Dostojewski
Der Spieler
Dostojewski

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Zehntes Kapitel

In den Badeorten (und, wie es scheint, auch im ganzen übrigen westlichen Europa) lassen sich die Hoteliers und Oberkellner, wenn sie den Gästen ihr Logis anweisen, nicht sowohl von deren Forderungen und Wünschen leiten, als vielmehr von ihrem eigenen persönlichen Urteil über sie, und man muß zugeben, daß sie dabei nur selten Irrtümer begehen. Aber der Tante war (warum eigentlich?) ein so großartiges Quartier angewiesen, daß sie denn doch überschätzt war: vier prachtvoll möblierte Zimmer, nebst einem Badezimmer, den erforderlichen Räumlichkeiten für die Dienerschaft, einem besonderen Zimmerchen für die Zofe usw. usw. In diesen Zimmern hatte tatsächlich eine Woche vorher eine Großherzogin logiert, was denn auch natürlich den neuen Bewohnern sofort mitgeteilt wurde, um damit eine weitere Erhöhung des an sich schon hohen Wohnungspreises zu rechtfertigen. Die Tante wurde in allen Zimmern umhergetragen oder, richtiger gesagt, in ihrem Rollstuhl umhergefahren und unterzog sie einer aufmerksamen, strengen Musterung. Der Oberkellner, ein schon bejahrter Mann mit kahlem Kopf, begleitete sie respektvoll bei dieser ersten Besichtigung.

Wofür eigentlich alle die Tante hielten, weiß ich nicht genau; aber anscheinend taxierte man sie für eine sehr vornehme Persönlichkeit und, was die Hauptsache war, für außerordentlich reich. In das Fremdenbuch wurde sogleich eingetragen: Madame la générale princesse de Tarassevitcheva, obwohl die Tante ganz und gar keine Fürstin war.

Die eigene Dienerschaft, das besondere Abteil auf der Eisenbahn, die Unmenge unnötiger Koffer, Schachteln und Kisten, die sie mit sich führte, hatten für diese Wertschätzung wahrscheinlich den Grund gelegt; und der Lehnstuhl, der entschiedene Ton, die scharfe Stimme der alten Dame und die absonderlichen Fragen, die sie in der ungeniertesten, keinen Widerspruch duldenden Weise stellte, kurz, ihr ganzes Wesen, rücksichtslos, scharf, gebieterisch, steigerte die allgemeine Hochachtung vor ihr noch um ein Beträchtliches.

Bei der Besichtigung ließ die Tante ein paarmal den Rollstuhl plötzlich anhalten, zeigte auf ein oder das andere Stück des Meublements und wandte sich mit unerwarteten Fragen an den respektvoll lächelnden, aber bereits etwas ängstlich werdenden Oberkellner. Sie stellte ihre Fragen auf französisch, das sie aber ziemlich schlecht sprach, so daß ich es meistens erst noch übersetzen mußte. Die Antworten des Oberkellners mißfielen ihr größtenteils und schienen ihr unbefriedigend. Aber sie fragte auch fortwährend nach Gott weiß was für Dingen. So machte sie zum Beispiel auf einmal vor einem Gemälde halt, einer ziemlich schwachen Kopie irgendeines bekannten Originals, das ein Wesen der Mythologie darstellte.

»Wessen Porträt ist das?«

Der Oberkellner erwiderte, es werde wohl eine Gräfin sein.

»Wie kommt es, daß du das nicht weißt? Wohnst hier und weißt das nicht! Wozu ist das Bild überhaupt hier? Und warum schielen auf ihm die Augen so?«

Auf all diese Fragen war der Oberkellner nicht imstande, befriedigend zu antworten und wurde ganz verlegen.

»So ein Tölpel!« rief die alte Tante auf russisch.

Sie wurde weitergefahren. Dieselbe Geschichte wiederholte sich bei einer kleinen Meißner Porzellanfigur, die die Alte lange betrachtete und dann (niemand wußte, warum) fortzuschaffen befahl. Endlich brachte sie den Oberkellner mit der Frage in Bedrängnis, was die Teppiche im Schlafzimmer gekostet hätten, und wo sie gewebt seien. Der Oberkellner versprach, sich danach zu erkundigen.

»Was sind das hier für Esel!« brummte die Tante und richtete nun ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Bett.

»So ein luxuriöser Baldachin! Schlagt mal den Vorhang zurück!« Der Bettvorhang wurde zurückgeschlagen.

»Noch weiter, noch weiter, schlagt ihn ganz zurück! Nehmt die Kissen weg, das Laken; hebt das Federbett in die Höhe!« Alles wurde umgewälzt. Die Tante schaute aufmerksam hin.

»Gut, daß keine Wanzen da sind. Weg mit der ganzen Bettwäsche! Das Bett soll mit meinen eigenen Kissen und mit meiner eigenen Bettwäsche zurechtgemacht werden. Aber all das ist viel zu luxuriös; wozu brauche ich alte Frau eine solche Wohnung? Da langweile ich mich nur darin, wenn ich allein bin. Alexej Iwanowitsch, komm recht oft zu mir, wenn du mit dem Unterricht der Kinder fertig bist!«

»Ich bin seit gestern nicht mehr in Stellung beim General«, antwortete ich. »Ich wohne im Hotel als ganz selbständiger Gast.«

»Woher ist denn das gekommen?«

»Es ist hier neulich ein vornehmer deutscher Baron mit seiner Gemahlin, der Baronin, aus Berlin angekommen. Ich redete die beiden gestern auf der Promenade deutsch an, ohne mich an die Berliner Aussprache zu halten.«

»Nun, und was weiter?«

»Er hielt das für eine Frechheit und beschwerte sich beim General, und der General entließ mich gestern aus meiner Stellung.«

»Du hast ihn wohl beschimpft, den Baron, nicht wahr? Aber wenn du das auch getan hättest, so schadete es nichts!«

»O nein, das habe ich nicht getan. Im Gegenteil, der Baron hat den Stock gegen mich erhoben.«

»Und du, schlapper Kerl, hast es geduldet, daß jemand deinen Hauslehrer so behandelt?« wandte sie sich brüsk an den General, »und hast ihn obendrein aus dem Dienst gejagt? Schlafmützen seid ihr hier, lauter Schlafmützen, das sehe ich schon.«

»Regen Sie sich nicht auf, liebe Tante«, erwiderte der General mit einer halb hochmütigen, halb familiären Tonfärbung; »ich weiß schon allein in meinen Angelegenheiten das Richtige zu treffen. Außerdem hat Alexej Iwanowitsch Ihnen die Sache nicht ganz zutreffend dargestellt.«

»Und du hast dir das gefallen lassen?« wandte sie sich zu mir.

»Ich wollte den Baron zum Duell fordern«, erwiderte ich möglichst bescheiden und ruhig. »Aber der General widersetzte sich meinem Vorhaben.«

»Warum hast du dich denn dem widersetzt?« wandte sich die Alte wieder zum General. »Du, mein Freundchen«, redete sie, zum Oberkellner gewendet, weiter, »kannst jetzt weggehen und brauchst erst wiederzukommen, wenn du gerufen wirst. Es hat keinen Zweck, daß du hier stehst und den Mund aufsperrst. Ich kann diese Puppenfratze nicht ausstehen!« Der Oberkellner verbeugte sich und ging, natürlich ohne das Kompliment, das ihm die Alte gemacht hatte, verstanden zu haben.

»Aber ich bitte Sie, liebe Tante, sind denn Duelle zulässig?« erwiderte der General lächelnd.

»Warum sollen sie nicht zulässig sein? Alle Männer sind Kampfhähne; da mögen sie miteinander kämpfen. Aber ihr seid hier alle Schlafmützen, wie ich sehe, und versteht nicht für die Ehre eures Vaterlandes einzutreten. Na, nun hebt mich auf! Potapytsch, sorge dafür, daß immer zwei Dienstmänner bereit sind; engagiere sie und mache mit ihnen alles ab! Mehr als zwei sind nicht nötig. Zu tragen brauchen sie mich nur auf den Treppen; wo es eben ist, auf der Straße, müssen sie mich schieben; das setze ihnen auseinander! Und bezahle ihnen ihr Geld im voraus; dann sind solche Leute respektvoller. Du selbst bleibe immer um mich, und du, Alexej Iwanowitsch, zeige mir doch diesen Baron auf der Promenade; ich möchte mir diesen ›Herrn Baron von‹ doch wenigstens einmal ansehen. Nun also, wo ist denn dieses Roulett?«

Ich berichtete ihr, das Roulett sei im Kurhaus untergebracht, in den dortigen Sälen. Nun folgten weitere Fragen: ob viele Roulettspiele da seien, ob viele Leute spielten, ob den ganzen Tag über gespielt werde, wie das Spiel eingerichtet sei. Ich antwortete schließlich, das beste wäre, es mit eigenen Augen anzusehen; denn es bloß so zu beschreiben sei eine recht schwere Aufgabe.

»Na gut, dann schafft mich geradewegs dorthin! Geh voran, Alexej Iwanowitsch!«

»Wie, liebe Tante! Wollen Sie sich denn wirklich nicht einmal erst von der Reise erholen?« fragte der General sorglich. Er war in eine gewisse Unruhe geraten, und auch die andern waren alle einigermaßen verlegen geworden und wechselten Blicke miteinander. Wahrscheinlich genierten sie sich ein bißchen oder schämten sich sogar, die alte Tante geradeswegs nach dem Kurhaus zu begleiten, wo sie selbstverständlich irgendwelche Wunderlichkeiten begehen konnte, und zwar, was das Schlimmste war, in aller Öffentlichkeit. Indes erboten sich trotzdem alle, sie dorthin zu begleiten.

»Wozu brauche ich mich erst noch zu erholen? Ich bin nicht müde; ich habe ohnehin fünf Tage lang gesessen. Und dann wollen wir uns ansehen, was es hier für Brunnen und Heilquellen gibt, und wo sie sind. Und dann . . . dann wollen wir nach dem Aussichtspunkt, von dem du sagtest, Praskowja, Und was gibt es hier sonst noch zu sehen?«

»Da ist noch vielerlei, Großmütterchen«, erwiderte Polina, die sich nicht gleich zu helfen wußte.

»Na, du weißt es wohl selbst nicht. Maria, du kommst auch mit mir mit«, sagte sie zu ihrer Zofe.

»Aber wozu soll denn die mitkommen, liebe Tante?« wandte der General beunruhigt ein. »Es wird auch gar nicht gehen; auch Potapytsch wird schwerlich in das Kurhaus hereingelassen werden.«

»Ach, dummes Zeug! Bloß weil sie eine Dienerin ist, sollte ich mich nicht um sie kümmern? Sie ist ja doch auch ein lebendiger Mensch; nun haben wir schon eine Woche auf der Bahn gesessen, da wird sie auch Lust haben, etwas zu sehen. Und mit wem soll sie ausgehen als mit mir? Allein würde sie ja nicht wagen, auch nur die Nase auf die Straße zu stecken.«

»Aber, Großmütterchen . . .«

»Schämst du dich etwa, mit mir zu gehen? Dann bleib doch zu Hause; es bittet dich ja niemand mitzukommen. Nun seh einer so einen vornehmen General! Aber ich bin ja auch selbst eine Frau Generalin. Und was hat das überhaupt für einen Zweck, wenn ihr alle hinter mir herzieht? Das ist ja eine ordentliche Schleppe! Ich kann mir auch mit Alexej Iwanowitsch allein alles besehen . . .«

Aber de Grieux bestand energisch darauf, daß alle sie begleiten müßten, und erging sich in den liebenswürdigsten Redewendungen über das Vergnügen, mit ihr gehen zu dürfen usw. So setzten sich denn alle in Bewegung.

»Elle est tombée en enfance«, sagte de Grieux noch einmal, wie vorher zu mir, so jetzt leise zum General; »seule, elle fera des bêtises . . .« Was er weiter sagte, konnte ich nicht verstehen; aber offenbar hatte er irgendwelche Absichten, und vielleicht waren bei ihm auch schon wieder Hoffnungen rege geworden.

Bis zum Kurhaus waren etwa neunhundert Schritt. Unser Weg ging durch die Kastanienallee zu einem viereckigen Platz mit Anlagen; um diesen mußte man herumgehen und trat dann unmittelbar ins Kurhaus. Der General hatte sich etwas beruhigt, weil unser Aufzug, wiewohl er ziemlich auffällig war, doch in Ordnung und mit Anstand vonstatten ging. Und es war ja auch nichts Verwunderliches an dem Umstand, daß eine kranke, schwache Person, die nicht gehen konnte, sich in diesem Kurort eingefunden hatte. Aber augenscheinlich fürchtete der General den Eindruck, den unser Erscheinen in den Spielsälen machen mußte. Was hat ein kranker Mensch, der nicht gehen kann, und noch dazu eine alte Dame, beim Roulett zu suchen? Polina und Mademoiselle Blanche gingen jede an einer Seite des Rollstuhls. Mademoiselle Blanche lachte, zeigte eine bescheidene Heiterkeit und scherzte sogar mitunter in liebenswürdigster Weise mit der Tante, so daß diese sie schließlich lobte. Polina, die auf der andern Seite ging, mußte auf die zahllosen Fragen antworten, die die Tante alle Augenblicke an sie richtete, Fragen von dieser Art: »Wer war das, der da eben vorbeiging? Was fuhr da für eine Dame? Ist die Stadt groß? Ist der Park groß? Was sind das für Bäume? Was sind das für Berge? Fliegen da Adler? Was ist das für ein komisches Dach?« Mister Astley ging neben mir und flüsterte mir zu, er erwarte von diesem Vormittag vieles. Potapytsch und Marfa gingen unmittelbar hinter dem Rollstuhl, Potapytsch in seinem Frack und mit seiner weißen Krawatte, aber jetzt mit einer Schirmmütze, Marfa, ein etwa vierzigjähriges Mädchen mit frischem Teint, aber bereits ergrauendem Haar, in einem Kattunkleid, mit einem Häubchen und mit derbledernen, knarrenden Schuhen. Die Tante drehte sich sehr häufig zu ihnen um und sprach mit ihnen. De Grieux, der mit dem General redete, zeigte eine energische Miene; vielleicht sprach er ihm Mut zu, und augenscheinlich erteilte er ihm Ratschläge. Aber die Tante hatte vorhin bereits das fatale Wort gesprochen: »Geld werde ich dir nicht geben.« Möglicherweise meinte de Grieux, diese Ankündigung sei wohl nicht so ernst gemeint; aber der General kannte sein liebes Tantchen. Ich beobachtete, daß de Grieux und Mademoiselle Blanche fortfuhren, miteinander verstohlene Blicke zu wechseln. Den Fürsten und den deutschen Reisenden bemerkte ich ganz hinten am Ende der Allee; sie waren zurückgeblieben und bogen nun, um sich von uns zu trennen, seitwärts ab.

Das Kurhaus betraten wir wie ein Triumphzug. Der Portier und die Diener legten dieselbe respektvolle Ehrerbietung an den Tag wie die Hoteldienerschaft, betrachteten uns aber dabei doch mit einer gewissen Neugier. Die Tante ließ sich zunächst durch alle Säle fahren; manches lobte sie, gegen andres blieb sie völlig gleichgültig; nach allem fragte sie. Endlich gelangten wir auch zu den Spielsälen. Der Diener, der als Schildwache an der geschlossenen Tür stand, schlug, höchlichst überrascht, schnell beide Türflügel weit zurück.

Das Erscheinen der Tante beim Roulett machte einen starken Eindruck auf das Publikum. Um die Roulettische und den Tisch mit Trente-et-quarante, der am anderen Ende des Saales aufgestellt war, drängten sich vielleicht hundertfünfzig bis zweihundert Spieler in mehreren Reihen hintereinander. Diejenigen, denen es gelungen war, sich bis unmittelbar an einen Tisch durchzudrängen, behaupteten ihre Plätze wie gewöhnlich mit zäher Energie und gaben sie nicht früher auf, als bis sie alles verspielt hatten; denn nur so als bloße Zuschauer dazustehen und nutzlos einen Platz innezuhaben, an dem gespielt werden konnte, war nicht gestattet. Wiewohl um den Tisch herum Stühle aufgestellt sind, setzen sich doch nur wenige Spieler hin, besonders bei starkem Andrang des Publikums. Denn im Stehen nimmt man weniger Raum ein und kann darum leichter einen Platz ergattern; auch seine Einsätze macht man mit mehr Bequemlichkeit, wenn man steht. Gegen die erste Reihe drückte von hinten eine zweite und dritte, in der die Menschen darauf lauerten, wann sie selbst darankommen würden; aber mitunter schob sich aus der zweiten Reihe ungeduldig eine Hand durch die erste hindurch, um einen Einsatz zu machen. Sogar aus der dritten Reihe praktizierte ein oder der andere auf diese Weise mit besonderer Geschicklichkeit seinen Einsatz auf den Tisch; die Folge davon war, daß keine zehn oder auch nur fünf Minuten vergingen, ohne daß es an einem der Tische zu Skandalszenen wegen strittiger Einsätze gekommen wäre. Übrigens ist die Polizei des Kurhauses recht gut. Gegen das Gedränge läßt sich natürlich nichts tun; im Gegenteil freut man sich über den Andrang des Publikums wegen des damit verbundenen Vorteils; aber die acht Croupiers, die an den Tischen sitzen, passen mit angestrengter Aufmerksamkeit auf die Einsätze auf; sie sind es auch, die die Gewinne auszahlen und, falls Streitigkeiten entstehen, diese entscheiden. Schlimmstenfalls rufen sie die Polizei herbei, und dann wird die Sache im Umsehen erledigt. Die Polizisten sind dauernd im Saal stationiert und befinden sich in Zivilkleidung unter den Zuschauern, so daß man sie nicht erkennen kann. Sie passen besonders auf Diebe und Gauner auf, deren es wegen der außerordentlich bequemen Ausübung dieses Gewerbes beim Roulett sehr viele gibt. Und in der Tat, überall sonst muß man aus Taschen und verschlossenen Behältnissen stehlen, und das endet im Falle des Mißlingens sehr unangenehm. Hier aber braucht man es nur ganz einfach folgendermaßen zu machen: man geht zum Roulett, fängt an zu spielen, nimmt sich auf einmal offen und vor aller Augen einen fremden Gewinn und steckt ihn in seine Tasche; entsteht ein Streit, so behauptet der Gauner laut und mit aller Bestimmtheit, der Einsatz sei der seinige. Wenn das geschickt gemacht wird und die Zeugen sich ihrer Sache nicht ganz sicher sind, so gelingt es dem Dieb oft, sich das Geld anzueignen, selbstverständlich nur dann, wenn die Summe nicht sehr beträchtlich ist. Im letzteren Fall pflegt sie schon vorher die Aufmerksamkeit des Croupiers oder eines der Mitspieler erregt zu haben. Ist aber die Summe nicht so bedeutend, so verzichtet der wirkliche Eigentümer mitunter sogar aus Scheu vor einem Skandal auf eine Fortsetzung des Streites und geht davon. Gelingt es dagegen, einen Dieb zu überführen, so wird er sogleich unter großem Aufsehen abgeführt.

Alles das sah sich die Tante von weitem und mit scheuer Neugier an. Es gefiel ihr sehr, daß ein paar Diebe hinaustransportiert wurden. Das Trente-et-quarante erweckte ihr Interesse nur in geringem Grade; besser gefiel ihr das Roulett mit dem herumlaufenden Kügelchen. Endlich bekam sie Lust, das Spiel aus größerer Nähe mit anzusehen. Ich begreife nicht, wie es möglich war, aber die Saaldiener und einige eifrige Kommissionäre (es sind dies vorzugsweise Polen, die ihr ganzes Geld verspielt haben und nun glücklicheren Spielern sowie allen Ausländern ihre Dienste aufdrängen) fanden trotz des argen Gedränges einen Platz, den sie für die Tante frei machten, gerade in der Mitte des Tisches neben dem Obercroupier, und rollten ihren Stuhl dorthin. Eine Menge von Besuchern, die nicht selbst spielten, sondern nur aus einiger Entfernung dem Spiel zuschauten (in der Hauptsache Engländer mit ihren Familien), drängte sich sogleich zu diesem Tisch, um hinter den Spielern stehend die alte Dame zu beobachten. Viele Lorgnetten richteten sich auf sie. Die Croupiers gaben sich besonderen Hoffnungen hin: von einem so originellen Spieler konnte man allerdings etwas Ungewöhnliches erwarten. Eine fünfundsiebzigjährige Dame, die nicht gehen konnte und spielen wollte, das war freilich ein Fall, wie er nicht alle Tage vorkam. Ich drängte mich gleichfalls zum Tisch durch und stellte mich neben die Tante. Potapytsch und Marfa hatten in weiter Entfernung zurückbleiben müssen und standen dort irgendwo mitten im Menschenschwarm. Der General, Polina, de Grieux und Mademoiselle Blanche standen gleichfalls ziemlich weit entfernt von uns unter den Zuschauern.

Die Tante betrachtete zunächst die Spieler und flüsterte mir in ihrem scharfen Ton kurze Fragen zu: »Was ist das für einer? Wer ist diese Dame?« Besonders gefiel ihr an einem Ende des Tisches ein noch sehr junger Mensch, der hoch spielte, Tausende mit einem Male setzte und, wie unter den Umstehenden geflüstert wurde, bereits gegen vierzigtausend Franc gewonnen hatte, die in einem Häufchen vor ihm lagen, Gold und Banknoten. Er sah blaß aus; seine Augen glänzten, die Hände zitterten ihm; er setzte bereits, ohne überhaupt zu zählen, soviel er mit der Hand gerade erfaßte, und dabei gewann er fortwährend und häufte immer mehr Geld zusammen. Die Saaldiener waren eifrig um ihn beschäftigt; sie rückten ihm von hinten einen Sessel heran und hielten um ihn herum etwas Raum frei, damit er sich besser bewegen könne und von den andern nicht so gedrängt werde – alles in Erwartung eines reichen Trinkgeldes. Denn manche Spieler geben von ihrem Gewinn den Dienern, ohne zu zählen, in der Freude ihres Herzens, soviel sie mit der Hand in der Tasche zu fassen bekommen. Neben dem jungen Mann hatte bereits ein Pole Aufstellung genommen, der sich aus allen Kräften um ihn bemühte und ihm respektvoll, aber ohne Unterlaß etwas zuflüsterte, Anweisungen, wie er setzen solle, Ratschläge und Belehrungen das Spiel betreffend – natürlich erwartete er ebenfalls nachher ein Geldgeschenk! Aber der Spieler sah fast gar nicht nach ihm hin, setzte, wie es sich gerade traf, und strich immer neue Gewinne ein. Er wußte offenbar gar nicht mehr, was er tat.

Die Alte beobachtete ihn ein paar Minuten lang.

»Sage ihm doch«, wandte sie sich plötzlich voller Eifer an mich, indem sie mich anstieß, »sage ihm doch, er möchte aufhören, er möchte schleunigst sein Geld nehmen und davongehen. Er wird verlieren, im nächsten Augenblick wird er alles verlieren!« Sie konnte vor Aufregung kaum atmen. »Wo ist Potapytsch? Schicke doch Potapytsch zu ihm hin! Sage es ihm doch, sage es ihm doch!« wiederholte sie, mich wieder anstoßend. »Aber wo in aller Welt ist denn Potapytsch? Sortez, sortez!« begann sie selbst dem jungen Mann zuzurufen. Ich beugte mich zu ihr herunter und flüsterte ihr nachdrücklich zu, so zu rufen sei hier nicht gestattet, nicht einmal laut zu reden, da das die Berechnungen störe; es sei zu befürchten, daß wir sofort hinausgewiesen würden.

»So ein Ärger! Der Mensch ist verloren! Na, es ist sein eigener Wille . . . ich mag gar nicht nach ihm hinsehen; mir wird ganz übel davon. So ein Dummkopf!« Bei diesen Worten drehte sich die Tante schnell nach der anderen Seite.

Dort, zur Linken, an der andern Hälfte des Tisches, zog unter den Spielern eine junge Dame, neben der ein Zwerg stand, die Aufmerksamkeit auf sich. Wer dieser Zwerg war, weiß ich nicht; ob es ein Verwandter von ihr war, oder ob sie ihn nur so um Aufsehen zu erregen, mitnahm. Diese Dame hatte ich schon früher bemerkt; sie erschien am Spieltisch täglich um ein Uhr mittags und ging pünktlich um zwei. Sie war schon allgemein bekannt, und es wurde ihr bei ihrem Erscheinen sofort ein Sessel hingestellt. Sie zog ein paar Goldstücke oder ein paar Tausendfrancscheine aus der Tasche und begann zu setzen, ruhig, kaltblütig, mit Überlegung; auf einem Blatt Papier notierte sie mit Bleistift die Zahlen, die herausgekommen waren, und suchte die systematische Ordnung zu erkennen, in der sich diese gruppierten. Ihre Einsätze waren von ansehnlicher Höhe. Sie gewann täglich ein-, zwei-, höchstens dreitausend Franc, nicht mehr, und ging, sobald sie die gewonnen hatte, sofort weg. Die Tante beobachtete sie längere Zeit.

»Na, die da wird nicht verlieren! Die wird nicht verlieren! Was ist das für eine? Kennst du sie nicht? Wer ist sie?«

»Es ist eine Französin, wahrscheinlich so eine«, flüsterte ich.

»Ah, man erkennt den Vogel am Fluge. Die hat offenbar scharfe Krallen. Jetzt erkläre mir, was jeder Umlauf der Kugel bedeutet, und wie man setzen muß!«

Ich setzte der Tante nach Möglichkeit auseinander, was es mit den zahlreichen Arten des Setzens für eine Bewandtnis hat: mit rouge et noir, pair et impair, manque et passe, sowie endlich mit den verschiedenen Variationen beim Setzen auf Zahlen. Die Tante hörte aufmerksam zu, merkte sich, was ich sagte, fragte, wo sie etwas nicht verstand, und gewann so einen guten Einblick. Für jede Gattung von Einsätzen konnte ich ihr sofort Beispiele vor Augen führen, so daß sie vieles sehr leicht und schnell begriff und sich einprägte. Die Tante war sehr befriedigt.

»Aber was bedeutet zéro? Dieser Croupier da, der krausköpfige, der oberste von ihnen, hat eben gerufen: ›zéro‹! Und warum hat er alles zusammengescharrt, war auf dem Tisch war? So einen Haufen, alles hat er für sich genommen! Wie hängt das zusammen?«

»Zéro, Großmütterchen, das ist der Vorteil für die Bank. Wenn die Kugel auf zéro fällt, so gehören alle Einsätze auf dem Tisch der Bank, ohne weitere Berechnung. Allerdings hat man noch die Möglichkeit des Quittspiels; aber dann zahlt im Falle des Gewinnes die Bank nichts.«

»Na, so etwas! Und ich bekomme gar nichts?«

»Nicht doch, Großmütterchen; wenn Sie vorher auf zéro gesetzt haben und zéro dann herauskommt, so wird Ihnen das Fünfunddreißigfache bezahlt.«

»Was? Das Fünfunddreißigfache? Und kommt das oft heraus? Warum setzen sie denn nicht darauf, die Dummköpfe?«

»Es sind sechsunddreißig Chancen dagegen, Großmütterchen.«

»Ach was, Unsinn! Potapytsch, Potapytsch! Warte mal, ich habe selbst Geld bei mir – da!« Sie zog eine wohlgespickte Geldbörse aus der Tasche und entnahm ihr einen Friedrichsdor. »Da! Setz das gleich mal auf zéro!«

»Großmütterchen, zéro ist eben herausgekommen«, sagte ich, »also wird es jetzt lange Zeit nicht herauskommen. Sie werden viel verlieren, wenn Sie bis dahin immer auf zéro setzen wollen. Warten Sie lieber noch ein Weilchen!«

»Rede nicht dummes Zeug! Setze nur!«

»Wie Sie wünschen; aber es kommt vielleicht bis zum Abend nicht wieder heraus; Sie können Tausende von Francs verlieren; das ist alles schon vorgekommen.«

»Ach, Unsinn, Unsinn! Wer sich vor dem Wolf fürchtet, der muß nicht in den Wald gehen. Was? Ich habe verloren? Setz noch einmal!«

Auch der zweite Friedrichsdor ging verloren: wir setzten den dritten. Die Tante konnte kaum stillsitzen; mit heißen Augen folgte sie der Kugel, die an den Zacken des sich drehenden Rades hinsprang. Auch der dritte ging verloren. Die Tante war außer sich; sie rückte auf ihrem Sitz fortwährend hin und her und schlug sogar mit der Faust auf den Tisch, als der Croupier »trente-six« rief, statt des erwarteten zéro.

»Na so ein Kerl!« ereiferte sich die Tante. »Wird denn dieses verdammte zéro nicht bald herauskommen? Ich will des Todes sein, wenn ich nicht sitzenbleibe, bis es herauskommt! Das macht alles dieser verdammte krausköpfige Croupier da; bei dem kommt es nie heraus! Alexej Iwanowitsch, setze zwei Goldstücke mit einemmal! Du setzt ja so wenig, daß, auch wenn zéro wirklich kommt, wir nichts Ordentliches einnehmen.«

»Großmütterchen!«

»Setze, setze! Es ist nicht dein Geld!«

Ich setzte zwei Friedrichsdor. Die Kugel flog lange im Rad herum; endlich begann sie an den Zacken zu springen. Die alte Dame war ganz starr und preßte meine Hand zusammen. Und auf einmal kam's:

»Zéro!« rief der Croupier.

»Siehst du, siehst du?« wandte sich die Tante schnell zu mir; sie strahlte über das ganze Gesicht und war selig. »Ich habe es dir ja gesagt! Das hat mir Gott selbst eingegeben, gleich zwei Goldstücke zu setzen! Na, wieviel bekomme ich nun? Warum zahlen sie mir denn das Geld nicht aus? Potapytsch. Marfa! Wo sind sie denn? Wo sind die Unsrigen alle geblieben? Potapytsch, Potapytsch!«

»Großmütterchen, alles nachher, nachher!« flüsterte ich ihr zu. »Potapytsch steht an der Tür, man läßt ihn nicht bis hierher. Sehen Sie, Großmütterchen, da zahlen sie Ihnen das Geld aus; nehmen Sie es in Empfang!« Man warf ihr eine schwere, versiegelte Rolle in blauem Papier, die fünfzig Friedrichsdor enthielt, hin und zählte ihr noch zwanzig lose Friedrichsdor auf. Dieses ganze Geld zog ich mit einer Krücke zu der Tante heran.

»Faites le jeu, messieurs! Faites le jeu, messieurs! Rien ne va plus?« rief der Croupier, zum Setzen auffordernd, und schickte sich an, das Roulett zu drehen.

»Mein Gott! Wir kommen zu spät! Er dreht gleich los! Setze, setze!« rief die Tante eifrig. »So trödle doch nicht, schnell!« Sie geriet ganz außer sich und stieß mich aus Leibeskräften an.

»Worauf soll ich denn setzen, Großmütterchen?«

»Auf zéro, auf zéro! Wieder auf zéro! Setz soviel wie möglich! Wieviel haben wir im ganzen? Siebzig Friedrichsdor? Mit denen wollen wir nicht knausern; setze immer zwanzig Friedrichsdor auf einmal!«

»Aber überlegen Sie doch, Großmütterchen! Zéro kommt mitunter bei zweihundert Malen kein einziges Mal heraus! Ich versichere Sie, Sie werden die ganze Summe wieder verlieren.«

»Törichtes Geschwätz! So setze doch! Papperlapapp! Ich weiß, was ich tue«, sagte die Tante, die vor Aufregung bebte.

»Nach dem Reglement ist es nicht gestattet, auf einmal mehr als zwölf Friedrichsdor auf zéro zu setzen, Großmütterchen. Nun, die habe ich jetzt gesetzt.«

»Wieso ist das nicht erlaubt? Redest du mir auch nichts vor? Monsieur, monsieur!« Sie stieß den Croupier an, der unmittelbar an ihrer linken Seite saß und sich bereit machte, das Rad zu drehen. »Combien zéro? Douze? Douze?«

Mit möglichster Eile verdeutlichte ich ihm auf französisch den Sinn der Frage.

»Oui, madame«, bestätigte der Croupier höflich und fügte zur Erklärung hinzu: »So wie auch jeder andere einzelne Einsatz die Summe von viertausend Gulden nicht übersteigen darf, nach dem Reglement.«

»Na, dann ist nichts zu machen. Setze zwölf!«

»Le jeu est fait!« rief der Croupier. Das Rad drehte sich, und es kam die Dreißig heraus. Wir hatten verloren!

»Noch mal, noch mal, noch mal! Setz noch mal!« rief die Alte. Ich versuchte keine Widerrede mehr und setzte achselzuckend noch zwölf Friedrichsdor. Das Rad drehte sich lange. Die Tante, die das Rad gespannt beobachtete, zitterte am ganzen Leib. »Kann sie wirklich glauben, daß zéro wieder gewinnen wird?« dachte ich, während ich sie erstaunt anblickte. Auf ihrem strahlenden Gesicht lag der Ausdruck der festen Überzeugung, daß sie gewinnen werde, der bestimmten Erwartung, es werde im nächsten Augenblick gerufen werden: »Zéro!« Die Kugel sprang in ein Fach.

»Zéro!« rief der Croupier.

»Na also!« wandte sich die Tante mit einer Miene wilden Triumphes zu mir.

Ich war selbst Spieler; dessen wurde ich mir in eben diesem Augenblick bewußt. Hände und Füße zitterten mir; in meinem Kopf hämmerte es. Allerdings, das war ein seltener Zufall, daß unter etwa zehn Malen dreimal zéro herausgekommen war; aber etwas besonders Erstaunliches war nicht dabei. Ich war selbst Zeuge gewesen, wie zwei Tage vorher zéro dreimal nacheinander herauskam, und dabei hatte ein Spieler, der sich auf einem Blatt Papier eifrig die einzelnen Resultate notierte, laut geäußert, daß erst am vorhergehenden Tag zéro den ganzen Tag über nur ein einziges Mal gekommen sei.

Da die Tante den größten Gewinn gemacht hatte, der möglich war, so vollzog sich die Auszahlung in besonders höflicher, respektvoller Manier. Sie hatte gerade vierhundertundzwanzig Friedrichsdor zu bekommen, oder viertausend Gulden und zwanzig Friedrichsdor. Die zwanzig Friedrichsdor gab man ihr in Gold, die viertausend Gulden in Banknoten.

Diesmal rief die Tante nicht mehr nach Potapytsch; sie war mit anderem beschäftigt. Auch stieß sie mich nicht an und zitterte äußerlich nicht; aber innerlich, wenn man sich so ausdrücken kann, innerlich zitterte sie. Sie hatte alle ihre Gedanken auf einen Punkt konzentriert, sie auf ein ganz bestimmtes Ziel gerichtet.

»Alexej Iwanowitsch! Er hat gesagt, auf einmal könne man nur viertausend Gulden setzen? Na, dann nimm hier diese ganzen viertausend und setze sie auf Rot!« befahl sie.

Es wäre nutzlos gewesen, ihr davon abzureden. Das Rad begann sich zu drehen.

»Rouge!« verkündete der Croupier.

Wieder ein Gewinn von viertausend Gulden, also im ganzen achttausend.

»Viertausend gib mir her, und die anderen viertausend setze wieder auf Rot!« kommandierte die Tante.

Ich setzte wieder viertausend.

»Rouge!« rief der Croupier von neuem.

»In summa zwölftausend! Gib sie alle her! Das Gold schütte hier hinein, in die Börse, und die Banknoten verwahre für mich in deiner Tasche! Nun genug! Nach Hause! Rollt meinen Stuhl von hier weg!«


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