisch überzeugt und sprach von ihm mit der Begeisterung eines Erfinders. Aber es blieb noch ein kitzliger Punkt übrig, dessen Klarstellung unumgänglich nötig war.

»Denken Sie auch wohl daran«, sagte ich, »daß sie beinah schon die Braut meines Onkels ist? Wenn Sie sie entführen, so begehen Sie gegen ihn ein schweres Unrecht; Sie entführen sie beinah am Tage vor der Hochzeit und entleihen obendrein von ihm das Geld, dessen Sie zur Vollbringung dieser Heldentat bedürfen!«

»Gerade hier kann ich Sie trefflich widerlegen!« rief Misintschikow eifrig. »Glauben Sie mir, ich hatte Ihren Einwand vorhergesehen. Aber erstens, und das ist die Hauptsache: Ihr Onkel hat ihr noch keinen Heiratsantrag gemacht; folglich brauche ich nicht zu wissen, daß man sie ihm zur Braut bestimmt hat; überdies bitte ich Sie zu beachten, daß ich diesen Plan schon vor drei Wochen entworfen habe, als ich von den hiesigen Absichten noch nichts wußte; daher bin ich in moralischer Hinsicht ihm gegenüber vollkommen im Recht, und strenggenommen mache nicht ich ihm, sondern er mir die Braut abspenstig, mit der ich (wohl zu beachten!) schon ein heimliches nächtliches Rendezvous im Pavillon gehabt habe. Und schließlich, erlauben Sie mal: waren nicht Sie selbst soeben empört darüber, daß Ihr Onkel gezwungen werden soll, Tatjana Iwanowna zu heiraten, und jetzt treten Sie auf einmal für diese Ehe ein und reden von einem der Familie angetanen Unrecht und von Ehrbeleidigung! Ganz im Gegenteil erweise ich Ihrem Onkel einen großen Dienst: ich rette ihn; das müssen Sie doch begreifen! Er hat einen starken Widerwillen gegen diese Heirat und liebt außerdem ein anderes Mädchen! Na, was würde denn Tatjana Iwanowna ihm für eine Frau sein? Und auch sie würde mit ihm unglücklich werden; denn (das werden Sie zugeben) man müßte ihr dann doch Schranken ziehen, damit sie nicht mit jungen Männern liebäugelt. Aber wenn ich sie bei Nacht entführe, dann kann keine Generalin und kein Foma Fomitsch den früheren Plan durchsetzen. Eine Braut, die kurz vor der Trauung davongelaufen ist, wieder zurückzuholen, ist doch gar zu ehrenrührig. Ist es also nicht ein Dienst, eine Wohltat, die ich Ihrem Onkel erweise?«

Ich muß gestehen, daß dieses letzte Argument starken Eindruck auf mich machte.

»Wie aber, wenn er ihr morgen einen Antrag macht?« sagte ich. »Dann würde es doch zur Ausführung Ihres Planes zu spät sein; sie wäre dann schon in aller Form seine Braut.«

»Natürlich wäre es dann zu spät! Aber darauf muß ich eben hinwirken, daß das nicht geschieht. Und gerade deshalb bitte ich um Ihren Beistand. Für mich allein ist das schwierig; aber beide zusammen werden wir die Sache nach Wunsch gestalten und es verhindern, daß Jegor Iljitsch ihr einen Antrag macht. Dies muß mit aller Gewalt hintertrieben werden; im äußersten Notfall müßte man sogar Foma Fomitsch durchprügeln und dadurch die allgemeine Aufmerksamkeit ablenken, so daß man nicht mehr an eine Hochzeit denkt. Selbstverständlich nehme ich das nur für den äußersten Notfall in Aussicht und rede nur beispielsweise. Gerade in diesem Punkt hoffe ich auf Sie.«

»Noch eine letzte Frage: haben Sie niemandem außer mir von Ihrem Plan Mitteilung gemacht?«

Misintschikow kratzte sich im Nacken und schnitt eine sehr sauere Grimasse.

»Ich muß Ihnen gestehen«, antwortete er, »diese Frage berührt bei mir einen sehr wunden Punkt. Das ist eben das Malheur, daß ich von meinem Plan schon gesprochen habe . . . kurz, ich bin ein schauderhafter Dummkopf gewesen! Und was meinen Sie, mit wem ich darüber gesprochen habe? Mit Obnoskin! Ich kann es selbst kaum glauben. Ich begreife nicht, wie ich dazu gekommen bin! Er trieb sich immer hier herum; ich kannte ihn noch nicht genauer, und als die Inspiration über mich kam, war ich natürlich wie im Fieber; und da ich schon damals einsah, daß ich einen Gehilfen nötig haben würde, so wandte ich mich an Obnoskin . . . Es ist unverzeihlich, unverzeihlich!«

»Nun, und wie benahm sich Obnoskin?«

»Er erklärte sich mit Begeisterung einverstanden; aber am andern Tag frühmorgens war er verschwunden. Drei Tage darauf erschien er wieder, und zwar mit seiner Mama. Mit mir spricht er kein Wort und geht mir sogar aus dem Weg, als ob er vor mir Furcht hätte. Ich roch sofort Lunte. Seine Mama aber ist ein ganz durchtriebenes, mit allen Wassern gewaschenes Frauenzimmer; ich kenne sie noch von früher. Natürlich hat er ihr alles erzählt. Ich schweige und warte ab; sie spionieren herum, und die Situation ist jetzt ziemlich gespannt . . . Darum beeile ich mich auch.«

»Was befürchten Sie denn eigentlich von ihnen?«

»Viel Schaden werden sie mir allerdings nicht zufügen; aber daß sie irgend etwas Schändliches vorhaben, daran zweifle ich nicht. Sie werden Geld für ihr Schweigen und für ihre Beihilfe verlangen; darauf bin ich gefaßt . . . Aber viel kann und werde ich ihnen nicht geben; ich habe meinen Entschluß bereits gefaßt; mehr als dreitausend Rubel geben kann ich nicht. Urteilen Sie selbst: dreitausend denen; fünfhundert die Hochzeit (denn Ihrem Onkel muß ich die ganze Summe zurückzahlen); dann die alten Schulden; na, und meiner Schwester muß ich doch auch etwas geben, wenigstens etwas. Wieviel bleibt da noch von den Hunderttausend übrig? Das ist ja ein Elend! . . . Die Obnoskins sind übrigens weggefahren.«

»Weggefahren?« fragte ich lebhaft interessiert.

»Ja, gleich nach dem Tee. Hol sie der Teufel! Morgen aber, Sie werden sehen, sind sie wieder da. Nun also, wie steht es: sind Sie einverstanden?«

»Ich muß gestehen«, antwortete ich, mich hin und her windend, »ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist eine heikle Sache . . . Gewiß, ich werde alles geheimhalten; ich bin nicht so einer wie Obnoskin; aber . . . ich glaube, Sie dürfen nicht auf mich rechnen.«

»Ich sehe«, erwiderte Misintschikow, indem er sich von seinem Stuhl erhob, »daß Ihr Ärger über Foma Fomitsch und die Großmutter noch nicht den richtigen Grad erreicht hat und daß Sie, wenn Sie auch Ihren guten, braven Onkel lieben, doch noch nicht hinreichend einsehen, wie sehr man ihn quält. Sie sind hier eben noch neu . . . Aber nur Geduld! Wenn Sie morgen noch hier sind, so sehen Sie sich bitte die Dinge an, und am Abend werden Sie einwilligen. Sonst ist Ihr Onkel verloren – verstehen Sie? Die Verbündeten werden ihn jedenfalls zwingen, Tatjana Iwanowna zu heiraten. Vergessen Sie nicht, daß er ihr vielleicht morgen schon einen Heiratsantrag machen wird. Dann ist es zu spät; Sie sollten sich heute schon entschließen!«

»Wirklich, ich wünsche Ihnen allen Erfolg; aber Ihnen zu helfen . . . ich weiß doch nicht . . .«

»Ich weiß schon! Warten wir also bis morgen!« schloß Misintschikow spöttisch lächelnd. »La nuit porte conseil. Auf Wiedersehen! Ich werde morgen so früh wie möglich zu Ihnen kommen; überlegen Sie sich die Sache bis dahin! . . .«

Er drehte sich um und verließ, etwas vor sich hinpfeifend, das Zimmer. Ich ging fast unmittelbar nach ihm ebenfalls hinaus, um ein bißchen frische Luft zu atmen. Der Mond war noch nicht aufgegangen; die Nacht war dunkel, die Luft warm und schwül. Die Blätter an den Bäumen rührten sich nicht. Trotz meiner schrecklichen Müdigkeit wollte ich noch ein bißchen umhergehen, mich zerstreuen, mit meinen Gedanken zurechtkommen; aber ich war noch keine zehn Schritte weit gegangen, als ich auf einmal die Stimme meines Onkels hörte. Er stieg mit jemand die Stufen vor der Tür des Sommerhäuschens hinauf und redete außerordentlich lebhaft. Ich kehrte sogleich wieder um und rief ihn an. Der, mit dem er gesprochen hatte, war Widopljassow.

XI

Höchstes Erstaunen

»Da sind Sie ja endlich, lieber Onkel«, sagte ich. »Ich habe schon lange auf Sie gewartet.«

»Ich wollte mich schon längst gern losmachen und zu dir kommen. Ich will nur erst die Sache mit Widopljassow hier erledigen; dann können wir uns nach Herzenslust aussprechen. Ich habe dir viel zu erzählen.«

»Wie! Sie wollen erst noch mit Widopljassow reden? Lassen Sie den doch jetzt, lieber Onkel!«

»Nur noch fünf oder zehn Minuten, Sergej; dann stehe ich vollkommen zu deiner Verfügung. Siehst du, es handelt sich um etwas Geschäftliches.«

»Ach, was der hat, das sind doch gewiß nur Dummheiten«, sagte ich ärgerlich.

»Ja, was soll ich dir darauf antworten, lieber Freund? Muß der Mensch mich auch gerade jetzt mit seinen Lappalien behelligen! Als ob du, lieber Grigori, nicht eine andere Zeit für deine Klagen finden könntest! Na, wie kann ich dir denn helfen? Habe doch wenigstens du mit mir Mitleid, mein Lieber! Ihr zermartert mich ja sozusagen ganz und gar und freßt mich bei lebendigem Leibe mit Haut und Haar! Es ist nicht mehr zum Aushalten mit ihnen, Sergej!«

Mein Onkel machte tiefbekümmert mit beiden Händen eine Geste der Verzweiflung.

»Was ist denn das für eine wichtige Sache, die sich gar nicht aufschieben läßt? Und ich hätte so dringend: mit Ihnen zu reden, lieber Onkel . . .«

»Ach lieber Freund, sie schreien sowieso schon, ich kümmerte mich nicht um den moralischen Zustand meiner Leute! Womöglich beklagt er sich morgen über mich, daß ich ihm kein Gehör geschenkt hätte, und dann . . .«

Der Onkel schwenkte wieder trostlos den Arm.

»Na, dann erledigen Sie seine Angelegenheit so schnell wie möglich! Meinetwegen will ich Ihnen auch helfen. Lassen Sie uns ins Haus gehen! Was hat er denn eigentlich? Was will er?« fragte ich, als wir ins Zimmer getreten waren.

»Ja, siehst du, mein Freund, sein eigener Familienname mißfällt ihm; er bittet um die Erlaubnis, ihn zu ändern. Was sagst du dazu?«

»Sein Familienname! Was soll das heißen? . . . Na, lieber Onkel, bevor ich höre, was er selbst sagt, gestatten Sie mir die Bemerkung, daß solche Wunderlichkeiten auch nur in Ihrem Haus passieren können«, sagte ich, indem ich erstaunt die Arme ausbreitete.

»Ach, mein Teuerster! So die Arme ausbreiten, das kann ich auch, aber damit ist niemandem geholfen!« erwiderte mein Onkel ärgerlich. »Na schön, rede du selbst mit ihm, versuch es einmal! Er liegt mir schon seit zwei Monaten damit in den Ohren . . .«

»Es ist ein unbegründeter Familienname!« sagte Widopljassow.

»Aber wieso denn unbegründet?« fragte ich verwundert.

»Ja, das ist er. Es liegt allerlei Gemeinheit darin.«

»Wieso denn Gemeinheit? Und wie soll man ihn denn umändern? Wer ändert denn seinen Familiennamen?«

»Aber ich bitte Sie, hat denn sonst jemand einen solchen Familiennamen?«

»Ich will zugeben, daß dein Familienname etwas seltsam ist«, fuhr ich höchst erstaunt fort; »aber was ist da jetzt zu machen? Dein Vater hat doch auch diesen Familiennamen geführt?«

»Das ist es eben, daß ich durch meinen Vater auf diese Weise dazu gelangt bin, lebenslänglich zu leiden, sintemal es mir infolge meines Namens beschieden ist, viele Spötteleien hinzunehmen und viel Kummer durchzumachen«, antwortete Widopljassow.

»Ich möchte wetten, lieber Onkel, daß da wieder Foma Fomitsch dahintersteckt!« rief ich ärgerlich.

»Nicht doch, lieber Freund, nicht doch; da irrst du dich. Tatsächlich erweist ihm Foma viele Wohltaten. Er hat ihn als Sekretär zu sich genommen, und darin besteht jetzt sein ganzer Dienst. Na, und dann hat er selbstverständlich für seine geistige Entwicklung gesorgt, ihn mit edler Gesinnung erfüllt, so daß ihm sogar in gewisser Hinsicht ein Licht aufgegangen ist . . . Siehst du, ich werde dir alles erzählen . . .«

»Das ist richtig«, unterbrach ihn Widopljassow, »daß Foma Fomitsch mein wahrer Wohltäter ist, und darum hat er mir auch meine Nichtigkeit auseinandergesetzt, was für ein Wurm ich auf der Erde bin, so daß ich durch ihn zum erstenmal mein Schicksal vorhergesehen habe.«

»Nun höre mal, lieber Sergej, nun höre mal, wie das alles zusammenhängt«, fuhr der Onkel in seiner hastigen Manier fort. »Er hat ursprünglich in Moskau gelebt und dort beinahe seit seiner Kindheit bei einem Schreiblehrer im Dienst gestanden. Du solltest nur einmal sehen, wie er bei dem schreiben gelernt hat: mit Farben und mit Gold, und ringsherum, weißt du, bringt er solche Amoretten an – mit einem Wort, er ist ein Künstler! Ilja hat bei ihm Schreibunterricht; ich bezahle für jede Stunde anderthalb Rubel; Foma hat diesen Preis selbst festgesetzt. Er fährt auch zu drei benachbarten Gutsbesitzern; die bezahlen ebenfalls. Du siehst ja, wie er sich kleidet! Außerdem macht er auch Gedichte.«

»Gedichte! Das fehlte noch!«

»Ja, Gedichte, lieber Freund, Gedichte, und glaube nur nicht, daß ich Spaß mache, wirkliche Gedichte, sozusagen Verse, und, weißt du, ordentlich gereimt, über alle möglichen Gegenstände; jeden Gegenstand behandelt er gleich flüssig in seinen Gedichten. Ein wahres Talent! Der Mama hatte er zu ihrem Namenstag einen solchen poetischen Glückwunsch verfaßt, daß wir alle Nase und Mund aufsperrten: aus der Mythologie war allerlei darin, und die Musen flogen umher, und es war sogar, weißt du, dabei diese . . . wie nennt man es doch? diese vollkommene Form zu sehen; kurz, es war ganz und gar in Reimen. Foma hatte es korrigiert. Na, ich habe natürlich nichts dagegen und freue mich meinerseits sogar darüber. Mag er immerhin Gedichte machen, wenn er nur keine dummen Streiche begeht. Ich sage das von dir, lieber Grigori, wohlmeinend wie ein Vater. Foma hatte von seiner dichterischen Begabung gehört, ließ sich seine Gedichte zeigen, ermunterte ihn und ernannte ihn zu seinem Vorleser und Schreiber, kurz, er sorgte für seine Bildung. Widopljassow hat ganz recht, wenn er sagt, daß Foma ihm viele Wohltaten erwiesen habe. Na also, weißt du, da hat sich nun so eine edle romantische Denkweise in seinem Kopfe herausgebildet und ein Gefühl der Unabhängigkeit . . . Foma hat mir das alles erklärt; aber, die Wahrheit zu sagen, ich habe es schon wieder vergessen; aber ich muß gestehen, ich hatte auch schon, unabhängig von Fomas Eingreifen, vor, ihn freizulassen. Ich schäme mich gewissermaßen, weißt du! . . . Aber Foma wendet dagegen ein, er brauche ihn notwendig und habe ihn liebgewonnen; und außerdem sagt er, es werde mir als dem Herrn zur besonderen Ehre gereichen, wenn ich bei mir unter meinen eigenen Leuten Dichter hätte. Es hätten einmal irgendwo gewisse Barone gelebt, und das sei en grand. Na, meinetwegen en grand! Ich habe schon angefangen, ihn hochzuschätzen, lieber Freund, du verstehst? . . . Aber weiß der Himmel, wie er sich aufgeführt hat. Das schlimmste ist: er ist infolge seiner Verse den Gutsleuten gegenüber so hochnäsig geworden, daß er mit ihnen gar nicht mehr reden will. Nimm mir das nicht übel, Grigori; ich sage dir das in väterlicher Gesinnung. Im vorigen Winter hatte er sich verlobt: es ist da so ein Mädchen vom Gutsgesinde, Matrjona heißt sie, ein sehr hübsches Mädchen, weißt du, anständig, arbeitsam und von heiterer Gemütsart. Aber nun sagt er auf einmal nein: ›Ich will nicht‹, sagt er, ›Punktum!‹ Er ist von der Verlobung zurückgetreten. Ob er nun so hochmütig geworden ist oder ob er beabsichtigt, zuerst berühmt zu werden und dann an anderer Stelle einen Antrag zu machen . . .«

»Ich habe es mehr auf Foma Fomitschs Rat getan«, bemerkte Widopljassow, »da er mein wahrer Wohltäter ist . . .«

»Na ja, wie könnte denn auch so etwas geschehen, ohne daß Foma Fomitsch seine Hand im Spiel hätte!« rief ich unwillkürlich.

»Ach, lieber Freund, darum handelt es sich nicht«, unterbrach mich der Onkel eilig. »Aber siehst du wohl: nun lassen sie ihm keine Ruhe. Jenes Mädchen, energisch und lebhaft, wie sie ist, hat alle gegen ihn aufgestachelt: sie foppen und necken ihn, und sogar die kleinen Jungen des Gesindes halten ihn zum Narren . . .«

»Dieses ist hauptsächlich von Matrjona angezettelt worden«, bemerkte Widopljassow; »denn Matrjona ist eine richtige Närrin und zudem ein Weibsbild von unbändigem Charakter; durch sie bin ich dahin gelangt, daß ich in meinem Leben viel auszustehen habe.«

»Ach, lieber Grigori, ich habe es dir ja gleich gesagt«, fuhr mein Onkel mit einem vorwurfsvollen Blick auf Widopljassow fort. »Siehst du, Sergej, da haben sie nun einen unanständigen Reim auf seinen Familiennamen ausfindig gemacht. Und nun kommt er zu mir und beklagt sich und bittet mich, ob er nicht seinen Familiennamen irgendwie verändern könne, da er schon lange unter dem häßlichen Klang desselben zu leiden habe . . .«

»Es ist kein veredelter Familienname«, schaltete Widopljassow ein.

»Na, nun sei nur still, Grigori! Foma befürwortet ebenfalls eine Änderung . . . das heißt, er befürwortet sie eigentlich nicht; aber siehst du, er hat folgende Erwägung angestellt: wenn nun die Gedichte gedruckt werden sollten (was Foma ins Auge gefaßt hat), so kann am Ende ein solcher Familienname nachteilig wirken, nicht wahr?«

»Also will Widopljassow seine Gedichte drucken lassen, lieber Onkel?«

»Jawohl, mein Lieber! Das ist bereits beschlossen, auf meine Kosten; und auf dem Titelblatt soll stehen: ›Leibeigener des Soundso‹, und im Vorwort wird der Verfasser sich bei Foma für die Bildung, die dieser ihm hat zuteil werden lassen, bedanken. Das Buch soll Foma gewidmet werden. Das Vorwort wird Foma selbst schreiben. Na, also stelle dir einmal vor, wenn auf dem Titelblatt stehen wird: ›Widopljassows Werke‹ . . .«

»›Widopljassows Wehklagen‹«, verbesserte Widopljassow.

»Na, siehst du wohl, sogar ›Wehklagen‹! Na, was ist das für ein Name: Widopljassow? Er verletzt geradezu das Zartgefühl; das hat auch Foma gesagt. Und alle diese Kritiker sind angeblich so häßliche Spötter; Brambäus zum Beispiel . . . Die kennen keine Rücksicht! Die werden sich allein schon über seinen Familiennamen lustig machen und ihr Mütchen an ihm kühlen, nicht wahr? Da sage ich nun: ›Meiner Ansicht nach solltest du irgendeinen beliebigen Familiennamen vor deine Gedichte setzen‹, man nennt das glaube ich, ein Pseudonym; ich entsinne mich nicht genau, aber es ist etwas auf ›nym‹. – ›Nein‹, sagt er, ›befehlen Sie dem ganzen Gutsgesinde, daß es mich auch hier für immer mit einem neuen Namen nennen soll, damit ich in Übereinstimmung mit meinem Talent auch einen veredelten Familiennamen habe.‹«

»Ich möchte wetten, daß Sie eingewilligt haben, lieber Onkel!«

»Lieber Sergej, um mich nicht mit ihnen zu zanken, habe ich gesagt: ›Meinetwegen.‹ Weißt du, es bestand damals gerade ein Mißverständnis zwischen mir und Foma. Seitdem kommt er jede Woche mit einem neuen Familiennamen, und immer wählt er sich solche sinnigen aus: Oleandrow, Tjulpanow . . . Weißt du noch, Grigori, zuerst batest du, man möchte dich Werny nennen, Grigori Werny; dann mißfiel dieser Name dir selbst, weil irgendein Dummkopf darauf gereimt hatte: Skwerny. Du beklagtest dich, und der Dummkopf wurde bestraft. Zwei Wochen lang dachtest du über einen neuen Familiennamen nach und mustertest eine Unmenge von ihnen; endlich wurdest du dir schlüssig und kamst mit der Bitte zu mir, man möchte dich Ulanow nennen. Na, nun sage mir bloß, lieber Freund, kann es einen dümmeren Namen geben als Ulanow? Aber ich gab auch dazu meine Einwilligung und erließ einen zweiten Befehl über die Umänderung deines Familiennamens in Ulanow. Ich tat es bloß mein Lieber«, fügte der Onkel, zu mir gewandt, hinzu, »um die Sache endlich abzuschließen. Drei Tage lang hießest du nun Ulanow. Du hast alle Wände und alle Fensterbretter im Pavillon verdorben, indem du mit Bleistift ›Ulanow‹ darauf schriebst. Ich habe ihn dann neu anstreichen lassen. Ein ganzes Buch holländisches Papier hast du verbraucht, um darauf zu schreiben: ›Ulanow, Federprobe; Ulanow, Federprobe‹. Aber auch mit diesem Namen begegnete dir schließlich ein Malheur: man reimte darauf: ›Bolwanow‹. ›Ich will mich nicht Bolwanow nennen lassen!‹ – und wieder erfolgte eine Namensänderung. Welchen Namen wähltest du dann doch? Ich weiß es nicht mehr.«

»Tanzew«, erwiderte Widopljassow. »Wenn es mir denn einmal vom Schicksal beschieden ist, mich durch meinen Namen als einen leidenschaftlichen Tänzer zu präsentieren, so sollte er wenigstens durch die ausländische Wortform veredelt sein: Tanzew.«

»Na ja, Tanzew. Ich war auch damit einverstanden, lieber Sergej. Aber nun fanden die Gutsleute einen Reim darauf, den man gar nicht in den Mund nehmen kann. Heute kommt er nun wieder an und hat sich wieder etwas Neues ausgedacht. Ich möchte wetten, daß er einen neuen Familiennamen in Bereitschaft hat. Stimmt es, Grigori, oder nicht? Gestehe es offen!«

»Ich wollte Ihnen tatsächlich schon längst einen neuen Namen zu Füßen legen, einen veredelten Namen.«

»Nun, welchen?«

»Eßbuketow.«

»Aber schämst du dich nicht, schämst du dich denn gar nicht, Grigori? Ein Familienname, der von einer Pomadenbüchse herstammt! Und du willst ein verständiger Mensch sein! Wie lange du dir darüber den Kopf zerbrochen haben magst! Das ist ja der Name eines Parfüms!«

»Ich bitte Sie, lieber Onkel«, sagte ich flüsternd, »der Mensch ist einfach ein Dummkopf, ein ausgemachter Dummkopf!«

»Was soll ich machen, lieber Freund?« antwortete der Onkel ebenfalls flüsternd; »alle ringsumher versichern, er sei klug, und das alles sei nur eine Wirkung seiner edlen Eigenschaften . . .«

»So schicken Sie ihn doch ums Himmels willen weg!«

»Hör mal, Grigori! Ich habe jetzt keine Zeit, lieber Freund, nimm's mir nicht übel!« begann der Onkel in bittendem Ton, als ob er sogar vor Widopljassow Angst hätte. »Na, sage selbst: wie kann ich mich jetzt mit deinen Klagen abgeben? Du sagst, daß sie dich wieder mit etwas gekränkt haben? Nun gut, ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ich morgen alles in Ordnung bringen werde; aber jetzt geh in Gottes Namen! . . . Warte mal! Was macht Foma Fomitsch?«

»Er hat sich schlafen gelegt. Er hat gesagt, wenn jemand nach ihm fragt, so solle ich antworten, er beabsichtige in dieser Nacht lange zu beten.«

»Hm! Nun, dann geh, lieber Freund, geh! Siehst du, lieber Sergej, er ist immer um Foma herum, so daß ich sogar vor ihm Furcht habe. Und auch die Gutsleute können ihn deswegen nicht leiden, weil er sie immer bei Foma verleumdet. Jetzt ist er weggegangen; aber wer weiß, vielleicht hinterbringt er ihm morgen irgend etwas! Aber ich habe jetzt da alles in Ordnung gebracht, lieber Freund, und fühle mich ruhig . . . Und nun bin ich zu dir geeilt. Endlich bin ich wieder mit dir zusammen!« sagte er gefühlvoll und drückte mir die Hand. »Ich dachte schon, mein Bester, du hättest dich gar zu sehr geärgert und würdest dich bestimmt davonmachen. Ich habe dich sogar bewachen lassen. Nun, Gott sei Dank, diese Gefahr ist ja jetzt vorüber! Aber was sagst du zu Gawrilas Auftreten vorhin? Und die Geschichte mit Falalej, und du selbst – und so immer eins nach dem andern! Na, Gott sei Dank, Gott sei Dank! endlich kann ich mich mit dir nach Herzenslust aussprechen. Ich will dir mein Herz ausschütten. Reise nicht ab, lieber Sergej; du bist der einzige Mensch, den ich habe, du und Korowkin . . .«

»Aber erlauben Sie, was haben Sie denn da eigentlich in Ordnung gebracht, lieber Onkel, und worauf soll ich hier nach dem, was geschehen ist, noch länger warten? Ich muß gestehen, daß mir der Kopf von alledem schon ganz schwindlig ist.«

»Aber ist denn mein Kopf etwa heil und gesund? Der tanzt hier schon seit einem halben Jahre fortwährend Walzer, mein armer Kopf! Aber Gott sei Dank, jetzt ist alles wieder in Ordnung. Erstens haben sie mir verziehen, vollständig verziehen, unter verschiedenen Bedingungen natürlich; aber ich bin jetzt fast ganz frei von Befürchtungen. Meiner Alexandra haben sie auch verziehen. Nein, Alexandra, Alexandra, wie die vorhin auftrat . . . sie hat ein heißes Herzchen! Sie ließ sich ja ein bißchen zu sehr hinreißen; aber was hat sie für ein goldenes Herzchen! Ich bin stolz auf dieses Mädchen, lieber Sergej. Möge Gottes Segen allzeit auf ihr ruhen! Dir haben sie ebenfalls verziehen, und weißt du sogar wie? Du kannst alles tun, was du willst, durch alle Zimmer und auch in den Garten gehen, sogar wenn Gäste da sind, – kurz, alles, was du willst; aber nur unter der einen Bedingung, daß du morgen in Mamas und Foma Fomitschs Gegenwart selbst nichts sagst, – das ist die unerläßliche Bedingung; das heißt absolut keine Silbe (ich habe es schon an deiner Statt versprochen), sondern du sollst nur zuhören, was Ältere, Höherstehende . . . das heißt, ich wollte sagen, was andere reden. Sie haben gesagt, du seiest noch zu jung. Das mußt du nicht übelnehmen, lieber Sergej; du bist ja tatsächlich noch jung . . . Das sagt auch Anna Nilowna . . .«

Allerdings war ich noch sehr jung und bewies das sogleich dadurch, daß ich, über solche beleidigenden Bedingungen empört, heftig aufbrauste.

»Hören Sie mal, lieber Onkel!« rief ich, nur mühsam atmend, »sagen Sie mir nur das eine, und beruhigen Sie mich: bin ich hier in einer richtigen Irrenanstalt oder nicht?«

»Na, siehst du wohl, lieber Freund, da übst du gleich wieder Kritik! Du kannst dich auch gar nicht beherrschen!« antwortete mein Onkel betrübt. »In einer Irrenanstalt befindest du dich durchaus nicht; wir sind nur von beiden Seiten ein bißchen hitzig geworden. Aber sag selbst, lieber Freund, wie hast du dich denn benommen? Du erinnerst dich, daß du ihm grob gekommen bist, einem Mann, der sozusagen schon in respektablem Alter steht.«

»Solche Leute haben kein respektables Alter, lieber Onkel!«

»Na, da gehst du aber doch zu weit, lieber Freund! Das ist übertriebener Liberalismus. Ich bin ja selbst einem vernünftigen Liberalismus nicht abgeneigt; aber das überschreitet doch das richtige Maß; das heißt, ich wundere mich über dich, Sergej.«

»Seien Sie nicht böse, lieber Onkel; ich habe mich vergangen, aber nur Ihnen gegenüber. Was aber Ihren Foma Fomitsch, anlangt . . .«

»Na aber, wie klingt das: ›Ihren‹! Ach, lieber Sergej, urteile nicht so streng über ihn; er ist ein misanthropischer Mensch, das ist es, ein kränklicher Mensch! Man darf es mit ihm nicht so genau nehmen. Aber dafür ist er ein edler Mensch, das heißt geradezu der edelste aller Menschen! Du warst ja selbst vorhin Zeuge; es ging ordentlich ein leuchtender Glanz von ihm aus. Und daß er manchmal seltsame Streiche macht, das darf man nicht so beachten. Na, bei wem käme denn so etwas nicht vor?«

»Aber ich bitte Sie, lieber Onkel! Vielmehr: bei wem kommt denn so etwas vor?«

»Ach, du redest immer dasselbe! Du besitzt zu wenig Gutherzigkeit, lieber Sergej, und kannst nicht verzeihen! . . .«

»Nun gut, lieber Onkel, gut! Lassen wir dieses Thema! Sagen Sie, haben Sie Nastasja Jewgrafowna gesehen?«

»Ach, lieber Freund, um sie hat es sich ja gerade gehandelt. Siehst du, lieber Sergej, erstens (und das ist das Wichtigste): wir haben alle beschlossen, ihm, das heißt Foma, morgen unbedingt zum Geburtstage zu gratulieren, weil morgen tatsächlich sein Geburtstag ist. Alexandra ist ein braves Mädchen; aber darin irrt sie sich; wir wollen also alle in corpore hingehen, noch vor der Frühmesse, recht früh. Ilja wird ihm ein Gedicht aufsagen; dadurch wird er sich angenehm berührt fühlen; kurz gesagt, es wird ihm schmeicheln. Ach, wenn doch auch du, lieber Sergej, ihm mit uns zusammen gratulieren wolltest! Er würde dir vielleicht vollständig verzeihen. Wie schön wäre es, wenn ihr euch versöhntet! Vergiß die Kränkung, lieber Sergej; du selbst hast ihn ja auch gekränkt . . . Er ist doch ein überaus achtenswerter Mensch!«

»Lieber Onkel! Lieber Onkel!«, rief ich, da ich den letzten Rest von Geduld verlor; »ich möchte mit Ihnen über etwas sehr Wichtiges sprechen, und Sie . . . Ich frage noch einmal: wissen Sie auch wohl, wissen Sie auch wohl, was mit Nastasja Jewgrafowna vorgeht?«

»Gewiß, lieber Freund. Was hast du denn? Warum schreist du so? Ihretwegen ist ja vorhin dieser ganze Streit entstanden. Er ist übrigens eigentlich nicht erst vorhin entstanden, sondern schon vor langer Zeit. Ich wollte dir nur früher nichts davon sagen, um dich nicht zu erschrecken; denn man wollte sie einfach aus dem Haus weghaben, und forderte von mir, ich solle sie wegschicken. Du kannst dir meine Lage vorstellen . . . Na, aber Gott sei Dank, jetzt ist das alles wieder in Ordnung. Man hatte gedacht (siehst du, ich will dir nur alles bekennen), man hatte gedacht, ich sei selbst in sie verliebt und wolle sie heiraten, kurz, mich in mein Verderben stürzen; denn das würde tatsächlich mein Verderben sein: das hat man mir klargemacht . . . Und um mich zu retten, hatte man beschlossen, sie aus dem Haus zu schaffen. Alles geht von Mama aus; am eifrigsten ist dabei aber Anna Nilowna. Foma verhält sich vorläufig still. Aber jetzt habe ich sie alle davon überzeugt, daß sie auf falscher Fährte waren, und ich muß dir gestehen, ich habe ihnen schon mitgeteilt, du bewürbest dich offiziell um Nastasja und seist zu diesem Zweck hergekommen. Na, das hat sie einigermaßen beruhigt, und Nastasja wird nun hierbleiben, wenn auch nicht definitiv, sondern nur so auf Probe, aber sie wird doch hierbleiben. Sogar du bist in der allgemeinen Achtung gestiegen, da ich erklärt habe, daß du dich verloben willst. Wenigstens scheint Mama sich beruhigt zu haben. Nur Anna Nilowna brummt immer noch! Ich weiß gar nicht, was ich mir noch ausdenken soll, um es ihr recht zu machen. Was mag sie nur beabsichtigen, diese Anna Nilowna?«

»Lieber Onkel, in was für einem Irrtum befinden Sie sich! Wissen Sie auch, daß Nastasja Jewgrafowna morgen von hier wegfährt, wenn sie nicht bereits heute weggefahren ist? Wissen Sie auch, daß ihr Vater heute extra deshalb hergekommen ist, um sie abzuholen? Daß schon alles entschieden ist, daß sie selbst mir heute persönlich davon Mitteilung gemacht und mir zum Schluß einen Gruß an Sie aufgetragen hat, – wissen Sie das oder nicht?«

Der Onkel blieb in der Haltung, in der er sich gerade befand, starr vor mir stehen, nur daß er den Mund öffnete. Es schien mir, daß er zusammengezuckt war und ein Stöhnen sich seiner Brust entrang.

Ohne einen Augenblick zu verlieren, beeilte ich mich, ihm mein ganzes Gespräch mit Nastasja zu erzählen: meinen Antrag, ihre entschiedene Ablehnung, ihren Zorn auf den Onkel, weil er sich erlaubt hatte, mich brieflich herzuberufen; ich setzte ihm auseinander, daß sie ihn durch ihre Abreise vor der Heirat mit Tatjana Iwanowna zu retten hoffe; kurz, ich enthielt ihm nichts vor; ich übertrieb sogar absichtlich alles, was in diesen Mitteilungen an Unangenehmem enthalten war. Ich wollte bei meinem Onkel einen starken Eindruck hervorrufen, um ihn zu definitiven Maßnahmen zu veranlassen, – und der Eindruck war dann auch tatsächlich sehr stark. Der Onkel schrie auf und griff sich an den Kopf.

»Wo ist sie? Weißt du es nicht? Wo ist sie jetzt?« sagte er endlich, ganz blaß vor Schreck. »Und ich Dummkopf kam schon ganz beruhigt hierher und dachte, es sei alles wieder in Ordnung«, fügte er verzweifelt hinzu.

»Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist; aber vorhin, als dieses Geschrei anfing, wollte sie zu Ihnen gehen, sie wollte das alles laut in jedermanns Gegenwart aussprechen. Wahrscheinlich hat man sie nicht hereingelassen.«

»Das fehlte auch noch, daß man sie hereingelassen hätte! Was hätte sie da angerichtet! Ach, sie hat ein hitziges, stolzes Köpfchen! Und wo wird sie jetzt bleiben? Ja wo, wo? Und du, du bist mir auch der Richtige! Warum hat sie dir denn eine abschlägige Antwort gegeben? Unsinn! Du mußtest ihr gefallen. Warum hast du ihr denn nicht gefallen? So antworte doch, um Himmels willen; warum stehst du so stumm da?«

»Aber ich bitte Sie, lieber Onkel! Wie kann man denn überhaupt solche Fragen stellen?«

»Aber so kann es doch unmöglich bleiben! Du mußt, du mußt sie heiraten. Warum habe ich dich denn aus Petersburg hierher zitiert? Du mußt sie glücklich machen! Jetzt will man sie von hier vertreiben; aber dann, wenn sie deine Frau und meine Nichte ist, dann werden sie sie nicht vertreiben können. Und wo soll sie denn sonst hingehen? Was soll aus ihr werden? Soll sie sich nach einer Gouvernantenstelle umsehen? Aber das ist ja der schrecklichste Unsinn, Gouvernante! Wovon soll sie denn zu Hause leben, bis sie eine Stelle findet? Der Alte hat ja so schon acht Kinder auf dem Hals; sie nagen selbst am Hungertuch. Sie wird ja keinen Groschen von mir annehmen, wenn sie wegen dieser häßlichen Verleumdungen von hier fortgeht, weder sie noch ihr Vater. Und wie kann sie denn auch in solcher Weise von hier fortgehen; das ist ja schrecklich! Es wird hier einen argen Skandal geben; das weiß ich schon jetzt. Ihr Gehalt aber hat sie schon längst im voraus erhalten, um die Ausgaben für ihre Familie bestreiten zu können; denn sie ernährt ja ihre Angehörigen. Na, angenommen, ich empfehle sie als Gouvernante und mache für sie eine ehrenhafte, anständige Familie ausfindig . . . aber hol's der Teufel, wo findet man anständige, wahrhaft anständige Menschen? Na, angenommen sogar, es gäbe ihrer viele (wir wollen Gott nicht erzürnen), aber es bleibt doch immer gefährlich: kann man sich auf die Menschen verlassen? Zudem ist ein armer Mensch mißtrauisch; er hat immer das Gefühl, daß man ihn das Brot und die freundliche Behandlung durch Demütigungen bezahlen läßt! Man wird sie kränken; sie hat ihren Stolz, und dann . . . ja, was dann? Und wie, wenn zu alldem so ein schändlicher Verführer sich an sie heranmacht? Sie wird ihn empört zurückweisen; ich weiß, daß sie das tun wird; aber er wird sie doch beleidigen, der Schurke! Es kann doch ein Schatten von Verdacht auf sie fallen, üble Nachrede an ihr hängenbleiben, und dann? Der Kopf platzt mir ja! Ach du mein Gott!«

»Lieber Onkel! Verzeihen Sie mir eine Frage«, begann ich feierlich; »seien Sie mir nicht böse, sondern machen Sie sich klar, daß von der Antwort auf diese Frage viel abhängt; ich bin sogar zum Teil berechtigt, von Ihnen eine Antwort zu verlangen, lieber Onkel!«

»Was ist denn los? Was ist das für eine Frage?«

»Sagen Sie mir offen und ehrlich, wie wenn Sie vor Gott stünden: fühlen Sie nicht, daß Sie selbst ein bißchen in Nastasja Jewgrafowna verliebt sind und sie gern heiraten möchten? Bedenken Sie doch nur: das ist doch gerade der Grund, weshalb man sie von hier weghaben möchte.«

Mein Onkel machte eine höchst energische Geste krampfhafter Ungeduld.

»Ich verliebt? In sie? Die haben wohl alle Tollkraut gegessen oder sich gegen mich verschworen. Ebendeswegen habe ich dich ja herbestellt, um ihnen allen zu beweisen, daß sie nicht recht bei Trost sind. Und wie könnte ich denn dann darauf hinwirken, daß du sie heiratest? Ich verliebt? In sie? Sie sind alle übergeschnappt, damit basta!«

»Wenn es so steht, lieber Onkel, dann erlauben Sie mir bitte, alles auszusprechen. Ich erkläre Ihnen feierlich, daß ich in einer solchen Vermutung absolut nichts Schlechtes finde. Vielmehr würden Sie sie glücklich machen, wenn Sie sie liebten, und . . . und das gebe Gott! Gott gebe Ihnen Liebe und einen klugen Entschluß!«

»Aber ich bitte dich, was redest du da!« rief mein Onkel ordentlich erschrocken. »Ich wundere mich, wie du das so kaltblütig sagen kannst . . . und . . . überhaupt bist du immer zu hastig, lieber Freund; diesen Charakterzug habe ich an dir schon bemerkt! Na, ist das nicht sinnlos, was du da gesagt hast? Sag selbst, wie soll ich sie denn heiraten, da ich sie doch wie eine Tochter ansehe und nicht anders? Und ich müßte mich sogar schämen, wenn ich sie anders ansähe; ja, es wäre geradezu sündhaft! Ich bin ein alter Mann und sie ein junges Knöspchen! Auch Foma hat mir das mit genau denselben Ausdrücken auseinandergesetzt. Ich fühle in meinem Herzen eine warme väterliche Liebe zu ihr, und du redest von Heirat! Vielleicht würde sie mir aus Dankbarkeit keine abschlägige Antwort geben; aber dann würde sie mich später deswegen verachten, weil ich ihre Dankbarkeit mißbraucht habe. Ich würde sie zugrunde richten, und ich würde ihre Neigung verlieren! Gern gäbe ich ihr meine ganze Seele hin, ihr, meinem lieben Kind! Ich liebe sie ganz ebenso wie Alexandra, sogar noch mehr, muß ich dir gestehen. Alexandra ist von Natur und von Rechts wegen meine Tochter; aber diese habe ich durch meine Liebe zu meiner Tochter gemacht. Ich habe sie aus der Dürftigkeit herausgehoben und aufgezogen. Auch Katerina, meine gute selige Frau, liebte sie und hat sie mir wie eine Tochter hinterlassen. Ich habe ihr eine gute Bildung zukommen lassen: sie hat Französisch sprechen gelernt und Klavier spielen und Bücher und alles . . . Was hat sie für ein hübsches Lächeln! Hast du es auch bemerkt, lieber Sergej! Als ob sie einen auslachen wollte; aber dabei lacht sie einen gar nicht aus, sondern meint es vielmehr gut mit einem . . . Siehst du, ich hatte gedacht, du würdest herkommen und ihr einen Antrag machen, und dann würden sie alle zu der Überzeugung gelangen, daß ich keine Absichten auf sie habe, und würden aufhören, diese häßlichen Gerüchte über sie zu verbreiten. Sie würde dann in Ruhe und Frieden bei uns bleiben, und wie glücklich würden wir dann leben! Ihr seid beide meine Kinder, beinah beide Waisen, beide seid ihr unter meiner Obhut aufgewachsen . . . ich würde euch so liebhaben, so liebhaben! Ich würde euch mein Leben widmen, mich nie von euch trennen, immer bei euch bleiben! Ach, wie glücklich könnten wir sein! Warum die Menschen sich nur immer so erbosen und aufeinander zornig sind und sich gegenseitig hassen? Ich möchte mich am liebsten daranmachen, ihnen das alles auseinanderzusetzen und ihnen die ganze, reine Wahrheit darzulegen! Ach du mein Gott!«

»Ja, lieber Onkel, ja; das ist alles ganz richtig; aber sie hat mir doch einen Korb gegeben.«

»Sie hat dir einen Korb gegeben! Hm! . . . Aber weißt du, ich hatte das gewissermaßen geahnt, daß sie dir einen Korb geben würde«, sagte er nachdenklich. »Aber nein!« rief er. »Ich glaube es nicht! Das ist unmöglich. Dann würde ja alles in die Brüche gehen! Gewiß hast du dich gleich von vornherein ihr gegenüber ungeschickt benommen, sie vielleicht verletzt, womöglich Komplimente zu drechseln versucht . . . Erzähle mir noch einmal, wie es gewesen ist, Sergej!«

Ich wiederholte noch einmal alles mit der größten Ausführlichkeit. Als ich zu dem Punkt gelangte, wo Nastasja die Hoffnung aussprach, durch ihr Verschwinden den Onkel vor der Verheiratung mit Tatjana Iwanowna zu retten, lächelte dieser bitter.

»Mich zu retten!« sagte er. »Jawohl, mich zu retten bis morgen!«

»Aber Sie wollen doch nicht sagen, lieber Onkel, daß Sie Tatjana Iwanowna heiraten werden!« rief ich erschrocken.

»Eben damit habe ich es ja erkauft, daß Nastasja morgen nicht weggejagt werden soll. Gleich morgen werde ich einen Heiratsantrag machen; ich habe es mit aller Bestimmtheit versprochen.«

»Sie haben sich wirklich dazu entschlossen, lieber Onkel?«

»Was sollte ich machen, lieber Freund, was sollte ich machen? Es zerreißt mir das Herz; aber ich habe mich dazu entschlossen. Morgen mache ich ihr einen Antrag; die Hochzeit soll nach unserem Beschluß in aller Stille gefeiert werden, im Familienkreis; das ist auch das beste, lieber Freund, im Familienkreis. Dich möchte ich bitten, mein Hochzeitsmarschall zu sein. Ich habe schon auf dich hingewiesen, so daß sie dich vorläufig nicht wegjagen werden. Was sollte ich machen, lieber Freund? Sie sagen, ich solle für meine Kinder Reichtum erwerben. Gewiß, was tut man nicht alles für seine Kinder? Für seine Kinder stellt man sich sogar auf den Kopf, um so mehr, da es im Grunde nur in der Ordnung ist, daß man für sie Opfer bringt. Ich muß ja doch wenigstens etwas für die Familie tun. Ich darf doch nicht immer nur dasitzen und die Hände in den Schoß legen!«

»Aber, lieber Onkel, sie ist ja doch verrückt!« rief ich, mich vergessend; mein Herz zog sich schmerzlich zusammen.

»Nun soll sie auch noch verrückt sein! Sie ist durchaus nicht verrückt; aber weißt du, sie hat viel Unglück durchgemacht . . . Was soll ich machen, lieber Freund? Ich würde ja auch froh sein, wenn sie ihren vollen Verstand hätte . . . Übrigens, wie sehen viele von denen aus, die ihren vollen Verstand haben! Aber wenn du wüßtest, wie gutherzig sie ist, was für eine edle Gesinnung sie hat!«

»Mein Gott, er findet sich schon in diesen Gedanken hinein!« sagte ich verzweifelt.

»Aber was soll ich denn machen? Sie wünschen es ja doch nur zu meinem Besten, und ich sehe ja auch, daß ich früher oder später doch nicht drum herumkomme: sie werden mich zwingen, Tatjana Iwanowna zu heiraten. Da ist es schon besser, es jetzt gleich zu tun als erst deswegen einen Streit anzufangen. Ich will dir alles ganz offen sagen, lieber Sergej: in gewisser Weise bin ich sogar froh über das Geschehene. Es ist gut, daß ich meinen Entschluß gefaßt habe; nun bin ich wenigstens die Last, die mich bedrückte, los und fühle mich ruhiger. Als ich hierher kam, war ich schon fast ganz ruhig. Es ist nun einmal mein Schicksal. Die Hauptsache aber ist: wir haben den Vorteil, daß Nastasja bei uns bleibt. Ich habe ja nur unter dieser Bedingung eingewilligt. Aber nun will sie selbst davongehen! Das darf nicht geschehen!« rief der Onkel und stampfte mit dem Fuß auf. »Höre mal, Sergej«, fügte er mit entschlossener Miene hinzu, »warte hier auf mich, geh nicht weg; ich komme gleich wieder.«

»Wo willst du hin, lieber Onkel?«

»Vielleicht treffe ich sie, Sergej; dann wird sich alles aufklären; glaube mir, alles wird sich aufklären, und . . . und . . . du wirst sie heiraten; darauf gebe ich dir mein Ehrenwort!«

Der Onkel verließ schnellen Schrittes das Zimmer und ging in Richtung Garten, nicht in Richtung Haus. Ich folgte ihm vom Fenster aus mit den Augen.

XII

Die Katastrophe

Ich blieb allein. Meine Lage war eine höchst peinliche: ich hatte einen Korb bekommen, und doch wollte mich mein Onkel beinahe mit Gewalt verheiraten. Meine Gedanken waren unklar und verworren. Misintschikow und sein Vorhaben kamen mir nicht aus dem Sinn. Um jeden Preis mußte ich den Onkel retten! Ich dachte sogar daran, Misintschikow aufzusuchen und ihm alles zu erzählen. Aber wohin war der Onkel gegangen? Er hatte selbst gesagt, er wolle Nastasja aufsuchen, dabei aber die Richtung in den Garten hinein eingeschlagen. Ein Gedanke an geheime Rendezvous blitzte in meinem Kopf auf, und ein unangenehmes Gefühl preßte mir das Herz zusammen. Ich erinnerte mich an das, was Misintschikow über ein heimliches Verhältnis der beiden gesagt hatte . . . Nach kurzem Nachdenken verwarf ich meinen ganzen Verdacht mit Entrüstung. Mein Onkel konnte nicht betrügen: das war klar. Meine Unruhe wuchs von Minute zu Minute. Fast unbewußt trat ich vor die Haustür und ging in den Garten hinein, dieselbe Allee entlang, in der mein Onkel verschwunden war. Der Mond ging eben auf. Ich kannte diesen Garten nach allen Richtungen und fürchtete nicht, mich zu verirren. Als ich zu dem alten Pavillon gelangt war, der einsam am Ufer des vernachlässigten, mit Entengrütze bedeckten Teiches stand, blieb ich auf einmal wie angewurzelt stehen: ich hörte aus dem Pavillon Stimmen. Ich kann gar nicht schildern, was für ein seltsames Gefühl des Ärgers sich meiner bemächtigte! Ich war ganz sicher, daß es der Onkel und Nastasja seien, und ging näher heran, indem ich mein Gewissen für jeden Fall dadurch beschwichtigte, daß ich meinen bisherigen Schritt beibehielt und keinen Versuch machte, mich heranzuschleichen. Auf einmal wurde der Klang eines Kusses deutlich vernehmbar, dann die Töne begeisterter Worte und unmittelbar darauf der durchdringende Schrei einer weiblichen Stimme. In demselben Augenblicke kam eine weibliche Gestalt in einem weißen Kleid aus dem Pavillon herausgelaufen und huschte wie eine Schwalbe an mir vorbei. Es schien mir sogar, daß sie das Gesicht mit den Händen verbarg, um nicht erkannt zu werden; wahrscheinlich war ich vom Pavillon aus bemerkt worden. Aber wie groß war mein Erstaunen, als ich in dem Herrn, der hinter der erschrockenen Dame heraustrat, Obnoskin erkannte, Obnoskin, der nach Misintschikows Aussage schon längst weggefahren war! Auch Obnoskin seinerseits wurde, als er mich erblickte, außerordentlich verlegen: seine ganze Dreistigkeit war verschwunden.

»Entschuldigen Sie, aber ich hatte ganz und gar nicht erwartet, Sie hier zu treffen«, sagte er lächelnd und stotternd.

»Ich Sie auch nicht«, antwortete ich spöttisch, »um so weniger, da ich gehört habe, Sie seien längst abgereist.«

»Nein . . . ich bin nur . . . ich habe nur meine Mutter ein Stückchen begleitet. Aber darf ich mich an Sie als an den ehrenhaftesten Menschen der Welt mit einer Bitte wenden?«

»Mit welcher Bitte?«

»Es gibt (das werden Sie selbst zugeben) Fälle, wo ein wahrhaft ehrenhafter Mensch sich genötigt sieht, an die ganze Ehrhaftigkeit der Denkweise eines anderen wahrhaft ehrenhaften Menschen zu appellieren . . . Ich hoffe, Sie verstehen mich . . .«

»Hoffen Sie das nicht; denn ich verstehe absolut nichts.«

»Sie haben die Dame gesehen, die sich mit mir zusammen im Pavillon befand?«

»Gesehen habe ich sie, aber nicht erkannt.«

»Ah, Sie haben sie nicht erkannt . . . Diese Dame werde ich bald meine Frau nennen.«

»Ich gratuliere Ihnen. Aber womit kann ich Ihnen nützlich sein?«

»Nur damit, daß Sie das tiefste Stillschweigen darüber wahren, daß Sie mich mit dieser Dame gesehen haben.«

›Wer mag das gewesen sein?‹ dachte ich; ›doch nicht etwa . . .‹

»Ich weiß wirklich nicht«, antwortete ich ihm. »Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, daß ich Ihnen das nicht versprechen kann.«

»Um Gottes willen, ich bitte Sie inständig darum!« flehte Obnoskin. »Versetzen Sie sich doch in meine Lage: es ist noch ein Geheimnis. Vielleicht werden Sie selbst einmal Bräutigam sein; dann werde auch ich meinerseits . . .«

»Pst! Es kommt jemand!«

»Wo?«

Wirklich glitt, etwa dreißig Schritte von uns entfernt, kaum wahrnehmbar der Schatten eines Menschen vorbei.

»Das . . . das war gewiß Foma Fomitsch!« flüsterte Obnoskin, am ganzen Leib zitternd. »Ich erkenne ihn am Gang. Mein Gott! und da sind noch mehr Schritte, von der andern Seite! Hören Sie nur! . . . Leben Sie wohl! Ich danke Ihnen, und . . . ich flehe Sie an . . .«

Obnoskin verschwand. Einen Augenblick darauf stand, wie aus der Erde gewachsen, mein Onkel vor mir.

»Bist du es?« rief er mich an. »Es ist alles verloren, lieber Sergej, alles verloren!«

Ich bemerkte, daß er ebenfalls am ganzen Leib zitterte.

»Was ist verloren, lieber Onkel?«

»Komm!« sagte er, mühsam atmend, ergriff mich fest bei der Hand und zog mich mit sich. Aber auf dem ganzen Weg bis zum Sommerhäuschen sprach er kein Wort und ließ auch mich nicht sprechen. Ich machte mich auf etwas Ungeheuerliches gefaßt und irrte mich auch kaum. Als wir ins Zimmer getreten waren, wurde ihm schwindlig; er war leichenblaß. Ich bespritzte ihn sofort mit Wasser. »Es muß wohl etwas ganz Entsetzliches geschehen sein«, dachte ich, »wenn ein solcher Mann einen Ohnmachtsanfall bekommt.«

»Lieber Onkel, was ist denn mit Ihnen?« fragte ich ihn endlich.

»Es ist alles verloren, lieber Sergej! Foma hat mich im Garten mit Nastasja angetroffen, gerade in dem Augenblick, als ich sie küßte.«

»Sie haben sie geküßt? Im Garten?« rief ich, meinen Onkel erstaunt anblickend.

»Ja, im Garten, lieber Freund; Gott hat uns in Versuchung geführt! Ich war hingegangen, um sie, wenn irgend möglich, zu sehen. Ich wollte ihr alles sagen, das heißt, ihr in Hinblick auf dich den Kopf zurechtrücken. Sie hatte aber schon eine ganze Stunde auf mich gewartet, dort bei der zerbrochenen Bank, auf der anderen Seite des Teiches . . . Sie kommt oft dahin, wenn sie mit mir zu reden hat.«

»Oft, lieber Onkel?«

»Ja, oft, lieber Freund! In der letzten Zeit haben wir uns fast jede Nacht da getroffen. Aber sie haben uns gewiß nachgespürt; ich weiß, daß sie das getan haben, und ich weiß auch, daß Anna Nilowna dabei am eifrigsten gewesen ist. So stellten wir denn unsere Zusammenkünfte zeitweilig ein; seit vier Tagen hatten wir uns nicht mehr getroffen; aber heute war es doch wieder erforderlich geworden. Du hast ja selbst gesehen, wie notwendig es war, auf welche andere Weise hätte ich ihr alles sagen können? Ich ging hin in der Hoffnung, sie zu treffen, und sie hatte da schon eine ganze Stunde gesessen und auf mich gewartet; sie hatte ebenfalls etwas, was sie mir mitteilen mußte . . .«

»Mein Gott, welche Unvorsichtigkeit! Sie wußten doch, daß man Ihnen nachspürte?«

»Aber es war eine kritische Lage, lieber Sergej; wir hatten uns gegenseitig vieles zu sagen. Bei Tag wage ich sie ja nicht einmal anzusehen; sie guckt in eine Ecke und ich absichtlich in eine andere, als ob ich gar nicht gewahr würde, daß sie überhaupt auf der Welt ist. Aber bei Nacht kommen wir zusammen und reden miteinander . . .«

»Nun, und was weiter, lieber Onkel?«

»Ich hatte ihr erst ein paar Worte gesagt – weißt du, das Herz klopfte mir wie ein Hammer, und die Tränen liefen mir aus den Augen; ich fing an, ihr zuzureden, daß sie dich heiraten möchte; aber sie sagte zu mir: ›Sie lieben mich gewiß nicht, gewiß nicht; Sie sehen ja nichts!‹ und auf einmal warf sie sich an meine Brust, schlang mir die Arme um den Hals und begann zu weinen und zu schluchzen! ›Ich liebe nur Sie‹, sagte sie, ›und werde niemand heiraten. Ich liebe Sie schon lange; aber auch Sie werde ich nicht heiraten; ich werde gleich morgen von hier wegfahren und ins Kloster gehen.‹«

»Mein Gott! Hat sie das wirklich gesagt? Nun, und was weiter, was weiter, lieber Onkel?«

»Ich blickte auf, und da stand Foma vor uns! Woher war er nur gekommen? Hatte er hinter einem Busch gesessen und darauf gewartet, daß wir diese Sünde begingen?«

»Der Schurke!«

»Ich war starr; Nastasja lief fort; Foma Fomitsch aber ging schweigend an mir vorbei und drohte mir mit dem Finger. Verstehst du wohl, Sergej, was es morgen für einen Skandal geben wird?«

»Na, wie sollte ich das nicht verstehen!«

»Verstehst du wohl«, rief er in heller Verzweiflung und sprang dabei vom Stuhl auf, »verstehst du wohl, daß sie sie zugrunde richten, beschimpfen, entehren wollen? Sie suchen einen Vorwand, um sie einer unehrenhaften Handlung zu beschuldigen und sie dafür aus dem Haus zu jagen, und jetzt haben sie einen solchen Vorwand gefunden! Sie haben ja gesagt, sie unterhalte mit mir ein unsittliches Verhältnis! Sie haben ja gesagt, die Schurken, sie habe ein solches Verhältnis mit Widopljassow! Das alles hat Anna Nilowna gesagt. Was wird nun werden? Was wird morgen geschehen? Ob Foma es wirklich weitererzählen wird?«

»Zweifellos wird er das tun, lieber Onkel.«

»Aber wenn er es weitererzählt, wenn er es wirklich weitererzählt . . .«, sagte er, sich auf die Lippen beißend und die Fäuste ballend. »Aber nein, das glaube ich nicht! Er wird es nicht weitererzählen; er wird Verständnis dafür haben . . . er ist ja doch ein Mann von edelster Denkungsart! Er wird sie schonen . . .«

»Ob er sie nun schont oder nicht«, erwiderte ich energisch, »jedenfalls ist es Ihre Pflicht, gleich morgen Nastasja Jewgrafowna einen Heiratsantrag zu machen.«

Der Onkel sah mich an, ohne sich zu rühren.

»Verstehen Sie auch, lieber Onkel, daß Sie das junge Mädchen um seinen guten Ruf bringen, wenn diese Geschichte unter die Leute kommt? Verstehen Sie auch wohl, daß Sie einem solchen Unglück so schnell wie möglich zuvorkommen müssen? Sie müssen jedem kühn und stolz in die Augen blicken, ihr öffentlich einen Heiratsantrag machen, sich den Teufel was um die Einwände dieser Menschen scheren und Foma zu Staub zermalmen, wenn er gegen Nastasja Jewgrafowna auch nur einen Ton sagt.«

»Mein Freund«, rief der Onkel, »daran habe ich auf dem Weg hierher auch schon gedacht!«

»Und wie haben Sie sich entschieden?«

»Ich habe mich dazu unwiderruflich entschlossen! Und ich habe diesen Entschluß schon gefaßt, noch ehe ich anfing, dir das Vorgefallene zu erzählen!«

»Bravo, lieber Onkel!«

Ich fiel ihm um den Hals.

Wir redeten noch lange miteinander. Ich legte ihm alle Gründe für seine Heirat mit Nastasja dar und zeigte ihm, daß dies eine absolute Notwendigkeit sei; übrigens sah er das noch besser ein als ich selbst. Aber der Trieb zur Betätigung meiner Beredsamkeit war nun einmal bei mir rege geworden. Ich freute mich über meinen Onkel. Die Pflicht drängte ihn zum Handeln; sonst hätte er sich wohl niemals dazu aufgerafft. Vor der Pflicht aber hatte er einen heiligen Respekt. Trotzdem jedoch konnte ich mir schlechterdings keine rechte Vorstellung davon machen, wie diese Sache bewerkstelligt werden sollte. Ich wußte und glaubte mit aller Bestimmtheit, daß mein Onkel um keinen Preis von dem ablassen würde, was er einmal als seine Pflicht erkannt hatte; aber ich hatte doch meine Zweifel, ob seine Kraft zum Widerstand gegen seine Hausgenossen auch ausreichen würde. Und darum gab ich mir die größte Mühe, ihn anzutreiben und anzuleiten, und widmete mich dieser Aufgabe mit jugendlichem Feuereifer.

»Um so mehr, um so mehr«, sagte ich, »da jetzt schon alles entschieden und Ihre letzten Zweifel behoben sind! Es hat sich etwas zugetragen, was Sie nicht erwartet hatten, obwohl es in Wirklichkeit alle sahen und vor Ihnen gemerkt haben: Nastasja Jewgrafowna liebt Sie! Werden Sie etwa zulassen«, rief ich, »daß diese reine Liebe ihr Schmach und Schande einträgt?«

»Niemals! Aber, mein Freund, soll ich denn wirklich zu guter Letzt noch so glücklich werden?« rief der Onkel und fiel mir um den Hals. »Und wie kommt es nur, daß sie mich liebgewonnen hat, und wofür? wofür? Ich meine, ich habe doch nichts Derartiges an mir . . . Ich bin im Vergleich zu ihr ein alter Mann; schon darum hätte ich es nicht erwartet! Du mein Engel, mein Engel! . . . Hör mal, lieber Sergej, du fragtest vorhin, ob ich in sie verliebt sei: hattest du schon irgendeine Ahnung?«

»Ich sah nur, lieber Onkel, daß Sie für sie die größte Liebe fühlten, die man sich nur denken kann: daß Sie sie liebten, ohne es selbst zu wissen. Ich bitte Sie um alles in der Welt: Sie lassen mich herkommen und wollen mich mit ihr verheiraten, einzig und allein, damit sie Ihre Nichte wird und Sie sie immer um sich haben . . .«

»Und du . . . du verzeihst mir, Sergej?«

»Ach, lieber Onkel! . . .«

Er umarmte mich von neuem.

»Nun seien Sie aber auf der Hut, lieber Onkel; Sie haben alle gegen sich; Sie müssen allen widerstehen und energisch entgegentreten, und zwar gleich morgen.«

»Ja . . . ja, morgen!« wiederholte er etwas nachdenklich. »Weißt du, wir wollen uns mit Mannhaftigkeit, mit wahrer Seelengröße und mit Charakterfestigkeit ans Werk machen . . . besonders mit Charakterfestigkeit!«

»Werden Sie nur nicht zaghaft, lieber Onkel!«

»Nein, ich werde nicht zaghaft werden, lieber Sergej! Nur ein Bedenken habe ich: ich weiß nicht, wie ich es angreifen, wie ich dabei vorgehen soll!«

»Denken Sie darüber nicht weiter nach, lieber Onkel! Der morgige Tag wird das alles entscheiden. Beruhigen Sie sich heute! Je mehr man darüber nachdenkt, desto schlimmer. Und wenn Foma ein Wort dagegen sagt, so jagen Sie ihn sofort aus dem Haus und zermalmen Sie ihn zu Staub!«

»Ob es nicht auch geht, ohne daß ich ihn fortjage? Ich habe mir die Sache so zurechtgelegt, lieber Freund: gleich morgen früh bei Tagesanbruch will ich zu ihm gehen und ihm alles erzählen, so wie ich es jetzt dir erzählt habe; er muß mich doch verstehen, da er ein edler Mensch, der edelste aller Menschen ist! Aber eines beunruhigt mich: wie, wenn Mama heute schon Tatjana Iwanowna von dem morgigen Heiratsantrag in Kenntnis gesetzt hat? Das wäre doch recht schlimm!«

»Über Tatjana Iwanowna brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, lieber Onkel.«

Und ich erzählte ihm die Szene, die ich vor dem Pavillon mit Obnoskin gehabt hatte. Der Onkel war höchst erstaunt. Von Misintschikow sagte ich keine Silbe.

»Eine exaltierte Person! Wirklich eine exaltierte Person!« rief er aus. »Das arme Frauenzimmer! Da machen sich nun solche Menschen an sie heran und wollen ihre Einfalt ausnutzen! War es denn wirklich Obnoskin? Aber der war doch schon abgereist . . . Sonderbar, sehr sonderbar! Ich bin ganz überrascht, lieber Sergej . . . Das müssen wir gleich morgen untersuchen und die erforderlichen Maßnahmen treffen . . . Aber bist du auch ganz sicher, daß es Tatjana Iwanowna war?«

Ich antwortete, ich hätte zwar ihr Gesicht nicht gesehen, sei aber aus gewissen Gründen fest davon überzeugt, daß es Tatjana Iwanowna gewesen sei.

»Hm! Ist es nicht vielleicht doch eine Liebelei mit einem Gutsmädchen gewesen, und ist es dir vielleicht nur so vorgekommen, daß es Tatjana Iwanowna war? War es nicht etwa Dascha, die Tochter des Gärtners? Das ist ein leichtfertiges Ding! Sie ist bei dergleichen schon überrascht worden; darum spreche ich diese Vermutung aus. Anna Nilowna hat ihr nachgespürt! . . . Aber nein, das stimmt doch nicht! Er hat ja gesagt, er werde die Betreffende heiraten. Sonderbar, sonderbar!«

Endlich trennten wir uns. Ich umarmte meinen Onkel und segnete ihn.

»Morgen, morgen«, sagte er noch einmal, »wird sich alles entscheiden; noch ehe du aufstehst, wird es sich entscheiden. Ich werde zu Foma gehen, mich ihm gegenüber ritterlich benehmen und ihm wie einem leiblichen Bruder alle verborgensten Regungen meines Herzens, mein ganzes Inneres offenlegen. Gute Nacht, lieber Sergej! Lege dich schlafen: du bist müde; ich werde gewiß die ganze Nacht über kein Auge schließen.«

Er ging weg. Ich legte mich sogleich hin, da ich unglaublich müde und erschöpft war. Das war ein schwerer Tag gewesen. Meine Nerven waren stark angegriffen, und ehe ich endgültig einschlief, fuhr ich mehrere Male zusammen und wachte wieder auf. Aber wie seltsam auch meine Empfindungen beim Einschlafen waren, so war das doch nichts im Vergleich mit der Sonderbarkeit meines Erwachens am andern Morgen.

Zweiter und letzter Teil

I

Die Verfolgung

Ich schlief fest und traumlos. Auf einmal fühlte ich, daß sich eine Last von mehr als drei Zentnern auf meine Beine legte. Ich schrie auf und erwachte. Es war schon Tag; die Sonne schien hell durchs Fenster herein. Auf meinem Bett oder, richtiger gesagt, auf meinen Beinen saß Herr Bachtschejew.

Daran zu zweifeln war nicht möglich: er war es. Nachdem ich mit Mühe und Not meine Beine befreit hatte, richtete ich mich im Bett auf und sah ihn mit der stumpfen Verwunderung eines eben Aufgewachten an.

»Er sieht mich erst noch lange an!« schrie der Dicke. »Was starren Sie mich denn so an? Stehen Sie auf, lieber Freund, stehen Sie auf! Eine halbe Stunde lang wecke ich Sie schon; machen Sie endlich die Augen auf!«

»Was ist denn passiert? Wie spät ist es denn?«

»Es ist noch ziemlich früh, mein Bester; aber unsere holde Fee hat nicht abgewartet, bis es hell wurde, sondern ist ausgerissen. Stehen Sie auf; wir wollen uns an die Verfolgung machen!«

»Was für eine holde Fee?«

»Na unsere, die im Kopf ein bißchen dämlich ist! Ausgerissen ist sie! Schon vor Tagesanbruch ist sie ausgerissen! Ich bin zu Ihnen auf einen Augenblick reingekommen, mein Lieber, bloß um Sie zu wecken, und nun quäle ich mich mit Ihnen schon zwei Stunden lang herum! Stehen Sie auf, lieber Freund; auch Ihr Onkel wartet schon auf Sie. Ein netter Festtag ist das!« fügte er in gereiztem, schadenfrohem Ton hinzu.

»Aber von wem und wovon reden Sie denn?« fragte ich ungeduldig; ich begann übrigens bereits etwas zu erraten. »Doch nicht von Tatjana Iwanowna?«

»Aber gewiß doch! Gerade von ihr! Ich habe es ja vorhergesagt, habe es prophezeit; aber sie wollten nicht hören! Nun hat sie ihnen eine schöne Festtagsbescherung bereitet! Sie ist mannstoll; sie hat nichts anderes als Liebe im Kopf! Pfui Deibel! Und was sagen Sie zu dem Kavalier? Zu dem Kavalier mit dem Spitzbärtchen?«

»Also ist sie wirklich mit Misintschikow davongegangen?«

»Zum Deibel noch mal! Reiben Sie sich doch den Schlaf aus den Augen, mein Lieber, und werden Sie wenigstens jetzt zum hohen Festtag nüchtern! Sie müssen sich wohl gestern beim Abendessen gehörig betrunken haben, wenn Ihnen jetzt noch so wirr im Kopf ist! Wie wird sie denn mit Misintschikow davongegangen sein! Mit Obnoskin ist sie davongegangen, nicht mit Misintschikow! Iwan Iwanowitsch Misintschikow ist ein anständiger Mensch und macht sich jetzt mit uns zur Verfolgung auf.«

»Was Sie nicht sagen!« rief ich und machte sogar auf dem Bett einen Sprung in die Höhe; »also ist sie wirklich mit Obnoskin davongegangen?«

»Nein, Sie sind aber ein gräßlicher Mensch!« erwiderte der Dicke und sprang auf. »Ich komme zu ihm und will ihm als einem gebildeten Menschen das ungewöhnliche Ereignis mitteilen, und da zweifelt er noch! Na, mein Verehrter, wenn Sie mit uns mitwollen, dann stehen Sie auf und fahren Sie in die Hosen; ich habe keine Lust, hier bei Ihnen meine Zunge länger zu strapazieren; ich habe so schon viel kostbare Zeit bei Ihnen verloren!«

Höchst empört verließ er das Zimmer.

Von dieser Nachricht sehr aufgeregt, sprang ich aus dem Bett, zog mich eilig an und lief zum Gutshaus, wo ich meinen Onkel zu finden hoffte. Dort schienen alle noch zu schlafen und von dem Vorgefallenen nichts zu wissen; ich stieg behutsam die Stufen zur Haupttür hinan und stieß im Flur auf Nastasja. Sie trug einen eilig übergeworfenen Morgenrock oder Schlafrock; ihr Haar war in Unordnung: offenbar war sie eben erst aus dem Bett gesprungen; sie schien im Flur auf jemand zu warten.

»Sagen Sie, ist es wahr, daß Tatjana Iwanowna mit Obnoskin weggefahren ist?« fragte sie eilig mit stockender Stimme. Ihr Gesicht sah blaß und erschrocken aus.

»Es soll wahr sein. Ich suche meinen Onkel; wir wollen die beiden verfolgen.«

»Oh, bringen Sie Tatjana Iwanowna zurück, bringen Sie sie so schnell wie möglich zurück! Sie ist verloren, wenn Sie sie nicht zurückbringen!«

»Aber wo ist mein Onkel denn?«

»Gewiß dort bei den Pferdeställen; da wird ein Wagen angespannt. Ich wartete hier auf ihn. Hören Sie, richten Sie ihm von mir aus, daß ich unter allen Umständen noch heute wegfahren will; ich bin fest dazu entschlossen. Mein Vater wird mich mitnehmen; wenn es möglich ist, fahre ich sogleich. Jetzt ist alles aus! Alles ist verloren!«

Während sie das sagte, sah sie mich an, als ob sie selbst verloren wäre, und brach plötzlich in Tränen aus. Es schien, daß sie einen Weinkrampf bekam.

»Beruhigen Sie sich!« bat ich sie. »All das wird sich noch zum besten wenden; Sie werden sehen . . . Was ist mit Ihnen, Nastasja Jewgrafowna?

»Ich . . . ich weiß nicht . . . was mit mir ist«, erwiderte sie, mühsam atmend, und drückte unbewußt fest meine beiden Hände. »Sagen Sie ihm . . .«

In diesem Augenblick wurde hinter der rechts gelegenen Tür ein Geräusch vernehmbar.

Sie ließ meine Hände los und lief erschrocken, ohne zu Ende zu sprechen, die Treppe hinauf.

Ich fand die ganze Gesellschaft, das heißt den Onkel, Bachtschejew und Misintschikow, auf dem hinteren Hof bei den Pferdeställen. Vor Bachtschejews Kutsche waren frische Pferde gespannt worden. Alles war zur Abfahrt bereit; man wartete nur auf mich.

»Da ist er!« rief der Onkel bei meinem Erscheinen. »Hast du die Geschichte gehört, lieber Freund?« fügte er mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck hinzu. Schrecken, Verwirrung und gleichzeitig ein Schimmer von Hoffnung kamen in seinen Blicken, in seiner Stimme und in seinen Bewegungen zum Ausdruck. Er war sich dessen bewußt, daß sich in seinem Schicksal eine entscheidende Wende vollzog.

Ich wurde sogleich in alle Einzelheiten eingeweiht. Herr Bachtschejew war, nachdem er eine sehr unangenehme Nacht verbracht hatte, bei Tagesanbruch von seinem Haus weggefahren, um der Frühmesse in dem Kloster beizuwohnen, das von seinem Gut ungefähr fünf Werst entfernt lag. Gerade an der Stelle, wo der Weg zum Kloster von der Chaussee abbiegt, hatte er auf einmal einen mit höchstem Tempo fahrenden Reisewagen und in demselben Tatjana Iwanowna und Obnoskin erblickt. Tatjana Iwanowna, die ganz verweint und ängstlich ausgesehen hatte, hatte aufgeschrien und die Hände nach Herrn Bachtschejew ausgestreckt, wie wenn sie ihn um Schutz bäte – so kam es wenigstens in seiner Erzählung heraus. »Aber er, der Schurke mit dem Spitzbärtchen«, fügte er hinzu, »saß halbtot vor Angst da und suchte sich zu verstecken; aber da irrst du dich, mein Lieber; dich zu verstecken, das gelingt dir nicht!« Ohne sich lange zu besinnen, war Stepan Alexejewitsch wieder auf die Chaussee eingebogen und nach Stepantschikowo gejagt, wo er den Onkel und Misintschikow und zuletzt auch mich geweckt hatte. Es war beschlossen worden, sofort zur Verfolgung aufzubrechen.

»Dieser Obnoskin, dieser Obnoskin . . .«, sagte der Onkel, mich unverwandt anblickend, als ob er mir zugleich noch etwas anderes sagen wollte; »wer hätte das von ihm gedacht!«

»Von diesem gemeinen Menschen konnte man immer jede Schändlichkeit erwarten!« rief Misintschikow in der energischsten Entrüstung und wandte sich sogleich ab, um meinen Blick zu vermeiden.

»Nun, was tun wir: wollen wir fahren, oder wollen wir hier bis zum Abend stehenbleiben und uns Märchen erzählen?« unterbrach Herr Bachtschejew dieses Gespräch, indem er in den Wagen stieg.

»Fahren wir, fahren wir!« fiel mein Onkel ein.

»Es wird sich alles zum besten wenden, lieber Onkel«, flüsterte ich ihm zu. »Sehen Sie, wie gut sich das jetzt alles gestaltet hat?«

»Sei still, lieber Freund, versündige dich nicht . . . Ach, mein Bester, sie werden jetzt ganz einfach sie aus dem Haus jagen, zur Strafe dafür, daß ihnen ihr Plan nicht gelungen ist. Ich ahne schrecklich viel Leid!«

»Nun, wie ist's, Jegor Iljitsch? Wollt ihr miteinander flüstern, oder wollt ihr fahren?« rief Herr Bachtschejew zum zweiten Mal. »Oder sollen wir die Pferde wieder ausspannen und einen Imbiß nehmen? Wie denkt ihr darüber: wollen wir nicht ein Schnäpschen trinken?«

Diese Worte wurden von ihm mit so grimmiger Ironie gesprochen, daß wir nicht umhin konnten, Herrn Bachtschejew sogleich den Willen zu tun. Wir stiegen alle unverzüglich in den Wagen, und die Pferde jagten los.

Eine Weile schwiegen wir alle. Der Onkel sah mich bedeutsam an, mochte aber in Gegenwart der beiden andern nicht mit mir reden. Er versank häufig in Gedanken; dann wieder war es, als ob er erwachte: er fuhr zusammen und blickte aufgeregt um sich. Misintschikow war anscheinend ruhig, rauchte eine Zigarre und machte das würdevolle Gesicht eines Menschen, der ungerechterweise gekränkt ist. Dafür ereiferte sich Bachtschejew für alle. Er brummte etwas vor sich hin, blickte alle an, errötete vor starker Empörung, schnaufte, spuckte unaufhörlich seitwärts aus und konnte gar nicht zur Ruhe kommen.

»Bist du denn auch sicher, Stepan Alexejewitsch, daß sie nach Mischino gefahren sind?« fragte mein Onkel plötzlich. »Das liegt zwanzig Werst von hier, lieber Freund«, fügte er, an mich gewandt, hinzu. »Es ist ein kleines Gut mit dreißig Seelen; kürzlich hat es ein ehemaliger Gouvernementsbeamter von den früheren Besitzern gekauft. Er ist ein Ränkeschmied, wie die Welt keinen zweiten kennt! Wenigstens sagen die Leute das von ihm; vielleicht irren sie sich auch. Stepan Alexejewitsch versichert, daß Obnoskin eben dorthin gefahren sei und daß dieser Beamte ihm hilft.«

»Ganz bestimmt!« schrie Bachtschejew auffahrend. »Wenn ich dir doch sage: nach Mischino. Nur ist er von Mischino vielleicht schon wieder über alle Berge, dieser Obnoskin! Natürlich, wenn wir drei Stunden unnütz auf dem Hof verplaudern!«

»Regen Sie sich nicht auf«, bemerkte Misintschikow, »wir werden sie schon noch antreffen.«

»Jawohl, wir werden sie antreffen! Er wird da gewiß auf uns warten. Die Schatulle hat er in den Händen; da wird er sich schon aus dem Staub gemacht haben.«

»Beruhige dich, Stepan Alexejewitsch, beruhige dich; wir werden sie einholen«, sagte mein Onkel. »Die beiden haben noch nicht Zeit gehabt, etwas zu tun; du wirst sehen, daß es so ist.«

»Nicht Zeit gehabt, etwas zu tun!« erwiderte Herr Bachtschejew boshaft. »Was kann die nicht schon alles angerichtet haben, trotz ihres stillen, sanften Wesens! ›Sie ist so still und sanft‹, heißt es, ›so still und sanft!‹« fügte er mit hoher Stimme hinzu, wie wenn er jemanden nachäffen wollte. »›Sie hat viel Unglück erfahren!‹ Da ist sie uns nun ausgekratzt, die Unglückliche! Nun kann man ihr vor Tau und Tag auf den Landstraßen nachjagen, daß einem die Zunge aus dem Hals hängt. Nicht einmal sein Gebet verrichten lassen sie einen an dem hohen Festtage. Pfui Deibel!«

»Aber sie ist doch schon mündig«, bemerkte ich; »sie steht nicht unter Vormundschaft. Wir können sie nicht zurückholen, wenn sie es nicht selbst will. Was können wir denn tun?«

»Selbstverständlich!« antwortete der Onkel; »aber sie wird wollen, versichere ich dir. Das hat sie nur einfach so getan. Sowie sie uns erblickt, wird sie sogleich zurückkommen; dafür bürge ich. Wir können sie doch nicht so ihrem Schicksal als Opfer preisgeben, lieber Freund; es ist sozusagen unsere Pflicht, sie zu retten . . .«

»Sie steht nicht unter Vormundschaft!« schrie Bachtschejew, der nun über mich herfiel. »Eine Verrückte ist sie, Verehrtester, geradezu eine Verrückte; daß sie nicht unter Vormundschaft steht, ist dabei ganz egal. Ich habe Ihnen gestern von ihr nichts erzählen wollen; aber neulich trat ich mal aus Versehen in ihr Zimmer und sah, wie sie da allein vor dem Spiegel stand, mit den Händen in der Seite, und eine Ecossaise tanzte! Und wie sie herausgeputzt war: wie eine Figur aus dem Modejournal, genauso! Ich spuckte aus und ging weg. Gleich damals wußte ich alles im voraus, als ob ich es schriftlich hätte!«

»Aber darf man sie denn so streng verurteilen?« bemerkte ich etwas schüchtern. »Es ist ja bekannt, daß Tatjana Iwanowna . . . nicht vollständig gesund ist . . . oder, richtiger gesagt, so eine gewisse Manie hat . . . Mir scheint, daß nur Obnoskin schuldig ist, nicht sie.«

»Nicht vollständig gesund! Na, mit Ihnen ist nichts anzufangen!« erwiderte der Dicke; er war vor Ärger dunkelrot geworden. »Sie haben sich wohl vorgenommen, mich gänzlich wütend zu machen! Haben sich das wohl schon gestern vorgenommen! Eine Verrückte ist sie, mein lieber Herr, wiederhole ich Ihnen, eine total Verrückte; von ›nicht vollständig gesund‹ kann gar nicht die Rede sein. Sie ist von klein auf liebestoll gewesen, und jetzt hat Cupido sie zum Äußersten verleitet. Aber von dem mit dem Spitzbärtchen wollen wir lieber gar nicht reden! Der wird von jetzt an gewiß in Saus und Braus leben, mit dem Geld klimpern und sich halbtot lachen.«

»Glauben Sie denn wirklich, daß er sie sofort verlassen wird?«

»Aber natürlich! Er wird doch ein solches Schätzchen nicht mit sich herumschleppen? Was soll er denn mit ihr anfangen? Er wird sie ausplündern, sie irgendwo an der Landstraße unter einem Busch sitzenlassen und sich davonmachen, und sie kann dann unter dem Busch sitzen und an den Blümchen riechen.«

»Na, du siehst das aber doch zu schwarz, Stepan; so wird es denn doch nicht werden!« rief mein Onkel. »Warum bist du denn übrigens so ärgerlich? Ich wundere mich über dich, Stepan; was hast du denn?«

»Na, als ob ich nicht auch ein Mensch wäre! Da muß man doch wütend werden, auch als Unbeteiligter. Aber vielleicht rede ich so, weil ich sie liebe . . . Ach, hol die ganze Welt der Deibel! Na, warum bin ich denn hierhergefahren? Warum bin ich denn von meinem Weg abgebogen? Was geht mich denn die ganze Geschichte an? Ja, was geht sie mich an?«

So räsonierte Herr Bachtschejew; aber ich hörte ihm nicht mehr zu und dachte an diejenige, die wir jetzt verfolgten, an Tatjana Iwanowna. Hier ist ihre kurze Biographie, wie ich sie mir später nach den zuverlässigsten Quellen zusammengestellt habe; sie dürfte zum Verständnis der Abenteuer dieses Mädchens unentbehrlich sein. Als armes Waisenkind, das in einem fremden, ungastlichen Haus aufwuchs, dann als armes junges Mädchen und zuletzt als arme alte Jungfer hatte Tatjana Iwanowna ihr ganzes armseliges Leben hindurch den bis zum Rand gefüllten Becher des Leides, der Vereinsamung, der Erniedrigung und der Vorwürfe leeren müssen und die ganze Bitterkeit fremden Brotes gründlich kennengelernt. Da sie von Natur aus einen außerordentlich vergnügten, heiteren, leichtsinnigen Charakter hatte, so konnte sie anfangs ihr trauriges Los noch einigermaßen ertragen und sogar manchmal munter und sorglos lachen; aber als sie älter wurde, forderte das Schicksal schließlich seinen Tribut. Allmählich wurde Tatjana Iwanowna gelb und mager und von einer krankhaften Reizbarkeit und Empfindlichkeit; auch ergab sie sich schrankenlosen Träumereien, die oft von reichlichen Tränenergüssen und krampfhaftem Schluchzen unterbrochen wurden. Je weniger irdische Genüsse ihr die Wirklichkeit gewährte, um so mehr ergötzte und tröstete sie sich durch ihre Einbildungen. Je sicherer und unwiederbringlicher ihre letzten wirklichen Hoffnungen dahinschwanden und ganz vergingen, um so mehr berauschte sie sich an ihren Träumereien, die sich nie verwirklichen konnten. Unerhörte Reichtümer, nie verwelkende Schönheit, elegante, reiche, vornehme Freier, lauter Fürsten und hohe Herren, die für sie ihre Herzen in jungfräulicher Reinheit bewahrt hatten und zu ihren Füßen vor grenzenloser Liebe starben, und endlich er – er, das Ideal von Schönheit, er, der alle möglichen Vorzüge in sich vereinigte und von leidenschaftlicher Liebe zu ihr erfüllt war, ein Künstler, ein Dichter, ein vornehmer Herr – alles zusammen oder abwechselnd das eine oder das andere: all das stand ihr nicht nur im Traum, sondern sogar beinahe im Wachen vor Augen. Ihr Verstand begann bereits zu leiden und vertrug diese Opiumdosen der geheimen ununterbrochenen Träumereien nicht . . . Und auf einmal trieb das Schicksal in besonders folgenschwerer Weise seinen Scherz mit ihr. Auf der tiefsten Stufe der Erniedrigung, mitten in der traurigsten, herzbeklemmenden Wirklichkeit, als Gesellschafterin einer alten, zahnlosen, mürrischen Dame, die sie für alles schalt und ihr jeden Bissen Brot und jedes abgetragene Kleidungsstück vorhielt, von jedem, der dazu Lust hatte, gekränkt und von niemandem beschützt, von ihrem traurigen Leben niedergedrückt und im stillen in den Wonnen der sinnlosesten, glühendsten Phantasien schwelgend – erhielt sie auf einmal die Nachricht von dem Tod eines entfernten Verwandten, dem schon längst (sie hatte sich in ihrer Leichtfertigkeit niemals darum gekümmert) alle seine näheren Verwandten weggestorben waren, eines sonderbaren Menschen, der wie ein Einsiedler irgendwo weit weg in einem kleinen Nest ein einsames, verdrossenes stilles Leben geführt und sich mit Phrenologie und Wuchergeschäften abgegeben hatte. Und siehe da, ein gewaltiger Reichtum fiel wie durch ein Wunder plötzlich vom Himmel und bildete vor Tatjana Iwanownas Füßen einen Goldhaufen: denn es stellte sich heraus, daß sie die einzige gesetzmäßige Erbin des verstorbenen Verwandten war. Fast vierhunderttausend Silberrubel wurden ihr mit einemmal zuteil. Dieser Hohn des Schicksals gab ihr vollends den Rest. In der Tat, wie sollte ihr ohnehin schon geschwächter Verstand nicht an die Wahrheit der Phantasien glauben, wenn dieselben faktisch sich zu verwirklichen anfingen? Und so verlor die arme Person endgültig den letzten ihr verbliebenen Rest von gesundem Menschenverstand. Ganz benommen von ihrem Glück, versank sie unrettbar in ihre bezaubernde Welt unmöglicher Phantasien und verführerischer Visionen. Weg mit allen Überlegungen, mit allen Zweifeln, mit allen Schranken der Wirklichkeit, mit allen unübertretbaren, sonnenklaren Gesetzen derselben. Ein Lebensalter von fünfunddreißig Jahren und die Einbildung, blendend schön zu sein, ein traurig kalter Lebensherbst und der Wahn von unendlicher Liebeswonne: diese Dinge existierten nun in ihrem Wesen nebeneinander, sogar ohne miteinander zu kollidieren. Etwas von ihren Träumereien hatte sich schon in ihrem Leben verwirklicht; warum sollte dasselbe nicht mit allem der Fall sein? Warum sollte ›er‹ nicht erscheinen? Tatjana Iwanowna überlegte nicht, sie glaubte. Aber während sie auf ihn, auf ihr Ideal wartete, wimmelte es jetzt auf einmal ihrer Meinung nach um sie von Bewerbern: da waren Herren mit allerlei Orden und Herren ohne solche, Zivilisten und Militärs, Linienoffiziere und Chevaliergardisten, Würdenträger und einfache Dichter, Leute, die in Paris, und solche, die nur in Moskau gewesen waren, Männer mit Vollbart und ohne Vollbart, mit Spitzbärtchen und ohne Spitzbärtchen, Spanier und Nichtspanier (aber vorzugsweise Spanier). Alle diese standen ihr Tag und Nacht vor Augen, und zwar in einer erschreckenden Anzahl, die bei ihrer Umgebung ernsthafte Befürchtungen hervorrief; es fehlte nur noch ein Schritt bis zum Irrenhaus. In glänzender Kette drängten sich jetzt all diese schönen Truggestalten liebestrunken um sie. Und das wirkliche Leben faßte sie in derselben phantastischen Weise auf: jeder, den sie ansah, war in sie verliebt; jeder Vorübergehende war ein Spanier; jeder, der starb, war unzweifelhaft aus Liebe zu ihr gestorben. Obendrein fand all dies in ihren Augen noch dadurch seine Bestätigung, daß tatsächlich Dutzende von Leuten wie Obnoskin und Misintschikow, alle mit den gleichen Absichten, sich um sie bemühten. Alle hatten auf einmal begonnen, ihr gefällig zu sein, ihr Liebenswürdigkeiten zu erweisen, ihr zu schmeicheln. Die arme Tatjana Iwanowna wollte nicht argwöhnen, daß das alles um des Geldes willen geschah. Sie war vollständig davon überzeugt, daß alle Menschen plötzlich auf jemandes Wink hin sich gebessert hatten und sämtlich heiter, liebenswürdig, freundlich und gutherzig geworden waren. ›Er‹ war allerdings noch nicht erschienen; aber es unterlag keinem Zweifel, daß er erscheinen werde, und das derzeitige Leben war auch ohnedies so hübsch, so verführerisch, so voll von allerlei Zerstreuungen und fröhlicher Geselligkeit, daß sie gut und gern noch warten konnte. Tatjana Iwanowna naschte Konfekt, pflückte die Blumen des Vergnügens und las Romane. Die Romane entflammten ihre Phantasie noch mehr und wurden gewöhnlich schon bei der zweiten Seite hingeworfen. Sie brachte es nicht fertig, weiterzulesen, da gleich die ersten Zeilen, die unbedeutendste Anspielung auf die Liebe, manchmal schon die bloße Beschreibung einer Örtlichkeit, eines Zimmers, eines Kleidungsstücks, sie in Träumereien versinken ließen. Unaufhörlich wurden ihr neue Kostüme, Spitzen, Hüte, Häubchen, Bänder, Muster, Schnittbogen, Dessins, Konfekt, Blumen und Schoßhündchen gebracht. Drei Mädchen waren in der Mädchenstube tagaus, tagein mit Nähen beschäftigt; das Fräulein aber probierte vom Morgen bis zum Abend und sogar noch in der Nacht ihre Taillen und Falbelröcke an und drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Sie war nach der Erbschaft sogar gewissermaßen jünger und hübscher geworden. Ich weiß bis auf den heutigen Tag nicht, auf welche Weise sie eigentlich mit dem verstorbenen General Krachotkin verwandt war. Ich bin immer davon überzeugt gewesen, daß diese Verwandtschaft lediglich eine Erfindung der Generalin war, die den Wunsch hegte, Tatjana Iwanowna in ihre Gewalt zu bekommen und dann um jeden Preis meinen Onkel mit dem Geld derselben zu verheiraten. Herr Bachtschejew hatte recht, wenn er von Cupido sprach, der sie zum Äußersten verleite; daß aber mein Onkel, sobald er von ihrer Flucht mit Obnoskin hörte, ihr nachzusetzen und sie, nötigenfalls mit Gewalt, zurückzuholen beschloß, war durchaus vernünftig. Die arme Person war nicht imstande, ohne Obhut zu leben, und würde sofort zugrunde gegangen sein, wenn sie in schlechte Hände geraten wäre.

Es war zwischen neun und zehn, als wir nach Mischino kamen. Dies war ein ärmliches kleines Dorf, das ungefähr drei Werst von der Chaussee entfernt in einer ziemlich tiefen Bodensenke lag. Sechs oder sieben verräucherte, schief gesunkene, mangelhaft mit schwarz gewordenem Stroh gedeckte Bauernhäuser schauten den Vorüberfahrenden trübselig und unfreundlich an. Kein Gärtchen, kein Strauch war im Umkreis von einer Viertelwerst zu sehen. Nur ein alter Weidenbaum stand schläfrig über einen grünen Tümpel gebeugt, welcher ›der Teich‹ genannt wurde. Ein solcher Wohnsitz konnte wahrscheinlich auf Tatjana Iwanowna keinen erfreulichen Eindruck machen. Das herrschaftliche Gebäude war ein neues, langes, schmales Holzhaus mit sechs Fenstern nebeneinander, nachlässig mit Stroh gedeckt. Der ehemalige Beamte, der das Gut jetzt besaß, hatte eben erst angefangen, die Wirtschaft einzurichten. Selbst der Hof war noch nicht umzäunt; nur auf der einen Seite stand schon ein Stück neuer Flechtzaun, von dem die trockenen Haselblätter noch nicht abgefallen waren. Bei diesem Flechtzaun stand Obnoskins Reisewagen. Für die beiden Delinquenten kamen wir völlig überraschend. Aus einem offenen Fenster war Geschrei und Weinen zu hören.

Ein barfüßiger Junge, der uns im Flur begegnete, lief Hals über Kopf davon. Gleich im ersten Zimmer saß auf einem baumwollbezogenen langen ›türkischen‹ Sofa ohne Lehne Tatjana Iwanowna, die ganz verweint aussah. Als sie uns erblickte, schrie sie auf und verbarg das Gesicht in den Händen. Neben ihr stand Obnoskin; er war so erschrocken und verlegen, daß er einem sogar leid tun konnte. In seiner Verwirrung eilte er auf uns zu, um uns die Hände zu drücken, als ob er über unsere Ankunft erfreut wäre. Durch die ein wenig geöffnete Tür, die ins Nachbarzimmer führte, war ein Frauenkleid sichtbar: es horchte da jemand und spähte durch einen uns nicht sichtbaren Spalt. Die Wirtsleute zeigten sich nicht: anscheinend waren sie nicht im Haus; sie hatten sich wohl irgendwo versteckt.

»Da ist sie ja, die Reisende! Nun versteckt sie sich noch hinter den Händen!« rief Herr Bachtschejew, der sich hinter uns her ins Zimmer hereinwälzte.

»Bezähmen Sie Ihr Entzücken, Stepan Alexejewitsch! Das paßt in der Tat nicht hierher. Nur Jegor Iljitsch hat jetzt das Recht zu reden; wir andern sind hier vollständig Nebenpersonen!« bemerkte Misintschikow in scharfem Ton.

Mein Onkel warf Herrn Bachtschejew einen strengen Blick zu, und indem er tat, als bemerkte er Obnoskin gar nicht, der auf ihn zueilte, um ihm die Hand zu drücken, trat er zu Tatjana Iwanowna, die immer noch das Gesicht mit den Händen bedeckte, und sagte zu ihr in ganz mildem Ton und mit aufrichtiger Teilnahme:

»Tatjana Iwanowna, wir alle lieben und achten Sie so sehr, daß wir selbst hergekommen sind, um Ihre Absichten kennenzulernen. Möchten Sie nicht mit uns nach Stepantschikowo zurückfahren? Ilja hat heute seinen Namenstag. Mama wartet ungeduldig auf Sie, und Alexandra und Nastasja haben sich gewiß schon den ganzen Morgen unter Tränen nach Ihnen gesehnt . . .«

Tatjana Iwanowna hob schüchtern den Kopf, sah durch die Finger meinen Onkel an und fiel ihm dann, plötzlich in Tränen ausbrechend, um den Hals.

»Ach, bringen Sie mich weg, bringen Sie mich recht schnell von hier weg!« sagte sie schluchzend. »Recht schnell, so schnell wie möglich!«

»Kaum ist sie durchgegangen, hat sie es schon mit der Angst bekommen!« flüsterte Baditschejew, indem er mir mit der Hand einen Stoß versetzte.

»Dann ist also alles erledigt«, sagte der Onkel, zu Obnoskin gewandt, den er aber kaum ansah, in trockenem Ton. »Tatjana Iwanowna, ich bitte um Ihren Arm. Wir wollen gehen!«

Hinter der Tür wurde das Rascheln eines Kleides vernehmbar; die Tür knarrte und öffnete sich etwas weiter.

»Aber wenn man die Sache von einem andern Standpunkt aus betrachtet«, bemerkte Obnoskin und sah sich dabei unruhig nach der halbgeöffneten Tür um, »so müssen Sie doch selbst sagen, Jegor Iljitsch, daß Ihr Benehmen in meinem Haus . . . und dann, ich begrüßte Sie, und Sie haben meinen Gruß nicht einmal erwidern mögen, Jegor Iljitsch . . .«

»Ihr Benehmen in meinem Hause, mein Herr, war unehrenhaft«, antwortete der Onkel und richtete einen strengen Blick auf Obnoskin; »dieses Haus hier ist aber gar nicht das Ihrige. Sie haben es gehört: Tatjana Iwanowna will keine Minute länger hierbleiben. Was wollen Sie denn nun noch? Kein Wort weiter; hören Sie: kein Wort weiter; ich bitte Sie darum! Ich wünsche sehr, alle weiteren Auseinandersetzungen zu vermeiden, und das wird auch für Sie das Vorteilhafteste sein.«

Aber nun verlor Obnoskin den Mut dermaßen, daß er ganz überraschenden Unsinn zusammenredete.

»Verachten Sie mich nicht, Jegor Iljitsch«, begann er leise, fast flüsternd; er weinte beinahe vor Beschämung und blickte alle Augenblicke nach der Tür, wahrscheinlich aus Furcht, daß er dort gehört werde; »das ist alles nicht mein Werk, sondern Mamas Werk. Ich habe es nicht aus persönlichem Interesse getan, Jegor Iljitsch, sondern ohne mir etwas dabei zu denken; natürlich habe ich es auch in meinem Interesse getan, Jegor Iljitsch . . . aber ich habe es in ehrenhafter Absicht getan, Jegor Iljitsch; ich hätte das Kapital nützlich verwendet . . . ich hätte die Armen damit unterstützt. Ich wollte auch das jetzige Streben nach Bildung dadurch fördern und hatte sogar die Absicht, ein Stipendium an der Universität zu stiften . . . Das ist der Gebrauch, den ich von meinem Reichtum machen wollte, Jegor Iljitsch; von anderen Absichten kann gar keine Rede sein, Jegor Iljitsch . . .«

Wir alle schämten uns auf einmal außerordentlich. Sogar Misintschikow errötete und wandte sich ab; der Onkel aber wurde so verlegen, daß er nicht wußte, was er darauf erwidern sollte.

»Na, lassen Sie es gut sein, lassen Sie es gut sein!« sagte er endlich. »Beruhigen Sie sich, Pawel Semjonowitsch! Was ist da zu machen? Das kann jedem passieren . . . Wenn Sie wollen, lieber Freund, so kommen Sie mit zum Mittagessen . . . ich werde mich freuen, ich werde mich freuen . . .«

Ganz anders aber verfuhr Herr Bachtschejew.

»Ein Stipendium stiften!« schrie er zornig. »Dazu ist der gerade der Richtige! Dem ist es ja ein Vergnügen, den ersten besten, der ihm begegnet, auszuplündern . . . Hat keine ordentlichen Hosen und schwatzt von Stipendien! O Sie Lump, Sie Lump! Da haben Sie nun ein zartes Herz erobert! Aber wo ist denn sie, die Mutter? Hat sie sich etwa versteckt? Ich möchte darauf wetten, daß sie hier irgendwo hinter einem Bettschirm sitzt oder vor Angst unter das Bett gekrochen ist . . .«

»Stepan, Stepan! . . .« rief mein Onkel.

Obnoskin wurde dunkelrot und schickte sich an, etwas zu entgegnen; aber bevor er den Mund auftun konnte, öffnete sich die Tür, und Anfissa Petrowna kam mit funkelnden Augen, höchst aufgebracht und ganz rot vor Wut, ins Zimmer hereingestürmt.

»Was soll denn das heißen?« schrie sie. »Was geht hier vor? Sie, Jegor Iljitsch, dringen mit Ihrer Bande in ein anständiges Haus ein, versetzen Damen in Schrecken und erlauben sich hier zu kommandieren! . . . Das ist ja unerhört! Ich bin, Gott sei Dank, noch nicht so alt, daß mein Verstand gelitten hätte, Jegor Iljitsch! Und du, Tölpel«, fuhr sie, auf ihren Sohn zustürzend, fort zu schreien, »du fängst hier wohl gar vor denen an zu greinen! Sie beleidigen deine Mutter in ihrem eigenen Haus, und du stehst dabei und sperrst das Maul auf! Bist du ein ordentlicher junger Mann, wenn du dich so benimmst? Ein Waschlappen bist du und kein junger Mann!«

Von der gestrigen Ziererei, von dem modischen Getue, von dem Manövrieren mit der Lorgnette – von alledem war jetzt bei Anfissa Petrowna auch nicht die Spur mehr vorhanden. Sie war eine richtige Furie, eine Furie ohne Maske.

Kaum hatte mein Onkel sie erblickt, als er schnell Tatjana Iwanowna den Arm bot und mit ihr das Zimmer verlassen wollte; aber Anfissa Petrowna versperrte ihm sogleich den Weg.

»Sie sollen so nicht fortkommen, Jegor Iljitsch!« zeterte sie von neuem los. »Mit welchem Rechte führen Sie Tatjana Iwanowna gewaltsam weg? Es ärgert Sie, daß sie den schändlichen Netzen entgangen ist, in denen Sie zusammen mit Ihrer Mama und diesem Dummkopf, dem Foma Fomitsch, sie verstrickt hatten! Sie wollten sie aus schmählichem Eigennutz selbst heiraten. Entschuldigen Sie, hier denkt man anständiger! Da Tatjana Iwanowna sah, daß man bei Ihnen Böses gegen sie im Schilde führte und sie ins Verderben stürzen wollte, hat sie sich selbst meinem Sohn Pawel anvertraut. Sie selbst hat ihn gebeten, sie sozusagen vor Ihren Netzen zu retten; sie sah sich genötigt, Ihnen bei Nacht zu entfliehen, – so verhält sich das! Dahin haben Sie sie gebracht! Ist es nicht so, Tatjana Iwanowna? Wenn es sich aber so verhält, wie können Sie sich dann unterstehen, mit einer ganzen Rotte in ein anständiges, vornehmes Haus einzudringen und ein ehrenhaftes Mädchen trotz ihres Geschreis und ihrer Tränen mit Gewalt wegzuführen? Das dulde ich nicht! Das dulde ich nicht! Ich habe noch all meine fünf Sinne beisammen . . . Tatjana Iwanowna wird hierbleiben, da sie es selbst will! Kommen Sie, Tatjana Iwanowna; wozu sollen wir noch auf diese Menschen hören: es sind Ihre Feinde, nicht Ihre Freunde! Haben Sie keine Angst; kommen Sie! Ich werde die hier sofort hinauswerfen . . .«

»Nein, nein!« rief Tatjana Iwanowna erschrocken; »ich will nicht, ich will nicht! Er taugt nicht zum Ehemann! Ich will Ihren Sohn nicht heiraten! Was würde ich an ihm für einen Ehemann haben!«

»Sie wollen nicht!« kreischte Anfissa Petrowna, vor Wut keuchend; »Sie wollen nicht? Erst sind Sie hierhergefahren, und nun wollen Sie nicht? Wenn's so ist, wie konnten Sie dann so dreist sein, uns zu betrügen? Wenn's so ist, wie konnten Sie ihm dann Ihr Versprechen geben und bei Nacht mit ihm davonlaufen und sich uns aufdrängen und uns Unannehmlichkeiten und Kosten verursachen? Mein Sohn ist vielleicht um Ihretwillen einer anständigen Partie verlustig gegangen! . . . Er hat vielleicht um Ihretwillen eine Mitgift von vierzig-, fünfzigtausend Rubel verloren! . . . Nein! Das werden Sie uns bezahlen, das müssen Sie uns jetzt bezahlen; wir haben Beweise: Sie sind bei Nacht mit ihm davongelaufen . . .«

Aber wir hörten diesen Redeschwall nicht bis zu Ende an. Wir scharten uns um meinen Onkel, rückten alle zugleich vor, gerade auf Anfissa Petrowna los, und gingen aus dem Haus hinaus. Der Wagen fuhr sogleich vor.

»Nur ehrlose Menschen handeln so, nur Schurken!« schrie Anfissa Petrowna voller Wut von der Haustür her. »Ich werde eine Klage einreichen! Sie müssen bezahlen . . . Sie gehen in ein ehrloses Haus, Tatjana Iwanowna! Sie können Jegor Iljitsch nicht heiraten; er hält sich direkt vor Ihrer Nase seine Gouvernante als Mätresse! . . .«

Mein Onkel fing an zu zittern, wurde blaß, biß sich auf die Lippen und half eilig Tatjana Iwanowna beim Einsteigen. Ich ging auf die andere Seite des Wagens hinüber und wartete darauf, daß die Reihe zum Einsteigen an mich käme, als plötzlich Obnoskin neben mir stand und meine Hand ergriff.

»Erlauben Sie mir wenigstens, Sie um Ihre Freundschaft zu bitten!« sagte er und drückte mir mit dem Ausdruck der Verzweiflung die Hand.

»Was? Um meine Freundschaft?« erwiderte ich, während ich einen Fuß auf den Wagentritt setzte.

»Jawohl! Ich habe schon gestern erkannt, daß Sie ein hochgebildeter Mensch sind. Fällen Sie kein Verdammungsurteil über mich! . . . Eigentlich hat mich nur meine Mama dazu verleitet; ich war dabei nur eine Nebenperson. Ich habe mehr eine Neigung zur Literatur, versichere ich Ihnen; dies hier war ganz Mamas Werk . . .«

»Das glaube ich Ihnen, das glaube ich Ihnen«, antwortete ich. »Leben Sie wohl.«

Wir setzten uns, und die Pferde trabten los. Anfissa Petrownas Geschrei und Verwünschungen schallten uns noch lange nach, und aus allen Fenstern des Hauses schauten auf einmal unbekannte Gesichter heraus und blickten uns mit scheuer Neugier hinterher.

Im Wagen waren wir jetzt zu fünft; aber Misintschikow hatte sich auf den Bock gesetzt und seinen früheren Platz Herrn Bachtschejew überlassen, der also Tatjana Iwanowna direkt gegenüber saß. Tatjana Iwanowna war sehr zufrieden damit, daß wir sie zurückbrachten, weinte aber immer noch. Der Onkel tröstete sie, so gut er konnte. Er selbst war traurig und nachdenklich: offenbar klang Anfissa Petrownas wütende Äußerung über Nastasja immer noch schmerzlich in seinem Herzen nach. Übrigens wäre unsere Rückfahrt ohne alle Störung verlaufen, wenn wir nicht Herrn Bachtschejew bei uns gehabt hätten.

Sowie er Tatjana Iwanowna gegenüber Platz genommen hatte, verlor er alle Selbstbeherrschung; er war nicht imstande, ein gleichmütiges Gesicht zu machen, rutschte auf seinem Platz hin und her, wurde rot wie ein Krebs und verdrehte die Augen in schrecklicher Weise; besonders als der Onkel Tatjana Iwanowna zu trösten anfing, geriet der Dicke ganz außer sich und knurrte wie eine Bulldogge, die man neckt. Der Onkel blickte mehrmals beunruhigt zu ihm hinüber. Endlich bemerkte auch Tatjana Iwanowna den ungewöhnlichen Gemütszustand ihres Visavis und betrachtete ihn nun aufmerksam; dann sah sie uns an, lächelte, nahm auf einmal ihren Sonnenschirm und versetzte damit Herrn Bachtschejew anmutig einen leichten Schlag auf die Schulter.

»Sie verdrehter Mensch!« sagte sie mit der bezauberndsten Koketterie und versteckte sich sogleich hinter ihrem Fächer.

Dieses Benehmen war der Tropfen, der das Gefäß zum Überlaufen brachte.

»Wa-a-as?« brüllte der Dicke. »Was soll das heißen, Madame? Also machen Sie sich nun schon auch an mich heran!«

»Sie verdrehter Mensch, Sie verdrehter Mensch!« sagte Tatjana Iwanowna noch einmal, lachte auf einmal los und klatschte in die Hände.

»Halt an!« schrie Bachtschejew dem Kutscher zu; »halt an!«

Der Wagen hielt. Bachtschejew öffnete den Schlag und stieg eilig aus.

»Aber was hast du denn, Stepan Alexejewitsch? Wo willst du hin?« rief der Onkel erstaunt.

»Nein, ich habe genug von der Geschichte!« antwortete der Dicke, zitternd vor Empörung. »Hol die ganze Welt der Deibel! Ich bin schon zu alt, Madame, als daß mir eine mit Liebeleien kommen dürfte. Da sterbe ich schon lieber auf der Landstraße, meine Verehrteste! Leben Sie wohl, Madame, comment vous portez-vous?«

Und er ging tatsächlich zu Fuß. Der Wagen fuhr im Schritt hinter ihm her.

»Stepan Alexejewitsch!« rief mein Onkel, der nun endlich die Geduld verlor; »mach doch keine Dummheiten; laß es gut sein; steig ein! Es wird doch Zeit, daß wir nach Hause kommen!«

»Hol euch dieser und jener!« erwiderte Stepan Alexejewitsch, der vom Gehen schon ganz außer Atem war, weil er wegen seiner Korpulenz gar nicht mehr ans Gehen gewöhnt war.

»Fahr vollen Galopp!« schrie Misintschikow dem Kutscher zu.

»Was machst du, was machst du, halt an!« rief mein Onkel noch; aber der Wagen jagte bereits dahin. Misintschikow hatte sich nicht geirrt: nach wenigen Augenblicken trat die gewünschte Wirkung ein.

»Halt an! Halt an!« erscholl hinter uns ein verzweifeltes Geschrei. »Halt an, du Schurke! Halt an, du Mörder!«

Endlich erschien der Dicke, müde, halb erstickt, mit Schweißtropfen auf der Stirn, mit aufgebundenem Halstuch und mit der Mütze in der Hand. Schweigend und mit finsterem Gesicht stieg er in den Wagen; dieses Mal trat ich ihm meinen Platz ab; so saß er wenigstens nicht Tatjana Iwanowna gegenüber, die sich nach dieser Szene vor Lachen ausschütten wollte, in die Hände klatschte und während der ganzen übrigen Fahrt Stepan Alexejewitsch nicht gleichmütig ansehen konnte. Er aber sprach seinerseits, bis wir nach Hause gekommen waren, keine Silbe und blickte hartnäckig auf das eine sich drehende Hinterrad des Wagens.

Es war schon gegen zwölf Uhr mittags, als wir wieder nach Stepantschikowo kamen. Ich ging geradewegs zu meinem Sommerhäuschen, wo unmittelbar darauf Gawrila mit dem Tee erschien. Ich wollte den Alten schnell nach allerlei fragen; aber gleich hinter ihm trat mein Onkel ein und schickte ihn sogleich fort.

II

Neuigkeiten

»Ich bin nur auf einen Augenblick zu dir gekommen, lieber Freund«, begann er eifrig; »ich wollte dir schnell dies und das mitteilen . . . Ich habe mich schon nach allem erkundigt. Es ist heute niemand von ihnen zur Messe gewesen außer Ilja, Alexandra und Nastasja. Mama hat, wie es heißt, Krämpfe bekommen; sie haben ihr den Leib mit Tüchern abgerieben und sie mit Müh und Not wieder zu sich gebracht. Jetzt sollen sich alle bei Foma versammeln, und ich bin auch dazu aufgefordert worden. Ich weiß nur nicht, ob ich Foma zum Namenstag gratulieren soll oder nicht; das ist ein wichtiger Punkt! Und dann: wie werden sie diesen ganzen Vorfall aufnehmen? Es ist entsetzlich, lieber Sergej; ich habe schon so eine Ahnung . . .«

»Im Gegenteil, lieber Onkel«, beeilte ich mich zu erwidern; »alles gestaltet sich vorzüglich. Jetzt ist es Ihnen ja schlechterdings unmöglich, Tatjana Iwanowna zu heiraten; was ist allein das schon wert! Ich wollte Sie schon unterwegs darauf hinweisen.«

»Richtig, richtig, mein Freund. Aber das ist alles nicht die Hauptsache; in alledem sieht man allerdings den Fingerzeig Gottes, wie du sagst; aber davon wollte ich nicht reden . . . Die arme Tatjana Iwanowna! Was passieren doch mit ihr für Geschichten! Dieser Obnoskin ist doch wirklich ein Schurke, wirklich ein Schurke! Übrigens, wie kann ich ihn einen Schurken nennen? Wäre denn, wenn ich sie geheiratet hätte, meine Handlungsweise nicht auf dasselbe hinausgelaufen? . . . Aber auch davon wollte ich nicht reden . . . Hast du gehört, was vorhin diese nichtswürdige Anfissa mit Bezug auf Nastasja schrie?«

»Ja, ich habe es gehört, lieber Onkel. Haben Sie nun eingesehen, daß Eile not tut?«

»Unbedingt und um jeden Preis!« antwortete der Onkel. »Der entscheidende Augenblick ist gekommen. Nur an eines, lieber Freund, haben wir beide, du und ich, gestern nicht gedacht; aber ich habe nachher die ganze Nacht darüber nachgedacht: wird sie mich auch nehmen? Siehst du, das ist die Frage!«

»Aber ich bitte Sie, lieber Onkel! Wo sie doch selbst gesagt hat, daß sie Sie liebt . . .«

»Aber, mein Freund, sie hat ja sofort hinzugefügt, sie werde mich um keinen Preis heiraten.«

»Ach, lieber Onkel! Das wird immer nur so gesagt; zudem haben sich doch auch inzwischen die Verhältnisse geändert.«

»Meinst du? Nein, lieber Sergej, das ist eine heikle Sache, eine sehr heikle Sache! Hm! . . . Aber weißt du, obwohl ich in Sorge war, war doch die ganze Nacht hindurch mein Herz von einem Glücksgefühl erfüllt! . . . Na, nun adieu; ich will schnell hin; sie warten auf mich; ich werde so schon zu spät kommen. Ich kam nur in aller Eile zu dir, um ein paar Worte mit dir zu sprechen. Ach, mein Gott!« rief er, wieder umkehrend, »ich habe ja die Hauptsache vergessen! Weißt du was: ich habe ja an ihn geschrieben, an Foma!«

»Wann denn?«

»In der Nacht; und heute morgen, als es Tag wurde, habe ich ihm den Brief durch Widopljassow zugesandt. Ich habe ihm alles auseinandergesetzt, lieber Freund, auf zwei Briefbogen; alles habe ich ihm wahrheitsgemäß und offenherzig erzählt, – kurz, daß ich verpflichtet bin, das heißt, unbedingt verpflichtet bin (du verstehst?), Nastasja einen Antrag zu machen. Ich habe ihn angefleht, von unserer Zusammenkunft im Garten nichts verlauten zu lassen, und habe mich an allen seinen Seelenadel mit der Bitte gewandt, mir bei Mama zu helfen. Ich habe das alles natürlich nur ungeschickt geschrieben, mein Freund; aber ich habe es aus tiefstem Herzen geschrieben und den Brief sozusagen mit meinen Tränen benetzt . . .«

»Und was geschah? Haben Sie keine Antwort erhalten?«

»Bis jetzt noch nicht; aber heute früh, als wir zur Verfolgung aufbrachen, begegnete ich ihm auf dem Flur; er war noch im Morgenmantel, in Pantoffeln und Schlafmütze; er trägt in der Nacht immer eine Schlafmütze; er ging irgendwohin. Er sagte kein Wort und sah mich nicht einmal an. Ich blickte ihm ins Gesicht, so von unten her; aber es war ihm nichts anzusehen!«

»Lieber Onkel, hoffen Sie nicht auf ihn; er ist Ihnen feindlich gesinnt.«

»Nein, nein, lieber Freund, sag das nicht!« rief mein Onkel mit einer abwehrenden Handbewegung; »ich bin mir sicher. Und zudem ist das ja meine letzte Hoffnung. Er wird mich verstehen; er wird meine Handlungsweise zu würdigen wissen. Er ist mürrisch und launisch, das bestreite ich nicht; aber wenn es sich um den höchsten Seelenadel handelt, dann glänzt er gleichsam wie eine Perle . . . ja, ganz wie eine Perle. Daß du so über ihn urteilst, Sergej, kommt nur daher, daß du ihn noch nie in solchem Zustand erlebt hast . . . Aber mein Gott! Wenn er wirklich das Geheimnis von gestern unter die Leute bringt, dann . . . ich weiß nicht, was dann geschehen wird, Sergej! Woran in der Welt kann man dann noch glauben? Aber nein, er kann kein solcher Schuft sein. Ich kann mich in moralischer Hinsicht gar nicht mit ihm vergleichen! Schüttle nicht den Kopf, lieber Freund; das ist die Wahrheit; es ist so.«

»Jegor Iljitsch! Ihre Frau Mutter ist in großer Unruhe«, erscholl von draußen Fräulein Perepelizynas unangenehme Stimme; wahrscheinlich hatte diese Dame durch das offene Fenster unser ganzes Gespräch mit angehört. »Man sucht Sie im ganzen Haus und kann Sie nicht finden.«

»Mein Gott, ich habe mich verspätet! So ein Unglück!« rief der Onkel in großer Aufregung. »Lieber Freund, um Gottes willen, zieh dich um und komm auch hin! Ebendeswegen war ich zu dir gekommen, damit wir zusammen hingehen . . . Ich komme, ich komme, Anna Nilowna; ich komme!«

Als ich allein geblieben war, erinnerte ich mich an die Begegnung, die ich am Morgen mit Nastasja gehabt hatte, und war recht zufrieden, daß ich dem Onkel nichts davon erzählt hatte; ich hätte seine Unruhe dadurch nur vergrößert. Ich sah ein schweres Unwetter voraus und konnte nicht begreifen, auf welche Weise der Onkel seinen Willen durchsetzen und Nastasja einen Heiratsantrag machen werde. Ich wiederhole: obwohl ich von seiner edlen Absicht völlig überzeugt war, zweifelte ich doch unwillkürlich daran, daß es ihm gelingen würde, sie auszuführen.

Indes, ich mußte mich beeilen. Ich hielt es für meine Pflicht, ihm zu helfen, und begann sogleich, mich umzuziehen; aber da ich mich möglichst gut ankleiden wollte, so verging darüber trotz aller Eile doch mehr Zeit, als mir lieb war. Da trat Misintschikow ins Zimmer.

»Ich soll Sie holen«, sagte er. »Jegor Iljitsch läßt Sie bitten, unverzüglich zu kommen.«

»Gehen wir!«

Ich war jetzt vollständig fertig. Wir gingen.

»Was gibt es dort Neues?« fragte ich unterwegs.

»Alle sind bei Foma versammelt«, antwortete Misintschikow. »Foma zeigt sich nicht launisch; er ist nachdenklich und redet nur wenig, oder vielmehr er murmelt nur etwas vor sich hin. Er hat sogar den kleinen Ilja geküßt, worüber Jegor Iljitsch natürlich ganz entzückt war. Erst vor einem Weilchen hat er durch Fräulein Perepelizyna ausrichten lassen, man solle ihm nicht zum Namenstag gratulieren; er habe alle nur prüfen wollen . . . Die Alte hat zwar so eine Witterung, verhält sich aber ruhig, da auch Foma ruhig ist. Von der Geschichte mit der Entführung und Verfolgung läßt keiner eine Silbe verlauten, als ob gar nichts geschehen wäre; sie schweigen, weil auch Foma schweigt. Er hat den ganzen Vormittag über niemand zu sich gelassen, obgleich die Alte vorhin, als wir weg waren, ihn bei allen Heiligen angefleht hat, zur Beratung zu ihr zu kommen; ja sie hat sogar selbst an seine Tür geklopft; aber er hatte sich eingeschlossen und antwortete, er bete für das Menschengeschlecht, oder etwas in der Art. Er führt irgend etwas im Schilde: das ist ihm am Gesicht abzulesen. Aber da Jegor Iljitsch niemandem etwas am Gesicht ablesen kann, so ist er jetzt ganz entzückt von Foma Fomitschs Sanftmut. Er ist eben das reine Kind! Ilja hat ein Gedicht auswendig gelernt, das er deklamieren soll; und mich hat man losgeschickt, um Sie zu holen.«

»Und Tatjana Iwanowna?«

»Was wollen Sie über Tatjana Iwanowna wissen?«

»Ist sie auch da? Mit denen zusammen?«

»Nein, sie ist auf ihrem Zimmer«, antwortete Misintschikow trocken. »Sie erholt sich und weint. Vielleicht schämt sie sich auch. Es ist jetzt anscheinend diese . . . diese Gouvernante bei ihr. Aber was ist das? Da braut sich wahrhaftig ein Gewitter zusammen. Sehen Sie nur, da am Himmel!«

»Es scheint allerdings ein Gewitter zu kommen«, sagte ich nach einem Blick auf die schwarze Wolke am Horizont.

In diesem Augenblick betraten wir die Terrasse.

»Aber was sagen Sie zu diesem Obnoskin, wie?« fuhr ich fort; ich konnte dem Verlangen nicht widerstehen, Misintschikow damit ein bißchen zu ärgern.

»Reden Sie mir nicht von dem! Erinnern Sie mich nicht an diesen Schurken!« schrie er, indem er plötzlich stehenblieb, rot wurde und mit dem Fuß stampfte. »So ein Dummkopf! So ein Dummkopf! Ein so prächtiges Unternehmen, einen so glänzenden Plan zu verpfuschen! Hören Sie: ich bin natürlich ein Esel, weil ich sein hinterlistiges Treiben nicht gemerkt habe; das gestehe ich feierlich, und vielleicht wollten Sie gerade dieses Geständnis von mir hören. Aber ich schwöre Ihnen: wenn er es verstanden hätte, all dies so, wie es sich gehört, durchzuführen, so hätte ich ihm sogar vielleicht verziehen! So ein Dummkopf, so ein Dummkopf! Daß man solche Leute in der Gesellschaft erträgt und duldet! Man sollte sie nach Sibirien zur Ansiedlung oder Zwangsarbeit schicken! Aber sie irren sich! Sie werden mich nicht überlisten! Jetzt bin ich wenigstens um eine Erfahrung reicher, und wir werden uns noch miteinander messen. Ich denke jetzt über einen neuen Plan nach . . . Sagen Sie selbst: soll ich denn das Meinige nur deswegen verlieren, weil ein Dummkopf, den es gar nichts anging, mir meine Idee gestohlen und die Sache nicht anzugreifen verstanden hat? Das wäre doch unbillig! Und schließlich muß diese Tatjana unbedingt heiraten; das ist ihre Bestimmung. Und wenn bisher noch niemand sie hat ins Irrenhaus bringen lassen, so ist das doch eben deshalb unterblieben, weil man sie immer noch heiraten konnte. Ich möchte Ihnen meinen neuen Plan mitteilen . . .«

»Aber das werden Sie wohl ein andermal tun können«, unterbrach ich ihn; »denn wir sind schon am Ziel.«

»Schön, schön, ein andermal!« antwortete Misintschikow, indem er seinen Mund zu einem krampfhaften Lächeln verzog. »Jetzt aber . . . Aber wohin wollen Sie denn? Ich habe Ihnen ja gesagt, daß wir geradeswegs zu Foma Fomitsch gehen! Folgen Sie mir; Sie sind noch nicht dort gewesen. Sie werden eine zweite Komödie mit ansehen . . . Denn zu einer Komödie hat sich die Sache schon entwickelt . . .«

III

Iljas Namenstag

Foma bewohnte zwei große, schöne Zimmer; sie waren sogar besser eingerichtet als alle andern Zimmer im Haus. Ein vollendeter Komfort umgab den großen Mann. Die hübschen, neuen Tapeten an den Wänden, die bunten, seidenen Vorhänge an den Fenstern, die Teppiche, der Trumeau, der Kamin, die bequemen, eleganten Möbel, alles zeugte von der zärtlichen Fürsorge der Wirte für ihren Gast Foma Fomitsch. Blumentöpfe standen auf den Fensterbrettern und auf runden Marmortischchen vor den Fenstern. In der Mitte des Arbeitszimmers befand sich ein großer, mit rotem Tuch bedeckter Tisch, ganz vollgepackt mit Büchern und Manuskripten. Ein schönes bronzenes Tintenfaß und ein ganzer Berg Federn, für welche Widopljassow zu sorgen hatte, alles dies zusammen sollte von Foma Fomitschs schwerer geistiger Arbeit Zeugnis ablegen. Ich bemerke hier beiläufig, daß Foma, der hier fast acht Jahre zugebracht hatte, absolut nichts Vernünftiges verfaßt hatte. In späterer Zeit, nachdem er in ein besseres Jenseits hinübergegangen war, untersuchten wir die von ihm hinterlassenen Manuskripte; sie stellten sich allesamt als der elendeste Schund heraus. Wir fanden zum Beispiel den Anfang eines historischen Romanes, der in Nowgorod im siebenten Jahrhundert spielte; ferner ein ungeheuerliches Gedicht, ›Der Klausner auf dem Kirchhof‹, das in reimlosen Versen geschrieben war; ferner eine sinnlose Abhandlung über die Bedeutung und die Eigenschaften des russischen Bauern und darüber, wie man ihn behandeln müsse, und endlich eine ebenfalls unvollendete Novelle aus dem Leben der vornehmen Welt, mit dem Titel: ›Gräfin Wlonskaja‹. Weiter hatte er nichts hinterlassen. Aber dabei veranlaßte Foma Fomitsch meinen Onkel, jährlich eine große Menge Geld für Bücher und Zeitschriften, die er kommen lassen mußte, auszugeben. Aber viele derselben blieben sogar unaufgeschnitten. Dagegen habe ich in späterer Zeit Foma zu wiederholten Malen bei der Lektüre Paul de Kockscher Romane betroffen, die er vor den Augen der Leute möglichst versteckte. In der hinteren Wand des Arbeitszimmers befand sich eine Glastür, die auf den Hof führte.

Wir wurden schon erwartet. Foma Fomitsch saß in einem bequemen Lehnstuhl; er trug einen langen, bis über die Knöchel reichenden Gehrock, hatte aber kein Halstuch umgebunden. Er war in der Tat schweigsam und nachdenklich. Als wir eintraten, zog er nur die Augenbrauen ein wenig empor und sah mich mit einem prüfenden Blicke an. Ich verbeugte mich; er antwortete darauf mit einer leichten, aber ziemlich höflichen Verbeugung. Als die Großmutter sah, daß Foma Fomitsch mich huldvoll behandelte, nickte sie mir lächelnd zu. Die Ärmste hatte am Vormittag gar nicht erwartet, daß ihr Abgott die Nachricht von Tatjana Iwanownas ›Exzeß‹ so ruhig aufnehmen werde, und war daher jetzt außerordentlich heiter geworden, obgleich sie am Morgen tatsächlich Krämpfe bekommen hatte und in Ohnmacht gefallen war. Hinter ihrem Stuhl stand wie gewöhnlich Fräulein Perepelizyna, preßte die Lippen fest zusammen, lächelte säuerlich und boshaft und rieb ihre knochigen Hände aneinander. Neben der Generalin saßen zwei bejahrte arme adlige Klientinnen, die beständig schwiegen. Außerdem war noch eine am Vormittag eingetroffene Nonne anwesend sowie eine ebenfalls schweigsame ältere Gutsbesitzerin aus der Nachbarschaft; diese war bei der Rückfahrt von der Messe vorbeigekommen, um der Generalin zum Festtag zu gratulieren. Tante Praskowja Iwanowna drückte sich irgendwo in eine Ecke und blickte voll Unruhe zu Foma Fomitsch und ihrer Mutter hinüber. Der Onkel saß auf einem Lehnstuhl, und in seinen Augen strahlte eine ganz besondere Freude. Vor ihm stand Ilja in einem festtäglichen roten Hemd, mit gebrannten Locken, schön wie ein kleiner Engel. Alexandra und Nastasja hatten ihm, ohne daß es jemand wußte, ein Gedicht beigebracht, um dem Vater an einem solchen Tag durch die geistigen Fortschritte des Knaben eine Freude zu machen. Mein Onkel weinte beinahe vor Wonne: Fomas unerwartete Sanftmut, die heitere Stimmung der Generalin, Iljas Namenstag, das Gedicht, all dies versetzte ihn direkt in Entzücken, und er hatte in feierlicher Form um die Erlaubnis gebeten, mich rufen zu lassen, damit auch ich möglichst bald an der allgemeinen Glückseligkeit teilnehmen und das Gedicht mit anhören könne. Alexandra und Nastasja, die unmittelbar nach uns eingetreten waren, standen neben Ilja. Alexandra lachte fortwährend und war in diesem Augenblick glücklich wie ein Kind. Nastasja fing bei ihrem Anblick ebenfalls an zu lächeln, obgleich sie kurz vorher beim Eintritt blaß und niedergeschlagen gewesen war. Sie war die einzige gewesen, die der von ihrer Reise zurückgekehrten Tatjana Iwanowna freundlich entgegengekommen war und sie getröstet hatte; sie hatte bis jetzt bei ihr oben gesessen. Der ausgelassene Ilja konnte gleichfalls das Lachen nicht unterdrücken, sooft er seine Lehrerinnen ansah. Es schien, daß sie alle drei eine sehr komische Überraschung vorbereitet hatten, die sie jetzt in Szene setzen wollten . . . Ich habe noch Herrn Bachtschejew vergessen. Er saß, immer noch zornig und rot, etwas abseits auf einem Stuhl, schwieg, schmollte, schnaubte sich die Nase und spielte bei dem Familienfest überhaupt eine ziemlich traurige Rolle. Neben ihm trippelte Jeshewikin umher; übrigens war er im ganzen Zimmer bald hier, bald da zu sehen, küßte der Generalin die Hand, flüsterte Fräulein Perepelizyna etwas zu und machte Foma Fomitsch den Hof; kurz, er zeigte sich nach allen Seiten hin beflissen. Auch er wartete mit lebhafter Teilnahme auf Iljas Deklamation; bei meinem Eintritt eilte er mit vielen Verbeugungen auf mich zu, um mir seine größte Hochachtung und Ergebenheit zu bekunden. Es war ihm ganz und gar nicht anzusehen, daß er hergekommen war, um seine Tochter zu beschützen und sie gänzlich aus Stepantschikowo wegzuholen.

»Da ist er ja!« rief mein Onkel freudig, als er mich erblickte. »Lieber Freund, Ilja hat ein Gedicht auswendig gelernt; das ist mal eine Überraschung, eine richtige Überraschung! Ich bin froh und erstaunt und habe extra nach dir geschickt und die Deklamation bis zu deiner Ankunft noch aufgehalten. Setz dich hier neben mich! Nun wollen wir zuhören! Foma Fomitsch, gestehe es nur, bester Freund, du hast sie gewiß alle erst auf diesen Gedanken gebracht, um mir altem Mann eine Freude zu machen! Ich möchte schwören, daß es sich so verhält!«

Wenn der Onkel in Fomas Zimmer in solchem Ton sprach, so hätte man meinen können, daß alles gut stand. Aber das war eben das Unglück, daß der Onkel niemandem etwas vom Gesicht ablesen konnte, wie Misintschikow sich ausgedrückt hatte; ich aber sagte mir bei einem Blick auf Foma unwillkürlich, daß Misintschikow recht habe und wir uns auf irgend etwas gefaßt machen müßten . . .

»Beunruhigen Sie sich nicht meinetwegen, Oberst!« antwortete Foma mit schwacher Stimme, mit der Stimme eines Menschen, der seinen Feinden verzeiht. »Die Überraschung lobe ich natürlich: das zeugt von dem Zartgefühl und der Pietät Ihrer Kinder. Gedichte sind ebenfalls nützlich, schon weil man dadurch eine gute Aussprache lernt . . . Aber ich habe mich an diesem Vormittag nicht mit Gedichten abgegeben, Jegor Iljitsch: ich habe gebetet . . . das wissen Sie . . . Übrigens bin ich bereit, auch die Deklamation von Gedichten anzuhören!«

Unterdessen hatte ich den kleinen Ilja beglückwünscht und geküßt.

»Gewiß, Foma, entschuldige! Ich hatte nicht daran gedacht . . . wiewohl ich von deiner Freundschaft überzeugt bin, Foma! Küsse ihn doch noch einmal, lieber Sergej! Sieh nur, was er für ein Prachtjunge ist! Na, nun fang an, lieber Ilja! Wovon handelt es denn? Es ist gewiß so eine feierliche Ode, etwas von Lomonossow?«

Mein Onkel nahm eine würdevolle Miene an. Er konnte vor Ungeduld und Freude kaum stillsitzen.

»Nein, Papa, nicht von Lomonossow«, sagte Alexandra, die nur mit Mühe das Lachen unterdrückte; »sondern da Sie beim Militär gewesen sind und gegen unsere Feinde gekämpft haben, hat Ilja ein Gedicht über etwas Kriegerisches gelernt . . . Es heißt ›Die Belagerung von Pamba‹, Papa.«

»›Die Belagerung von Pamba‹? Ah! Ich erinnere mich nicht . . . Was ist das für ein Pamba, lieber Sergej? Weißt du es? Das Gedicht handelt gewiß von einer Heldentat.«

Der Onkel verlieh seinem Gesicht zum zweiten Mal einen würdevollen Ausdruck.

»Nun sag es auf, Ilja!« befahl Alexandra, »Pedro Gomez hat begonnen . . .« fing Ilja mit seiner gleichmäßigen, deutlichen Knabenstimme an zu deklamieren; er sprach ohne Kommata und Punkte, wie das kleine Kinder gewöhnlich tun, wenn sie Gedichte auswendig hersagen.

»Pedro Gomez hat begonnen
Vor neun Jahren schon,
die starke Feste Pamba zu belagern.
Nur von Milch hat sich genähret
Während dieses ganzen Zeitraums
Er und seine tapfre Heerschar,
Wohl neuntausend Kastilianer.
Denn sie taten ein Gelübde,
Eh erobert wäre Pamba,
Keine Speise zu berühren
Außer Milch als einz'ger Kost.«

»Wie? Was? Was ist das für Milch?« rief der Onkel, mich erstaunt anblickend.

»Sag weiter auf, Ilja!« rief Alexandra.

»Täglich weint Don Pedro Gomez,
Eingehüllt in seinen Mantel,
Über seines Leibes Schwäche.
Ach, die Mauren triumphieren
Bei des zehnten Jahres Anfang,
Und von Pedros großem Heere
Sind im ganzen nur noch übrig
Neunzehn, bloße neunzehn Mann . . .«

»Aber das ist ja Unsinn!« rief der Onkel beunruhigt. »Das ist ja ein Ding der Unmöglichkeit! Neunzehn Mann sollen von dem ganzen Heere übriggeblieben sein, das doch vorher von recht beträchtlicher Größe war! Was soll denn das heißen, lieber Freund?«

Aber nun konnte sich Alexandra nicht mehr halten und brach in das herzlichste Kinderlachen aus; und obgleich eigentlich wenig Anlaß zum Lachen war, mußte man doch, wenn man sie ansah, unwillkürlich mitlachen.

»Ach, Papa, das ist doch ein scherzhaftes Gedicht!« rief sie, höchst vergnügt über ihren kindlichen Einfall. »Das hat der Verfasser selbst absichtlich so gemacht, damit es allen komisch vorkommen soll, Papachen!«

»Ach so! Ein scherzhaftes Gedicht!« rief mein Onkel mit strahlendem Gesicht. »Ein komisches also. So so, nun verstehe ich es . . . Gewiß, gewiß, ein scherzhaftes Gedicht! Und sehr komisch ist es, außerordentlich komisch: infolge eines Gelübdes hat er seine ganze Armee bei Milchkost verhungern lassen! Sehr schlau von ihm, so etwas zu geloben! Ein sehr witziges Gedicht, nicht wahr, Foma? Sehen Sie, Mama, das ist so ein komisches Gedicht, wie die Dichter es manchmal schreiben. Nicht wahr, Sergej, das tun sie doch? Überaus komisch! Na, lieber Ilja, wie geht's nun weiter?«

»Neunzehn, bloße neunzehn Mann!
Die versammelte der Feldherr
Und sprach also: ›O ihr neunzehn!
Laßt die Fahnen uns entfalten,
Laßt beim Dröhnen der Drommeten
Und beim Schall der großen Pauken
Uns von Pamba abmarschieren!
Ob wir gleich die Burg nicht nahmen,
Können wir doch sämtlich schwören,
Stolz, auf Ehre und Gewissen,
Daß wir nie gebrochen haben
Unser einstiges Gelübde:
Neun, neun Jahre lang genossen
Wir zu unsres Leibes Nahrung
Nichts als Milch und wieder Milch!«

»So ein Dummkopf!« unterbrach der Onkel den kleinen Deklamator wieder. »Was ist das nun für ein Trost dafür, daß er neun Jahre lang Milch getrunken hat! . . . Und ist das etwa eine tugendhafte Tat? Hätte er nur lieber alle Tage einen ganzen Hammel gegessen und seine Leute nicht verhungern lassen! Ein schönes Gedicht, ein vorzügliches Gedicht! Ich sehe jetzt: es ist eine Satire oder . . . wie nennt man es doch? eine Allegorie, nicht wahr? Und vielleicht sogar auf irgendeinen ausländischen Feldherrn«, fügte der Onkel, an mich gewandt, hinzu, wobei er die Augenbrauen bedeutsam zusammenzog und mir zublinzelte, »he? wie denkst du darüber? Aber selbstverständlich eine harmlose, anständige Satire, die niemanden verletzen kann! Ein schönes Gedicht, ein schönes Gedicht! Und, was die Hauptsache ist, von anständiger Gesinnung! Na, lieber Ilja, dann fahre fort! Ach, ihr Schelminnen, ihr Schelminnen!« fügte er freundlich hinzu, indem er Alexandra und verstohlen auch Nastasja ansah, die errötete und lächelte.

»Neu ermutigt durch Don Pedros
Edle Worte, riefen alle
Diese neunzehn Kastilianer,
Die schon in den Sätteln schwankten,
Kühn, obwohl mit matter Stimme:
›Heil'ger Jago, Spaniens Schirmherr!
Ruhm und Ehre sei Don Pedro,
Diesem Löwen von Kastilien!‹
Aber sein Kaplan Diego
Ließ sich halblaut so vernehmen:
›An des Feldherrn Stelle hätt ich
Lieber dies gelobt den Heil'gen:
‚Essen will ich nichts als Braten,
Trinken nichts als Zyperwein.‘‹«

»Na, seht ihr wohl? Habe ich nicht ganz dasselbe gesagt?« rief der Onkel höchst erfreut. »In dem ganzen Heer gab es nur einen einzigen vernünftigen Menschen, und auch der ist irgend so ein Kaplan! Was ist das, Sergej? Das ist wohl bei denen ein Hauptmann?«

»Ein Mönch, ein Geistlicher, lieber Onkel.«

»Ach, ja, ja! Kaplan, Kaplan, ich weiß schon, ich erinnere mich! Ich habe den Ausdruck schon in Radcliffeschen Romanen gelesen. Es gibt da bei ihnen ja wohl verschiedene Orden, nicht? . . . Benediktiner, glaube ich . . . Gibt es nicht Benediktiner? . . .«

»Ja, die gibt es, lieber Onkel.«

»Hm . . . Das habe ich mir auch so gedacht. Nun, lieber Ilja, wie geht es weiter? Ein schönes, vortreffliches Gedicht!«

»Dieses hörte Pedro Gomez,
Und er sprach mit heitrem Lachen:
›Gebt ihm einen ganzen Hammel;
Denn nicht übel war sein Witz! . . .‹«

»Na ja, das war wohl für ihn gerade die richtige Zeit zum Lachen! So ein Dummerjan! Zuletzt kam ihm die Geschichte selbst lächerlich vor! Einen Hammel! Also waren doch Hammel da; warum hat er selbst keinen gegessen? Na, lieber Ilja, nun weiter! Ein schönes, vorzügliches Gedicht! Außerordentlich satirisch!«

»Aber es ist ja schon zu Ende, Papa!«

»Ah, es ist zu Ende! In der Tat, was hätte er denn auch weiter tun können? Nicht wahr, Sergej? Du hast deine Sache sehr gut gemacht, Ilja! Wunderhübsch! Gib mir einen Kuß, mein Herzchen! Ach, du mein lieber Junge! Aber wer hat ihn eigentlich auf den Gedanken gebracht, dieses Gedicht zu lernen? Du, Alexandra?«

»Nein, Nastasja ist es gewesen. Wir lasen das Gedicht neulich, und da sagte sie: ›Was für ein komisches Gedicht das ist! Nächstens ist Iljas Namenstag: wir wollen es ihn auswendig lernen und aufsagen lassen. Das wird viel Gelächter geben!‹«

»Also Nastasja ist es gewesen? Nun, vielen Dank, vielen Dank!« murmelte der Onkel, der auf einmal errötet war wie ein Kind. »Gib mir noch einen Kuß, lieber Ilja! Und du auch, du Schelmin!« fuhr er fort, indem er Alexandra umarmte und ihr liebevoll in die Augen sah.

»Warte nur, Alexandra; du wirst auch deinen Namenstag haben«, fügte er hinzu, wie wenn er gar nicht wüßte, was er vor lauter Freude sagen sollte.

Ich wandte mich an Nastasja mit der Frage, von wem das Gedicht sei.

»Ja, ja, von wem ist das Gedicht?« fiel der Onkel hastig ein. »Jedenfalls hat es ein kluger Dichter geschrieben; nicht wahr, Foma?«

»Hm!« brummte Foma.

Während der ganzen Deklamation des Gedichtes war ein bissiges, spöttisches Lächeln nicht von seinen Lippen gewichen.

»Ich habe es wirklich vergessen«, antwortete Nastasja mit einem ängstlichen Blick auf Foma Fomitsch.

»Herr Kusma Prutkow hat es geschrieben, Papa; es ist im ›Zeitgenossen‹ erschienen«, rief Alexandra in munterem Ton.

»Kusma Prutkow! Den kenne ich nicht«, sagte der Onkel. »Ja, Puschkin, den kenne ich! . . . Übrigens ist es klar, daß er ein begabter Dichter ist; nicht wahr, Sergej? Und überdies ein Mensch mit edlen Eigenschaften; das ist klar, sonnenklar! Vielleicht ist er sogar Offizier . . . Ich muß ihn loben. Und der ›Zeitgenosse‹ ist ein vorzügliches Journal! Wir müssen es unbedingt abonnieren, wenn lauter solche Dichter daran mitarbeiten . . . Ich kann die Dichter gut leiden! Es sind prächtige Menschen! Alles drücken sie in Versen aus! Erinnerst du dich, Sergej: ich lernte bei dir in Petersburg einen Literaten kennen; er hatte so eine eigentümliche Nase . . . wirklich! . . . Was sagtest du, Foma?«

Foma Fomitsch, dessen Mißstimmung immer stärker wurde, kicherte laut.

»Nein, ich habe nur so . . . es ist nichts . . .«, sagte er, wie wenn er nur mit Mühe das Lachen unterdrückte. »Fahren Sie fort, Jegor Iljitsch, fahren Sie fort! Was ich zu sagen habe, werde ich später sagen . . . Auch Stepan Alexejewitsch hier wird mit großem Vergnügen von Ihren Bekanntschaften mit Petersburger Literaten hören . . .«

Stepan Alexejewitsch, der die ganze Zeit über nachdenklich etwas abseits gesessen hatte, hob auf einmal den Kopf, errötete und drehte sich mit ingrimmiger Miene auf dem Lehnstuhl um.

»Reizen Sie mich nicht, Foma, sondern lassen Sie mich in Ruhe!« sagte er, indem er Foma zornig mit seinen kleinen, blutunterlaufenen Augen anblickte. »Was schert mich Ihre Literatur? Wenn mir nur Gott Gesundheit gibt«, murmelte er vor sich hin, »dann kann meinetwegen alle der Deibel holen . . . mitsamt den Schriftstellern . . . Das sind doch lauter Voltairianer, weiter nichts!«

»Die Schriftsteller sind Voltairianer?« sagte Jeshewikin, der sich sofort neben Herrn Bachtschejew befand. »Da haben Sie ein sehr wahres Wort gesprochen, Stepan Alexejewitsch. So drückte sich auch Walentin Ignatitsch kürzlich aus. Auch mich selbst hat man einen Voltairianer genannt; es ist tatsächlich wahr, bei Gott! Und dabei habe ich, wie jeder weiß, nur ganz wenig geschrieben . . . Aber das ist mir denn auch schlecht bekommen: dem alten Weib ist ein Topf Milch sauer geworden – und an alldem ist Herr Voltaire schuld! So geht es bei uns immer!«

»Aber nicht doch!« bemerkte mein Onkel würdevoll; »das ist doch ein Irrtum! Voltaire war nur ein geistreicher Schriftsteller und machte sich über allerlei althergebrachte Meinungen lustig; aber ein Voltairianer ist er niemals gewesen! Das haben alles nur seine Feinde über ihn in Umlauf gebracht. Wirklich, womit hat der arme Kerl es verdient, daß alle über ihn herfallen?«

Von neuem ließ sich Foma Fomitschs boshaftes Kichern vernehmen. Beunruhigt blickte der Onkel zu ihm hinüber und wurde sichtlich verlegen.

»Nein, siehst du, Foma, ich wollte nur von den Journalen reden«, fuhr er in seiner Verwirrung fort, um seine Situation einigermaßen zu verbessern. »Du hattest vollkommen recht, lieber Foma, als du neulich betontest, wir müßten recht viele abonnieren. Ich bin ebenfalls der Ansicht, daß wir das tun müssen! . . . Hm . . . ja, wirklich, sie verbreiten Aufklärung! Was ist man denn für ein Sohn des Vaterlandes, wenn man sie nicht abonniert? Nicht wahr, Sergej? Hm! . . . Ja! . . . Da ist zum Beispiel der ›Zeitgenosse‹ . . . Aber weißt du, lieber Sergej, die stärksten Wissenschaften stehen doch meiner Ansicht nach in dem dicken Journal . . . wie heißt es doch gleich? Es hat so einen gelben Umschlag . . .«

»›Vaterländische Aufzeichnungen‹, Papa!«

»Na ja, ›Vaterländische Aufzeichnungen‹. Und ein vortrefflicher Titel ist das, Sergej, nicht wahr? Es sitzt sozusagen das ganze Vaterland da und macht Aufzeichnungen . . . Ein edles Ziel! Ein sehr nützliches Journal! Und wie dick! Probier's mal und gib so einen Wälzer heraus! Und Wissenschaften sind darin, solche Wissenschaften, daß einem die Augen ordentlich aus dem Kopf springen . . . Neulich kam ich her, da lag hier ein Heft; ich nahm es aus Neugier in die Hand, schlug es auf und las auf einen Hieb drei Seiten hintereinanderweg. Ich sperrte geradezu Mund und Nase auf, lieber Freund! Und weißt du, über alles mögliche wird da Auskunft gegeben: was bedeutet zum Beispiel Besen, Schaufel, Kochlöffel, Topfgabel? Meiner Ansicht nach ist ein Besen eben ein Besen und eine Topfgabel eine Topfgabel! Aber nein, lieber Freund, warte nur! Anhand der Wissenschaft stellt es sich heraus, daß eine Topfgabel nicht eine Topfgabel ist, sondern ein Emblem oder etwas Mythologisches; ich erinnere mich nicht mehr recht, was; aber so ungefähr war es . . . Es ist ganz erstaunlich! Sie haben es weit gebracht!«.

Ich weiß nicht, was nach diesen neuen wunderlichen Äußerungen meines Onkels Foma eigentlich zu tun beabsichtigte; aber in diesem Augenblick erschien Gawrila und blieb mit hängendem Kopf auf der Schwelle stehen.

Foma Fomitsch blickte ihn bedeutungsvoll an.

»Ist alles bereit, Gawrila?« fragte er mit schwacher Stimme, aber in entschlossenem Ton.

»Jawohl«, antwortete Gawrila traurig und seufzte dabei.

»Hast du auch mein Bündel auf den Wagen gelegt?«

»Jawohl.«

»Nun, dann bin auch ich bereit!« sagte Foma und erhob sich langsam von seinem Lehnstuhl. Mein Onkel blickte ihn verständnislos an. Die Generalin sprang von ihrem Platz auf und sah sich beunruhigt um.

»Erlauben Sie mir jetzt, Oberst«, begann Foma mit würdigem Ernst, »Sie zu bitten, die interessante Auseinandersetzung über die Topfgabeln in der Literatur für eine kleine Weile einzustellen; Sie können sie nachher, wenn ich weg bin, fortsetzen. Ich aber würde gern jetzt, wo ich für immer von Ihnen Abschied nehme, noch ein paar letzte Worte zu Ihnen sagen . . .«

Alle Zuhörer waren von Schrecken und Staunen wie gelähmt.

»Foma, Foma! Aber was hast du denn? Wo willst du denn hin?« rief der Onkel endlich.

»Ich beabsichtige, Ihr Haus zu verlassen, Oberst«, fuhr Foma mit ganz ruhiger Stimme fort. »Ich habe beschlossen zu gehen, wohin mich das Schicksal führt, und mir daher für mein eigenes Geld einen einfachen Bauernwagen gemietet. Auf diesem liegt jetzt mein Bündel; es ist nicht groß: ein paar Lieblingsbücher, etwas reine Wäsche – das ist alles! Ich bin arm, Jegor Iljitsch; aber um keinen Preis auf der Welt werde ich jetzt Ihr Gold annehmen, das ich auch gestern schon zurückgewiesen habe!«

»Aber um Gottes willen, Foma, was hat das zu bedeuten?« rief der Onkel, der bleich wie Leinwand geworden war.

Die Generalin kreischte auf, blickte in heller Verzweiflung Foma Fomitsch an und streckte die Hände nach ihm aus. Fräulein Perepelizyna stürzte zu ihr hin, um sie zu stützen. Die armen Klientinnen waren auf ihren Plätzen erstarrt. Herr Bachtschejew erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl.

»Na, nun hat die Komödie angefangen!« flüsterte Misintschikow neben mir.

In diesem Augenblick ließ sich fernes Donnergrollen vernehmen; es begann ein Gewitter.

IV

Aus dem Hause gejagt

»Sie fragen, was das zu bedeuten hat, Oberst«, erwiderte Foma feierlich, der sich an dem Anblick des allgemeinen Erstaunens zu weiden schien. »Ich wundere mich über diese Frage! Erklären Sie mir doch Ihrerseits, auf welche Weise Sie es fertigbringen, mir jetzt offen in die Augen zu sehen! Erklären Sie mir dieses schwierigste psychologische Problem menschlicher Schamlosigkeit, und dann werde ich bei meinem Scheiden wenigstens um eine neue Erfahrung über die Verderbtheit des Menschengeschlechtes reicher sein.«

Aber mein Onkel war nicht imstande, etwas zu erwidern; erschrocken und ganz vernichtet, mit offenem Mund und weitgeöffneten Augen, sah er Foma an.

»O Gott, wie schrecklich!« stöhnte Fräulein Perepelizyna.

»Begreifen Sie auch, Oberst«, fuhr Foma fort, »daß Sie mich jetzt ohne weiteres, ohne alle Fragen ziehen lassen müssen? In Ihrem Haus fange sogar ich, ein bejahrter, ruhig denkender Mensch, schon an, ernstlich um die Reinheit meiner Sitten besorgt zu sein. Glauben Sie mir, weitere Fragen können zu nichts anderem führen als zu Ihrer eigenen Beschämung.«

»Foma! Foma! . . .«, rief mein Onkel, dem der kalte Schweiß auf die Stirn trat.

»Und daher gestatten Sie mir bitte, Ihnen ohne alle weiteren Auseinandersetzungen nur ein paar Abschiedsworte zu sagen, meine letzten Worte in Ihrem Haus, Jegor Iljitsch. Es ist nun einmal geschehen und läßt sich nicht ungeschehen machen! Hoffentlich verstehen Sie, wovon ich rede. Aber ich flehe Sie auf den Knien an: Wenn in Ihrem Herzen noch ein Funke von Moral übriggeblieben ist, so zügeln Sie das Ungestüm Ihrer Leidenschaften! Und wenn das verderbenbringende Element noch nicht das ganze Gebäude erfaßt hat, so löschen Sie die Feuersbrunst nach Möglichkeit!«

»Foma, ich versichere dir, du bist im Irrtum!« rief der Onkel, der allmählich wieder zu sich kam und mit Entsetzen die Lösung ahnte.

»Mäßigen Sie Ihre Leidenschaften!« fuhr Foma in demselben feierlichen Ton fort, wie wenn er den Ausruf meines Onkels gar nicht gehört hätte; »besiegen Sie sich selbst! ›Wenn du die ganze Welt besiegen willst, so besiege dich selbst!‹, das ist meine stete Maxime. Sie sind der Herr dieses Gutes; Sie sollten auf Ihren Besitzungen wie ein Brillant strahlen; aber was für ein abscheuliches Beispiel der Zügellosigkeit geben Sie hier Ihren Untergebenen! Ganze Nächte hindurch habe ich für Sie gebetet und gezittert, in der Sorge um Ihr Glück. Es ist mir nicht gelungen, Sie glücklich zu machen; denn die Bedingung des Glücks ist die Tugend . . .«

»Aber du darfst nicht so reden, Foma!« unterbrach ihn der Onkel von neuem. »Du hast es falsch aufgefaßt, und deine Worte treffen gar nicht das Richtige . . .«

»Vergessen Sie also nicht, daß Sie Gutsherr sind«, fuhr Foma fort, wieder ohne auf den Zwischenruf des Onkels zu achten. »Glauben Sie nicht, daß Müßiggang und Sinnenlust die Bestimmung dieses Standes seien. Das wäre eine verderbliche Anschauung! Nicht Müßiggang, sondern treue Bemühung steht dem Gutsherrn an; dafür ist er Gott, dem Zaren und dem Vaterland verantwortlich! Zu arbeiten, zu arbeiten ist der Gutsherr verpflichtet, zu arbeiten wie der Geringste seiner Bauern!«

»Nanu, soll ich etwa für den Bauern pflügen?« brummte Bachtschejew. »Ich bin ja doch auch Gutsbesitzer . . .«

»Jetzt wende ich mich an euch, ihr Diener«, fuhr Foma, an Gawrila und Falalej gewandt, fort. »Liebet eure Herrschaft und erfüllt ihren Willen in Ehrerbietung und Sanftmut! Dafür wird euch auch eure Herrschaft lieben. Und Sie, Oberst, seien Sie gegen Ihre Leute gerecht und barmherzig! Ihr Untergebener ist ebenso ein Mensch wie Sie, ein Ebenbild Gottes, und ist Ihnen sozusagen wie ein unmündiges Kind vom Zaren und vom Vaterland anvertraut worden. Groß ist die Pflicht; aber groß wird auch Ihr Verdienst sein, wenn Sie sie erfüllen!«

»Foma Fomitsch! Liebster Freund! Wie bist du nur auf diesen Einfall gekommen?« rief die Generalin ganz verzweifelt und war nahe daran, vor Schreck in Ohnmacht zu fallen.

»Nun, jetzt ist es ja wohl genug?« schloß Foma, der nicht einmal der Generalin irgendwelche Beachtung schenkte. »Jetzt noch einige Einzelheiten, die zwar geringfügig, aber doch auch notwendig sind, Jegor Iljitsch! Auf der abgelegenen Wiese von Charinskoje ist bei Ihnen das Heu noch nicht gemäht. Schieben Sie das nicht zu lange auf: lassen Sie es mähen, und zwar so bald wie möglich! Das ist mein Rat . . .«

»Aber, Foma . . .«

»Sie beabsichtigten, wie ich weiß, die Waldparzelle von Syrjanowo abholzen zu lassen; tun Sie das nicht; das ist mein zweiter Rat. Erhalten Sie die Wälder; denn die Wälder erhalten die Feuchtigkeit auf der Oberfläche der Erde . . . Schade, daß Sie das Sommergetreide zu spät haben säen lassen; ich muß mich wundern, daß Sie das erst so spät getan haben! . . .«

»Aber Foma . . .«

»Doch nun sei es endlich genug! Alle wünschenswerten guten Lehren kann ich Ihnen jetzt doch nicht geben; dazu reicht die Zeit nicht aus! Ich werde Ihnen eine schriftliche Anweisung schicken, in einem besonderen Heft. Nun, dann leben Sie wohl, lebt alle wohl! Gott sei mit euch; der Herr segne euch! Ich segne auch dich, mein Kind«, fuhr er, an Ilja gewandt, fort; »möge Gott dich vor dem tödlichen Gift deiner künftigen Leidenschaften bewahren! Auch dich, Falalej, segne ich; vergiß den Komarinski! . . . Alle, alle segne ich . . . Vergeßt Foma nicht! . . . Nun, dann wollen wir gehen, Gawrila! Hilf mir beim Einsteigen, Alterchen!«

Mit diesen Worten schritt Foma auf die Tür zu. Die Generalin schrie auf und stürzte ihm nach.

»Nein, Foma, ich lasse dich nicht so weg!« rief der Onkel, holte ihn ein und ergriff ihn bei der Hand.

»Das heißt, Sie wollen mich mit Gewalt zurückhalten?« fragte Foma in hochmütigem Ton.

»Ja, Foma . . . auch mit Gewalt!« erwiderte mein Onkel, vor Aufregung zitternd. »Du hast zu viel gesagt und bist dafür eine Erklärung schuldig! Du hast meinen Brief falsch aufgefaßt, Foma! . . .«

»Ihren Brief!« kreischte Foma in plötzlich auflodernder Wut, als ob er mit dem Ausbruch extra auf diesen Augenblick gewartet hätte; »Ihren Brief! Da ist er, Ihr Brief! Da ist er! Ich zerreiße diesen Brief; ich spucke auf diesen Brief! Ich trete Ihren Brief mit Füßen und erfülle damit die heiligste Pflicht gegen die Menschheit! Da! Das tue ich, wenn Sie mich mit Gewalt zu näheren Erklärungen zwingen! Sehen Sie her! Sehen Sie her! Sehen Sie her! . . .«

Und die Papierfetzen flogen im Zimmer umher.

»Ich wiederhole es, Foma: Du hast das Ganze nicht verstanden!« rief mein Onkel, der immer blasser wurde. »Ich mache ihr einen Heiratsantrag, Foma; ich will mit ihr glücklich werden . . .«

»Einen Heiratsantrag! Sie haben dieses Mädchen verführt und wollen mir nun mit diesem Heiratsantrag blauen Dunst vormachen; denn ich habe Sie gestern nacht mit ihr im Garten gesehen, unter den Büschen!«

Die Generalin schrie auf und sank ohnmächtig in ihren Lehnstuhl. Es entstand ein schreckliches Durcheinander. Die arme Nastasja saß totenblaß da. Tief erschrocken umschlang Alexandra ihren Bruder Ilja mit den Armen und zitterte wie im Fieber.

»Foma!« rief der Onkel ganz außer sich. »Wenn du dieses Geheimnis verrätst, so begehst du die schändlichste Tat der Welt!«

»Ich verrate dieses Geheimnis«, schrie Foma, »und begehe damit die edelste aller Taten! Ich bin von Gott selbst gesandt, um die ganze Welt ihrer Schändlichkeit zu überführen! Ich bin bereit, auf das Strohdach eines Bauernhauses zu steigen und von dort allen Gutsbesitzern der Umgegend und allen Vorüberfahrenden zuzuschreien, wie nichtswürdig Sie gehandelt haben! . . . Ja, mögt ihr alle hier es wissen, daß ich ihn gestern nacht mit diesem so unschuldig aussehenden Mädchen im Garten unter den Büschen angetroffen habe! . . .«

»Ach, welche Schande!« quiekte Fräulein Perepelizyna.

»Foma! Stürze dich nicht ins Verderben!« rief mein Onkel mit geballten Fäusten und funkelnden Augen.

». . . Er aber«, kreischte Foma, »er hat, erschrocken darüber, daß ich ihn gesehen hatte, den Versuch gewagt, mich ehrenhaften und offenherzigen Menschen durch einen lügenhaften Brief zur Verheimlichung seines Verbrechens zu überreden, – ja, seines Verbrechens! . . . Denn was haben Sie aus diesem bisher völlig unschuldigen Mädchen gemacht? Sie haben aus ihr . . .«

»Noch ein beleidigendes Wort über sie, und – ich schlage dich tot, Foma; das schwöre ich dir! . . .«

»Ich spreche dieses Wort aus: Sie haben sie aus einem bisher völlig unschuldigen Mädchen zu einem ganz verderbten Geschöpf gemacht!«

Kaum hatte Foma diese letzten Worte gesprochen, als mein Onkel ihn an der Schulter packte, ihn wie einen Strohhalm herumdrehte und ihn mit Gewalt gegen die Glastür schleuderte, die von dem Arbeitszimmer auf den Hof führte. Der Anprall war so heftig, daß die geschlossene Tür weit aufsprang und Foma wie ein Kreisel die sieben steinernen Stufen hinunterflog und auf dem Hof ausgestreckt liegenblieb. Die zerbrochenen Scheiben fielen klirrend weit und breit auf die Treppenstufen.

»Gawrila, heb ihn auf!« rief mein Onkel, der leichenblaß aussah. »Setz ihn in den Wagen und sorge dafür, daß er in zwei Minuten aus Stepantschikowo verschwunden ist!«

Was auch immer Foma Fomitsch beabsichtigt haben mochte, diesen Ausgang hatte er gewiß nicht erwartet.

Ich vermag nicht zu beschreiben, was in den ersten Minuten nach diesem Ereignis geschah. Die Generalin, die sich in ihrem Lehnstuhl hin und her wälzte und ohrenbetäubend schrie; Fräulein Perepelizyna, die angesichts des unerwarteten Verhaltens des bisher immer so fügsamen Onkels wie von einem Starrkrampf befallen war; die armen Klientinnen, die ›Ach!‹ und ›Oh!‹ riefen; Nastasja, die vor Schreck einer Ohnmacht nahe war und um die sich ihr Vater bemühte; die vor Angst fast besinnungslose Alexandra; der Onkel, der in unbeschreiblicher Aufregung im Zimmer hin und her ging und darauf wartete, daß seine Mutter wieder zu sich käme; endlich der laut weinende Falalej, der über das Unglück seiner Herrschaft jammerte: alles dies ergab ein Bild, das jeder Beschreibung spottet. Ich füge noch hinzu, daß in diesem Augenblick ein starkes Gewitter losbrach; die Donnerschläge folgten immer rascher aufeinander, und ein heftiger Regen schlug gegen die Fenster.

»Na, das ist ein netter Festtag!« murmelte Herr Bachtschejew, indem er den Kopf hängen ließ und resigniert die Arme ausbreitete.

»Eine böse Geschichte!« flüsterte ich ihm zu; ich war ebenfalls vor Aufregung ganz außer mir. »Aber wenigstens ist Foma aus dem Haus gejagt und wird wohl nicht mehr zurückgeholt werden.«

»Mama! Sind Sie wieder zu sich gekommen? Fühlen Sie sich wieder besser? Können Sie mich endlich anhören?« fragte der Onkel, indem er vor dem Lehnstuhl der alten Frau stehenblieb.

Diese hob den Kopf, faltete die Hände und blickte mit flehender Miene ihren Sohn an, den sie noch nie in ihrem Leben so zornig gesehen hatte.

»Mama!« fuhr er fort; »der Becher war übervoll; Sie haben es selbst gesehen. Ich wollte diese Angelegenheit auf andere Art vorbringen; aber die Stunde hat geschlagen, und es ist kein Aufschub mehr möglich! Sie haben die Verleumdung mit angehört; so hören Sie denn auch die Rechtfertigung! Mama, ich liebe dieses ehrenwerte, edle Mädchen; ich liebe es schon lange und werde nie aufhören, es zu lieben. Sie wird meine Kinder glücklich machen und Ihnen eine gehorsame Tochter sein, und darum lege ich ihr jetzt in Ihrer Gegenwart sowie in Gegenwart meiner Verwandten und Freunde meine Bitte zu Füßen und flehe sie an, mir die unendliche Ehre zu erweisen und einzuwilligen, meine Frau zu werden.«

Nastasja fuhr zusammen; dann wurde sie über und über rot und sprang von ihrem Stuhl auf. Die Generalin sah ihren Sohn eine Zeitlang an, wie wenn sie nicht verstanden hätte, was er zu ihr gesagt hatte, und warf sich dann auf einmal mit durchdringendem Geschrei vor ihm auf die Knie.

»Liebster Jegor, du, mein Täubchen, hole Foma Fomitsch zurück!« rief sie; »hole ihn sogleich zurück! Sonst sterbe ich gleich heute abend ohne ihn!«

Der Onkel wurde ganz starr, als er seine alte, sonst so eigensinnige und launische Mutter vor sich auf den Knien liegen sah. Eine schmerzliche Empfindung spiegelte sich auf seinem Gesicht wider; endlich sammelte er seine Gedanken wieder, hob die Kniende schnell auf und veranlaßte sie, sich wieder in ihren Lehnstuhl zu setzen.

»Hole Foma Fomitsch zurück, lieber Jegor!« fuhr die alte Frau fort zu schreien; »hole ihn zurück, Täubchen! Ich kann nicht ohne ihn leben!«

»Mama!« rief der Onkel traurig; »haben Sie denn nichts von dem verstanden, was ich soeben zu Ihnen gesagt habe? Ich kann Foma nicht zurückholen – verstehen Sie das doch! Ich kann und darf es nicht, nachdem er diesen Engel an Ehrenhaftigkeit und Tugend in so gemeiner, nichtswürdiger Weise verleumdet hat. Sehen Sie denn nicht ein, Mama, daß es meine Pflicht ist, daß meine Ehre mir befiehlt, den guten Ruf dieses Mädchens zu schützen? Sie haben es gehört: ich bewerbe mich um die Hand dieses Mädchens und bitte Sie inständig, unseren Bund zu segnen.«

Die Generalin sprang wieder von ihrem Platz auf und warf sich vor Nastasja auf die Knie.

»Liebste, Beste!« winselte sie, »heirate ihn nicht! Heirate ihn nicht, sondern überrede ihn, Foma Fomitsch zurückzuholen! Allerteuerste Nastasja Jewgrafowna! Alles, was ich habe, will ich dir geben; alles will ich dir opfern, wenn du ihn nicht heiratest. Ich alte Frau habe noch nicht alles aufgebraucht; ich habe noch ein bißchen Geld übrig von meinem seligen Mann her. Alles soll dein sein, alles will ich dir schenken, und auch Jegor wird dich beschenken; nur lege mich nicht bei lebendigem Leib in den Sarg; überrede ihn, Foma Fomitsch zurückzuholen! . . .«

Lange würde die Alte noch geheult und gefaselt haben, wenn nicht Fräulein Perepelizyna und die armen Klientinnen, empört darüber, daß sie vor einer in Lohn und Brot stehenden Gouvernante auf den Knien lag, mit Geschrei und Gestöhn zu ihr hingestürzt wären, um sie aufzuheben. Nastasja konnte sich vor Bestürzung kaum auf den Beinen halten; Fräulein Perepelizyna aber weinte geradezu vor Wut.

»Ermorden werden Sie Ihre Mutter«, schrie sie dem Onkel zu; »ermorden werden Sie sie! Und Sie, Nastasja Jewgrafowna, hätten nicht Mutter und Sohn entzweien dürfen; das verbietet auch Gott der Herr unter Androhung von Strafe . . .«

»Anna Nilowna, halten Sie Ihre Zunge im Zaum!« rief mein Onkel. »Ich habe genug durchgemacht! . . .«

»Und ich habe von Ihnen genug ertragen. Wie können Sie mir mein Waisentum zum Vorwurf machen? Werden Sie mich arme Waise noch lange beleidigen? Ich bin noch nicht Ihre Sklavin! Ich bin selbst eine Oberstleutnantstochter! Ich werde nicht länger in Ihrem Haus bleiben; nein, gewiß nicht . . . gleich heute werde ich ausziehen! . . .«

Aber der Onkel hörte nicht zu: er war zu Nastasja getreten und faßte ehrfürchtig ihre Hand.

»Nastasja Jewgrafowna! Sie haben meinen Antrag gehört?« sagte er, indem er sie kummervoll, ja beinahe verzweifelt anblickte.

»Nein, Jegor Iljitsch, nein! Wir wollen es lieber lassen!« antwortete Nastasja, die ihrerseits allen Mut verloren hatte. »Es ist alles vergebens«, fuhr sie fort, indem sie ihm die Hände drückte und in Tränen ausbrach. »Sie sagen das wegen des Ereignisses von gestern . . . aber es kann nicht geschehen; das sehen Sie selbst. Wir haben uns geirrt, Jegor Iljitsch . . . Aber ich werde immer an Sie als an meinen Wohltäter denken und . . . und mein Lebtag, mein Lebtag für Sie beten! . . .«

Tränen erstickten ihre Stimme. Der arme Onkel hatte diese Antwort offenbar vorausgesehen; er dachte nicht einmal daran, etwas zu entgegnen und auf seinem Verlangen zu beharren . . . Zu ihr herabgeneigt und sie noch immer bei der Hand haltend, hörte er stumm und niedergeschlagen zu. Die Tränen traten ihm in die Augen.

»Ich habe Ihnen schon gestern gesagt«, fuhr Nastasja fort, »daß ich nicht Ihre Frau werden kann. Sie sehen ja: man will mich bei Ihnen nicht haben . . . und das habe ich schon lange gefühlt; Ihre Mutter wird Ihnen ihren Segen nicht geben . . . und andere ebenfalls nicht. Und wenn auch Sie selbst es später nicht bereuen würden (denn Sie sind der edelste Mensch, den es gibt), so würden Sie doch durch Ihre Gutherzigkeit meinetwegen unglücklich sein . . .«

»Ganz richtig, durch Ihre Gutherzigkeit! Ganz richtig! Ja, Nastasja, ja!« stimmte ihr ihr alter Vater bei, der auf der anderen Seite des Lehnstuhles stand. »Ganz richtig; damit hast du den Nagel auf den Kopf getroffen.«

»Ich will nicht, daß meinetwegen Zwietracht in Ihrem Haus herrscht«, fuhr Nastasja fort. »Um mich aber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Jegor Iljitsch: mir wird niemand zu nahe treten, niemand wird mir etwas zuleide tun . . . ich werde zu meinem Vater gehn . . . gleich heute . . . Es ist das beste, wenn wir nun Abschied voneinander nehmen, Jegor Iljitsch . . .«

Und die arme Nastasja brach wieder in Tränen aus.

»Nastasja Jewgrafowna! Ist das wirklich Ihr letztes Wort?« fragte mein Onkel und sah sie mit unbeschreiblicher Verzweiflung an. »Sagen Sie nur ein einziges Wort – und ich bringe Ihnen alles zum Opfer! . . .«

»Es ist ihr letztes Wort, ihr letztes Wort, Jegor Iljitsch«, fiel wieder Jeshewikin ein, »und sie hat Ihnen das so gut dargelegt, wie ich es, offen gestanden, nicht erwartet hätte. Sie sind der allerbeste Mensch; Jegor Iljitsch, wirklich der allerbeste Mensch und haben uns eine große Ehre erwiesen! Eine große Ehre, eine große Ehre! . . . Aber dennoch passen wir nicht zusammen, Jegor Iljitsch. Sie brauchen eine Braut, Jegor Iljitsch, die reich und vornehm und eine blendende Schönheit ist und auch eine schöne Stimme hat und ganz mit Brillanten und Straußenfedern geschmückt in Ihren Zimmern umhergeht. Dann wird sich vielleicht auch Foma Fomitsch nachgiebig zeigen und Ihnen seinen Segen erteilen. Und Foma Fomitsch, den müssen Sie zurückholen. Er hat ja nur aus Tugendhaftigkeit, in übergroßem Eifer so gesprochen. Daß er es nur aus Tugendhaftigkeit getan hat, das werden Sie später selbst sagen, – Sie werden sehen! Er ist der herrlichste Mensch. Aber jetzt wird er ganz naß werden. Das beste wird schon sein, wenn Sie ihn jetzt zurückholen; denn zurückholen werden Sie ihn ja doch müssen . . .«

»Hol ihn zurück! Hol ihn zurück!« schrie die Generalin; »er sagt dir die Wahrheit, lieber Sohn! . . .«

»Ja«, fuhr Jeshewikin fort, »sehen Sie: auch Ihre Mutter grämt sich zu Tode – ganz unnötigerweise . . . Holen Sie ihn nur zurück! Ich und Nastasja aber wollen uns unterdessen auf den Weg machen . . .«

»Warte, Jewgraf Larionowitsch!« rief der Onkel; »ich bitte dich inständig! Nur noch ein Wort will ich sagen, Jewgraf, nur noch ein Wort . . .«

Nachdem er das gesagt hatte, ging er beiseite, setzte sich in einer Ecke in einen Lehnstuhl, ließ den Kopf hängen und bedeckte die Augen mit den Händen, wie wenn er über etwas nachdächte.

In diesem Augenblicke ertönte ein furchtbarer Donnerschlag, beinahe direkt über dem Haus. Das ganze Gebäude erzitterte. Die Generalin schrie auf, Fräulein Perepelizyna ebenfalls; die Klientinnen, die vor Angst ganz dumm geworden waren, bekreuzigten sich, und mit ihnen zugleich auch Herr Bachtschejew.

»Hilf, heiliger Prophet Elias!« flüsterten auf einmal fünf oder sechs Stimmen, alle gleichzeitig.

Nach dem Donnerschlag stürzte ein so furchtbarer Platzregen herab, daß es schien, als ergieße sich plötzlich ein ganzer See über Stepantschikowo.

»Aber was wird nun aus Foma Fomitsch draußen werden?« wimmerte Fräulein Perepelizyna.

»Lieber Jegor, hol ihn zurück!« schrie die Generalin im Ton der Verzweiflung und stürzte wie eine Unsinnige zur Tür. Ihre Klientinnen hielten sie auf; sie umringten sie, trösteten sie, schluchzten und winselten. Es war eine schauderhafte Szene!

»Im bloßen Rock ist er weggegangen; wenn er doch wenigstens einen Mantel mitgenommen hätte!« fuhr Fräulein Perepelizyna fort. »Einen Regenschirm hat er auch nicht mit. Jetzt wird ihn der Blitz erschlagen! . . .«

»Sicherlich!« stimmte ihr Bachtschejew bei. »Und vom Regen wird er auch noch naß werden.«

»So schweigen Sie doch!« flüsterte ich ihm zu.

»Na, er ist ja auch ein Mensch!« antwortete mir Bachtschejew zornig. »Er ist doch kein Hund. Sie selbst würden bei solchem Wetter doch gewiß nicht auf die Straße gehen. Oder probieren Sie es mal, und nehmen Sie zum Vergnügen ein Duschbad!«

Da ich die weitere Entwicklung der Sache voll ernster Besorgnis ahnte, trat ich zu meinem Onkel, der wie erstarrt in seinem Lehnstuhl saß.

»Lieber Onkel«, sagte ich, indem ich mich zu seinem Ohr niederbeugte, »werden Sie denn wirklich einwilligen, Foma Fomitsch zurückzuholen? Sie müssen doch begreifen, daß das der Gipfel der Unschicklichkeit wäre, wenigstens solange Nastasja Jewgrafowna noch hier ist.«

»Mein Freund«, antwortete der Onkel, indem er den Kopf hob und mir mit entschlossener Miene in die Augen sah; »ich habe in diesem Augenblick über mich zu Gericht gesessen und weiß jetzt, was ich tun muß. Sei unbesorgt; es wird Nastasja keine Kränkung widerfahren; ich werde die erforderlichen Maßnahmen treffen . . .«

Er erhob sich von seinem Stuhl und trat zu seiner Mutter.

»Mama!« sagte er; »beruhigen Sie sich: ich werde Foma Fomitsch zurückholen; ich werde ihn noch einholen können; er kann noch nicht weit weg sein. Aber ich schwöre Ihnen: nur unter einer Bedingung wird er zurückkehren: er muß hier, öffentlich, vor allen, welche Zeugen der Beleidigung gewesen sind, seine Schuld eingestehen und dieses edle Mädchen feierlich um Verzeihung bitten. Das werde ich durchsetzen! Dazu werde ich ihn zwingen! Sonst wird er die Schwelle dieses Hauses nicht mehr überschreiten! Ich schwöre Ihnen auch feierlich, Mama: wenn er von selbst und freiwillig sich dazu versteht, dies zu tun, dann bin ich bereit, mich ihm zu Füßen zu werfen und ihm alles zu geben, was ich weggeben kann, ohne meine Kinder zu schädigen! Ich selbst werde mit dem heutigen Tag mich von allem zurückziehen. Der Stern meines Glückes ist untergegangen! Ich werde Stepantschikowo verlassen. Mögt ihr alle hier ruhig und glücklich leben! Ich werde wieder in mein Regiment eintreten und in den Stürmen des Kampfes, auf dem Schlachtfeld mein trauriges Schicksal hinnehmen . . . Genug! Ich fahre!«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Gawrila, ganz durchnäßt und in unglaublicher Weise mit Schmutz bedeckt, erschien vor der betroffenen Versammlung.

»Was ist mit dir? Wo kommst du her? Wo ist Foma?« rief mein Onkel und stürzte auf ihn zu.

Auch alle andern drängten hinzu und umringten in größter Neugier den Alten, von dem das schmutzige Wasser buchstäblich in Strömen herabfloß. Gekreisch, Gestöhn und Geschrei begleiteten jedes Wort Gawrilas.

»Er ist bei dem Birkenwäldchen geblieben, anderthalb Werst von hier«, begann er mit weinerlicher Stimme. »Das Pferd erschrak über einen Blitz und sprang in den Graben.«

»Weiter!« rief der Onkel.

»Der Wagen schlug um . . .«

»Weiter! . . . Und Foma?«

»Er fiel in den Graben.«

»Aber so erzähle doch und quäle uns nicht lange!«

»Er bekam bei dem Fall einen starken Schlag gegen die Seite und fing an zu weinen. Ich spannte das Pferd aus und ritt her, um es zu melden.«

»Und Foma ist dort geblieben?«

»Er stand auf und ging einfach am Stock weiter«, schloß Gawrila seinen Bericht; dann seufzte er und ließ den Kopf hängen.

Das Weinen und Schluchzen des weiblichen Teils der Gesellschaft war unbeschreiblich.

»Den Zentaur!« rief mein Onkel und stürzte aus dem Zimmer. Der Zentaur wurde vorgeführt; der Onkel schwang sich auf das ungesattelte Pferd, und einen Augenblick darauf ließ uns der Schall der Hufschläge erkennen, daß Foma Fomitschs Verfolgung begonnen hatte. Mein Onkel war sogar ohne Mütze davongesprengt.

Die Damen stürzten an die Fenster. Es wurde viel gestöhnt und gejammert; dazwischen wurden auch Ratschläge laut. Manche sagten, Foma Fomitsch müsse unverzüglich ein warmes Bad nehmen; man müsse ihn mit Spiritus abreiben, ihm Brusttee zu trinken geben; er habe seit dem Morgen keinen Bissen zu sich genommen, so daß er jetzt gewiß sehr hungrig sei. Fräulein Perepelizyna fand die von ihm vergessene Brille im Futteral, und dieser Fund machte einen ganz außerordentlichen Eindruck: die Generalin stürzte schreiend und weinend auf die Brille los und eilte dann, ohne sie aus der Hand zu lassen, wieder ans Fenster, um den Weg entlang zu spähen. Die Erwartung erreichte schließlich den allerhöchsten Grad der Spannung . . . In einer anderen Ecke versuchte Alexandra Nastasja zu trösten; sie hielten sich beide umschlungen und weinten. Nastasja hielt den kleinen Ilja bei der Hand und küßte alle Augenblicke ihren Schüler zum Abschied. Ilja weinte und schluchzte, ohne zu wissen warum. Jeshewikin und Misintschikow redeten, etwas abseits stehend, miteinander, ich weiß nicht worüber. Es schien mir, als ob Bachtschejew beim Anblick der jungen Mädchen die größte Lust hatte, ebenfalls loszuweinen. Ich trat zu ihm.

»Nein, lieber Freund«, sagte er zu mir, »Foma Fomitsch würde sich vielleicht von hier entfernen, hält aber den richtigen Zeitpunkt noch nicht für gekommen: man hat ihm noch keine Ochsen mit goldenen Hörnern vor seine Equipage gespannt! Sie können ganz sicher sein, lieber Freund: der wird noch die Wirtsleute aus dem Hause treiben und selbst dableiben!«

Das Gewitter war vorübergegangen, und Herr Bachtschejew hatte offenbar seine Ansicht geändert.

Auf einmal wurde gerufen: »Er bringt ihn! Er bringt ihn!«, und die Damen stürzten aufschreiend zur Tür. Seit der Onkel weggeritten war, waren noch keine zehn Minuten vergangen: es erschien als ein Ding der Unmöglichkeit, Foma Fomitsch so schnell zurückzubringen; aber das Rätsel löste sich nachher auf sehr einfache Weise: Foma Fomitsch war, nachdem er sich von Gawrila getrennt hatte, tatsächlich am Stock weitergegangen; aber als er sich völlig allein gelassen gefühlt hatte, da war eine schmähliche Feigheit über ihn gekommen; er hatte in Richtung Stepantschikowo kehrtgemacht und war hinter Gawrila hergelaufen. Der Onkel hatte ihn schon im Dorf getroffen. Sogleich hatte er einen vorüberfahrenden Bauernwagen angehalten; mehrere Bauern waren zusammengelaufen und hatten Foma Fomitsch, der ganz friedlich geworden war, hinaufgehoben. So wurde er nun geradewegs in die offenen Arme der Generalin geführt, die vor Schreck beinahe umkam, als sie sah, in welchem Zustand er sich befand. Er war noch schmutziger und nasser als Gawrila. Nun entwickelte sich ein überaus geschäftiges Treiben; manche wollten ihn sogleich nach oben in sein Schlafzimmer schleppen, um ihn die Wäsche wechseln zu lassen; andere sprachen von Holundertee und anderen Stärkungsmitteln; die Damen liefen ohne Sinn und Verstand hierhin und dorthin; alle redeten zu gleicher Zeit . . . Aber Foma schien niemanden und nichts wahrzunehmen. Er wurde, unter die Arme gefaßt, hereingeführt. Als er zu seinem Lehnstuhl gelangt war, ließ er sich schwerfällig in ihn hineinsinken und schloß die Augen. Jemand von den Anwesenden rief: »Er stirbt!« Es erhob sich ein allgemeines Geschrei; am meisten von allen aber brüllte Falalej, der sich durch den Schwarm der Damen zu Foma Fomitsch durchzudrängen versuchte, um ihm unverzüglich die Hand zu küssen . . .

V

Foma Fomitsch macht alle glücklich

»Wohin hat man mich gebracht?« fragte Foma endlich mit der Stimme eines Menschen, der für Recht und Wahrheit stirbt.

»Verdammter Patron!« flüsterte Misintschikow neben mir. »Als ob er nicht sähe, wohin man ihn gebracht hat! Jetzt wird er uns wieder eine Komödie vorspielen!«

»Du bist bei uns, Foma, im Kreise der deinigen!« rief mein Onkel. »Fasse Mut, beruhige dich! Und wirklich, du solltest jetzt die Kleider wechseln, Foma; sonst wirst du noch krank werden . . . Und willst du dich nicht ein bißchen stärken, wie? So ein kleines Gläschen mit etwas Alkoholischem zur Erwärmung . . .«

»Malaga würde ich jetzt trinken«, stöhnte Foma und schloß von neuem die Augen.

»Malaga? Den werden wir wohl kaum haben!« sagte mein Onkel und blickte beunruhigt Praskowja Iljinitschna an.

»Aber gewiß doch!« fiel Praskowja Iljinitschna ein; »es sind noch ganze vier Flaschen übrig!« Und mit ihrem Schlüsselbund klappernd, lief sie sogleich hinaus, um den Malaga zu holen, begleitet vom Geschrei aller Damen, die an Foma festklebten wie die Fliegen am Eingemachten. Dagegen war Herr Bachtschejew höchst entrüstet.

»Malaga will er!« brummte er beinahe laut. »Verlangt einen Wein, den sonst kein Mensch trinkt. Na, wer trinkt jetzt Malaga außer so einem Schuft wie er? Pfui Deibel! Na, aber warum stehe ich hier noch? Worauf warte ich hier noch?«

»Foma«, begann der Onkel, bei jedem Wort in Verwirrung geratend, »sieh mal, jetzt . . . wo du dich erholt hast und wieder mit uns zusammen bist . . . das heißt, ich wollte sagen, Foma, daß ich begreife, wie du vorhin, nachdem du sozusagen das allerunschuldigste Wesen beleidigt hattest . . .«

»Wo, wo ist sie, meine Unschuld?« fiel ihm Foma ins Wort, als hätte er Fieber und spräche irre. »Wo sind meine glücklichen, goldenen Tage? Wo bist du, meine goldene Kindheit, als ich, ein unschuldiger, schöner Knabe, auf den Feldern hinter den Frühlingsschmetterlingen herlief? Wo, wo ist diese Zeit? Gebt mir meine Unschuld wieder, gebt sie mir wieder!«

Und Foma wandte sich, die Arme ausbreitend, der Reihe nach an jeden von uns, als ob einer von uns seine Unschuld in der Tasche hätte. Bachtschejew wollte beinah platzen vor Wut.

»Was will er nun wieder?« brummte er zornig. »Seine Unschuld sollen wir ihm wiedergeben! Er will sich wohl mit ihr küssen? Vielleicht war er auch als Junge schon genauso ein Halunke wie jetzt! Ich möchte schwören, daß es so gewesen ist.«

»Foma! . . .« begann mein Onkel wieder.

»Wo, wo sind sie, jene Tage, als ich noch an die Liebe glaubte und die Menschen liebte?« rief Foma, »als ich andere Menschen umarmte und an ihrer Brust weinte? Aber jetzt, wo bin ich? Wo bin ich?«

»Du bist bei uns, Foma; beruhige dich!« rief mein Onkel. »Aber ich wollte dir etwas sagen, Foma . . .«

»Wenn Sie doch wenigstens jetzt schweigen möchten!« zischte Fräulein Perepelizyna, deren kleine Schlangenaugen böse funkelten.

»Wo bin ich?« fuhr Foma fort; »wer ist das hier um mich? Das sind Büffel und Stiere, die mich mit ihren Hörnern bedrohen. O Leben, was bist du? Da lebt unsereiner nun und lebt und wird entehrt und beschimpft und erniedrigt und geschlagen, und erst wenn die Menschen unser Grab mit Sand zuschaufeln, erst dann kommen sie zur Besinnung und belasten unsere armen Gebeine mit einem Monumente!«

»Ach, herrje, nun fängt er gar an von Monumenten zu reden!« flüsterte Jeshewikin und schlug die Hände zusammen.

»Oh, setzt mir kein Monument!« schrie Foma; »setzt mir kein Monument! Ich brauche keine Monumente! Errichtet mir ein Monument in euren Herzen; weiter brauche ich nichts, nichts, nichts!«

»Foma!« unterbrach ihn mein Onkel, »hör auf! Beruhige dich! Du hast keinen Grund, von Monumenten zu reden. Hör nur zu! . . . Siehst du, Foma, ich begreife das ja, daß du vielleicht sozusagen in edler Glut entbrannt warst, als du mir vorhin Vorwürfe machtest; aber du bist zu weit gegangen, Foma, über die Grenzlinie der Tugend hinaus – ich versichere dir, du hast dich geirrt, Foma . . .«

»Wollen Sie nicht endlich aufhören?« zeterte wieder Fräulein Perepelizyna. »Sie wollen wohl den Unglücklichen töten, weil er nun in Ihrer Gewalt ist?«

Nach Fräulein Perepelizyna kam nun auch die Generalin in unruhige Bewegung und nach ihr ihre ganze Suite; alle gaben dem Onkel mit der Hand Zeichen, er möchte aufhören.

»Anna Nilowna, bitte, schweigen Sie; ich weiß schon, was ich sage!« antwortete mein Onkel in festem Ton. »Das ist eine heilige Sache! Eine Sache der Ehre und der Gerechtigkeit. – Foma, du bist ein vernünftiger Mensch; du mußt das von dir beleidigte edelste Mädchen sofort um Verzeihung bitten.«

»Was für ein Mädchen? Was für ein Mädchen habe ich beleidigt?« sagte Foma, indem er seinen Blick verständnislos über alle hingehen ließ, wie wenn er alles Vergangene vollständig vergessen hätte und nicht begriffe, um was es sich handle.

»Ja, Foma, und wenn du jetzt von selbst, freiwillig, edelmütig deine Schuld bekennst, dann, Foma, das schwöre ich dir, dann werde ich dir zu Füßen fallen, und dann . . .«

»Wen habe ich denn beleidigt?« schrie Foma; »was für ein Mädchen? Wo ist sie? Wo ist dieses Mädchen? Helft mir doch wenigstens, mich an dieses Mädchen erinnern! . . .«

In diesem Augenblick trat Nastasja, verwirrt und ängstlich, an Jegor Iljitsch heran und zupfte ihn am Ärmel.

»Nein, Jegor Iljitsch, lassen Sie ihn; es bedarf keiner Bitte um Entschuldigung! Wozu das alles?« sagte sie flehend, »Lassen Sie es doch sein!«

»Ah, jetzt erinnere ich mich!« rief Foma. »O Gott, ich erinnere mich! O helft, helft meinem Gedächtnis nach!« bat er, anscheinend in schrecklicher Aufregung. »Sagt mir, ist es wahr, daß ich von hier wie ein räudiger Hund weggejagt worden bin? Ist es wahr, daß mich der Blitz getroffen hat? Ist es wahr, daß ich hier die Treppe hinuntergeworfen worden bin? Ist das wahr? Ist das tatsächlich wahr?«

Das Weinen und Schreien des weiblichen Publikums gab ihm beredte Antwort.

»Richtig, richtig«, fuhr er fort, »ich erinnere mich, ich erinnere mich jetzt, daß, nachdem mich der Blitz getroffen hatte und ich hingestürzt war, ich hierher lief, vom Donner verfolgt, um meine Pflicht zu erfüllen und dann für immer zu verschwinden! Helft mir aufzustehen! So schwach ich jetzt auch bin, muß ich doch meine Pflicht erfüllen.«

Er wurde sogleich aus dem Lehnstuhl gehoben und stand nun in der Stellung eines Redners, den einen Arm vorstreckend, da.

»Oberst!« rief er, »jetzt bin ich wieder völlig zur Besinnung gekommen; der Blitz hat meine geistigen Fähigkeiten nicht getötet; allerdings ist noch eine Taubheit im rechten Ohr zurückgeblieben, die vielleicht nicht so sehr vom Blitz als von dem Sturz die Treppe hinab herrührt . . . Aber kommt es denn darauf an? Und wer kümmert sich schon um Fomas rechtes Ohr?«

Diesen letzten Worten verlieh Foma einen solchen Ausdruck trüber Ironie und begleitete sie mit einem so kläglichen Lächeln, daß die gerührten Damen von neuem zu stöhnen anfingen. Alle blickten sie vorwurfsvoll und manche sogar wütend meinen Onkel an, der einem so einmütigen Ausdruck der allgemeinen Meinung gegenüber allmählich klein zu werden begann. Misintschikow spuckte aus und trat ans Fenster. Bachtschejew stieß mich immer heftiger und heftiger mit dem Ellbogen an; er konnte kaum noch ruhig an seinem Platz bleiben.

»Jetzt hört alle meine Beichte!« rief Foma, indem er alle Anwesenden mit einem stolzen, entschlossenen Blick umfaßte, »und entscheidet zugleich über das Schicksal des unglücklichen Opiskin! Jegor Iljitsch! Schon lange habe ich Sie beobachtet, Sie mit bangem Herzen beobachtet und alles gesehen, alles, während Sie noch nicht einmal ahnten, daß ich Sie beobachtete. Oberst! Ich habe mich vielleicht geirrt; aber ich kannte Ihren Egoismus, Ihre grenzenlose Selbstsucht, Ihre phänomenale Sinnlichkeit, und wer wird mich verurteilen, wenn ich unwillkürlich um die Ehre eines so unschuldigen Wesens zitterte?«

»Foma, Foma! . . . Geh nicht zu sehr darauf ein, Foma!« rief mein Onkel, der mit großer Unruhe den leidenden Ausdruck auf Nastasjas Gesicht gewahrte.

»Was mich ängstigte, war nicht sowohl die Unschuld und Arglosigkeit dieser jungen Person als ihre Unerfahrenheit«, fuhr Foma fort, als hätte er die Warnung des Onkels gar nicht gehört. »Ich sah, daß ein zärtliches Gefühl in ihrem Herzen gleich einer Frühlingsrose erblühte, und erinnerte mich unwillkürlich an Petrarca, welcher gesagt hat, daß die Unschuld so oft nur um Haaresbreite vom Verderben entfernt ist. Ich seufzte und stöhnte. Ich war zwar bereit, für dieses Mädchen, das rein ist wie eine Perle, all mein Blut als Unterpfand zu geben; aber wer konnte mir für Sie bürgen, Jegor Iljitsch? Da ich die zügellose Heftigkeit Ihrer Leidenschaften kenne und da ich weiß, daß Sie für eine kurze Befriedigung derselben alles zu opfern bereit sind, versank ich in einen Abgrund des Entsetzens und der Befürchtungen in betreff des Schicksals dieses so edlen Mädchens . . .«

»Foma! Hast du wirklich so etwas denken können?« rief mein Onkel.

»Mit angsterfülltem Herzen verfolgte ich Ihr Verhalten. Wenn Sie wissen wollen, wie sehr ich litt, so fragen Sie Shakespeare: er schildert Ihnen in seinem ›Hamlet‹ meinen Seelenzustand. Ich wurde in meinem Mißtrauen geradezu schrecklich. In meiner Unruhe und in meiner Entrüstung sah ich alles in den schwärzesten Farben, und das war nicht jene ›schwarze Farbe‹, von der in einem bekannten Lied die Rede ist; davon können Sie überzeugt sein! Daher rührte auch der Wunsch, den Sie damals an mir bemerkten, sie aus diesem Haus zu entfernen: ich wollte sie retten; und daher war ich, was Sie gewiß auch wahrgenommen haben, in der ganzen letzten Zeit so reizbar und über das ganze Menschengeschlecht so ergrimmt. Oh, wer wird mich jetzt mit der Menschheit wieder versöhnen? Ich habe die Empfindung, daß ich vielleicht Ihren Gästen und Ihrem Neffen und Herrn Bachtschejew gegenüber ungerecht und gar zu anspruchsvoll gewesen bin, indem ich zum Beispiel von dem letzteren die Kenntnis der Astronomie verlangte; aber wer kann mir meinen damaligen Seelenzustand als Verbrechen anrechnen? Wiederum Shakespeare zitierend, möchte ich sagen, daß mir die Zukunft als ein dunkler Schlund von unbekannter Tiefe erschien, auf dessen Grund ein Krokodil liegt. Ich fühlte, daß es meine Pflicht war, ein Unglück zu verhüten, daß ich dazu berufen, dazu hergesandt war; aber was geschah? Sie verstanden die edlen Regungen meiner Seele nicht und vergalten sie mir in dieser ganzen Zeit mit Bosheit und Undank, mit Spöttereien und Kränkungen . . .«

»Foma! Wenn es so ist . . . gewiß, ich fühle . . .«, rief mein Onkel in größter Aufregung.

»Wenn Sie wirklich etwas fühlen, Oberst, so haben Sie die Freundlichkeit, mich bis zu Ende anzuhören und mich nicht zu unterbrechen. Ich fahre fort: meine ganze Schuld bestand folglich darin, daß ich mich um das Schicksal und das Glück dieses Kindes gar zu sehr sorgte: denn im Vergleich mit Ihnen ist sie ja noch ein Kind. Die höchste Liebe zur Menschheit machte mich in dieser Zeit zu einer Art Dämon des Zornes und des Argwohns. Ich hätte mich am liebsten auf die Menschen gestürzt und sie in Stücke gerissen. Und wissen Sie auch, Jegor Iljitsch, daß alle Ihre Handlungen wie mit besonderer Absicht meinen Argwohn jeden Augenblick bestätigten und mich in meinem Verdacht bestärkten? Wissen Sie auch, daß ich gestern, als Sie mich mit Ihrem Gold überschütteten, um mich von hier zu entfernen, daß ich da dachte: ›Er möchte in meiner Person sein eigenes Gewissen entfernen, um das Verbrechen bequemer begehen zu können . . .‹«

»Foma, Foma! Hast du das gestern wirklich gedacht?« rief mein Onkel erschrocken. »O mein Gott, und ich habe nichts davon geahnt!«

»Der Himmel selbst hatte mir diesen Verdacht eingeflößt«, fuhr Foma fort. »Und sagen Sie selbst: Was mußte ich denken, als der blinde Zufall mich an demselben Abend zu jener verhängnisvollen Bank im Garten führte? Was mußte ich in diesem Augenblick empfinden, o Gott, als ich endlich mit meinen eigenen Augen sah, daß alle meine Befürchtungen plötzlich auf die glänzendste Weise gerechtfertigt wurden? Es blieb mir noch eine Hoffnung, allerdings nur eine schwache Hoffnung, aber doch eine Hoffnung – aber was geschah? Heute morgen schlugen Sie sie selbst in Trümmer! Sie schickten mir Ihren Brief; Sie sprachen die Absicht aus, sie zu heiraten; Sie beschworen mich, nichts davon verlauten zu lassen . . . ›Aber warum‹, dachte ich, ›warum hat er gerade jetzt an mich geschrieben, wo ich ihn bereits betroffen habe, und nicht schon früher? Warum ist er nicht schon früher zu mir gekommen, glücklich und schön (denn die Liebe verschönt das Gesicht), und hat sich in meine Arme geworfen und an meiner Brust Tränen grenzenlosen Glücks vergossen und mir alles, alles gestanden?‹ Bin ich denn ein Krokodil, das Sie nur verschlungen hätte, statt Ihnen einen nützlichen Rat zu geben? Oder bin ich ein widerwärtiger Käfer, der Sie nur gebissen hätte, statt Ihr Glück zu befördern? ›Bin ich sein Freund oder ein garstiges Insekt?‹ Das war die Frage, die ich mir heute morgen vorlegte! Und endlich: ›Zu welchem Zweck‹, dachte ich, ›zu welchem Zweck hat er seinen Neffen aus der Hauptstadt herkommen lassen und ihn mit diesem jungen Mädchen verlobt? Doch wohl, um sowohl uns als auch den sorglosen Neffen zu täuschen und unterdessen im geheimen seinen verbrecherischen Plan weiter zu verfolgen?‹ Nein, Oberst, wenn mich jemand in dem Gedanken bestärkt hat, daß Ihre geheime Liebe eine verbrecherische war, so sind Sie das selbst gewesen, einzig und allein Sie! Und noch mehr: auch diesem jungen Mädchen gegenüber sind Sie ein Verbrecher; denn Sie haben es, dieses reine, edle Wesen, durch Ihre Ungeschicklichkeit und durch Ihre egoistische Verschlossenheit der Verleumdung und einem schweren Verdacht ausgesetzt!«

Mein Onkel ließ den Kopf hängen und schwieg: Fomas Beredsamkeit gewann offenbar die Oberhand über alles, was er hätte entgegnen können, und er hatte schon selbst das Gefühl, daß er ein arger Verbrecher sei. Die Generalin und ihr Anhang hatten schweigend und andächtig mit angehört, was Foma sagte, und Fräulein Perepelizyna richtete einen schadenfrohen, triumphierenden Blick auf die arme Nastasja.

»Bestürzt, aufgeregt und in tiefer Niedergeschlagenheit«, fuhr Foma fort, »schloß ich mich heute ein und betete, daß Gott mir die richtigen Gedanken eingeben möchte! Endlich faßte ich den Beschluß, Sie zum letzten Mal und öffentlich zu prüfen. Ich bin dabei vielleicht zu hitzig vorgegangen, habe mich vielleicht meinem Unwillen zu sehr hingegeben; aber zum Dank für meine edlen Motive haben Sie mich durch die Glastür geschleudert! Während ich hinausflog, dachte ich bei mir: ›So wird immer auf der Welt die Tugend belohnt!‹ Dann schlug ich auf den Erdboden, und was weiter mit mir geschah, daran kann ich mich kaum noch erinnern.«

Kreischen und Stöhnen unterbrachen Foma Fomitsch bei der Erwähnung dieses tragischen Ereignisses. Die Generalin stürzte auf ihn zu, in der Hand die Flasche Malaga, die sie der kurz vorher zurückgekehrten Praskowja Iljinitschna aus der Hand gerissen hatte; aber Foma wies mit einer majestätischen Geste sowohl den Malaga als auch die Generalin zurück.

»Warten Sie!« rief er. »Ich muß zu Ende sprechen. Was nach meinem Sturz geschah, weiß ich nicht. Ich weiß nur das eine, daß ich jetzt, durchnäßt und in Gefahr, Fieber zu bekommen, hier stehe, um Ihr beiderseitiges Glück zu schaffen. Oberst! Aus vielen Anzeichen, die ich jetzt nicht im einzelnen darlegen will, habe ich endlich doch die Überzeugung gewonnen, daß Ihre Liebe eine reine, ja eine idealische war, obwohl gleichzeitig eine in verbrecherischem Grad verschlossene und mißtrauische. Nachdem ich mißhandelt und gekränkt und beschuldigt worden bin, ein junges Mädchen beleidigt zu haben, für deren Ehre ich wie ein mittelalterlicher Ritter bereit war, mein Blut bis auf den letzten Tropfen zu vergießen, will ich Ihnen jetzt zeigen, wie sich Foma Opiskin für die ihm angetanen Beleidigungen rächt. Reichen Sie mir Ihre Hand, Oberst!«

»Mit Vergnügen, Foma!« rief mein Onkel. »Und da du jetzt diesem edlen jungen Mädchen eine vollständige Ehrenerklärung gegeben hast, so . . . selbstverständlich . . . da ist meine Hand, Foma, zugleich mit dem Ausdruck meiner Reue . . .«

Und der Onkel streckte ihm mit warmer Empfindung die Hand hin, ohne zu ahnen, was weiter folgen sollte.

»Geben auch Sie mir Ihre Hand!« fuhr Foma mit schwacher Stimme fort, indem er den Haufen der ihn umdrängenden Damen durch eine Handbewegung zerteilte und sich an Nastasja wandte.

Nastasja geriet in Bestürzung und Verwirrung und blickte Foma ängstlich an.

»Treten Sie näher, treten Sie näher, mein liebes Kind! Das ist für Ihr Glück unbedingt notwendig«, fügte Foma freundlich hinzu; er hielt immer noch die Hand des Onkels in der seinigen.

»Was hat er nur vor?« murmelte Misintschikow.

Erschrocken und zitternd trat Nastasja langsam auf Foma zu und streckte ihm schüchtern ihre Hand hin.

Foma ergriff diese Hand und legte sie in die Hand des Onkels.

»Ich vereinige und segne euch«, sagte er in feierlichem Ton. »Und wenn der Segen eines vom Leid gebeugten Märtyrers euch Nutzen bringen kann, so seid glücklich! So rächt sich Foma Opiskin! Hurra!«

Das allgemeine Erstaunen war grenzenlos. Diese Lösung kam so unerwartet, daß alle von einer Art Starrkrampf befallen wurden. Die Generalin blieb mit offenem Mund und mit der Flasche Malaga in der Hand regungslos stehen. Fräulein Perepelizyna wurde blaß und zitterte vor Wut. Die armen Klientinnen schlugen die Hände zusammen und erstarrten auf ihren Plätzen. Der Onkel fing an zu zittern, wollte etwas erwidern, war aber nicht dazu imstande. Nastasja wurde totenblaß und sagte schüchtern: »Es kann nicht sein . . .«; aber es war schon zu spät. Bachtschejew war der erste (man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen), der in Foma Fomitschs Hurra einstimmte; nach ihm tat ich es, nach mir mit aller Kraft ihrer hellen Stimme Alexandra, die sofort zu ihrem Vater hinstürzte, um ihn zu umarmen, darauf Ilja, darauf Jeshewikin; erst nach all diesen auch Misintschikow.

»Hurra!« rief Foma zum zweitenmal, »Hurra! Und nun fallt auf die Knie, ihr Kinder meines Herzens, fallt auf die Knie vor der zärtlichsten aller Mütter! Bittet sie um ihren Segen, und wenn es nötig sein sollte, werde ich selbst mit euch zusammen vor ihr meine Knie beugen . . .«

Mein Onkel und Nastasja, die einander noch nicht angesehen hatten, ganz erschrocken waren und anscheinend nicht verstanden, was mit ihnen geschah, fielen vor der Generalin auf die Knie; alle drängten sich um diese Gruppe herum; aber die Alte stand wie betäubt da und begriff gar nicht, was sie nun tun sollte. Foma griff auch hier hilfreich ein: Er warf sich selbst seiner Gönnerin zu Füßen. Dies behob mit einem Mal alle ihre Bedenken. In Tränen ausbrechend, erklärte sie sich endlich einverstanden. Mein Onkel sprang auf und preßte Foma fest an seine Brust.

»Foma, Foma! . . .«, sagte er; aber die Stimme versagte ihm, und er konnte nicht weiterreden.

»Champagner!« brüllte Stepan Alexejewitsch. »Hurra!«

»Nein, keinen Champagner«! fiel Fräulein Perepelizyna ein, die sich bereits gefaßt und alle Umstände sowie alle möglichen Folgen erwogen hatte. »Sondern wir müssen Gott eine Kerze anzünden und vor dem Heiligenbild beten und die Verlobten mit dem Heiligenbild segnen, wie das alle gottesfürchtigen Menschen tun . . .«

Sogleich beeilten sich alle, den vernünftigen Rat zur Ausführung zu bringen, und es begann ein geschäftiges Treiben. Es sollte eine Kerze angezündet werden, und Stepan Alexejewitsch stellte einen Stuhl zurecht und stieg hinauf, um die Kerze vor dem Heiligenbilde aufzustellen, aber der Stuhl knackte unter seinem Gewicht sogleich bedrohlich, und er sprang schwerfällig wieder auf den Fußboden, hielt sich jedoch dabei noch auf den Beinen. Ohne sich darüber zu ärgern, trat er seinen Platz sofort höflich Fräulein Perepelizyna ab. Diese schmächtige Dame erledigte das Geschäft im Nu: Die Kerze brannte. Die Nonne und die armen Klientinnen begannen sich zu bekreuzigen und Verbeugungen bis zum Fußboden zu machen. Das Bild des Erlösers wurde heruntergenommen und der Generalin gebracht. Der Onkel und Nastasja knieten von neuem nieder, und die Zeremonie ging nach den gottesfürchtigen Anweisungen Fräulein Perepelizynas vor sich, die alle Augenblicke kommandierte: »Verneigen Sie sich bis zur Erde! Küssen Sie das Heiligenbild! Küssen Sie Ihrer Mutter die Hand!« Nach dem Bräutigam und der Braut hielt sich auch Herr Bachtschejew für verpflichtet, das Heiligenbild zu küssen, wobei auch er der Generalin die Hand küßte. Er war unbeschreiblich entzückt.

»Hurra!« schrie er wieder. »Aber jetzt wollen wir Champagner trinken!«

Übrigens waren auch alle andern entzückt. Die Generalin weinte, aber jetzt Tränen der Freude: Diese Verbindung war dadurch, daß Foma sie gesegnet hatte, in ihren Augen sogleich eine wohlanständige und gottgefällige geworden, und vor allem fühlte sie, daß Foma Fomitsch sich mit Ruhm bedeckt hatte und nun ganz sicher für immer bei ihr bleiben werde. Die Klientinnen nahmen, wenigstens äußerlich, an dem allgemeinen Entzücken teil. Mein Onkel kniete bald vor seiner Mutter nieder und küßte ihr die Hände, bald stürzte er auf mich, Bachtschejew, Misintschikow und Jeshewikin los, um uns zu umarmen. Den kleinen Ilja hätte er in seiner Umarmung beinahe erstickt. Alexandra lief auf Nastasja zu, um sie zu umarmen und zu küssen. Praskowja Iljinitschna zerfloß in Tränen. Als Herr Bachtschejew dies bemerkte, trat er zu ihr und küßte ihr die Hand. Der alte Jeshewikin war ganz weich geworden und weinte in einer Ecke, wobei er sich mit seinem karierten Taschentuch von gestern die Augen wischte. In einer andern Ecke blinzelte Gawrila und blickte voll andächtiger Verehrung zu Foma Fomitsch herüber; Falalej aber schluchzte aus vollem Hals, ging zu allen hin und küßte ebenfalls allen die Hände. Alle waren von ihrem Gefühl überwältigt. Noch begann niemand zu reden und sich über das Geschehene auszusprechen; es schien, daß schon alles gesagt sei; nur freudige Ausrufe ertönten. Noch begriff niemand, wie das alles so schnell geschehen konnte. Man wußte nur das eine, daß es Foma Fomitsch gewesen war, der das alles getan hatte, und daß es nun eine wirkliche, unabänderliche Tatsache war.

Aber es waren noch keine fünf Minuten seit Beginn der allgemeinen Glückseligkeit vergangen, als auf einmal Tatjana Iwanowna unter uns erschien. Auf welche Weise, durch welchen geheimen Spürsinn hatte sie, während sie oben in ihrem Zimmer saß, so schnell von dem Liebesverhältnis und von der Verlobung Kenntnis erhalten können? Mit strahlendem Gesicht, mit Freudentränen in den Augen kam sie in einer entzückenden, eleganten Toilette (sie hatte die Zeit nach ihrer Rückkehr dazu benutzt, sich umzukleiden) hereingeflattert und eilte laut aufschreiend auf Nastasja zu, um sie zu umarmen.

»Nastasja, Nastasja! Du hast ihn geliebt, und ich habe nichts davon gewußt!« rief sie. »O Gott! Sie haben einander geliebt; sie haben im stillen, im geheimen gelitten! Sie sind verfolgt worden! Was für ein Roman! Nastasja, mein Täubchen, sag mir die ganze Wahrheit: liebst du diesen verdrehten Menschen wirklich?«

Statt aller Antwort umarmte Nastasja sie und küßte sie.

»O Gott, was für ein reizender Roman!« Tatjana Iwanowna klatschte vor Entzücken in die Hände. »Hör mal, Nastasja, hör mal, mein Engel: alle diese Männer, alle ohne Ausnahme, sind undankbar und schändlich und unserer Liebe unwert. Aber vielleicht ist er noch der beste von ihnen. Komm mal her zu mir, du verdrehter Mensch!« rief sie, indem sie sich meinem Onkel zuwandte und ihn bei der Hand faßte. »Bist du wirklich verliebt? Bist du wirklich fähig zu lieben? Sieh mich mal an: Ich will dir in die Augen sehen; ich will sehen, ob diese Augen lügen. Nein, nein, sie lügen nicht; in ihnen glänzt Liebe, Liebe! Oh, wie glücklich bin ich! Liebe Nastasja, hör mal, du bist nicht reich, ich schenke dir dreißigtausend Rubel. Nimm sie an, ich bitte dich inständig! Ich brauche sie nicht, wirklich nicht; mir bleibt auch so noch genug. Nein, nein, nein!« schrie sie und wehrte heftig mit den Händen ab, als sie sah, daß Nastasja das Geschenk ablehnen wollte. »Seien auch Sie ganz still, Jegor Iljitsch; das geht Sie gar nichts an. Nein, Nastasja, ich bin fest entschlossen, dir ein Geschenk zu machen; ich wollte es schon längst tun und wartete nur auf deine erste Liebe . . . Ich werde mich an dem Anblick eures Glückes weiden. Du kränkst mich, wenn du es nicht annimmst; ich werde weinen, Nastasja . . . Nein, nein, nein und nochmals nein!«

Tatjana Iwanowna war so entzückt, daß es, wenigstens in diesem Augenblick, ein Ding der Unmöglichkeit, ja eine Grausamkeit gewesen wäre, ihr zu widersprechen. Das unternahmen die Verlobten denn auch nicht, sondern verschoben es auf eine andere Zeit. Dann stürzte sie auf die Generalin zu, um sie zu küssen, dann auf Fräulein Perepelizyna und auf uns alle. Bachtschejew drängte sich respektvoll an sie heran und bat um die Erlaubnis, ihr die Hand küssen zu dürfen.

»Liebes, verehrtes Fräulein! Verzeihen Sie mir Dummkopf mein Betragen von vorhin; ich kannte Ihr goldenes Herz noch nicht!«

»Sie verdrehter Mensch! Ich kenne Sie schon lange«, flüsterte Tatjana Iwanowna mit schwärmerischer Koketterie, schlug ihm mit ihrem Handschuh auf die Nase und flatterte wie ein Zephir hinweg, wobei sie ihn mit ihrem prächtigen Kleide streifte.

Der Dicke trat respektvoll zur Seite.

»Eine höchst achtbare junge Dame!« sagte er gerührt. »Aber dem Deutschen ist die Nase wieder angeleimt!« flüsterte er mir vertraulich zu und sah mir vergnügt in die Augen.

»Was für eine Nase? Welchem Deutschen?« fragte ich verständnislos.

»Na dem, den ich mir habe schicken lassen, der seiner Landsmännin die Hand küßt, während sie sich mit dem Taschentuch eine Träne abwischt. Mein Jewdokim hat den Schaden noch gestern repariert; ich habe vorhin, als wir von der Verfolgung zurückgekehrt waren, einen Reitenden abgeschickt, um das Spielzeug zu holen . . . Es wird bald gebracht werden. Ein ganz vorzügliches Ding!«

»Foma!« rief mein Onkel, ganz außer sich vor Entzücken, »du bist der Urheber unseres Glückes! Womit kann ich dir das vergelten?«

»Mit nichts, Oberst«, antwortete Foma mit scheinheiliger Miene. »Fahren Sie fort, mich unbeachtet zu lassen, und seien Sie glücklich ohne Foma!«

Er war offenbar pikiert darüber, daß man ihn während der allgemeinen Freudenausbrüche vergessen zu haben schien.

»Das kommt nur von unserem Entzücken, Foma!« rief mein Onkel. »Ich weiß gar nicht mehr, wo ich stehe, lieber Freund. Hör mal, Foma: Ich habe dich beleidigt. Mein ganzes Leben, mein ganzes Blut ist nicht ausreichend, um diese Beleidigung wiedergutzumachen, und daher schweige ich, ja, ich entschuldige mich nicht einmal. Aber wenn du jemals meinen Kopf und mein Leben brauchst, wenn du jemanden nötig hast, der sich für dich in einen gähnenden Abgrund stürzt, dann befiehl, und du wirst sehen . . . weiter sage ich nichts, Foma.«

Der Onkel machte eine resignierte Handbewegung, als sei er sich völlig der Unmöglichkeit bewußt, noch etwas hinzuzufügen, was seine Empfindung stärker zum Ausdruck bringen könnte. Er sah Foma nur mit dankbaren Augen an, in denen Tränen standen.

»Ach, was ist er für ein Engel!« winselte Fräulein Perepelizyna ihrerseits zum Lobe Fomas.

»Ja, ja!« fiel Alexandra ein. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie ein so guter Mensch sind, Foma Fomitsch, und habe Sie respektlos behandelt. Verzeihen Sie mir, Foma Fomitsch, und seien Sie überzeugt, daß ich Sie von nun an von ganzem Herzen lieben werde! Wenn Sie wüßten, welche Hochachtung ich jetzt für Sie empfinde!«

»Ja, Foma!« nahm auch Bachtschejew das Wort. »Verzeihen auch Sie mir dummem Menschen! Ich habe Sie nicht gekannt, Sie einfach nicht gekannt! Sie sind nicht nur ein Gelehrter, Foma Fomitsch, sondern geradezu ein Held! Mein ganzes Haus steht Ihnen zu Diensten. Wissen Sie, was das beste ist, lieber Freund? Kommen Sie übermorgen zu mir, mit der Frau Generalin und auch mit dem Bräutigam und der Braut – was rede ich: mit dem ganzen Haus! Dann wollen wir einmal zu Mittag essen! Ich will mich nicht im voraus rühmen; ich sage nur so viel: Außer Vogelmilch kann ich Ihnen alle kulinarischen Genüsse bieten! Darauf gebe ich Ihnen mein Wort!«

Während dieser Gefühlsergüsse trat auch Nastasja auf Foma Fomitsch zu, umarmte ihn ohne weitere Worte herzlich und küßte ihn.

»Foma Fomitsch«, sagte sie, »Sie sind unser Wohltäter; Sie haben so viel für uns getan, daß ich nicht weiß, wie ich Ihnen das alles vergelten soll; ich weiß nur, daß ich Ihnen die zärtlichste, respektvollste Schwester sein werde . . .«

Sie konnte nicht zu Ende sprechen: Tränen erstickten ihre Stimme. Foma küßte sie auf den Scheitel; er war selbst bis zu Tränen gerührt.

»Meine Kinder, ihr Kinder meines Herzens!« sagte er. »Lebet und gedeihet und denkt in den Augenblicken des Glückes mitunter an den armen Vertriebenen! Von mir aber sage ich, daß das Unglück vielleicht die Mutter der Tugend ist. Das hat, glaube ich, Gogol gesagt, ein leichtfertiger Schriftsteller, bei dem sich aber manchmal treffende Gedanken finden. Aus dem Haus gejagt zu werden, das ist ein Unglück! Unstet werde ich jetzt an meinem Stabe auf der Erde umherwandern, und wer weiß – vielleicht werde ich durch das Unglück noch tugendhafter werden! Dieser Gedanke ist der einzige Trost, der mir noch geblieben ist!«

»Aber . . . wohin willst du denn gehen, Foma?« rief der Onkel erschrocken.

Alle waren zusammengefahren und hatten ihre Blicke auf Foma gerichtet.

»Aber kann ich denn etwa in Ihrem Haus bleiben, nachdem Sie mich vorhin so behandelt haben, Oberst?« fragte Foma Fomitsch mit ganz besonderer Würde.

Aber man ließ ihn nicht zu Ende reden: Ein allgemeines Geschrei übertönte seine Worte. Man zwang ihn, sich in seinen Lehnstuhl zu setzen, man bat ihn, man flehte ihn unter Tränen an, und ich weiß nicht, was man sonst noch alles mit ihm anfing. Natürlich lag es gar nicht in seiner Absicht, ›dieses Haus‹ zu verlassen, ebensowenig wie vorhin und ebensowenig wie am vorhergehenden Tag und ebensowenig wie damals, als er im Gemüsegarten gegraben hatte. Er wußte, daß sie ihn jetzt pietätvoll zurückhalten und sich mit Gewalt an ihn klammern würden, namentlich da er alle glücklich gemacht hatte und da alle von neuem an ihn glaubten und bereit waren, ihn auf den Händen zu tragen und dies für eine Ehre und für ein Glück zu halten. Aber der Umstand, daß er vorhin aus Furcht vor dem Gewitter so kleinmütig zurückgekehrt war, stachelte wahrscheinlich seinen Ehrgeiz an und trieb ihn dazu, noch eine Weile die Rolle eines Helden zu spielen; besonders aber bot sich jetzt eine so gute Gelegenheit, großzutun; er hatte die Möglichkeit, von sich selbst in schönen Wendungen zu reden, sein Seelenleben zu schildern, sich zu loben – dieser Versuchung konnte er nicht widerstehen. Und er widerstand ihr auch nicht; er riß sich aus den Händen der ihn Festhaltenden los; er verlangte, man solle ihm seinen Wanderstab geben; er bat, man möge ihn freilassen, damit er in die weite Welt hinausziehe; er sei ›in diesem Hause‹ entehrt und mißhandelt worden und sei nur zurückgekehrt, um das allgemeine Glück zu schaffen; könne er denn etwa ›in dem Hause des Undanks bleiben und eine zwar nahrhafte, aber mit Mißhandlungen gewürzte Kohlsuppe essen‹? Endlich aber hörte er mit den Versuchen, sich loszureißen, doch auf. Er wurde von neuem in seinen Lehnstuhl gesetzt; aber seine rednerischen Ergüsse erlitten keine Unterbrechung.

»Hat man mich hier etwa nicht beleidigt?« rief er. »Hat man mir nicht die Zunge herausgestreckt? Haben nicht Sie, Sie selbst, Oberst, nach Art der unnützen Gassenbuben in der Stadt, mir allstündlich eine lange Nase gemacht? Jawohl, Oberst! Ich halte an diesem Vergleich fest; denn wenn Sie mir auch nicht körperlich eine lange Nase gemacht haben, so haben Sie es doch im geistigen Sinn getan, und die geistigen langen Nasen sind in manchen Fällen sogar noch beleidigender als die körperlichen. Ich will gar nicht einmal von den Mißhandlungen reden . . .«

»Foma, Foma!« rief der Onkel. »Töte mich nicht mit der Erinnerung daran! Ich habe dir schon gesagt, daß all mein Blut nicht dazu ausreicht, diese Beleidigung wegzuwaschen. Sei doch großmütig! Vergiß, verzeih und bleib hier, um ein Zeuge unseres Glückes zu sein, das dein Werk ist, Foma! . . .«

». . . Ich will den Menschen lieben, will den Menschen lieben«, schrie Foma; »aber man gibt mir den Menschen nicht; man verbietet mir, ihn zu lieben; man nimmt mir den Menschen weg! Gebt mir den Menschen, gebt ihn mir, damit ich ihn lieben kann! Wo ist dieser Mensch? Wo hat sich dieser Mensch versteckt? Wie Diogenes mit der Laterne suche ich ihn mein ganzes Leben lang und kann ihn nicht finden; und ich kann niemanden lieben, bevor ich nicht diesen Menschen gefunden habe. Wehe dem, der mich zu einem Menschenhasser gemacht hat! Ich rufe: ›Gebt mir den Menschen, damit ich ihn lieben kann!‹ und man schiebt mir Falalej zu! Werde ich etwa Falalej liebgewinnen? Will ich denn Falalej liebgewinnen? Und endlich: kann ich denn Falalej lieben, selbst wenn ich es wollte? Nein. Warum nicht? Weil er Falalej ist. Warum liebe ich die Menschheit nicht? Weil alles, was auf der Welt lebt, Falalej ist oder etwas ihm Ähnliches. Ich kann Falalej nicht leiden; ich hasse Falalej; ich verabscheue Falalej; ich zertrete Falalej, und wenn ich wählen müßte, so würde ich mich lieber in Beelzebub verlieben als in Falalej! Komm einmal her, komm einmal her, du mein ewiger Peiniger, komm einmal her!« rief er, sich plötzlich an Falalej wendend, der in der harmlosesten Weise, auf den Zehen stehend, von hinten über die Schar hinwegspähte, die sich um Foma Fomitsch herum drängte. »Komm einmal her! Ich werde Ihnen zeigen, Oberst«, rief Foma, indem er den vor Angst fast bewußtlosen Falalej mit der Hand zu sich heranzog, »ich werde Ihnen die Wahrheit dessen, was ich von den steten Verhöhnungen und langen Nasen gesagt habe, beweisen! Sprich, Falalej, und sprich die Wahrheit: wovon hast du heute nacht geträumt? Sie werden die Früchte Ihrer Behandlung sehen, Oberst; Sie werden sie sofort sehen! Nun, Falalej, rede!«

Der arme Bursche, der vor Angst bebte, ließ seinen verzweifelten Blick ringsumgehen, um bei jemand Rettung zu suchen; aber alle zitterten nur und warteten voller Angst auf seine Antwort.

»Nun, Falalej, ich warte!«

Statt zu antworten runzelte Falalej die Stirn, öffnete den Mund und brüllte los wie ein Kalb.

»Oberst! Sehen Sie wohl diese Hartnäckigkeit? Ist die wirklich etwas Natürliches? Zum letzten Mal wende ich mich an dich, Falalej; sprich: wovon hast du heute geträumt?«

»Von . . .«

»Sag, daß du von mir geträumt hast!« flüsterte ihm Bachtschejew zu.

»Von Ihren Tugenden!« flüsterte ihm Jeshewikin in das andere Ohr.

Falalej blickte sich nur nach ihnen um.

»Von . . . von Ihren Tu . . . von dem weißen . . . Ochsen!« brüllte er endlich und vergoß die bittersten Tränen.

Alle stöhnten. Aber Foma Fomitsch hatte eine Anwandlung von ganz besonderer Großmut.

»Wenigstens sehe ich daran deine Aufrichtigkeit, Falalej«, sagte er, »eine Aufrichtigkeit, die ich bei anderen nicht wahrnehme. Ich verzeihe dir. Wenn du mich auf Anstiften anderer mit diesem Traum absichtlich verhöhnst, so wird Gott dich und jene andern dafür zur Rechenschaft ziehen. Wenn das aber nicht der Fall ist, so achte ich deine Aufrichtigkeit; denn ich bin gewohnt, sogar in einem so niedrigen Geschöpf wie dir das Ebenbild Gottes zu erkennen . . . Ich verzeihe dir, Falalej! Meine Kinder, umarmt mich; ich bleibe! . . .«

»Er bleibt!« schrien alle entzückt.

»Ich bleibe und verzeihe. Oberst, belohnen Sie Falalej mit Zucker; er soll an einem solchen Tag der allgemeinen Glückseligkeit nicht weinen.«

Selbstverständlich fand man eine solche Großmut erstaunlich. Eine solche Sorglichkeit, in einem solchen Augenblick, und für wen? Für Falalej! Mein Onkel beeilte sich, den Befehl betreffs des Zuckers zu erfüllen. Sogleich erschien (Gott weiß woher) in Praskowja Iljinitschnas Händen eine silberne Zuckerdose. Mein Onkel nahm mit zitternder Hand zwei Stücke heraus, dann drei, dann ließ er sie hinfallen; schließlich, da er sah, daß er vor Aufregung nicht imstande war, damit zurechtzukommen, rief er:

»Ach was! Zur Feier eines solchen Tages! Halt auf, Falalej!« und schüttete ihm den ganzen Inhalt der Zuckerdose an der Brust in die Hemdbluse.

»Das ist für deine Aufrichtigkeit!« fügte er als moralische Belehrung hinzu..

»Herr Korowkin!« meldete auf einmal Widopljassow, der in der Tür erschien.

Es entstand eine kleine Aufregung. Korowkins Besuch kam offenbar nicht im richtigen Augenblick. Alle blickten den Onkel fragend an.

»Korowkin!« rief der Onkel etwas verlegen. »Natürlich freue ich mich . . .«, fügte er, Foma schüchtern anblickend, hinzu; »aber ich weiß wirklich nicht, ob ich ihn jetzt, in einem solchen Augenblick, empfangen soll. Wie denkst du darüber, Foma?«

»In Gottes Namen!« antwortete Foma huldvoll. »Lassen Sie auch Korowkin hereinkommen; mag auch er an dem allgemeinen Glück teilnehmen!«

Kurz, Foma Fomitsch befand sich in einer geradezu engelgleichen Gemütsstimmung.

»Ich wage ganz ergebenst zu melden«, bemerkte Widopljassow, »daß Herr Korowkin sich nicht in normalem Zustand zu befinden geruht.«

»Nicht in normalem Zustand? Wie? Was faselst du da?« rief der Onkel.

»Jawohl, er befindet sich nicht in nüchternem Geisteszustand . . .«

Aber kaum hatte der Onkel Zeit gehabt, erstaunt den Mund zu öffnen, zu erröten, zu erschrecken und äußerst verlegen zu werden, als auch schon die Lösung des Rätsels erfolgte. In der Tür erschien Herr Korowkin selbst, schob Widopljassow mit der Hand beiseite und stand nun vor der erstaunten Versammlung. Er war ein Herr von ziemlich kleiner Statur, aber stämmig gebaut, etwa vierzig Jahre alt, mit dunklem, schon graumeliertem, kurzgeschorenem Haar, dunkelrotem, rundem Gesicht und kleinen, blutunterlaufenen Augen; er trug eine hohe, härene Krawatte, die hinten mit einer Schnalle geschlossen war, einen stark abgenutzten Frack, an welchem Federchen und Heuhälmchen hingen und welcher unter den Achseln bedeutende Risse aufwies, ein pantalon impossible und eine unglaublich schmierige Mütze, die er in der Hand schwenkte. Dieser Herr war vollständig betrunken. Als er in die Mitte des Zimmers gelangt war, blieb er stehen, schwankte hin und her und machte in seiner Benommenheit mit der Nase hämmernde Bewegungen; dann breitete sich langsam ein Lächeln über sein ganzes Gesicht aus.

»Entschuldigen Sie, meine Herren«, sagte er, »ich . . . hm . . .« (hier knipste er an seinem Rockkragen herum), »ich habe ein bißchen was zu mir genommen!«

Die Generalin nahm sofort die Miene beleidigter Würde an. Foma maß, in seinem Lehnstuhl sitzend, den wunderlichen Gast mit einem spöttischen Blick. Bachtschejew blickte ihn erstaunt an; indes barg sein Erstaunen auch ein gewisses Mitgefühl. Die Verlegenheit meines Onkels war grenzenlos; Korowkins Zustand bereitete ihm die größte Seelenpein.

»Korowkin!« begann er, »hören Sie mal . . .«

»Attendez!« unterbrach ihn dieser. »Ich erlaube mir, mich als ein Kind der Natur vorzustellen . . . Aber was sehe ich? Es sind ja Damen hier . . . Warum hast du mir das nicht gesagt, du Schurke, daß du hier bei dir zu Hause Damen hast?« fügte er hinzu und sah den Onkel mit einem spitzbübischen Lächeln an. »Nun, es tut nichts! Nur keine Bange! . . . Stellen wir uns auch dem schönen Geschlecht vor! . . . Meine reizenden Damen!« begann er, nur mühsam die Zunge bewegend und bei jedem Wort anstoßend, »Sie sehen hier einen Unglücklichen, der . . . na und so weiter . . . Das übrige will ich unausgesprochen lassen . . . Musikanten! Polka!«

»Wollen Sie sich nicht schlafen legen?« fragte Misintschikow, indem er ruhig auf Korowkin zutrat.

»Schlafen legen? Wollen Sie mich beleidigen?«

»Durchaus nicht. Wissen Sie, nach der Fahrt tut das gut . . .«

»Niemals!« antwortete Korowkin entrüstet. »Glauben Sie, daß ich betrunken bin? Nicht die Spur . . . Aber übrigens: Wo kann man hier bei Ihnen schlafen?«

»Kommen Sie nur mit; ich werde Sie gleich hinführen.«

»Wohin? In die Scheune? Nein, lieber Freund, mich betrügen Sie nicht. In einer Scheune habe ich schon die letzte Nacht zugebracht . . . Indessen, führen Sie mich! . . . Warum sollte ich nicht mit einem braven Menschen mitgehen? . . . Ein Kissen ist nicht nötig; wer beim Militär gewesen ist, braucht kein Kissen. Aber Sie könnten mir ein kleines Sofa zurechtmachen, lieber Freund, ein kleines Sofa . . . Und hören Sie«, fügte er, stehenbleibend, hinzu, »Sie sind, wie ich sehe, ein netter junger Mann; geben Sie mir doch . . . hm . . . Sie verstehen? Nur so ein bißchen was zum Trinken, nur so ein bißchen . . . ich meine, nur so ein Gläschen.«

»Schön, schön!« antwortete Misintschikow.

»Schön . . . Aber warten Sie; ich muß mich doch erst empfehlen. Adieu, mesdames und mesdemoiselles! . . . Sie haben mich mit Ihren Blicken sozusagen durchbohrt . . . Na, lassen wir's gut sein! Wir können uns später darüber unterhalten . . . wecken Sie mich nur, wenn es anfängt . . . oder schon fünf Minuten vor dem Anfang . . . aber daß Sie nicht ohne mich anfangen! Hören Sie wohl? Nicht ohne mich anfangen!«

Damit ging der vergnügte Herr hinter Misintschikow her und verschwand.

Alle schwiegen. Das Erstaunen dauerte eine ganze Weile. Endlich begann Foma allmählich, schweigend und unhörbar zu kichern; dieses Gekicher wuchs immer stärker und stärker zu einem wirklichen Lachen heran. Als die Generalin dies sah, wurde sie ebenfalls heiter, obwohl der Ausdruck gekränkter Würde sich immer noch auf ihrem Gesicht hielt. Ein unwillkürliches Gelächter begann sich ringsum zu erheben. Der Onkel stand wie betäubt da, errötete dermaßen, daß ihm fast die Tränen kamen, und war eine Zeitlang nicht imstande, ein Wort vorzubringen.

»Herrgott!« sagte er endlich, »wer konnte das ahnen? Aber freilich . . . freilich kann das einem jeden passieren. Foma, ich versichere dir, daß dies ein überaus ehrenhafter, edler und sogar außerordentlich belesener Mensch ist, Foma . . . du wirst es ja selbst sehen! . . .«

»Das sehe ich, das sehe ich«, erwiderte Foma, ganz atemlos vom Lachen, »ein außerordentlich belesener Mensch, gewiß, sehr belesen!«

»Und wie er von den Eisenbahnen zu sprechen weiß!« bemerkte Jeshewikin halblaut.

»Foma! . . .« rief mein Onkel; aber das allgemeine Gelächter übertönte seine Worte. Foma wollte sich ausschütten vor Lachen. Als mein Onkel das sah, lachte er ebenfalls.

»Na, was ist da weiter zu sagen?« rief er entzückt. »Du bist großmütig, Foma; du hast ein edles Herz; du hast mein Glück begründet . . . du wirst auch diesem Korowkin verzeihen.«

Die einzige, die nicht lachte, war Nastasja. Mit Augen voller Liebe blickte sie ihren Verlobten an und schien sagen zu wollen:

›Was bist du doch für ein prächtiger, gutherziger, edler Mensch, und wie liebe ich dich!‹

VI

Schluß

Fomas Triumph war vollständig und unbestreitbar. In der Tat wäre ohne ihn nichts zustande gekommen, und die vollzogene Tatsache schlug alle Zweifel und Einwände zu Boden. Die Dankbarkeit der Beglückten war grenzenlos. Der Onkel und Nastasja wiesen mich mit heftigen abwehrenden Handbewegungen zurück, als ich auch nur leise anzudeuten versuchte, auf welche Weise Fomas Einwilligung zu ihrer Verlobung erreicht worden war. Alexandra rief: »Der gute, gute Foma Fomitsch! Ich werde ihm ein Kissen mit bunter Wolle sticken!« und sagte sogar zu mir, ich solle mich schämen, so hartherzig zu sein. Der völlig umgewandelte Stepan Alexejewitsch hätte mich, glaube ich, erwürgt, wenn ich auf die Idee gekommen wäre, in seiner Gegenwart etwas Respektloses über Foma Fomitsch zu sagen. Er lief jetzt wie ein Hündchen hinter Foma her, blickte ihn voll Verehrung an und fügte zu jedem Wort desselben hinzu: »Sie sind ein sehr edler Mensch, Foma! Sie sind ein gelehrter Mann, Foma!« Was Jeshewikin anlangt, so befand er sich auf der höchsten Stufe des Entzückens. Der alte Mann hatte schon längst gesehen, daß Nastasja dem guten Jegor Iljitsch den Kopf verdreht hatte, und hatte seitdem im Wachen und im Schlafen nur den einen Gedanken gehabt, wie er ihm seine Tochter zur Frau geben könne. Er hatte an dieser Absicht so lange wie nur irgend möglich festgehalten und erst dann davon Abstand genommen, als es absolut notwendig geworden war; da hatte nun Foma die Sache zustande gebracht; selbstverständlich durchschaute der Alte trotz seines Entzückens Foma Fomitsch vollständig. Kurz, es war klar, daß Foma Fomitsch in diesem Hause für immer zur Herrschaft gelangt war und daß seine Tyrannei nun kein Ende mehr haben werde. Bekanntlich werden selbst die unangenehmsten, launischsten Menschen, wenn man ihre Wünsche erfüllt, wenigstens für einige Zeit sanfter. Aber bei Foma Fomitsch fand das vollständige Gegenteil statt: Bei Erfolgen wurde er immer verdrehter und trug die Nase immer höher.

Kurz vor dem Mittagessen setzte er sich, nachdem er die Wäsche gewechselt und sich umgekleidet hatte, in seinen Lehnstuhl, rief meinen Onkel zu sich und hielt ihm in Gegenwart der ganzen Gesellschaft eine neue Predigt.

»Oberst!« begann er, »Sie wollen eine rechtmäßige Ehe eingehen. Kennen Sie auch wohl die Pflichten . . .«

Und so weiter und so weiter. Man stelle sich eine Rede vor im Umfange von zehn kleingedruckten Seiten im Format des Journal des Débats, eine Rede voll des blühendsten Unsinns, in der nichts von jenen Pflichten vorkam, sondern lediglich in der schamlosesten Weise Foma Fomitschs eigener Verstand, seine Sanftmut, seine Hochherzigkeit, Mannhaftigkeit und Uneigennützigkeit gepriesen wurden. Alle waren hungrig und sehnten sich nach dem Mittagessen; aber trotzdem wagte niemand, Einspruch zu erheben, und alle hörten das ganz dumme Gewäsch andächtig bis zu Ende an; sogar Bachtschejew saß trotz seines quälenden Appetits, ohne sich zu rühren, höchst respektvoll dabei. Nachdem dann Foma Fomitsch endlich von seiner eigenen Beredsamkeit genug hatte, wurde er ganz heiter, trank bei Tisch sogar ziemlich viel und brachte recht ungewöhnliche Toaste aus. Er begann Witze und Neckereien vorzubringen, natürlich auf Kosten, des jungen Paares. Alle lachten darüber und klatschten Beifall. Aber einige dieser Scherze waren dermaßen schlüpfrig und unzweideutig, daß sogar Bachtschejew verlegen wurde. Schließlich sprang Nastasja auf und lief vom Tisch weg. Darüber geriet Foma Fomitsch in unbeschreibliches Entzücken; aber er fand sich sofort in die Situation hinein: In kurzen, aber kräftigen Worten schilderte er Nastasjas treffliche Eigenschaften und brachte einen Toast auf die Gesundheit der Abwesenden aus. Mein Onkel, der noch einen Augenblick vorher höchst verlegen gewesen war und arge Qualen ausgestanden hatte, hätte jetzt Foma Fomitsch gern zum Dank umarmt. Überhaupt schienen der Bräutigam und die Braut sich voreinander zu schämen und die Empfindung zu haben, als verdienten sie so viel Glück gar nicht; und ich hatte bemerkt, daß sie seit der Verlobung noch kein Wort miteinander gesprochen, ja es sogar vermieden hatten, einander anzusehen. Als man vom Tisch aufstand, war mein Onkel plötzlich verschwunden, und niemand wußte, wo er geblieben war. Auf der Suche nach ihm kam ich zufällig auf die Terrasse. Dort saß Foma in einem Lehnstuhl beim Kaffee und erging sich, vom Wein stark angeregt, in geistreichen Reden. Bei ihm waren nur Jeshewikin, Bachtschejew und Misintschikow. Ich blieb da, um zuzuhören.

»Warum«, rief Foma, »warum bin ich bereit, für meine Überzeugungen auf der Stelle den Scheiterhaufen zu besteigen? Und warum ist von Ihnen niemand imstande, das zu tun? Woher kommt das, woher kommt das?«

»Aber daß Sie den Scheiterhaufen besteigen, Foma Fomitsch, wäre doch recht überflüssig!« erwiderte Jeshewikin, um ihn zu verspotten. »Was hätte das für einen Sinn! Erstens tut es weh, und zweitens, wenn Sie verbrannt werden, was bleibt dann von Ihnen übrig?«

»Was übrigbleibt? Edle Asche bleibt übrig. Aber wie können Sie mich verstehen, wie können Sie mich würdigen! Für Sie alle gibt es keine anderen großen Männer als solche wie Cäsar und Alexander von Mazedonien! Aber was hat Ihr Cäsar getan? Wen hat er glücklich gemacht? Was hat Ihr berühmter Alexander von Mazedonien getan? Die ganze Welt erobert? Aber geben Sie mir eine ebensolche Phalanx, dann werde ich sie auch erobern, und Sie werden es ebenfalls können. Aber andrerseits hat er den tugendhaften Clitus getötet, und ich habe keinen tugendhaften Clitus getötet. So ein Gelbschnabel! So eine Kanaille! Mit Ruten hätte man ihn peitschen sollen, aber nicht ihn in der Weltgeschichte preisen . . . und ebenso ist es mit Cäsar!«

»Aber wenigstens gegenüber Cäsar sollten Sie Milde walten lassen, Foma Fomitsch!«

»Ich lasse gegenüber diesem Dummkopf keine Milde walten!« rief Foma.

»Nein, keine Milde!« fiel Stepan Alexejewitsch eifrig ein, der ebenfalls etwas angetrunken war. »Es ist gar kein Grund, da Milde walten zu lassen; die Kerle sind allesamt Faxenmacher; möchten immer nur auf einem Bein herumhüpfen! Die Narren! Da wollte heute einer ein Stipendium stiften. Aber was ist denn das, ein Stipendium? Weiß der Deibel, was das bedeutet! Ich möchte, wetten, daß es irgend so eine neue Gemeinheit ist. Und der andere da vorhin schwatzt in anständiger Gesellschaft Unsinn zusammen und bittet sich ein Glas Rum aus! Meine Ansicht ist: Warum soll man nicht trinken? Trink du nur, trinke; aber dann mach auch eine Pause; nachher kannst du meinetwegen wieder trinken . . . Es ist gar kein Grund, diesen Leuten gegenüber Milde walten zu lassen! Gauner sind sie allesamt! Der einzige Gelehrte sind Sie, Foma!«

Wenn Bachtschejew sich jemandem hingab, dann tat er es auch vollständig, bedingungslos und unter Verzicht auf jede Kritik.

Ich fand meinen Onkel im Garten, am Teich, an einer ganz einsamen Stelle. Nastasja war bei ihm. Als sie mich erblickte, schlüpfte sie ins Gebüsch, wie wenn sie sich schuldig fühlte. Mein Onkel kam mir mit strahlendem Gesicht entgegen; Freudentränen standen in seinen Augen. Er ergriff meine beiden Hände und drückte sie kräftig.

»Mein Freund!« sagte er, »ich kann bis jetzt immer noch nicht recht an mein Glück glauben. Und Nastasja ebensowenig. Wir staunen nur und preisen Gott den Allmächtigen. Jetzt eben hat sie geweint. Kannst du es glauben: Ich bin bis jetzt noch gar nicht recht zur Besinnung gekommen; ich bin ganz unfähig zum Denken; ich glaube es und glaube es auch wieder nicht! Und womit habe ich so viel Glück verdient? Womit? Was habe ich getan? Womit habe ich es verdient?«

»Wenn jemand sein Glück verdient hat, lieber Onkel, so sind Sie es«, erwiderte ich mit warmer Empfindung. »Ich habe noch keinen so ehrenhaften, so prächtigen, so guten Menschen gesehen, wie Sie einer sind.«

»Nein, lieber Sergej, nein, das ist zuviel«, antwortete er mit einer Art von Bedauern. »Das ist eben das Schlimme, daß wir nur dann gut sind (das heißt, ich rede nur von mir), wenn es uns gut geht; geht es uns aber schlecht, dann benehmen wir uns garstig gegen jeden, der uns zu nahe kommt! Davon habe ich soeben mit Nastasja gesprochen. In wie glänzender Gestalt auch Foma vor meinen Augen stand, habe ich doch (kannst du es glauben?) vielleicht bis zum heutigen Tag nicht ganz an ihn geglaubt, obwohl ich dir selbst versicherte, daß er ein idealer Mensch sei; selbst gestern, als er ein solches Geschenk zurückwies, gelangte ich noch nicht zum Glauben! Zu meiner Schande bekenne ich es! Mein Herz erbebt bei der Erinnerung an meine Tat von vorhin! Aber ich war meiner selbst nicht mächtig. Als er vorhin das von Nastasja sagte, da war es mir, als ob mich jemand mit einem Messer gerade ins Herz stäche. Ich verstand nichts mehr und handelte wie ein Tiger . . .«

»Nicht doch, lieber Onkel; das war vielleicht eine ganz natürliche Handlungsweise.«

Mein Onkel machte eine abwehrende Bewegung mit den Armen.

»Nein, nein, lieber Freund, sage das nicht! Das kommt alles einfach von der Verderbtheit meiner Natur her, davon, daß ich ein finsterer, sinnlicher Egoist bin und mich ungehemmt meinen Leidenschaften hingebe. Das sagt auch Foma.« (Was sollte ich darauf erwidern?) »Du weißt nicht, lieber Sergej«, fuhr er mit tiefem Gefühl fort, »wie oft ich gereizt, mitleidslos, ungerecht und hochmütig gewesen bin, und nicht nur gegen Foma. Jetzt ist mir das auf einmal alles wieder eingefallen, und ich schäme mich ordentlich, daß ich bisher noch nichts getan habe, um ein solches Glück zu verdienen. Nastasja hat soeben von sich dasselbe gesagt, obwohl ich wirklich nicht weiß, was sie für Sünden begangen haben könnte; denn sie ist kein Mensch, sie ist ein Engel! Sie sagte zu mir, wir seien ganz gewaltig in Gottes Schuld und müßten uns jetzt bemühen, besser zu werden und lauter gute Werke zu tun . . . Und wenn du gehört hättest, wie schön und mit welcher Wärme sie das alles sagte! O mein Gott, was ist sie für ein Mädchen!«

Er hielt sehr aufgeregt inne. Nach einer kleinen Weile fuhr er fort:

»Wir haben uns vorgenommen, lieber Freund; zu Foma, zu Mama und Tatjana Iwanowna besonders freundlich zu sein. Aber was soll man von Tatjana Iwanowna sagen! Was ist sie für ein edles Wesen! Oh, wie ich mich gegen sie alle vergangen habe! Auch gegen dich habe ich mich vergangen . . . Aber wenn jetzt jemand wagen sollte, Tatjana Iwanowna zu beleidigen, oh, dann . . . Nun, da ist weiter nichts zu sagen! . . . Auch für Misintschikow muß etwas getan werden.«

»Ja, lieber Onkel, ich habe jetzt meine Ansicht über Tatjana Iwanowna geändert. Man muß sie achten und bemitleiden.«

»Gewiß, gewiß!« fiel mein Onkel mit Wärme ein. »Man muß sie achten! Und da ist zum Beispiel dieser Korowkin; du lachst gewiß über ihn«, fügte er, mir schüchtern ins Gesicht blickend, hinzu, »und wir alle haben vorhin über ihn gelacht. Aber das ist vielleicht unverzeihlich . . . Er ist vielleicht der vortrefflichste, beste Mensch, aber das Schicksal . . . er mag viel Unglück durchgemacht haben . . . du glaubst es nicht; aber es ist vielleicht wirklich so.«

»Nicht doch, lieber Onkel, warum sollte ich es nicht glauben?«

Und ich begann mit lebhaftem Eifer davon zu sprechen, daß selbst in einem tief gesunkenen Wesen sich eine Menge der höchsten menschlichen Empfindungen erhalten haben könne; daß die Tiefe der Menschenseele unerforschlich sei; daß man die Gefallenen nicht verachten dürfe, sondern im Gegenteil bemüht sein müsse, sie wieder aufzurichten; daß der allgemein gebräuchliche Maßstab für das Gute und für die Sittlichkeit nicht richtig sei, und so weiter und so weiter; kurz, ich geriet in Begeisterung und erzählte ihm sogar von der naturalistischen Schule; zum Schluß zitierte ich die Verse: »Als aus der grausen Nacht der Fehle« und so weiter.

Mein Onkel war sehr entzückt.

»Mein Freund, mein Freund!« sagte er gerührt, »du verstehst mich vollkommen und hast alles, was ich selbst sagen wollte, noch besser ausgedrückt, als ich es gekonnt hätte. Ja, so ist es, so ist es! O Gott! Warum ist der Mensch so schlecht? Warum bin ich so oft schlecht, während es doch so schön und beglückend ist, gut zu sein? Auch Nastasja hat soeben ganz dasselbe gesagt . . . Aber sieh nur einmal, was das hier für ein herrliches Plätzchen ist!« fügte er, um sich schauend, hinzu. »Was für eine Natur! Was für ein Bild! Dieser Baum! Sieh nur: Ein Mann kann ihn kaum umspannen! Wie saftig, wie dicht belaubt! Welche Sonne! Wie nach dem Gewitter alles ringsum fröhlich geworden ist, sich gewaschen hat! . . . Man möchte meinen, daß auch die Bäume ein eigenes Bewußtsein haben und etwas fühlen und das Leben genießen . . . Ob es nicht wirklich so ist – was? Wie denkst du darüber?«

»Sehr möglich, lieber Onkel. Auf ihre Weise natürlich.«

»Nun ja, natürlich, auf ihre Weise . . . Wunderbarer, wunderbarer Schöpfer! . . . Aber du mußt dich doch noch gut an diesen ganzen Garten erinnern, lieber Sergej: Wie du hier gespielt hast und herumgelaufen bist, als du noch ein kleiner Junge warst! Ich habe es noch ganz gut im Gedächtnis, wie du ein kleiner Junge warst«, fügte er hinzu und sah mich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Liebe und Glückseligkeit an. »Nur an den Teich durftest du nicht allein gehen. Und erinnerst du dich noch: Einmal abends rief dich meine selige Katerina zu sich und streichelte dich. Du warst vorher tüchtig im Garten umhergelaufen und ganz rot und erhitzt; du hattest solche hellen, lockigen Härchen. Sie spielte damit und sagte: ›Du hast gut daran getan, daß du den verwaisten Knaben zu uns ins Haus genommen hast.‹ Erinnerst du dich noch daran?«

»Kaum, lieber Onkel.«

»Es war damals Abend, und die Sohne beschien euch beide so hell, und ich saß in einer Ecke und rauchte eine Pfeife und blickte zu euch hin . . . Ich fahre jeden Monat in die Stadt zu ihrem Grab, lieber Sergej«, fügte er mit leiser, zitternder Stimme hinzu, der man die unterdrückten Tränen anhören konnte. »Ich habe eben mit Nastasja darüber gesprochen; sie sagte, wir würden nun beide zusammen dorthinfahren . . .«

Der Onkel schwieg und suchte seiner Erregung Herr zu werden.

In diesem Augenblick trat Widopljassow zu uns.

»Widopljassow!« rief mein Onkel erschrocken. »Kommst du von Foma Fomitsch?«

»Nein, ich komme mehr in eigener Angelegenheit.«

»Ah, das ist ja schön! Da werden wir etwas über Korowkin hören. Ich wollte schon vorhin nach ihm fragen . . . Ich habe ihm befohlen, lieber Sergej, bei ihm Wache zu halten, bei Korowkin. Nun, wie steht's, Widopljassow?«

»Ich wage zu melden«, sagte Widopljassow, »daß Sie gestern geruhten, in betreff meiner Bitte Erwähnung zu tun und mir Ihren hohen Schutz gegen die täglichen Beleidigungen zu versprechen.«

»Fängst du wirklich wieder von deinem Familiennamen an!« rief mein Onkel erschrocken.

»Was soll ich machen? Die allstündlichen Beleidigungen . . .«

»Ach, Widopljassow, Widopljassow! Was soll ich mit dir anfangen?« rief mein Onkel sehr betrübt. »Was können denn das für Beleidigungen sein, die dir zugefügt werden? Du wirst noch den Verstand verlieren und dein Leben im Irrenhaus beschließen!«

»Ich glaube, daß ich mit meinem Verstand . . .«, begann Widopljassow.

»Na ja, na ja!« unterbrach ihn mein Onkel. »Ich sage das nicht, um dich zu kränken, lieber Freund, sondern in bester Absicht. Nun, was sind denn das für Beleidigungen, die du auszustehen hast? Ich möchte wetten, daß es Lappalien sind.«

»Man läßt mir keine Ruhe.«

»Wer denn?«

»Alle und insonderheit Matrjona. Diese bewirkt, daß mein Leben voll Leid ist. Es ist bekannt, daß alle mit Unterscheidungsgabe ausgestatteten Menschen, die mich noch in meiner frühen Kindheit erblickten, sich dahin geäußert haben, ich sähe ganz wie ein Ausländer aus, vornehmlich was die Gesichtszüge anlangt. Und was geschieht nun, gnädiger Herr? Aus diesem Grunde lassen sie mir jetzt keine Ruhe. Sobald ich vorbeigehe, schreien sie mir sämtlich allerlei dumme Worte nach; sogar die kleinen Kinderlein, denen man vor allen Dingen die Rute geben sollte; auch diese schreien mir nach. So zum Beispiel haben sie auch jetzt, während ich hierher ging, mir nachgeschrien . . . Es ist nicht zu ertragen. Beschirmen Sie mich, gnädiger Herr, mit Ihrem Schutz!«

»Ach, Widopljassow! . . . Na, aber was schreien sie denn eigentlich? Gewiß irgendeine Dummheit, die gar keine Beachtung verdient.«

»Es würde unpassend sein, dies zu sagen.«

»Nun, wie lautet es denn?«

»Es ist ekelhaft, es auszusprechen.«

»So sag es doch!«

»Grigori, der Spanier, trinkt gern Schampahnier.«

»Na, was bist du bloß für ein Mensch! Ich dachte, es wäre wunder was! Spuck doch aus und geh vorbei!«

»Ich habe ausgespuckt; sie schreien nur um so mehr.«

»Hören Sie, lieber Onkel«, sagte ich, »er beklagt sich darüber, daß ihm hier im Hause das Leben zu schwer gemacht wird. Schicken Sie ihn doch für eine Weile nach Moskau zu jenem Schreiblehrer! Sie sagten ja, er habe bei so einem gelebt.«

»Ach, lieber Freund, der hat auch ein tragisches Ende genommen!«

»Wieso?«

»Er hatte das Unglück«, antwortete Widopljassow, »sich fremdes Eigentum anzueignen, wofür er trotz seines hervorragenden Talents in das Gefängnis gesetzt wurde, allwo er unrettbar zugrunde ging.«

»Nun gut, nun gut, Widopljassow. Beruhige dich jetzt; ich werde das alles untersuchen und in Ordnung bringen«, sagte mein Onkel; »das verspreche ich dir! Nun, was macht denn Korowkin? Schläft er?«

»Keineswegs; er hat soeben geruht wegzufahren. Ebendieses zu melden bin ich hergekommen.«

»Wegzufahren? Was redest du da? Warum hast du ihn denn weggelassen?« rief mein Onkel.

»Aus Gutmütigkeit des Herzens; es war kläglich anzuschauen. Sobald er erwacht war und sich an den ganzen Hergang erinnerte, schlug er sich sogleich an den Kopf und schrie aus vollem Halse . . .«

»Aus vollem Halse! . . .«

»Es wird respektvoller sein, wenn ich mich so ausdrücke: er stieß mannigfaltige Schreie aus. Er rief, wie könne er jetzt dem schönen Geschlecht wieder vor die Augen kommen! Und dann fügte er hinzu: ›Ich bin des Menschengeschlechts unwürdig!‹ Und alles redete er so kläglich, in gewählten Ausdrücken.«

»Ein höchst zartfühlender Mensch! Ich habe es dir ja gesagt, Sergej . . . Aber du durftest ihn doch nicht weglassen, Widopljassow, da ich dir ausdrücklich befohlen hatte, auf ihn aufzupassen! Ach mein Gott, mein Gott!«

»Ich habe es mehr aus herzlichem Mitleid getan. Er bat, ich möchte nichts davon sagen. Sein Kutscher hatte die Pferde gefüttert und wieder angespannt. Und für die vor drei Tagen ihm ausgehändigte Summe befahl er seinen ergebensten Dank auszusprechen und zu sagen, daß er die Schuld demnächst mit der Post übersenden werde.«

»Was ist denn das für eine Summe, lieber Onkel?«

»Er nannte fünfundzwanzig Rubel«, sagte Widopljassow.

»Ich habe ihm dieses Geld damals auf der Station geliehen, lieber Freund; er hatte nicht genug bei sich. Natürlich wird er es mir mit der ersten Post zurückschicken . . . Ach mein Gott, wie leid mir das tut! Ob ich ihm nicht jemand nachschicke, um ihn zurückzuholen, lieber Sergej?«

»Nein, lieber Onkel, tun Sie das lieber nicht!«

»Das ist auch meine Meinung. Siehst du, lieber Sergej, ich bin natürlich kein Philosoph; aber ich glaube, daß in jedem Menschen weit mehr Gutes steckt, als es äußerlich scheint. So ist es auch bei Korowkin: Er hat die Beschämung nicht ertragen können . . . Aber wir wollen nun doch zu Foma gehen! Wir sind schon zu lange weggeblieben; er könnte es als Undank und Vernachlässigung auffassen und sich beleidigt fühlen . . . Gehen wir! Ach, Korowkin, Korowkin!«

 


 

Der Roman ist zu Ende. Die Liebenden sind vereint, und der gute Genius hat in Foma Fomitschs Person bedingungslos in diesem Haus die Herrschaft angetreten. Man könnte noch sehr viele damit in Zusammenhang stehende Auseinandersetzungen hinzufügen; aber, genau besehen, sind all diese Auseinandersetzungen jetzt vollständig überflüssig. Das ist wenigstens meine Meinung. Statt aller Auseinandersetzungen werde ich nur noch einige Worte über das weitere Schicksal aller Helden meiner Erzählung sagen; ohne das schließt bekanntlich kein Roman, und die Regeln der Kunst schreiben es sogar vor.

Die Hochzeit der ›Beglückten‹ fand sechs Wochen nach den von mir geschilderten Ereignissen statt. Sie wurde still im Familienkreis ohne besonderen Pomp und ohne überflüssige Gäste gefeiert. Ich war Nastasjas Hochzeitsmarschall, Misintschikow der meines Onkels. Übrigens waren auch einige Gäste da. Aber die erste und wichtigste Person war natürlich Foma Fomitsch. Alle bemühten sich um seine Gunst und trugen ihn auf den Händen. Aber zufälligerweise geschah es, daß er einmal beim Herumreichen des Champagners übergangen wurde. Sofort veranstaltete er eine häßliche Szene mit Vorwürfen, Klagen und Geschrei. Foma lief auf sein Zimmer, schloß sich ein, schrie, daß man ihn verachte, daß jetzt ›neue Gesichter‹ in die Familie eindrängen und er daher ein Nichts sei, nicht mehr als ein Nichts, das man wegwerfe. Der Onkel war verzweifelt; Nastasja weinte; die Generalin bekam wie gewöhnlich Krämpfe. Das Hochzeitsmahl glich einem Leichenschmaus. Und volle sieben Jahre eines solchen Zusammenlebens mit ihrem Wohltäter Foma Fomitsch teilte das Schicksal meinem armen Onkel und der armen Nastasja zu. Bis zu seinem Tod (Foma Fomitsch ist im vorigen Jahre gestorben) war er mürrisch, schmollte, brüstete sich, ärgerte sich und räsonierte; aber die Verehrung, die ihm ›die Beglückten‹ erwiesen, verminderte sich nicht, sondern nahm sogar in demselben Maß wie seine Launen von Tag zu Tag zu. Jegor Iljitsch und Nastasja waren miteinander so glücklich, daß sie sogar für ihr Glück fürchteten; sie glaubten, Gott habe ihnen gar zu viel Gutes gesandt und sie hätten eine solche Gnade nicht verdient, und sie meinten daher, es werde ihnen vielleicht in der Folgezeit beschieden sein, ihr Glück durch Kreuz und Leid bezahlen zu müssen. Es ist begreiflich, daß Foma Fomitsch in dieser demütigen Familie alles tun und lassen konnte, was er nur wollte. Und was tat er nicht alles in diesen sieben Jahren! Man kann sich unmöglich eine Vorstellung davon machen, bis zu welchen zügellosen Phantasien seine übersättigte, müßige Seele sich mitunter in der Erfindung der raffiniertesten lukullischen Launen (in geistiger Hinsicht) verstieg. Drei Jahre nach der Hochzeit meines Onkels starb die Großmutter. Der verwaiste Foma geriet in helle Verzweiflung. Selbst jetzt wird im Haus meines Onkels nur mit Entsetzen von seinem damaligen Zustand erzählt. Als das Grab zugeschüttet wurde, wollte er sich durchaus hineinwerfen und schrie, man solle ihn mit zuschütten. Einen ganzen Monat lang gab man ihm weder ein Messer noch eine Gabel in die Hand, und einmal brachen ihm vier Menschen mit Gewalt den Mund auf, um ihm eine Stecknadel herauszunehmen, die er verschlucken wollte. Einer der unbeteiligten Zeugen dieses Kampfes sprach sich dahin aus, Foma Fomitsch habe diese Nadel während des Kampfes tausendmal verschlucken können, es aber trotzdem nicht getan. Aber diese Bemerkung hörten alle mit entschiedener Entrüstung an und beschuldigten denjenigen, der sie gemacht hatte, sogleich der Hartherzigkeit und Unschicklichkeit. Nur Nastasja schwieg und lächelte ein ganz klein wenig, wobei mein Onkel sie mit einiger Unruhe anblickte. Überhaupt muß bemerkt werden, daß Foma zwar im Haus des Onkels wie früher sich sehr aufspielte und seine Launen herauskehrte, daß aber die früheren despotischen, frechen Strafpredigten, die er sich meinem Onkel gegenüber erlaubt hatte, nicht mehr vorkamen. Foma beklagte sich, weinte, machte Vorwürfe und schalt; aber er schimpfte nicht mehr wie früher; es gab nicht mehr solche Szenen wie anläßlich des Titels Exzellenz, und ich glaube, daß dies Nastasjas Werk war. Sie zwang Foma fast unmerklich, hier und da nachzugeben und in dieses und jenes sich zu fügen. Sie wollte ihren Mann nicht erniedrigt sehen, und sie setzte ihren Willen durch. Foma sah deutlich, daß sie ihn fast ganz durchschaute. Ich sage ›fast‹, weil auch Nastasja Foma verhätschelte und sogar jedesmal ihrem Mann zustimmte, wenn er seinen Weisen enthusiastisch lobte. Sie wollte die andern zwingen, ihren Mann in jeder Hinsicht hochzuachten, und verteidigte daher auch seine Anhänglichkeit an Foma Fomitsch öffentlich. Aber ich bin davon überzeugt, daß ihr goldenes Herz alle früheren Beleidigungen vergessen hatte: Sie hätte Foma alles verziehen, als er sie mit dem Onkel vereinigt hatte, und war außerdem, wie es scheint, ernsthaft und mit ganzem Herzen auf die Idee des Onkels eingegangen, daß man von einem ›Dulder‹ und früheren Spaßmacher nicht viel verlangen dürfe, sondern im Gegenteil versuchen müsse, sein Herz zu heilen. Die arme Nastasja hatte selbst zu den Erniedrigten gehört, hatte selbst viel gelitten und bewahrte das in ihrem Gedächtnis. Nach einem Monat wurde Foma stiller; ja er wurde sogar freundlich und sanft; aber dafür begannen andere, ganz überraschende Anfälle: Er verfiel in eine Art von magnetischem Schlaf, der alle aufs äußerste erschreckte. Der Dulder hatte zum Beispiel irgend etwas gesagt oder gelacht, wurde aber dann in einem Augenblick zu Stein, und zwar in ebenderselben Haltung, in der er sich im letzten Augenblick vor dem Anfall befunden hatte; wenn er zum Beispiel gelacht hatte, so verblieb das Lächeln auf seinen Lippen; wenn er etwas in der Hand gehalten hatte, zum Beispiel eine Gabel, so blieb die Gabel in der erhobenen Hand, in der Luft. Dann sank seine Hand selbstverständlich herab; aber Foma Fomitsch fühlte nichts mehr und hatte keine Erinnerung daran, wie sie herabgesunken war. Er saß da, starrte vor sich hin, blinzelte sogar mit den Augen, sprach aber nichts, hörte nichts und verstand nichts. Dieser Zustand dauerte manchmal eine ganze Stunde. Natürlich waren alle im Haus halbtot vor Angst, hielten den Atem an, gingen auf den Fußspitzen und weinten. Endlich wachte Foma wieder auf; er fühlte dann eine furchtbare Mattigkeit und versicherte, er habe während dieser ganzen Zeit nicht das geringste gehört und gesehen. Es war erstaunlich, daß sich dieser Mensch dazu hergab, solche Faxen zu machen und stundenlang freiwillig Qualen zu erdulden, einzig und allein, um dann sagen zu können: »Seht mich an; ich habe auch ein höheres Gefühlsleben als ihr!« Schließlich verfluchte Foma Fomitsch einmal den Onkel ›wegen seiner allstündlichen Beleidigungen und Respektsverletzungen‹ und zog zu Herrn Bachtschejew, um nun bei diesem zu wohnen. Stepan Alexejewitsch, der nach der Hochzeit des Onkels sich noch oftmals mit Foma Fomitsch gezankt, ihn aber immer schließlich selbst um Verzeihung gebeten hatte, ging diesmal mit ungewöhnlichem Eifer ans Werk: Er empfing Foma enthusiastisch, fütterte ihn bis zum Platzen und beschloß sofort, formell mit dem Onkel zu brechen und sogar eine Klage gegen ihn einzureichen. Sie hatten da irgendwo ein strittiges Stückchen Land, um das sie übrigens niemals eigentlich gestritten hatten, da mein Onkel es Herrn Bachtschejew ohne jeden Streit vollständig überlassen hatte. Ohne jemandem ein Wort zu sagen, ließ Herr Bachtschejew seine Kutsche anspannen, jagte in die Stadt, sudelte dort eine Klageschrift hin und reichte sie ein; er bat darin das Gericht, ihm das betreffende Stück Land in förmlicher Weise zuzusprechen, unter Ersatz der Gerichtskosten und sonstiger Einbußen, und auf diese Weise die Räuberei und Eigenmächtigkeit zu bestrafen. Unterdessen war es Foma gleich am zweiten Tag bei Herrn Bachtschejew langweilig geworden; daher verzieh er dem Onkel, der ihm nachgefahren kam und seine Schuld eingestand, huldvoll und kehrte mit ihm wieder nach Stepantschikowo zurück. Herrn Bachtschejews Zorn, als er aus der Stadt zurückkehrte und Foma nicht mehr vorfand, war furchtbar; aber drei Tage darauf erschien er in Stepantschikowo, bekannte sein Vergehen, bat meinen Onkel unter Tränen um Verzeihung und zog seine Klage zurück. Der Onkel versöhnte ihn gleich am selben Tag mit Foma Fomitsch, und Stepan Alexejewitsch lief wieder wie ein Hündchen hinter Foma her und sagte wie früher nach jedem Wort desselben: »Sie sind ein kluger Mensch, Foma! Sie sind ein gelehrter Mann, Foma!«

Foma Fomitsch liegt jetzt im Grab, neben der Generalin; über ihm erhebt sich ein kostbares Denkmal von weißem Marmor, ganz mit Ausdrücken der Trauer und mit Lobpreisungen bedeckt. Manchmal gehen Jegor Iljitsch und Nastasja auf einem Spaziergang pietätvoll zum Kirchhof, um an Fomas Grab zu beten. Noch jetzt können sie von ihm nicht ohne tiefe Empfindung reden; sie erinnern sich an jedes Wort von ihm, an seine Lieblingsgerichte, an alles, was er gern hatte. Seine Sachen werden wie ein kostbarer Schatz aufbewahrt. Da sie sich nun völlig verwaist fühlten, schlossen sich mein Onkel und Nastasja noch enger aneinander an. Kinder hat ihnen Gott nicht gegeben; sie grämen sich sehr darüber, wagen aber nicht zu murren. Alexandra hat schon vor längerer Zeit einen netten jungen Mann geheiratet. Ilja studiert in Moskau. So leben denn der Onkel und Nastasja ganz allein und können sich aneinander gar nicht satt sehen. Die Art, wie sie einer für den andern sorgen, ist beinahe krankhaft geworden. Nastasja betet fortwährend für ihren Mann. Wenn einer von ihnen zuerst stirbt, so wird ihn, glaube ich, der andere keine Woche überleben. Aber möge Gott ihnen ein langes Leben schenken! Jeden Gast, der zu ihnen kommt, empfangen sie voller Freude und teilen bereitwillig mit sämtlichen Unglücklichen alles, was sie haben. Nastasja liest gern die Lebensbeschreibungen der Heiligen und sagt ganz zerknirscht, die gewöhnlichen guten Werke seien nicht ausreichend; man müsse alles den Bedürftigen geben und in seiner Armut glücklich sein. Wenn sie nicht für Ilja und Alexandra zu sorgen hätten, so würde der Onkel das auch längst getan haben; denn er ist in allen Stücken mit seiner Frau vollständig einer Meinung. Bei ihnen lebt Praskowja Iljinitschna und tut ihnen mit Freuden alles zu Gefallen; sie führt ihnen auch die Wirtschaft. Herr Bachtschejew machte ihr bald nach der Hochzeit des Onkels einen Heiratsantrag; aber sie lehnte denselben rundweg ab. Man schloß daraus, daß sie ins Kloster gehen wolle; aber auch das tat sie nicht. In ihrem Wesen liegt eine merkwürdige Eigenheit: sich vor denen, die sie liebhat, ganz klein zu machen, fortwährend die eigene Persönlichkeit gegen sie ganz zurücktreten zu lassen, ihnen jeden Wunsch an den Augen abzusehen, sich all ihren Launen unterzuordnen, sie zu hegen und zu pflegen und ihnen zu dienen. Jetzt nach dem Tod der Generalin, ihrer Mutter, hält sie es für ihre Pflicht, bei ihrem Bruder zu bleiben und ihrer Schwägerin Nastasja in allem behilflich zu sein. Der alte Jeshewikin lebt noch und hat in der letzten Zeit angefangen, seine Tochter immer häufiger zu besuchen. Anfangs brachte er meinen Onkel dadurch zur Verzweiflung, daß er sich und seine kleine Bande (so nannte er seine Kinder) von Stepantschikowo beinahe vollständig fernhielt. Alle Aufforderungen des Onkels zum Kommen blieben bei ihm wirkungslos: Er war nicht so sehr stolz als empfindlich und mißtrauisch. Dieses Mißtrauen entsprang aus seinem Ehrgefühl, ging aber manchmal denn doch zu weit. Der Gedanke, man empfange ihn, den armen Kerl, in dem reichen Haus vielleicht nur aus Mitleid und empfinde seine Besuche als eine Belästigung und Zudringlichkeit, dieser Gedanke quälte ihn furchtbar; er lehnte mitunter sogar Nastasjas Beihilfe ab und nahm nur das Notwendigste an. Von meinem Onkel aber wollte er absolut nichts annehmen. Nastasja hatte sich sehr geirrt, als sie mir damals im Garten über ihren Vater gesagt hatte, er mache sich nur um ihretwillen zum Hanswurst. Allerdings hegte er damals den heißen Wunsch, Nastasja mit meinem Onkel zu verheiraten; aber die Rolle des Hanswurstes spielte er einfach aus innerem Bedürfnis, um dem in ihm angesammelten Grimm Luft zu machen. Das Bedürfnis zu spotten und zu sticheln steckte ihm im Blut. So maskierte er sich denn als den gemeinsten, kriecherischsten Schmeichler, zeigte aber zugleich deutlich, daß er es nur zum Schein tue, und je unterwürfiger seine Schmeichelei klang, um so bissiger und offener schaute der Spott dabei heraus. Das war nun einmal so seine Art. Es gelang den beiden Eheleuten, alle Kinder Jeshewikins in den besten Moskauer und Petersburger Unterrichtsanstalten unterzubringen, aber das auch erst, als Nastasja ihm klar nachwies, daß das alles auf ihre eigene Kosten geschah, das heißt von ihren eigenen dreißigtausend Rubeln, die ihr Tatjana Iwanowna geschenkt hatte: Diese dreißigtausend Rubel hatte Nastasja allerdings niemals von Tatjana Iwanowna angenommen; aber damit diese nicht traurig werde und sich nicht gekränkt fühle, hatte sie sie durch das Versprechen versöhnt, sobald ihre Familie unerwartet in Not käme, an ihre Hilfsbereitschaft zu appellieren. Das tat sie denn auch: Sie nahm, um sie zu beruhigen, bei ihr zu verschiedenen Zeiten zwei ziemlich beträchtliche Darlehen auf. Aber Tatjana Iwanowna starb vor drei Jahren, und Nastasja erhielt nun doch ihre dreißigtausend Rubel. Der Tod der armen Tatjana Iwanowna kam ganz unerwartet. Die ganze Familie machte sich fertig, um zu einem benachbarten Gutsbesitzer zum Ball zu fahren, und eben hatte Tatjana Iwanowna ihr Ballkleid angezogen und einen entzückenden Kranz von weißen Rosen auf den Kopf gesetzt, als sie auf einmal ein Unwohlsein verspürte, sich in einen Lehnstuhl setzte und starb. Mit diesem Kranze wurde sie denn auch beerdigt. Nastasja war verzweifelt. Tatjana Iwanowna war im Hause gehätschelt und gehegt und gepflegt worden wie ein kleines Kind. Sie setzte alle durch die Klugheit ihres Testamentes in Erstaunen; abgesehen von Nastasjas dreißigtausend Rubeln hatte sie alles übrige, gegen dreihunderttausend Rubel, zur Erziehung armer Waisenmädchen und zur Gewährung einer pekuniären Beihilfe an dieselben beim Verlassen der Unterrichtsanstalten bestimmt. In dem Jahr, in dem Tatjana Iwanowna starb, verheiratete sich auch Fräulein Perepelizyna, die nach dem Tod der Generalin bei meinem Onkel geblieben war, in der Hoffnung, sich bei Tatjana Iwanowna einzuschmeicheln. Unterdessen war nämlich der Besitzer des Dorfes Mischino Witwer geworden, ebenjenes kleinen Dorfes, in dem wir als Tatjana Iwanownas Beschützer die häßliche Szene mit Obnoskin und seiner Mutter gehabt hatten. Dieser Gutsbesitzer und ehemalige Beamte war ein schrecklicher Ränkeschmied und hatte von seiner ersten Frau sechs Kinder. Da er bei Fräulein Perepelizyna Geld vermutete, so machte er sich mit seiner Bewerbung an sie heran, und sie ging sofort darauf ein. Aber Fräulein Perepelizyna war arm wie eine Kirchenmaus; sie besaß nur dreihundert Rubel, und auch diese hatte ihr erst Nastasja zur Hochzeit geschenkt. Jetzt zanken sich Mann und Frau vom Morgen bis zum Abend miteinander. Sie reißt seine Kinder an den Haaren und versetzt ihnen Kopfnüsse; auch ihm zerkratzt sie das Gesicht (wenigstens wird das behauptet) und reibt ihm alle Augenblicke ihre Abstammung von einem Oberstleutnant unter die Nase. Auch Misintschikow ist in geordnete Verhältnisse gelangt. Er warf verständigerweise alle seine Hoffnungen auf Tatjana Iwanowna über Bord und fing an, die Landwirtschaft zu erlernen. Mein Onkel empfahl ihn einem reichen Grafen, der achtzig Werst von Stepantschikowo entfernt Besitzungen mit dreitausend Seelen hatte, sie aber nur selten besuchte. Da der Graf bei Misintschikow gute Fähigkeiten wahrnahm und der Empfehlung Vertrauen schenkte, so bot er ihm die Stelle eines Verwalters seiner Güter an; er hatte nämlich seinen früheren Verwalter, einen Deutschen, weggejagt, der trotz der vielgepriesenen deutschen Ehrlichkeit seinen Grafen ganz gehörig bestohlen hatte. Nach fünf Jahren waren die Güter nicht mehr wiederzuerkennen: Die Bauern waren wohlhabend geworden; es war eine geordnete Rechnungsführung eingerichtet worden, wovon vorher gar keine Rede gewesen war; die Einnahmen hatten sich beinahe verdoppelt – kurz, der neue Verwalter erwies sich als ganz vorzüglich, und der Ruf seiner Tüchtigkeit erscholl durch das ganze Gouvernement. Wie groß aber war das Erstaunen und die Betrübnis des Grafen, als Misintschikow nach genau fünf Jahren trotz aller Bitten und aller angebotenen Gehaltserhöhungen seine Stelle mit aller Entschiedenheit aufgab und in den Ruhestand trat! Der Graf glaubte, daß einer der benachbarten Gutsbesitzer oder auch einer aus einem andern Gouvernement ihm seinen guten Verwalter abspenstig gemacht hätte. Aber wie wunderten sich alle, als auf einmal, zwei Monate nach dem Aufgeben seiner Stelle, Iwan Iwanowitsch Misintschikow sich als Besitzer eines sehr schönen Gutes von hundert Seelen, vierzig Werst von den gräflichen Besitzungen entfernt, entpuppte, das er einem gar zu flott lebenden Husaren, einem früheren Freund, abgekauft hatte! Auf diese hundert Seelen nahm er sogleich eine Hypothek auf, und ein Jahr darauf besaß er noch weitere sechzig Seelen in der Nachbarschaft. Jetzt ist er selbst ein ordentlicher Gutsbesitzer, und seine Wirtschaft befindet sich in musterhaftem Zustand. Alle Leute wundern sich, wo er auf einmal das Geld herbekommen hat. Manche aber schütteln nur den Kopf. Aber Iwan Iwanowitsch fühlt sich durchaus ruhig und ist der Ansicht, daß er nichts Unrechtes getan hat. Er hat seine Schwester aus Moskau zu sich kommen lassen, ebendieselbe, die ihm ihre letzten drei Rubel zu Stiefeln gab, als er nach Stepantschikowo wanderte; sie ist ein sehr nettes Mädchen, schon über die erste Jugend hinaus, von sanftem Charakter, liebevoll, gebildet, aber außerordentlich verschüchtert. Sie hat die ganze Zeit her irgendwo in Moskau als Gesellschafterin bei einer ›Wohltäterin‹ ein Unterkommen gehabt; jetzt aber widmet sie demütig ihrem Bruder ihre Dienste, führt in seinem Haus die Wirtschaft, hält seinen Willen für ein Gesetz und fühlt sich vollkommen glücklich. Ihr Bruder verwöhnt sie nicht und hält sie sogar etwas kurz; aber sie bemerkt das gar nicht. In Stepantschikowo liebt man sie sehr, und es heißt, Herr Bachtschejew sei ihr gegenüber nicht gleichgültig. Er würde ihr auch wohl einen Antrag machen, fürchtet sich aber vor einem Korb. Übrigens hoffe ich, daß ich über Herrn Bachtschejew noch ein andermal werde sprechen können, in einer anderen Erzählung und dann ausführlicher.

Das sind ja dann wohl alle unsere Personen! . . . Nein, das hatte ich vergessen: Gawrila ist sehr gealtert und hat sein Französisch vollständig verlernt. Aus Falalej ist ein tüchtiger Kutscher geworden; der arme Widopljassow aber ist schon vor längerer Zeit ins Irrenhaus gekommen und, wie ich glaube, dort gestorben. Dieser Tage werde ich nach Stepantschikowo fahren und mich dann jedenfalls bei meinem Onkel nach ihm erkundigen.

 


 


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