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Fünftes Kapitel

Die kluge Schlange

 

I

Warwara Petrowna zog an der Klingelschnur und warf sich in einen Lehnstuhl am Fenster.

»Setzen Sie sich dorthin, liebes Kind!« sagte sie zu Marja Timofejewna, indem sie ihr einen Platz in der Mitte des Zimmers an dem großen runden Tische anwies. »Stepan Trofimowitsch, was hat das zu bedeuten? Da, da, sehen Sie dieses Mädchen an; was hat das zu bedeuten?«

»Ich ... ich ...« stammelte Stepan Trofimowitsch.

Aber ein Diener trat ein.

»Eine Tasse Kaffee, sofort, so schnell wie irgend möglich! Die Pferde sollen nicht ausgespannt werden!«

»Mais, chère et exccllente amie, dans quelle inquiétude! ...« rief Stepan Trofimowitsch mit matter Stimme.

»Ach, französisch, französisch! Da sieht man gleich, daß man in vornehmer Gesellschaft ist!« rief Marja Timofejewna, vor Vergnügen in die Hände klatschend, und schickte sich ganz begeistert an, das französische Gespräch mit anzuhören.

Warwara Petrowna starrte beinah ängstlich nach ihr hin.

Wir schwiegen sämtlich und warteten auf eine Auflösung des Rätsels. Schatow hob den Kopf nicht in die Höhe, und Stepan Trofimowitsch sah so bestürzt aus, als ob er an allem schuld wäre; der Schweiß trat ihm an den Schläfen heraus. Ich sah nach Lisa hin; sie saß in einer Ecke, ziemlich nahe bei Schatow. Ihre Augen wanderten mit scharfem Blicke von Warwara Petrowna zu dem lahmen Mädchen und wieder zurück; ihre Lippen verzogen sich zu einem unangenehmen Lächeln. Warwara Petrowna sah dieses Lächeln. Inzwischen schwamm Marja Timofejewna in Wonne; mit Entzücken und ohne die geringste Verlegenheit betrachtete sie Warwara Petrownas schönen Salon: die Möbel, die Teppiche, die Bilder an den Wanden, die altertümliche gemalte Decke, das große bronzene Kruzifix in der Ecke, die Porzellanlampe, die Albums, die Nippsachen auf dem Tische.

»Also du bist auch hier, lieber Schatow!« rief sie auf einmal. »Kannst du dir das vorstellen: ich sehe dich schon lange an und denke bei mir: er ist es nicht; wie soll er hierherkommen?«

Und sie lachte fröhlich auf.

»Sie kennen dieses Mädchen?« wandle sich Warwara Petrowna sogleich an ihn.

»Ja, ich kenne sie,« murmelte Schatow; er rührte sich auf seinem Stuhle, blieb aber sitzen.

»Was wissen Sie denn von ihr? Bitte, schnell!«

»Was soll ich von ihr wissen?« erwiderte er mit einem unmotivierten Lächeln und stockte dann. »Sie sehen ja selbst ...«

»Was sehe ich? So reden Sie doch etwas!«

»Sie wohnt in demselben Hause wie ich ... mit ihrem Bruder ... er ist Offizier.«

»Nun?«

Schatow stockte wieder.

»Es lohnt nicht, davon zu reden ...« brummte er und verstummte nun endgültig. Er errötete sogar vor Entschlossenheit.

»Natürlich, von Ihnen kann man nichts anderes erwarten!« rief Warwara Petrowna unwillig.

Es war ihr jetzt klar, daß alle etwas wußten, dabei aber sämtlich etwas fürchteten, ihren Fragen auswichen und ihr etwas verheimlichen wollten.

Der Diener trat ein und präsentierte auf einem kleinen silbernen Teller die so dringlich verlangte Tasse Kaffee; aber auf ihren Wink ging er damit sogleich zu Marja Timofejewna.

»Sie haben vorhin sehr gefroren, liebes Kind; trinken Sie recht schnell, und erwärmen Sie sich!«

» Merci!« sagte Marja Timofejewna, indem sie die Tasse hinnahm.

Plötzlich aber brach sie in ein Gelächter darüber aus, daß sie zu dem Diener » merci!« gesagt hatte. Als sie jedoch Warwara Petrownas drohendem Blicke begegnete, wurde sie ängstlich und stellte die Tasse auf den Tisch.

»Tante, Sie sind doch nicht böse?« stammelte sie mit einer Art von leichtfertiger Scherzhaftigkeit.

»Wa-a-as?« rief Warwara Petrowna aufschreckend und richtete sich in ihrem Lehnsessel gerade. »Bin ich denn Ihre Tante? Was wollen Sie damit sagen?«

Marja Timofejewna, die einen solchen Zorn nicht erwartet hatte, begann am ganzen Leibe mit kleinen krampfhaften Zuckungen wie bei einem Anfalle zu zittern und sank gegen die Lehne des Stuhles zurück.

»Ich ... ich dachte, so müßte ich sagen,« flüsterte sie und blickte Warwara Petrowna mit weit geöffneten Augen an. »So hat Lisa Sie doch genannt.«

»Was für eine Lisa?«

»Nun, das Fräulein da,« antwortete Marja Timofejewna, mit dem Finger hinzeigend.

»Heißt die bei Ihnen auch schon Lisa?«

»Sie haben sie doch vorhin selbst so genannt,« versetzte Marja Timofejewna etwas mutiger. »Und im Traum habe ich eine ganz ebensolche schöne Dame gesehen,« fügte sie hinzu und lächelte dabei, anscheinend unwillkürlich.

Warwara Petrowna überlegte und beruhigte sich ein wenig; sie lächelte sogar ganz leise über Marja Timofejewnas letzte Bemerkung. Als diese das Lächeln bemerkte, stand sie auf und hinkte schüchtern zu ihr hin.

»Nehmen Sie; ich habe vergessen, es zurückzugeben; seien Sie nicht böse wegen meiner Unachtsamkeit!« sagte sie und nahm das schwarze Schaltuch von den Schultern, das ihr Warwara Petrowna vorhin umgelegt hatte.

»Legen Sie es sofort wieder um, und behalten Sie es für immer! Gehen Sie, und setzen Sie sich hin; trinken Sie Ihren Kaffee, und haben Sie nur keine Furcht vor mir, liebes Kind; bitte beruhigen Sie sich! Ich fange an, Sie zu verstehen.«

» Chère amie ...« wagte Stepan Trofimowitsch wieder zu beginnen.

»Ach, Stepan Trofimowitsch, hier kann man auch schon ohne Ihre Bemerkungen die Fassung verlieren; schonen wenigstens Sie mich! ... Bitte, ziehen Sie einmal da an dem Klingelzuge, neben Ihnen; er führt zum Mädchenzimmer.«

Es trat ein längeres Stillschweigen ein. Ihr argwöhnischer, gereizter Blick glitt über unser aller Gesichter hin. Agascha, ihre Lieblingszofe, erschien.

»Bring mir das karrierte Tuch, das ich in Genf gekauft habe! Was macht Darja Pawlowna?«

»Das Fräulein befindet sich nicht ganz wohl.«

»Geh hin und bitte sie hierher zu kommen! Sage, ich ließe sie sehr bitten, auch wenn sie nicht wohl sei.«

In diesem Augenblicke wurde aus den anstoßenden Zimmern wieder ungewöhnliches Geräusch von Schritten und Stimmen, ähnlich dem von vorhin, vernehmbar, und plötzlich erschien auf der Schwelle atemlos und aufgeregt Praskowja Iwanowna, auf Mawriki Nikolajewitschs Arm gestützt.

»Ach Herr Gott, ich habe mich nur mit Mühe hergeschleppt; Lisa, du Unsinnige, was tust du deiner Mutter an!« jammerte sie und brachte in diesem Gejammer nach der Gewohnheit aller schwächlichen, leicht reizbaren Personen alles zum Ausdruck, was sich an Erregung bei ihr angesammelt hatte.

»Liebste Warwara Petrowna, ich komme zu Ihnen, um meine Tochter zu holen!«

Warwara Petrowna warf ihr einen mürrischen Blick zu, erhob sich nur wenig zu ihrer Begrüßung und sagte mit kaum verhehltem Ärger:

»Guten Tag, Praskowja Iwanowna; sei so freundlich und nimm Platz! Das habe ich mir gedacht, daß du kommen würdest.«

 

II

Für Praskowja Iwanowna konnte in einem solchen Empfange nichts Überraschendes liegen. Warwara Petrowna hatte ihre ehemalige Pensionsfreundin schon immer, seit den Tagen der Kindheit, despotisch und unter dem Scheine der Freundschaft beinah verächtlich behandelt. Aber im vorliegenden Falle war die Lage noch eine ganz besondere. In den letzten Tagen war es zwischen den beiden Häusern zu einem vollständigen Bruche gekommen, wie ich das auch bereits beiläufig erwähnt habe. Die Ursachen dieses Bruches waren für Warwara Petrowna vorläufig noch ein Geheimnis und infolgedessen um so kränkender; aber die Hauptsache war, daß Praskowja Iwanowna ihr gegenüber ein außerordentlich hochmütiges Benehmen angenommen hatte. Warwara Petrowna fühlte sich selbstverständlich dadurch verletzt, und dabei waren auch bereits gewisse sonderbare Gerüchte zu ihr gedrungen, die sie ebenfalls maßlos aufregten, und zwar gerade durch ihre Unbestimmtheit. Warwara Petrownas Charakter war offen und stolz; sie war eine Draufgängerin, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist. Am allerwenigsten konnte sie geheime, versteckte Anschuldigungen leiden und zog den offenen Krieg immer vor. Wie dem nun auch sein mochte, jedenfalls hatten die beiden Damen einander seit fünf Tagen nicht mehr gesehen. Der letzte Besuch war von Warwara Petrownas Seite erfolgt, die von der »Drosdowschen« tief gekränkt und verstimmt weggefahren war. Ich kann ohne Gefahr eines Irrtumes sagen, daß Praskowja Iwanowna jetzt in der naiven Überzeugung hereinkam, Warwara Petrowna müsse aus irgendwelchem Grunde vor ihr Angst haben; das konnte man schon an ihrem Gesichtsausdrucke sehen. Aber über Warwara Petrownas Herz gewann jedesmal der Hochmutsteufel die Herrschaft, sobald sie auch nur im entferntesten argwöhnen konnte, daß jemand über ihr zu stehen glaubte. Praskowja Iwanowna aber zeichnete sich, wie viele schwächliche Personen, die sich lange ohne Protest haben beleidigen lassen, durch besondere Heftigkeit des Angriffs aus, sobald einmal die Sache eine für sie günstige Wendung nahm. Allerdings war sie jetzt krank, und während einer Krankheit wurde sie stets reizbarer. Ich füge endlich noch hinzu, daß wir alle, die wir uns im Salon befanden, durch unsere Gegenwart die beiden Jugendfreundinnen nicht besonders genieren konnten, falls wirklich ein Streit zwischen ihnen entbrennen sollte; denn wir galten als Familienangehörige und beinahe als Untergebene. Ich erwog das gleich damals nicht ohne Besorgnis. Stepan Trofimowitsch, der sich seit Warwara Petrownas Ankunft nicht wieder hingesetzt hatte, ließ sich kraftlos auf einen Stuhl niedersinken, als er Praskowja Iwanownas Gejammer hörte, und suchte in seiner Verzweiflung meinen Blick aufzufangen. Schatow drehte sich in scharfer Wendung auf seinem Stuhle herum und brummte etwas vor sich hin. Es kam mir so vor, als wolle er aufstehen und weggehen. Lisa hatte sich nur ein klein wenig erhoben, sich aber sogleich wieder zurücksinken lassen und dem Gejammer ihrer Mutter nicht einmal die schuldige Aufmerksamkeit zugewendet, aber nicht infolge ihres »eigensinnigen Charakters«, sondern weil sie sich offenbar ganz im Banne einer anderen mächtigen Empfindung befand. Sie blickte jetzt irgendwohin in die Luft, beinah zerstreut, und wandte selbst Marja Timofejewna nicht mehr die frühere Aufmerksamkeit zu.

 

III

»Ach, hierher!« stöhnte Praskowja Iwanowna, indem sie auf einen Lehnsessel am Tische zeigte, und ließ sich mit Mawriki Nikolajewitschs Hilfe schwerfällig auf ihn niedersinken. »Ich würde mich bei Ihnen nicht hinsetzen, liebe Freundin, wenn nicht die Beine wären!« fügte sie mit matter Stimme hinzu.

Warwara Petrowna hob den Kopf ein wenig in die Höhe, drückte mit schmerzlichem Gesichtsausdruck die Finger der rechten Hand gegen die rechte Schläfe, in der sie anscheinend einen heftigen Schmerz ( tic douloureux) empfand.

»Was redest du, Praskowja Iwanowna? Warum solltest du dich denn bei mir nicht hinsehen? Ich habe mein ganzes Leben lang die aufrichtige Freundschaft deines seligen Mannes genossen, und wir beide, ich und du, haben, als wir noch kleine Mädchen waren, in der Pension zusammen mit Puppen gespielt.«

Praskowja Iwanowna winkte abwehrend mit den Händen.

»Das wußte ich doch, daß das kommen würde! Immer und ewig fangen Sie von der Pension an, wenn Sie mir Vorwürfe machen wollen; das ist so ein schlaues Manöver von Ihnen. Aber meiner Ansicht nach ist das nur eine schönklingende Redensart. Ich mag von Ihrer Pension nichts wissen.«

»Du bist, wie es scheint, schon in sehr schlechter Laune hergekommen. Was machen deine Füße? Da wird dir Kaffee gebracht; bitte, lange zu, trink und sei nicht böse!«

»Liebe Warwara Petrowna, Sie behandeln mich, als ob ich ein kleines Kind wäre. Ich mag keinen Kaffee!«

Sie winkte dem Diener, der ihr Kaffee präsentierte, ärgerlich ab. (Übrigens dankten für Kaffee auch die andern außer mir und Mawriki Nikolajewitsch. Stepan Trofimowitsch nahm eine Tasse, stellte sie aber auf den Tisch. Marja Timofejewna hatte zwar sehr große Lust, eine zweite Tasse zu nehmen, und streckte schon die Hand danach aus; aber sie besann sich anders und lehnte in manierlicher Weise ab, wobei sie offenbar mit ihrem Benehmen sehr zufrieden war.)

Warwara Petrowna lächelte spöttisch. »Weißt du was, liebe Praskowja Iwanowna, du hast dir gewiß wieder irgendeine Einbildung zurechtgemacht, mit der du dann hergekommen bist. Du hast dein ganzes Leben über immer in der Einbildung gelebt. Du ereifertest dich soeben darüber, daß ich von der Pension sprach; aber weißt du wohl noch, wie du hinkamst und der ganzen Klasse versichertest, der Husarenoffizier Schablykin habe um deine Hand angehalten, und wie Madame Lefebure dich sofort der Lüge überführte? Aber du hattest nicht gelogen; du hattest dir das einfach zu deinem Amüsement eingebildet. Nun sage, was du jetzt mitgebracht hast? Was hast du dir wieder eingebildet? Womit bist du unzufrieden?«

»Sie aber haben sich in der Pension in den Popen verliebt, der uns Religionsstunde gab. Da haben Sie es, wenn Sie anderen von jener Zeit her noch Schlechtes nachreden! Ha-Ha-Ha!«

Sie lachte höhnisch und geriet dabei ins Husten.

»A-ah, also den Popen hast du nicht vergessen ...« versetzte Warwara Petrowna und warf ihr einen haßerfüllten Blick zu.

Ihr Gesicht war ganz grünlich geworden. Praskowja Iwanowna nahm auf einmal eine würdevolle Haltung an.

»Mir ist jetzt nicht zum Lachen zumute, meine Liebe; warum haben Sie meine Tochter angesichts der ganzen Stadt in Ihre Skandalgeschichte mit hineingezogen? Deshalb bin ich hergekommen.«

»In meine Skandalgeschichte?« fragte Warwara Petrowna und richtete sich drohend gerade.

»Mama, auch ich bitte Sie dringend, sich zu mäßigen,« sagte Lisaweta Nikolajewna auf einmal.

»Was hast du gesagt?« rief die Mama, die sich anschickte wieder loszujammern; aber sie stockte plötzlich unter dem funkelnden Blicke ihrer Tochter.

»Wie können Sie von einer Skandalgeschichte reden, Mama?« ereiferte sich Lisa. »Ich bin auf meinen eigenen Wunsch und mit Julija Michailownas Erlaubnis hierhergefahren, weil ich die Geschichte dieser Unglücklichen erfahren wollte, um ihr nützlich zu sein.«

»Die Geschichte dieser Unglücklichen!« sagte Praskowja Iwanowna gedehnt mit boshaftem Lachen. »Paßt es sich etwa, daß du dich in solche Geschichten hineinmischst? Ach, meine Liebe, von Ihrem Despotismus haben wir jetzt genug!« wandte sie sich wütend zu Warwara Petrowna. »Man sagt, mags nun wahr sein oder nicht, Sie hätten hier die ganze Stadt tyrannisiert; aber jetzt ist es augenscheinlich damit zu Ende!«

Warwara Petrowna saß gerade aufgerichtet da; sie glich einem Pfeile, der bereit ist, vom Bogen zu fliegen. Etwa zehn Sekunden lang hielt sie einen strengen Blick unverwandt auf Praskowja Iwanowna geheftet.

»Nun, du kannst Gott danken, Praskowja, daß wir hier unter uns sind,« sagte sie endlich mit unheilverkündender Ruhe. »Du hast viel Ungehöriges gesagt.«

»Ich für meine Person, meine Liebe, fürchte die Meinung der Welt nicht so, wie es manche andern Leute tun; Sie sind es, die unter dem Scheine des Stolzes vor der Meinung der Welt zittert. Und daß hier nur gute Freunde sind, das ist für Sie besser, als wenn Fremde zuhörten.«

»Du bist wohl in dieser Woche sehr klug geworden, wie?«

»Ich bin in dieser Woche nicht weiter klug geworden; aber offenbar ist die Wahrheit in dieser Woche ans Licht gekommen.«

»Was für eine Wahrheit soll in dieser Woche ans Licht gekommen sein? Höre, Praskowja Iwanowna, reize mich nicht; sprich dich augenblicklich deutlich aus, ich bitte dich inständig: was für eine Wahrheit ist ans Licht gekommen, und was willst du damit sagen?«

»Da sitzt ja die ganze Wahrheit!« rief Praskowja Iwanowna und wies mit dem Finger auf Marja Timofejewna; sie zeigte jene Entschlossenheit zum Äußersten, die nicht mehr an die Folgen denkt, wenn sie nur im Augenblick kräftig wirken kann.

Marja Timofejewna, die die ganze Zeit über mit heiterer Neugier nach ihr hingeblickt hatte, lachte vergnügt auf, als sie den Finger der zornigen Besucherin auf sich gerichtet sah, und bewegte sich vergnügt in ihrem Lehnsessel hin und her.

»Herr Jesus Christus, sind denn hier alle verrückt geworden?« rief Warwara Petrowna und sank erbleichend gegen die Lehne zurück.

Sie war so blaß geworden, daß eine allgemeine Aufregung entstand. Stepan Trofimowitsch war der erste, der zu ihr hineilte; auch ich trat naher heran; sogar Lisa stand von ihrem Platze auf, obgleich sie bei ihrem Lehnsessel stehen blieb; aber am meisten erschrak Praskowja Iwanowna selbst: sie schrie auf, erhob sich, so gut es ging, und heulte fast mit weinerlicher Stimme:

»Liebe Freundin, Warwara Petrowna, verzeihen Sie mir meine boshafte Dummheit! Aber gebe ihr doch jemand wenigstens Wasser!«

»Bitte, plinze nicht, Praskowja Iwanowna, und Sie, meine Herren, treten Sie, bitte, zurück; tun Sie mir den Gefallen; ich brauche kein Wasser!« sagte Warwara Petrowna mit blassen Lippen in festem Tone, wenn auch nicht laut.

»Liebe Freundin!« fuhr Praskowja Iwanowna fort, nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, »liebste Warwara Petrowna, ich habe mich allerdings durch unvorsichtige Worte vergangen; aber ich bin auch gar zu sehr durch diese anonymen Briefe gereizt worden, mit denen mich schlechte Menschen bombardieren; na, sie sollten die Briefe doch lieber an Sie schicken, da sie sich ja doch auf Sie beziehen; aber ich habe eine Tochter, liebe Freundin!«

Warwara Petrowna sah sie mit weit geöffneten Augen sprachlos an und hörte erstaunt zu. In diesem Augenblicke öffnete sich geräuschlos in einer Ecke eine Seitentür, und es erschien Darja Pawlowna. Sie blieb einen Augenblick stehen und sah um sich; unsere Aufregung befremdete sie. Marja Timofejewna, von deren Anwesenheit niemand sie vorher benachrichtigt hatte, fiel ihr wohl nicht sogleich in die Augen. Stepan Trofimowitsch war der erste, der sie bemerkte; er machte eine schnelle Bewegung, errötete und rief, man wußte nicht recht wozu, laut: »Darja Pawlowna!« so daß die Augen aller sich mit einem Male nach der Eintretenden hinwandten.

»Wie? Also das ist eure Darja Pawlowna!« rief Marja Timofejewna. »Nun, lieber Schatow, deine Schwester sieht dir nicht ähnlich! Wie konnte nur mein Teuerster ein so reizendes Wesen ›die leibeigene Magd Dascha‹ nennen!«

Darja Pawlowna hatte sich inzwischen schon Warwara Petrowna genähert; aber überrascht von Marja Timofejewnas Worten wandte sie sich schnell um, blieb stehen und sah die Irre mit einem langen, starren Blicke an.

»Setz dich, Dascha!« sagte Warwara Petrowna mit erschreckender Ruhe; »näher bei mir, so; du kannst dieses Mädchen auch im Sitzen ansehen. Kennst du sie?«

»Ich habe sie nie gesehen,« antwortete Dascha leise und fügte nach kurzem Stillschweigen sofort hinzu: »Es ist gewiß die kranke Schwester eines Herrn Lebjadkin.«

»Auch ich sehe Sie, meine Liebe, jetzt zum erstenmal, obgleich ich schon lange sehr gewünscht habe, Sie kennen zu lernen; und in jeder Ihrer Bewegungen erkenne ich die gute Erziehung!« rief Marja Timofejewna entzückt. »Und was da mein Bedienter schimpft, wie wäre es denn überhaupt denkbar, daß Sie ihm Geld weggenommen hätten, ein so gebildetes, liebenswürdiges Fräulein? Denn Sie sind liebenswürdig, liebenswürdig, liebenswürdig; das sage ich Ihnen aus eigener Überzeugung!« schloß sie enthusiastisch mit lebhaften Gestikulationen.

»Verstehst du etwas davon?« wandte sich Warwara Petrowna mit stolzer Würde an ihre Pflegetochter.

»Ich verstehe alles.«

»Hast du das von dem Gelde gehört?«

»Das ist gewiß dasselbe Geld, das ich auf Nikolai Wsewolodowitschs Bitte, als ich noch in der Schweiz war, diesem Herrn Lebjadkin, ihrem Bruder, zuzustellen übernahm.«

Es folgte ein Stillschweigen.

»Hat Nikolai Wsewolodowitsch selbst die Bitte an dich gerichtet, es zu übergeben?«

»Es lag ihm sehr daran, dieses Geld, es waren dreihundert Rubel, Herrn Lebjadkin zu übersenden. Und da er dessen Adresse nicht kannte, sondern nur wußte, daß er in unsere Stadt ziehen werde, so beauftragte er mich damit, es Herrn Lebjadkin zuzustellen, falls dieser herkäme.«

»Was für Geld ist denn … verloren gegangen? Wovon redete dieses Mädchen eben?«

»Das weiß ich allerdings nicht; auch mir ist zu Ohren gekommen, daß Herr Lebjadkin laut von mir gesagt habe, ich hätte ihm nicht alles abgeliefert; aber diese Behauptung ist mir unverständlich. Es waren dreihundert Rubel, und ich habe ihm dreihundert Rubel übersandt.«

Darja Pawlowna hatte sich bereits fast vollständig beruhigt. Und überhaupt bemerke ich, daß es schwer war, dieses Mädchen durch irgend etwas auf längere Zeit in Verwirrung und aus der Fassung zu bringen, welches auch immer innerlich ihre Empfindungen sein mochten. Sie gab jetzt alle ihre Antworten ohne Eile, antwortete sogleich auf jede Frage bestimmt, leise, gleichmäßig, ohne die geringste Spur ihrer ursprünglichen plötzlichen Erregung und ohne irgendwelche Verwirrung, die von einem Schuldbewußtsein hätte zeugen können. Warwara Petrowna hatte die ganze Zeit über, während sie sprach, den Blick nicht von ihr abgewandt und dachte nun etwa eine Minute lang nach.

»Wenn,« sagte sie endlich in festem Tone und offenbar zu den Zuhörern, obgleich sie nur Dascha ansah, »wenn Nikolai Wsewolodowitsch sich mit seinem Auftrage nicht an mich gewandt, sondern dich gebeten hat, so hat er gewiß seine Gründe dazu gehabt, so zu verfahren. Ich halte mich nicht für berechtigt, nach ihnen zu forschen, wenn mir aus ihnen ein Geheimnis gemacht wird. Aber schon allein deine Beteiligung bei dieser Angelegenheit beruhigt mich in dieser Hinsicht vollständig; das sollst du vor allen Dingen wissen, Darja. Aber siehst du, liebes Kind, du konntest auch mit reinem Gewissen aus Unkenntnis der Welt eine Unvorsichtigkeit begehen, und du hast eine solche begangen, indem du es übernahmst, dich mit einem schlechten Menschen in Verbindung zu setzen. Die Gerüchte, die dieser Taugenichts ausgesprengt hat, bestätigen deinen Fehler. Aber ich werde über ihn Erkundigungen einziehen, und da ich deine Beschützerin bin, so werde ich dich zu verteidigen wissen. Jetzt aber muß diese ganze Sache ein Ende haben.«

»Wenn er zu Ihnen kommt,« fiel Marja Timofejewna, sich aus ihrem Lehnstuhl vorstreckend, plötzlich ein, »so schicken Sie ihn am besten in die Bedientenstube. Da kann er mit den andern auf der Wandbank Karten spielen, und wir wollen hier sitzen und Kaffee trinken. Allenfalls können Sie ihm auch eine Tasse Kaffee hinschicken; aber ich verachte ihn tief.«

Sie schüttelte energisch den Kopf.

»Diese Sache muß ein Ende haben,« sagte Warwara Petrowna, die Marja Timofejewnas Äußerung aufmerksam angehört hatte, noch einmal. »Bitte, klingeln Sie, Stepan Trofimowitsch!«

Stepan Trofimowitsch klingelte und trat plötzlich in großer Aufregung vor.

»Wenn … wenn ich …« begann er eifrig, errötend, stockend und stammelnd, »wenn ich ebenfalls diese höchst widerwärtige Geschichte oder, richtiger gesagt, Verleumdung angehört habe, so habe ich es nur … mit der größten Entrüstung – enfin, c'est un homme perdu et quelque chose comme un forçat évadé

Er brach ab, ohne zu Ende zu sprechen; Warwara Petrowna betrachtete ihn, die Augen zusammenkneifend, vom Kopf bis zu den Füßen. Der korrekte Alexei Jegorowitsch trat ein.

»Den Wagen!« befahl Warwara Petrowna. »Und du, Alexei Jegorowitsch, mach dich fertig, um Fräulein Lebjadkina nach Hause zu bringen; wohin, wird sie dir selbst angeben.«

»Herr Lebjadkin wartet schon einige Zeit selbst unten auf das Fräulein und hat sehr gebeten, ihn zu melden.«

»Das ist unmöglich, Warwara Petrowna,« sagte Mawriki Nikolajewitsch, der die ganze Zeit über vollständig geschwiegen hatte, nun aber in starker Unruhe vortrat. »Gestatten Sie die Bemerkung: das ist kein Mensch, der in anständiger Gesellschaft empfangen werden kann; das … das … das ist ein ganz unmöglicher Mensch, Warwara Petrowna.«

»Er soll warten!« wandte sich Warwara Petrowna zu Alexei Jegorowitsch, und dieser verschwand.

» C'est un homme malhonnête et je crois même, que c'est un forçat évadé ou quelque chose dans ce genre,« murmelte Stepan Trofimowitsch wieder, wobei er wieder errötete und wieder nicht zu Ende redete.

»Lisa, es ist Zeit, daß wir fahren,« rief Praskowja Iwanowna in verdrossenem Tone und erhob sich von ihrem Platze. Es war ihr wohl bereits leid geworden, daß sie vorhin im Schrecken sich selbst dumm genannt hatte. Schon während Darja Pawlowna sprach, hatte sie mit einem hochmütigen Zuge um die Lippen zugehört. Aber am allermeisten setzte mich das Aussehen Lisaweta Nikolajewnas, seit Darja Pawlowna hereingekommen war, in Erstaunen: in ihren Augen funkelten Haß und Verachtung, und zwar ganz unverhohlen.

»Warte noch ein Augenblickchen, Praskowja Iwanowna, ich bitte dich darum,« sagte Warwara Petrowna immer mit der gleichen erstaunlichen Ruhe. »Tu mir den Gefallen und setze dich; ich beabsichtige, mich vollständig auszusprechen, und dir tun die Füße weh. So ist's schön; ich danke dir. Vorhin habe ich meine Ruhe verloren und dir ein paar hastige Worte gesagt. Sei so gut und verzeihe sie mir: ich habe dumm gehandelt und bereue das von ganzem Herzen, weil ich in allen Dingen Gerechtigkeit liebe. Allerdings bist auch du außer dir geraten und hast anonyme Briefe erwähnt. Jede anonyme Denunziation verdient schon allein deswegen Verachtung, weil sie keine Unterschrift trägt. Wenn du darin anderer Ansicht bist, so beneide ich dich nicht. Jedenfalls hätte ich an deiner Stelle derartige gemeine Schriftstücke nicht aus der Tasche hervorgeholt und mich damit nicht beschmutzt. Du dagegen hast das getan. Aber da du damit angefangen hast, so will ich dir sagen, daß auch ich vor etwa sechs Tagen einen albernen anonymen Brief erhalten habe. Darin versichert mir irgendein Taugenichts, Nikolai Wsewolodowitsch habe den Verstand verloren und ich müsse mich vor einer lahmen Frauensperson hüten, die ›in meinem Lebensschicksal eine wichtige Rolle spielen werde‹, ich habe den Ausdruck im Gedächtnis behalten. Ich dachte nach, und da ich weiß, daß Nikolai Wsewolodowitsch außerordentlich viele Feinde hat, so ließ ich sogleich einen hiesigen Einwohner, einen geheimen, besonders rachsüchtigen, verachtenswerten Feind meines Sohnes, zu mir kommen und überzeugte mich im Gespräche mit ihm augenblicklich von dem verächtlichen Ursprunge des anonymen Briefes. Wenn auch du, meine arme Praskowja Iwanowna, um meinetwillen mit solchen verächtlichen Briefen belästigt und, wie du dich ausgedrückt hast, bombardiert worden bist, so tut es mir aufrichtig leid, daß ich die unschuldige Ursache davon gewesen bin. Das ist alles, was ich dir zur Erklärung sagen wollte. Mit Bedauern sehe ich, daß du so müde und so außer dir bist. Ferner bin ich fest entschlossen, sogleich diesen verdächtigen Menschen hereinkommen zu lassen, von welchem Mawriki Nikolajewitsch gesagt hat, es sei unmöglich, ihn zu ›empfangen‹; dieser Ausdruck paßt hier freilich nicht. Aber speziell Lisa wird dabei nichts zu tun haben. Komm zu mir her, liebe Lisa, und laß dich noch einmal küssen!«

Lisa durchschritt das Zimmer und blieb schweigend vor Warwara Petrowna stehen. Diese küßte sie, faßte sie an beiden Händen, schob sie ein wenig von sich zurück und betrachtete sie mit warmer Empfindung; dann bekreuzte sie sie und küßte sie noch einmal.

»Nun, dann lebewohl, Lisa« (Warwara Petrownas Stimme klang fast, als ob sie die Tränen unterdrückte), »sei überzeugt, daß ich niemals aufhören werde, dich zu lieben, was dir auch das Schicksal von nun an bringen mag … Gott sei mit dir! Ich habe mich immer willig in das gefügt, was Seine heilige Hand über uns verhängt …«

Sie wollte noch etwas hinzufügen, beherrschte sich aber und schwieg. Lisa ging, immer noch in gleicher Weise schweigend und wie in Gedanken versunken, nach ihrem Platze zu, blieb aber plötzlich vor ihrer Mutter stehen.

»Ich werde noch nicht fortfahren, Mama; ich werde noch eine Weile bei der Tante bleiben,« sagte sie leise; aber aus diesen leisen Worten konnte man eine eiserne Entschlossenheit heraushören.

»Herr du mein Gott, was stellt das nun wieder vor!« jammerte Praskowja Iwanowna und schlug kraftlos die Hände zusammen.

Aber Lisa antwortete nicht und schien nicht einmal zu hören; sie setzte sich in ihre frühere Ecke und begann wieder irgendwohin in die Luft zu sehen.

Ein stolzes Siegesbewußtsein leuchtete in Warwara Petrownas Gesichte auf.

»Mawriki Nikolajewitsch, ich habe eine große Bitte an Sie: tun Sie mir doch den Gefallen, nach unten zu gehen und sich diesen Menschen anzusehen; und wenn es einigermaßen möglich ist, ihn hereinzulassen, so bringen Sie ihn hierher!«

Mawriki Nikolajewitsch verbeugte sich und ging hinaus. Eine Minute darauf kehrte er mit Herrn Lebjadkin zurück.

 

IV

Ich habe schon einiges von dem Äußeren dieses Herrn gesagt: er war ein hochgewachsener, kraushaariger, vierschrötiger Mann, etwa vierzig Jahre alt, mit rotem, etwas schwammigem, aufgedunsenem Gesichte, in welchem die Backen bei jeder Kopfbewegung zitterten, mit kleinen, blutunterlaufenen, manchmal sehr schlau blickenden Augen, mit Schnurrbart und Backenbart und mit einem vorstehenden, fleischigen Kehlkopf von recht häßlichem Aussehen. Aber am meisten überraschte bei ihm der Umstand, daß er jetzt im Frack und mit reiner Wäsche erschien. »Bei manchen Leuten sieht reine Wäsche geradezu unanständig aus,« hatte Liputin einmal gesagt, als ihm Stepan Trofimowitsch einen scherzhaften Vorwurf wegen seiner Unsauberkeit machte. Der Hauptmann hatte auch schwarze Handschuhe, von denen er den rechten noch nicht angezogen hatte, sondern in der Hand hielt, während der linke, straff anliegend und nicht zugeknöpft, nur zur Hälfte seine dicke linke Tatze bedeckte, in welcher er einen ganz neuen, glänzenden und gewiß zum ersten Male in Gebrauch genommenen Zylinderhut hielt. Es erwies sich also, daß der »Liebesfrack«, von dem er Schatow gestern etwas zugeschrien hatte, tatsächlich existierte. Alles dies, das heißt der Frack und die Wäsche, war, wie ich nachher erfuhr, auf Liputins Rat für irgendwelche geheimen Zwecke angeschafft worden. Und wenn er jetzt hierher gefahren war (in einer Droschke!), so war auch dies zweifellos nach fremder Anweisung und mit jemandes Beihilfe geschehen; allein würde er es in Zeit von etwa dreiviertel Stunden nicht fertig gebracht haben, auf diesen Einfall zu kommen, sich zu entschließen, sich anzukleiden und fertigzumachen, angenommen sogar, daß die Szene in der Vorhalle des Domes sogleich zu seiner Kenntnis gelangt wäre. Er war nicht betrunken, befand sich aber in dem peinlichen, benommenen, dumpfen Zustande eines Menschen, der nach mehrtägiger Betrunkenheit auf einmal zur Besinnung kommt. Ich glaube, man hatte ihn nur ein paarmal mit der Hand an der Schulter hin und her zu biegen gebraucht, und er wäre sofort wieder betrunken gewesen.

Er wollte schnell und forsch in den Salon eintreten, stolperte aber an der Tür über den Teppich. Marja Timofejewna lachte sich darüber beinah tot. Er sah sie mit einem wilden Blicke an und machte plötzlich einige schnelle Schritte auf Warwara Petrowna zu.

»Ich bin gekommen, gnädige Frau ...« begann er trompetenhaft loszuschmettern.

»Tun Sie mir den Gefallen, mein Herr,« sagte Warwara Petrowna, sich gerade aufrichtend, »und nehmen Sie dort Platz, auf jenem Stuhle! Ich kann Sie auch von dort aus hören und werde Sie von hier aus besser ansehen können.«

Der Hauptmann blieb stehen und starrte stumpfsinnig vor sich hin, drehte sich aber dann doch um und setzte sich auf den angewiesenen Platz, dicht an der Tür. Ein starkes Mißtrauen gegen sich selbst, zugleich damit aber auch Frechheit und eine ständige Reizbarkeit kamen auf seinem Gesichte zum Ausdruck. Er hatte schreckliche Angst, das war augenscheinlich; aber auch sein Selbstgefühl hatte schwer zu leiden, und man mußte darauf gefaßt sein, daß er aus verletztem Selbstgefühl trotz seiner Angst sich bei Gelegenheit zu irgendwelcher Frechheit entschließen werde. Augenscheinlich machte ihm jede Bewegung seines ungeschlachten Körpers Sorge. Bekanntlich sind bei all solchen Herren, wenn dieselben durch einen wunderlichen Zufall in gute Gesellschaft hineingeraten, das Hauptunglück ihre eigenen Hände und das dauernde Bewußtsein, daß sie sie nicht anständig unterzubringen wissen. Der Hauptmann saß starr auf seinem Stuhle, mit seinem Hute und den Handschuhen in der Hand, und wandte seinen gedankenlosen Blick nicht von Warwara Petrownas ernstem Gesichte ab. Er hätte vielleicht gern aufmerksamer um sich gesehen, wagte das aber vorläufig noch nicht. Marja Timofejewna, die seine Figur wahrscheinlich wieder furchtbar lächerlich fand, kicherte von neuem los; aber er rührte sich nicht. Warwara Petrowna ließ ihn lange, eine ganze Minute lang, ohne Erbarmen in dieser Positur verbleiben, indem sie ihn schonungslos musterte.

»Erlauben Sie mir zunächst, Sie selbst nach Ihrem Namen zu fragen,« sagte sie dann in gemessenem, nachdrücklichem Tone.

»Hauptmann Lebjadkin,« donnerte der Hauptmann. »Ich bin gekommen, gnädige Frau ...« er wollte sich wieder von seinem Platze rühren.

»Erlauben Sie!« unterbrach ihn Warwara Petrowna und hielt ihn durch eine Handbewegung zurück. »Ist diese bemitleidenswerte Person, die in so hohem Grade meine Teilnahme erweckt hat, wirklich Ihre Schwester?«

»Jawohl, sie ist meine Schwester, gnädige Frau; sie ist der Aufsicht entronnen; denn sie befindet sich in einem solchen Zustande ...«

Er stockte plötzlich und wurde dunkelrot.

»Fassen Sie das nicht falsch auf, gnädige Frau,« fuhr er dann in schrecklicher Verwirrung fort; »der leibliche Bruder wird nichts Beschimpfendes sagen ... in einem solchen Zustande, das bedeutet nicht in einem solchen Zustande ... in einem den Ruf befleckenden Sinne ... in der letzten Zeit ...«

Er brach plötzlich ab.

»Mein Herr!« Warwara Petrowna hob den Kopf in die Höhe.

»Sehen Sie: in einem solchen Zustande!« schloß er plötzlich, indem er sich mit dem Finger mitten auf die Stirn tippte.

Es trat für eine Weile Stillschweigen ein.

»Leidet sie daran schon lange?« fragte Warwara Petrowna langsam.

»Gnädige Frau, ich bin gekommen, um Ihnen für die Großmut, die Sie ihr in der Vorhalle des Domes erwiesen haben, auf echt russische Art brüderlich zu danken ...«

»Brüderlich?«

»Das heißt, nicht brüderlich, sondern nur in dem Sinne, daß ich der Bruder meiner Schwester bin, gnädige Frau, und seien Sie überzeugt, gnädige Frau,« fuhr er, die Anrede häufig wiederholend, fort und wurde wieder dunkelrot, »daß ich nicht so ungebildet bin, wie ich in Ihrem Salon auf den ersten Blick vielleicht erscheine. Ich und meine Schwester sind ein Nichts, gnädige Frau, im Vergleiche zu der Pracht, die wir hier wahrnehmen. Außerdem haben wir Feinde, die uns verleumden. Aber auf seinen Ruf ist Lebjadkin stolz, gnädige Frau, und ... und ... ich bin gekommen, um zu danken ... Hier ist das Geld, gnädige Frau!«

Er zog eine Brieftasche hervor, entnahm ihr ein Päckchen Banknoten und begann unter ihnen mit zitternden Fingern in einem wütenden Anfall von Ungeduld zu suchen. Offenbar wollte er noch möglichst schnell etwas zur Erklärung sagen, und das war ja auch sehr notwendig; aber da er wahrscheinlich selbst merkte, daß das Herumkramen in dem Gelde ihm ein noch dümmeres Ansehen gab, so verlor er den letzten Rest von Selbstbeherrschung; das Geld wollte sich absolut nicht zusammenzählen lassen; seine Finger hinderten sich gegenseitig, und um die Blamage voll zu machen, glitt ein grüner Schein aus der Brieftasche heraus und flatterte im Zickzack auf den Teppich.

»Zwanzig Rubel, gnädige Frau,« sagte er und sprang mit einigen Banknoten in der Hand auf; sein Gesicht war von der ausgestandenen Qual mit Schweiß bedeckt; als er auf dem Fußboden die hingefallene Banknote bemerkte, wollte er sich schon bücken, um sie aufzuheben, schämte sich aber aus irgendwelchem Grunde und machte eine verzichtende Handbewegung.

»Für Ihre Leute, gnädige Frau, für den Bedienten, der es aufheben wird; mag er sich an Lebjadkin erinnern!«

»Das kann ich unter keinen Umständen zulassen,« versetzte Warwara Petrowna eilig und ein wenig ängstlich.

»Nun dann ...«

Er bückte sich, hob den Schein auf, wurde dunkelrot, trat plötzlich auf Warwara Petrowna zu und hielt ihr das abgezählte Geld hin.

»Was ist das?« fragte sie; sie war jetzt ganz erschrocken und bog sich sogar in ihrem Lehnstuhl zurück.

Mawriki Nikolajewitsch, ich und Stepan Trofimowitsch taten jeder ein paar Schritte vorwärts.

»Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich; ich bin nicht verrückt; ich bin wahrhaftig nicht verrückt,« versicherte der Hauptmann in großer Aufregung nach allen Seiten hin.

»Doch, mein Herr; Sie haben den Verstand verloren.«

»Gnädige Frau, das verhält sich alles anders, als Sie meinen! Ich bin freilich nur ein unbedeutendes Glied in der Kette ... Oh, gnädige Frau, Ihre Prunkgemächer sind reich, und armselig ist die Wohnung meiner Schwester Marja Namenlos, geborenen Lebjadkina; aber wir nennen sie vorläufig Marja Namenlos, vorläufig, gnädige Frau, nur vorläufig; denn für die Dauer wird das Gott selbst nicht zulassen! Gnädige Frau, Sie haben ihr zehn Rubel gegeben, und sie hat sie angenommen, aber nur weil sie von Ihnen kamen, gnädige Frau! Hören Sie, gnädige Frau! Von keinem andern in der Welt nimmt diese Marja Namenlos etwas an; sonst müßte sich ja ihr Großvater, der Stabsoffizier, der im Kaukasus vor Jermolows eigenen Augen fiel, im Grabe umdrehen; aber von Ihnen, gnädige Frau, von Ihnen nimmt sie alles an. Aber mit der einen Hand nimmt sie an, und mit der andern reicht sie Ihnen hier zwanzig Rubel, in Gestalt einer Spende für eines der hauptstädtischen Wohltätigkeitskomitees, deren Mitglied Sie, gnädige Frau, sind ... wie Sie ja selbst, gnädige Frau, in den ›Moskauer Nachrichten‹ angezeigt haben, daß bei Ihnen hier in unserer Stadt das Gabenbuch einer wohltätigen Gesellschaft ausliegt, in das sich jeder eintragen kann ...«

Der Hauptmann brach plötzlich ab; er atmete mühsam, wie nach einer schweren Heldentat. Alles, was er über das Wohltätigkeitskomitee gesagt hatte, war wahrscheinlich vorher zurechtgelegt, vielleicht ebenfalls unter Liputins Redaktion. Er schwitzte jetzt noch ärger; der Schweiß stand ihm in großen Tropfen an den Schläfen. Warwara Petrowna blickte ihn durchdringend an.

»Dieses Buch«, erwiderte sie in strengem Tone, »befindet sich immer unten bei dem Portier meines Hauses; dort können Sie Ihre Gabe eintragen, wenn Sie wollen. Deshalb bitte ich Sie, Ihr Geld jetzt einzustecken und nicht damit in der Luft herumzufuchteln. So ist's schön. Ferner bitte ich Sie, Ihren früheren Platz wieder einzunehmen. So ist's schön. Ich bedauere sehr, mein Herr, daß ich mich in betreff Ihrer Schwester geirrt und ihr eine Unterstützung gegeben habe, während sie so reich ist. Nur eines verstehe ich nicht: warum sie von mir allein etwas annehmen kann, von andern aber um keinen Preis etwas annehmen will. Sie haben darauf einen solchen Nachdruck gelegt, daß ich eine ganz genaue Erklärung zu erhalten wünsche.«

»Gnädige Frau, das ist ein Geheimnis, das vielleicht erst im Sarge begraben sein wird!« antwortete der Hauptmann.

»Warum denn?« fragte Warwara Petrowna, aber ihr Ton war nicht mehr ganz so fest.

»Gnädige Frau, gnädige Frau! ...«

Er schwieg mit finsterer Miene, blickte zu Boden und legte die rechte Hand auf das Herz. Warwara Petrowna wartete, ohne die Augen von ihm abzuwenden.

»Gnädige Frau!« brüllte er auf einmal los, »erlauben Sie, daß ich Ihnen eine Frage vorlege, nur eine einzige, aber offen, geradezu, in echt russischer Art, von Herzen?«

»Bitte sehr.«

»Haben Sie in Ihrem Leben gelitten, gnädige Frau?«

»Sie wollen einfach sagen, daß Sie selbst von jemandem zu leiden gehabt haben oder noch zu leiden haben?«

»Gnädige Frau, gnädige Frau!« Er sprang auf einmal wieder auf, wahrscheinlich ohne sich dessen selbst bewußt zu werden, und schlug sich gegen die Brust. »Hier in diesem Herzen hat sich so viel angesetzt von allem, was darin gesiedet hat, so viel, daß beim Jüngsten Gerichte Gott selbst sich wundern wird, wenn es zutage kommt!«

»Hm! Das ist stark ausgedrückt.«

»Gnädige Frau, ich spreche vielleicht in etwas gereiztem Tone ...«

»Seien Sie unbesorgt; ich weiß schon selbst, wann es nötig sein wird, Sie anzuhalten.«

»Darf ich Ihnen noch eine Frage vorlegen, gnädige Frau?«

»Tun Sie das!«

»Kann man einzig und allein an Edelmut des Herzens sterben?«

»Das weiß ich nicht; ich habe mir diese Frage noch nicht vorgelegt.«

»Sie wissen es nicht! Sie haben sich diese Frage noch nicht vorgelegt!« schrie er mit spöttischem Pathos. »Wenn's so ist, wenn's so ist, dann

›Schweig still, mein hoffnungsleeres Herz!‹«

Und er schlug sich wütend gegen die Brust.

Er ging schon wieder im Zimmer auf und ab. Eine Eigenheit dieser Leute besteht darin, daß sie völlig außerstande sind, ihre Wünsche in ihrem Innern zurückzuhalten, und vielmehr einen unüberwindlichen Drang verspüren, dieselben sofort nach ihrem Entstehen zu äußern, sogar in ihrer ganzen Häßlichkeit. Wenn ein solcher Herr in eine Gesellschaft hineingerät, in die er nicht hineinpaßt, so benimmt er sich gewöhnlich anfangs schüchtern; aber sobald man ihm die Zügel auch nur ein klein wenig locker läßt, geht er sofort zu Dreistigkeiten über. Der Hauptmann war bereits in Hitze geraten; er ging hin und her, schwenkte die Arme, hörte nicht auf Fragen und redete in sehr schnellem Tempo von sich selbst, so daß die Zunge manchmal nicht mitkonnte und er, ohne den Satz zu Ende zu bringen, auf einen andern übersprang. Allerdings war er nicht ganz nüchtern; auch saß Lisaweta Nikolajewna dabei, nach der er zwar nie hinblickte, deren Gegenwart aber bei ihm anscheinend ein starkes Gefühl des Schwindels hervorrief. Übrigens war das von mir nur eine Vermutung. Es mußte also einen Grund geben, weshalb Warwara Petrowna mit Überwindung ihres Widerwillens sich entschloß, einen solchen Menschen anzuhören. Praskowja Iwanowna zitterte einfach vor Angst; allerdings schien sie nicht ganz zu verstehen, um was es sich handelte. Stepan Trofimowitsch zitterte ebenfalls, aber im Gegensatze zu ihr, weil er immer geneigt war, zuviel zu verstehen. Mawriki Nikolajewitsch stand in der Haltung des gemeinsamen Beschützers da. Lisa war etwas blaß und blickte mit weit geöffneten Augen unverwandt nach dem wilden Hauptmann hin. Schatow saß in seiner früheren Haltung da; aber was das Allerseltsamste war, Marja Timofejewna hatte nicht nur aufgehört zu lachen, sondern war sogar schrecklich traurig geworden. Sie hatte sich mit dem rechten Ellbogen auf den Tisch gestützt und verfolgte mit einem langen, traurigen Blicke ihren schwadronierenden Bruder. Nur Darja Pawlowna schien mir ruhig zu sein.

»Das ist ja lauter törichtes allgemeines Geschwätz!« rief Warwara Petrowna endlich ärgerlich. »Sie haben noch nicht auf meine Frage ›warum‹ geantwortet. Ich warte immer noch auf Ihre Antwort und dringe darauf.«

»Ich habe nicht geantwortet ›warum‹? Sie erwarten eine Antwort auf die Frage ›warum‹?« erwiderte der Hauptmann, mit den Augen zwinkernd. »Dieses kleine Wörtchen ›warum‹ ist seit dem ersten Schöpfungstage durch das ganze Weltall ausgegossen, gnädige Frau, und die ganze Natur schreit ihrem Schöpfer in jedem Augenblicke zu: ›warum?‹ und erhält schon siebentausend Jahre lang keine Antwort. Soll wirklich nur Hauptmann Lebjadkin darauf antworten? Kann man diese Forderung als gerecht ansehen, gnädige Frau?«

»Das ist lauter Unsinn und keine Antwort, wie sie sich gehört!« Warwara Petrowna war zornig geworden und hatte die Geduld verloren. »Das ist allgemeines Gerede; zudem erlauben Sie sich allzu hochfahrend zu sprechen, mein Herr, was ich für eine Dreistigkeit halte.«

»Gnädige Frau,« redete der Hauptmann weiter, wie wenn er nicht gehört hätte, »ich würde vielleicht wünschen Erneste zu heißen, während ich genötigt bin, den plebejischen Namen Ignat zu tragen; warum? wie denken Sie darüber? Ich würde wünschen Fürst de Montbard zu heißen, während ich Lebjadkin heiße, von dem Worte lebed Der Schwan. Anmerkung des Übersetzers.; warum? Ich bin ein Dichter, gnädige Frau, ein Dichter aus tiefstem Drange der Seele, und könnte tausend Rubel von einem Verleger erhalten, während ich genötigt bin, in einem Spüleimer zu leben; warum, ja warum? Gnädige Frau! Meiner Ansicht nach ist Rußland ein Spiel der Natur, nichts weiter!«

»Sind Sie wirklich nicht imstande, etwas mehr zur Sache Gehörendes zu sagen?«

»Ich kann Ihnen das Gedicht ›die Schabe‹ deklamieren, gnädige Frau!«

»Wa-a-as?«

»Gnädige Frau, ich bin noch nicht verrückt! Ich werde einmal verrückt werden, gewiß; aber ich bin noch nicht verrückt! Gnädige Frau, ein Freund von mir, ein Mann von edelster Gesinnung, hat eine Krylowsche Fabel mit der Überschrift ›Die Schabe‹ geschrieben; darf ich sie Ihnen vortragen?«

»Sie wollen mir eine Krylowsche Fabel vortragen?«

»Nein, ich will Ihnen keine Krylowsche Fabel vortragen, sondern eine Fabel von mir, mein eigenes Produkt! Sie können, ohne sich selbst zu nahe zu treten, glauben, gnädige Frau, daß ich nicht dermaßen ungebildet und verkommen bin, um nicht zu wissen, daß Rußland den großen Fabeldichter Krylow besitzt, dem der Kultusminister im Sommergarten ein Denkmal errichtet hat, damit die Kinder drum herumspielen. Sie fragen ›warum‹, gnädige Frau? Die Antwort steht mit feurigen Lettern auf dem Grunde dieser Fabel geschrieben!«

»Nun, dann tragen Sie Ihre Fabel vor!«

»Eine Schabe, flach und schwärzlich,
Lebte ohne Neid und Haß;
Leider fiel sie (oh, wie schmerzlich!)
In ein volles Fliegenglas.«

»Was soll das heißen: ein Fliegenglas?« rief Warwara Petrowna.

»Das heißt, wenn im Sommer,« erklärte der Hauptmann eilig unter gewaltigen Gestikulationen, mit der reizbaren Ungeduld eines Autors, den man verhindert, sein Werk vorzutragen, »wenn im Sommer die Fliegen in ein Glas hineinkriechen, so wird das ein Fliegenglas; das versteht doch jeder Dummkopf; unterbrechen Sie mich nicht; Sie werden schon sehen, Sie werden schon sehen ...« (er fuchtelte mit den Händen in der Luft umher):

»Und bei Zeus erhob Beschwerde
Alsobald der Fliegen Chor,
Daß der Raum verengert werde,
Der kaum ausgereicht zuvor.
Während man sich so beklagte,
Trat Nikifor schnell hinzu,
Er, der edle, hochbetagte ...

»Weiter habe ich das Gedicht noch nicht fertig; aber das ist ganz egal, ich werde es Ihnen in Prosa sagen!« fuhr der Hauptmann fort zu schwatzen. »Nikifor nimmt das Glas und schüttet trotz alles Geschreies die ganze Komödie, Fliegen und Schabe, in den Spüleimer, was er schon längst hätte tun sollen! Aber beachten Sie das wohl, beachten Sie das wohl, gnädige Frau: die Schabe murrt nicht! Das ist die Antwort auf Ihre Frage: ›warum‹,« rief er triumphierend. » Die Schabe murrt nicht! Was aber Nikifor anlangt, so repräsentiert er die Natur,« fügte er eilig hinzu und ging selbstzufrieden im Zimmer auf und ab.

Warwara Petrowna war wütend.

»Gestatten Sie die Frage: was hat es für eine Bewandtnis mit dem Gelde, das Sie angeblich von Nikolai Wsewolodowitsch erhalten haben, und das Ihnen angeblich nicht vollständig ausgezahlt ist, und wegen dessen Sie eine zu meinem Hause gehörige Person zu beschuldigen gewagt haben?«

»Verleumdung!« brüllte Lebjadkin und hob schauspielerhaft den rechten Arm in die Höhe.

»Nein, das ist keine Verleumdung.«

»Gnädige Frau, es gibt Umstände, die jemanden zwingen können, lieber Schande der Familie zu ertragen als laut die Wahrheit zu verkünden. Lebjadkin wird nicht mehr sagen, als er darf, gnädige Frau!«

Er war wie ein Geblendeter; er war in Begeisterung; er fühlte seine Wichtigkeit; gewiß schwebte ihm etwas der Art vor. Jetzt verlangte es ihn, zu beleidigen, Schaden anzurichten, seine Macht zu zeigen.

»Bitte, klingeln Sie, Stepan Trofimowitsch!« bat Warwara Petrowna.

»Lebjadkin ist schlau, gnädige Frau!« sagte er häßlich lächelnd und mit den Augen zwinkernd; »er ist schlau; aber auch für ihn gibt es ein Hindernis, eine Vorhalle der Leidenschaften! Und diese Vorhalle, das ist die alte Husaren-Feldflasche, die Denis Dawydow besungen hat. Und wenn er sich in dieser Vorhalle befindet, gnädige Frau, dann kommt es vor, daß er einen hochpoetischen Brief absendet, einen ganz prächtigen Brief, den er aber nachher mit den Tränen seines ganzen Lebens wieder zurückkaufen möchte; denn die Empfindung des Schönen wird verletzt. Aber wenn der Vogel einmal ausgeflogen ist, kann man ihn nicht mehr am Schwänze fassen! In dieser Vorhalle also, gnädige Frau, konnte Lebjadkin auch über ein edles Mädchen etwas in Gestalt einer edlen Entrüstung seiner durch Kränkungen aufgewühlten Seele sagen, was dann seine Verleumder ausgenutzt haben. Aber Lebjadkin ist schlau, gnädige Frau! Und vergebens sitzt der böse Wolf lauernd neben ihm und gießt ihm alle Augenblicke ein und wartet auf das schließliche Ergebnis; aber Lebjadkin verplappert sich nicht, und auf dem Boden der Flasche findet sich jedesmal statt der erwarteten Auskunft – Lebjadkins Schlauheit! Aber genug davon, oh, genug davon! Gnädige Frau, Ihre prächtigen Gemächer könnten dem Edelsten aller Sterblichen gehören; aber die Schabe murrt nicht! Achten Sie wohl darauf, achten Sie wohl darauf, daß die Schabe nicht murrt, und erkennen Sie ihre Geistesgröße an!«

In diesem Augenblicke ertönte von unten, aus der Portierloge, die Glocke, und unmittelbar darauf erschien, etwas verspätet nach Stepan Trofimowitschs Klingeln, Alexei Jegorowitsch. Der alte würdige Diener befand sich in ungewöhnlicher Aufregung.

»Nikolai Wsewolodowitsch sind soeben angekommen und kommen hierher,« sagte er als Antwort auf Warwara Petrownas fragenden Blick.

Ich erinnere mich mit besonderer Deutlichkeit an ihr Aussehen in diesem Augenblicke: zuerst wurde sie blaß; dann fingen ihre Augen auf einmal an zu funkeln. Sie richtete sich in ihrem Lehnstuhl mit der Miene festester Entschlossenheit gerade auf. Aber auch alle übrigen waren überrascht. Nikolai Wsewolodowitschs ganz unerwartete Ankunft, die wir erst etwa in einem Monat erwartet hatten, erschien nicht nur durch ihre Plötzlichkeit seltsam, sondern besonders auch durch ihr verhängnisvolles Zusammentreffen mit der augenblicklichen Situation. Sogar der Hauptmann blieb wie ein Pfahl mitten im Zimmer stehen, sperrte den Mund auf und blickte mit furchtbar dummem Gesichte nach der Tür.

Da ließen sich aus dem anstoßenden Saale, einem langen, großen Raume, Schritte vernehmen, die sich schnell näherten, kleine, außerordentlich rasch aufeinander folgende Schritte; es war, als ob jemand angerollt käme; und plötzlich kam der Ankömmling in den Salon hineingeeilt, – aber es war gar nicht Nikolai Wsewolodowitsch, sondern ein uns allen völlig unbekannter junger Mensch.

 

V

Ich erlaube mir, hier einen Augenblick stehen zu bleiben und, wenn auch nur mit ein paar flüchtigen Strichen, diese plötzlich erschienene Person zu skizzieren.

Es war ein junger Mensch von ungefähr siebenundzwanzig Jahren, ein wenig über Mittelgröße, mit dünnem, blondem, ziemlich langem Haar und spärlichem, kaum bemerkbarem Schnurr- und Kinnbart. Er war sauber und sogar nach der Mode, aber nicht stutzerhaft gekleidet; auf den ersten Blick schien er krumm und unbeholfen zu sein; er war aber ganz und gar nicht krumm und sogar recht gewandt. Er machte den Eindruck eines wunderlichen Gesellen, und doch fanden alle nachher seine Manieren sehr anständig, und was er redete, sehr passend und sachgemäß.

Niemand kann sagen, daß der junge Mensch häßlich wäre; aber doch gefällt sein Gesicht niemandem. Sein Kopf ist hinten verlängert und wie von den Seiten zusammengedrückt, so daß sein Gesicht spitzig erscheint. Seine Stirn ist hoch und schmal, aber die Gesichtszüge fein, die Augen scharf, das Näschen klein und spitz, die Lippen lang und dünn. Sein Gesichtsausdruck hat etwas Krankhaftes; aber das scheint nur so. Eine magere Falte zieht sich über die Backen und neben den Backenknochen hin, was ihm das Aussehen eines Rekonvaleszenten nach einer schweren Krankheit verleiht. Und doch ist er völlig gesund und kräftig und sogar überhaupt nie krank gewesen.

Er geht und bewegt sich sehr schnell, hastet aber niemals. Es scheint, daß ihn nichts in Verwirrung bringen kann; er bleibt in jeder Situation und in jeder beliebigen Gesellschaft derselbe. Er besitzt eine große Selbstgefälligkeit, bemerkt sie aber an sich gar nicht.

Er spricht schnell und eilig, dabei aber selbstbewußt und ist nicht auf den Mund gefallen. Seine Gedanken sind ruhig und trotz der äußerlichen Eile genau präzisiert; und was besonders auffällt, an dem, was er einmal gesagt hat, ändert er nachher nichts mehr. Seine Aussprache ist erstaunlich deutlich; die Worte rieseln ihm aus dem Munde wie gleichmäßige, große, tadellose Körner, die dem Hörer sofort zu Diensten stehen. Anfangs gefällt einem das; aber dann wird es einem widerwärtig, und zwar gerade wegen dieser allzu deutlichen Aussprache und wegen dieses perlenartigen Geriesels stets dienstbereiter Worte. Man kommt auf den Gedanken, er müsse eine Zunge von besonderer Gestalt im Munde haben, ungewöhnlich lang und schmal, sehr rot, mit besonders feiner, sich ununterbrochen und unwillkürlich bewegender Spitze.

Also dieser junge Mann kam jetzt eilig in den Salon, und wirklich, ich habe noch bis auf den heutigen Tag die Vorstellung, er habe schon im anstoßenden Saal zu sprechen angefangen und sei sprechend hereingekommen. In einem Augenblicke stand er vor Warwara Petrowna.

»... Stellen Sie sich das vor, Warwara Petrowna,« ließ er die Worte herausrieseln, »ich komme herein und denke, er wird schon seit einer Viertelstunde hier sein; vor anderthalb Stunden ist er angekommen; ich bin mit ihm bei Kirillow gewesen; er machte sich von dort vor einer halben Stunde direkt hierher auf und sagte mir, ich möchte nach einer Viertelstunde ebenfalls hierher kommen ...«

»Aber wer denn? Wer hat Ihnen gesagt, Sie möchten hierher kommen?« fragte Warwara Petrowna.

»Nun, Nikolai Wsewolodowitsch! Also erfahren Sie das wirklich erst in diesem Augenblick? Aber sein Gepäck muß doch wenigstens schon hier angekommen sein; wie geht es zu, daß Ihnen das nicht gemeldet ist? Dann bin ich also der erste, der Sie davon benachrichtigt. Man könnte ihn ja zwar von einer gewissen Stelle abholen lassen; aber er wird gewiß gleich von selbst erscheinen, und wie es scheint, gerade in einem Zeitpunkte, der in wunderbarer Weise seinen Erwartungen und, soweit ich es wenigstens beurteilen kann, auch seinen Wünschen entsprecht.« Hier ließ er seine Augen durch das Zimmer schweifen und heftete sie mit besonderer Aufmerksamkeit auf den Hauptmann. »Ah, Lisaweta Nikolajewna, wie freue ich mich, Ihnen hier gleich beim ersten Schritt zu begegnen; ich freue mich sehr, Ihnen die Hand zu drücken!« Damit flog er schnell zu ihr hin, um die Hand zu ergreifen, die Lisa ihm heiter lächelnd entgegenstreckte. »Und soviel ich bemerken kann, hat auch die hochverehrte Praskowja Iwanowna, wie es scheint, ihren ›Professor‹ nicht vergessen und ist nicht mehr zornig auf ihn, wie sie es immer in der Schweiz war. Aber wie geht es Ihnen hier mit den Füßen, Praskowja Iwanowna? Haben die Schweizer Ärzte recht damit gehabt, daß sie Ihnen das heimatliche Klima verordneten? ... Wie? Wundwasser? Das mag wohl sehr nützlich sein. Aber wie sehr habe ich bedauert, Warwara Petrowna« (er drehte sich schnell wieder um), »daß ich Sie damals nicht mehr im Auslande traf und Ihnen nicht mehr persönlich meinen Respekt bezeigen konnte; und zudem hatte ich Ihnen so vieles mitzuteilen. Ich habe diese Mitteilungen allerdings hierher an meinen Vater geschrieben; aber es scheint, daß er nach seiner Gewohnheit ...«

»Peter!« rief Stepan Trofimowitsch, der nun aus seiner Erstarrung zu sich kam; er schlug erstaunt die Hände zusammen und stürzte zu seinem Sohn hin. » Pierre, mon enfant, ich habe dich ja gar nicht erkannt!« Er umschlang ihn mit seinen Armen; die Tränen rollten ihm aus den Augen.

»Na, mach nur keine Geschichten, keine Geschichten! Ohne Gehabe! Na, nun genug, nun genug, ich bitte dich!« murmelte Peter eilig und suchte sich aus der Umarmung frei zu machen.

»Ich habe es dir gegenüber immer, immer an mir fehlen lassen!«

»Na, genug davon; darüber können wir ja später noch reden. Das habe ich mir doch gedacht, daß du eine große Geschichte machen würdest. Na, rege dich nur nicht so auf, ich bitte dich.«

»Aber ich habe dich ja zehn Jahre lang nicht gesehen!«

»Um so weniger Anlaß ist zu solchen Gefühlsergüssen ...«

»Mon enfant!«

»Na, ich glaube ja, ich glaube ja, daß du mich liebst; nimm nur deine Arme weg! Du störst ja die andern ... Ah, da ist ja auch Nikolai Wsewolodowitsch! Na, nun laß endlich die Torheiten, ich bitte dich!«

Nikolai Wsewolodowitsch war tatsächlich bereits im Zimmer; er war sehr leise eingetreten, war einen Augenblick in der Tür stehen geblieben und überschaute mit ruhigem Blicke die Versammelten.

Wie vor vier Jahren, als ich ihn zum erstenmal sah, so war ich auch jetzt beim ersten Blick auf ihn überrascht. Ich hatte ihn keineswegs vergessen; aber es gibt, wie es scheint, Physiognomien, die immer, jedesmal wenn sie einem vorkommen, gleichsam etwas Neues mit sich bringen, etwas, was man an ihnen noch nicht bemerkt hat, wenn man ihnen auch hundertmal vorher begegnet ist. Anscheinend war er ganz derselbe wie vor vier Jahren, ebenso elegant, ebenso gemessen, ebenso würdevoll in seinem Gange wie damals, sogar beinah ebenso jung. Sein leises Lächeln zeigte dieselbe förmliche Freundlichkeit und dieselbe Selbstzufriedenheit; sein Blick war ebenso ernst, nachdenklich und anscheinend zerstreut. Kurz, es war mir, als hätten wir uns erst gestern voneinander getrennt. Aber eines überraschte mich: wenn man ihn auch früher schön gefunden hatte, so hatte sein Gesicht doch tatsächlich einer Maske ähnlich gesehen, wie sich die bösen Zungen mehrerer Damen unserer höheren Gesellschaftskreise ausgedrückt hatten. Jetzt aber, jetzt aber erschien er mir, ich weiß nicht warum, gleich beim ersten Blick entschieden und unbestreitbar als ein schöner Mann, so daß man in keiner Weise mehr sagen konnte, sein Gesicht habe Ähnlichkeit mit einer Maske. Ob dies daher kam, daß er etwas blasser geworden war als früher und anscheinend auch etwas magerer? Oder leuchtete jetzt vielleicht in seinem Blicke eine neue Sinnesart?

»Nikolai Wsewolodowitsch!« rief Warwara Petrowna, indem sie sich in ihrem Lehnstuhle gerade aufrichtete, sich aber nicht von ihm erhob, und hielt ihren Sohn durch eine gebieterische Handbewegung zurück, »bleib da noch einen Augenblick stehen!«

Aber um die schreckliche Frage verständlich zu machen, die auf diese Handbewegung und diesen befehlenden Anruf folgte, eine Frage, die ich sogar in Warwara Petrownas Munde nicht für möglich gehalten hatte, muß ich den Leser bitten, sich daran zu erinnern, wie eigenartig Warwara Petrownas Charakter während ihres ganzen Lebens war, und von welcher ungewöhnlichen Heftigkeit er in manchen außerordentlichen Augenblicken sein konnte. Ich bitte den Leser auch zu bedenken, daß trotz der großen seelischen Festigkeit und trotz der bedeutenden Portion von Vernunft und von praktischem, ja sozusagen sogar wirtschaftlichem Taktgefühl, welche sie besaß, es doch in ihrem Leben nicht an Momenten fehlte, in denen sie sich auf einmal ganz und, wenn man sich so ausdrücken kann, völlig zügellos gehen ließ. Schließlich bitte ich noch, in Betracht zu ziehen, daß der gegenwärtige Augenblick tatsächlich für sie einer von denen sein konnte, in denen sich plötzlich wie in einem Brennpunkte der gesamte Inhalt des Lebens, der ganzen Vergangenheit, der ganzen Gegenwart und womöglich auch der ganzen Zukunft konzentriert. Ich erinnere auch noch beiläufig an den anonymen Brief, den sie empfangen und von dem sie kurz vorher in so gereiztem Tone zu Praskowja Iwanowna gesprochen hatte, wobei sie, wie es schien, den weiteren Inhalt des Briefes verschwiegen hatte; aus diesem Briefe erklärte es sich aber vielleicht, wie sie dazu kam, sich plötzlich mit dieser schrecklichen Frage an ihren Sohn zu wenden.

»Nikolai Wsewolodowitsch,« sagte sie, indem sie jedes Wort mit fester Stimme und im Tone einer drohenden Herausforderung deutlich artikulierte, »ich bitte Sie, sagen Sie sogleich, ohne von diesem Platze wegzugehen: ist es wahr, daß diese unglückliche, lahme Frauensperson (die da, sehen Sie sie an!), ist es wahr, daß sie ... Ihre legitime Ehefrau ist?«

Ich erinnere mich sehr genau an diesen Augenblick; Nikolai Wsewolodowitsch zuckte mit keiner Wimper und blickte seine Mutter unverwandt an; auf seinem Gesichte vollzog sich nicht die geringste Veränderung. Endlich lächelte er langsam mit einer Art von Herablassung, trat, ohne ein Wort zu erwidern, sachte an seine Mutter heran, ergriff ihre Hand, führte sie respektvoll an die Lippen und küßte sie. Und sein steter, unwiderstehlicher Einfluß auf seine Mutter war so stark, daß sie auch jetzt es nicht wagte, die Hand wegzuziehen. Sie blickte ihn nur, ganz Frage, ganz Spannung, an, und ihre ganze Erscheinung besagte, daß sie die Ungewißheit keinen Augenblick länger ertragen könne.

Aber er schwieg weiter. Nachdem er seiner Mutter die Hand geküßt hatte, ließ er seinen Blick noch einmal durch das ganze Zimmer umherwandern und ging dann mit derselben Ruhe wie vorher geradeswegs auf Marja Timofejewna zu. Es ist sehr schwer, den Gesichtsausdruck der Menschen in manchen Augenblicken zu beschreiben. Ich erinnere mich zum Beispiel, daß Marja Timofejewna, halb tot vor Schreck, sich zu seinem Empfange erhob und, als ob sie ihn anflehen wollte, die Hände vor der Brust faltete; zugleich aber erinnere ich mich auch an das Entzücken, das sich in ihrem Blicke aussprach, ein sinnloses Entzücken, das beinah ihre Gesichtszüge entstellte, ein Entzücken, wie es Menschen nur schwer ertragen können. Es war bei ihr wohl beides vorhanden, Schreck und Entzücken; aber ich erinnere mich, daß ich schnell zu ihr herantrat (ich stand nicht weit von ihr), da es mir schien, daß sie im nächsten Augenblick in Ohnmacht fallen werde.

»Sie können hier nicht bleiben,« sagte Nikolai Wsewolodowitsch zu ihr mit freundlicher, wohlklingender Stimme, und in seinen Augen leuchtete eine große Zärtlichkeit auf.

Er stand in der respektvollsten Haltung vor ihr, und in jeder seiner Bewegungen kam die aufrichtigste Hochachtung zum Ausdruck. Das arme Mädchen stammelte hastig, halb flüsternd und nur mühsam atmend:

»Aber darf ich ... jetzt gleich ... vor Ihnen niederknien?«

»Nein, das geht nicht,« antwortete er mit einem prächtigen Lächeln, so daß auch sie auf einmal freudig lächelte.

Dann fügte er mit derselben wohlklingenden Stimme, indem er ihr wie einem Kinde zärtlich zuredete, ernst hinzu:

»Bedenken Sie, daß Sie ein Mädchen sind, und daß ich zwar Ihr treuester Freund, aber doch kein Angehöriger von Ihnen bin, weder Ihr Mann, noch Ihr Vater, noch Ihr Bräutigam. Nehmen Sie meinen Arm, und kommen Sie; ich werde Sie zum Wagen führen und Sie, wenn Sie erlauben, selbst nach Ihrer Wohnung begleiten.«

Sie hatte zugehört und ließ nun, wie nachdenkend, den Kopf sinken.

»Wir wollen gehen,« sagte sie seufzend und nahm seinen Arm.

Aber nun begegnete ihr ein kleines Unglück. Wahrscheinlich hatte sie eine unvorsichtige Wendung gemacht und war dabei auf ihr krankes, zu kurzes Bein getreten; kurz, sie fiel mit der ganzen Seite auf den Lehnstuhl und wäre, wenn dieser nicht dagestanden hätte, auf den Fußboden gefallen. Im selben Augenblick ergriff Nikolai Wsewolodowitsch sie, richtete sie auf, faßte sie kräftig unter den Arm und führte sie teilnahmsvoll und behutsam zur Tür. Sie war offenbar betrübt über ihren Fall, wurde verlegen, errötete und schämte sich schrecklich. Schweigend, zur Erde blickend und stark hinkend wankte sie neben ihm her; sie hing beinah an seinem Arme. So verließen sie das Zimmer. Lisa sprang, wie ich sah, während die beiden hinausgingen, aus irgendwelchem Grunde von ihrem Sessel auf und verfolgte sie mit einem starren Blicke bis zur Tür. Dann setzte sie sich schweigend wieder hin; aber über ihr Gesicht lief ein krampfhaftes Zucken hin, als ob sie ein Reptil berührt hätte.

Während diese ganze Szene zwischen Nikolai Wsewolodowitsch und Marja Timofejewna vorging, hatten alle erstaunt geschwiegen; man hätte eine Fliege hören können; aber kaum waren die beiden hinausgegangen, als plötzlich alle zu reden anfingen.

 

VI

Geredet wurde übrigens nur wenig; größtenteils wurde geschrien. Ich habe jetzt nicht mehr genau im Kopfe, in welcher Reihenfolge dies alles damals vorging; denn es herrschte ein gewaltiger Wirrwarr. Stepan Trofimowitsch rief etwas auf französisch und schlug vor Erstaunen die Hände zusammen; aber Warwara Petrowna hatte keine Lust, sich mit ihm abzugeben. Sogar Mawriki Nikolajewitsch brummte ein paar abgebrochene Bemerkungen schnell vor sich hin. Aber den größten Eifer von allen entwickelte Peter Stepanowitsch; er gab sich unter vielen Gestikulationen die denkbar größte Mühe, Warwara Petrowna von etwas zu überzeugen; aber ich konnte lange Zeit nichts davon verstehen. Auch an Praskowja Iwanowna wandte er sich und an Lisaweta Nikolajewna; er schrie in seinem Eifer sogar seinem Vater etwas zu; kurz, er bewegte sich geschäftig im ganzen Zimmer umher. Warwara Petrowna, die ganz rot im Gesicht geworden war, sprang von ihrem Platze auf und schrie Praskowja Iwanowna zu: »Hast du gehört, hast du gehört, was er hier eben zu ihr gesagt hat?« Aber diese war nicht mehr imstande zu antworten und murmelte nur mit abwehrenden Handbewegungen etwas vor sich hin. Die Ärmste hatte ihre eigene Sorge: sie drehte alle Augenblicke den Kopf nach Lisa hin und blickte sie in grenzenloser Angst an; aber aufzustehen und fortzufahren, bevor sich ihre Tochter erhob, das wagte sie nicht. Inzwischen ließ der Hauptmann deutlich den Wunsch erkennen, sich fortzuschleichen. Dies bemerkte ich. Er befand sich von dem Augenblicke an, wo Nikolai Wsewolodowitsch erschienen war, zweifellos in starker Angst; aber Peter Stepanowitsch ergriff ihn am Arme und ließ ihn nicht weggehen.

»Das ist unbedingt notwendig, unbedingt notwendig,« redete er in seiner gewandten Weise auf Warwara Petrowna ein, immer noch bemüht, sie zu überzeugen.

Er stand vor ihr; sie hatte sich bereits wieder auf den Lehnstuhl gesetzt, und ich erinnere mich, daß sie ihm eifrig zuhörte; er hatte dies erreicht und ihre Aufmerksamkeit gefesselt.

»Das ist unbedingt notwendig. Sie sehen selbst, Warwara Petrowna, daß hier ein Mißverständnis vorliegt; dem Anscheine nach ist hier vieles wunderbar, in Wirklichkeit aber ist die Sache sonnenklar und außerordentlich einfach. Ich bin mir sehr wohl bewußt, daß mich niemand ermächtigt hat, die Sache zu erzählen, und daß ich mich vielleicht lächerlich mache, wenn ich mich selbst dazu aufdränge. Aber erstens legt Nikolai Wsewolodowitsch selbst dieser Sache keine Bedeutung bei, und dann gibt es Fälle, in denen es dem Betreffenden schwer wird, sich zu einer persönlichen Darlegung zu entschließen, und dies notwendigerweise ein dritter übernehmen muß, dem es leichter wird, gewisse delikate Dinge auszusprechen. Glauben Sie mir, Warwara Petrowna, Nikolai Wsewolodowitsch hat ganz recht gehandelt, wenn er Ihnen soeben auf Ihre Frage keine erschöpfende Erklärung gab, trotzdem die Sache eine Lappalie ist; ich kenne sie schon von Petersburg her. Außerdem macht die ganze Geschichte ihm nur Ehre, wenn man dieses unbestimmte Wort ›Ehre‹ einmal gebrauchen soll ...«

»Wollen Sie sagen, daß Sie Zeuge eines Ereignisses gewesen sind, aus dem diese unverständliche Situation hervorgegangen ist?« fragte Warwara Petrowna.

»Zeuge und Teilnehmer,« versicherte Peter Stepanowitsch eilig.

»Wenn Sie mir Ihr Wort darauf geben können, daß Nikolai Wsewolodowitsch, der mir nichts zu verbergen pflegt, dadurch nicht in seinem Zartgefühl verletzt wird, und wenn Sie außerdem davon überzeugt sind, daß Sie ihm damit sogar einen Gefallen erweisen ...«

»Ganz bestimmt erweise ich ihm damit einen Gefallen, und eben deswegen wird es mir ein besonderes Vergnügen sein. Ich bin überzeugt, daß er selbst mich darum bitten würde.«

Das aufdringliche Verlangen dieses plötzlich vom Himmel herabgefallenen Herrn, fremde Erlebnisse zu erzählen, war allerdings recht sonderbar und verstieß gegen die üblichen Formen des Verkehrs. Aber er hatte nun einmal Warwara Petrowna an seiner Angel gefangen, indem er ihren wundesten Punkt berührt hatte. Ich kannte damals den Charakter dieses Menschen noch nicht völlig und noch weniger seine Absichten.

»Nun, dann werde ich zuhören,« sagte Warwara Petrowna zurückhaltend und vorsichtig; ihre Nachgiebigkeit kam ihr offenbar schwer an.

»Die Geschichte ist nur kurz; man kann sogar sagen, daß es eigentlich gar keine Geschichte ist,« begann das Wortgeriesel. »Übrigens könnte ein Romanschriftsteller, wenn er Langeweile hat, daraus einen Roman zurechtkneten. Es ist eine ganz interessante kleine Affäre, Praskowja Iwanowna, und ich bin überzeugt, daß Lisaweta Nikolajewna sie mit lebhafter Teilnahme anhören wird, weil darin viele wenn auch nicht wunderbare, so doch wunderliche Dinge vorkommen. Vor fünf Jahren lernte Nikolai Wsewolodowitsch in Petersburg diesen Herrn kennen, ebendiesen Herrn Lebjadkin hier, der mit offenem Munde dasteht und anscheinend soeben große Lust hatte zu verschwinden. Entschuldigen Sie, Warwara Petrowna! Ich rate Ihnen übrigens nicht, sich davonzumachen, Herr Proviantbeamter a. D. (Sie sehen, ich erinnere mich Ihrer ganz genau). Sowohl mir als auch Nikolai Wsewolodowitsch sind Ihre hiesigen Streiche sehr gut bekannt, und Sie werden, vergessen Sie das nicht, Rechenschaft davon ablegen müssen. Ich bitte noch einmal um Entschuldigung, Warwara Petrowna. Nikolai Wsewolodowitsch nannte diesen Herrn damals seinen Falstaff; das muß wohl«, fügte er zur Erklärung hinzu, »früher einmal ein burlesker Charakter gewesen sein, über den alle sich lustig machten, und der selbst nichts dagegen hatte, daß alle über ihn lachten, wenn sie ihm nur Geld gaben. Nikolai Wsewolodowitsch führte damals in Petersburg ein sozusagen spöttisches Leben; mit einem andern Ausdruck kann ich es nicht bezeichnen: Blasiertheit liegt ihm fern, eine ernste Beschäftigung aber verschmähte er damals. Ich rede nur von der damaligen Zeit, Warwara Petrowna. Dieser Lebjadkin hatte eine Schwester, ebendieselbe, die soeben hier gesessen hat. Bruder und Schwester hatten keine eigene Wohnung und nomadisierten bei anderen Leuten. Er trieb sich in den Bogengängen des Kaufhofes umher, wobei er stets seine frühere Uniform trug, und hielt anständig aussehende Passanten an, und was er bekam, vertrank er. Seine Schwester nährte sich wie die Vögel unter dem Himmel. Sie half in fremden Wohnungen und verrichtete Magddienste für den notwendigsten Unterhalt. Es war ein wüstes, unordentliches Leben, von dem ich keine genauere Schilderung geben will; aber an diesem Leben beteiligte sich damals infolge einer wunderlichen Laune auch Nikolai Wsewolodowitsch. Ich rede nur von der damaligen Zeit, Warwara Petrowna, und was die wunderliche Laune anlangt, so ist das sein eigener Ausdruck. Er ist gegen mich sehr offenherzig. Auf Mademoiselle Lebjadkina, mit der Nikolai Wsewolodowitsch eine Zeitlang häufig zusammentraf, machte sein Äußeres großen Eindruck. Er war sozusagen ein Brillant auf dem schmutzigen Hintergrunde ihres Lebens. Ich verstehe mich schlecht auf die Schilderung von Gefühlen und gehe deshalb darüber hinweg; aber elende Gesellen machten das Mädchen sofort zur Zielscheibe ihres Spottes, und da versank sie in Traurigkeit. Man hatte sich dort überhaupt von jeher über sie lustig gemacht; aber früher hatte sie das gar nicht bemerkt. Ihr Kopf war schon damals in Unordnung, wenn auch nicht so wie jetzt. Es ist Grund zu der Annahme vorhanden, daß sie in ihrer Kindheit durch eine Wohltäterin eine leidliche Erziehung und Bildung erhalten hat. Nikolai Wsewolodowitsch wandte ihr nie die geringste Aufmerksamkeit zu und spielte lieber mit alten schmutzigen Karten um eine Viertelkopeke Preference mit kleinen Beamten. Aber einmal, als sie von einem solchen Beamten beleidigt wurde, da faßte er, ohne viel zu fragen, diesen am Rockkragen und warf ihn aus dem zweiten Stockwerk durchs Fenster. Von ritterlicher Entrüstung zugunsten der beleidigten Unschuld war dabei nicht die Rede; der ganze Vorgang spielte sich unter allgemeinem Gelächter ab, und am meisten von allen lachte Nikolai Wsewolodowitsch selbst; und als alles glücklich abgelaufen war, versöhnten sie sich und fingen an, Punsch zu trinken. Aber die verfolgte Unschuld selbst vergaß diese Begebenheit nicht. Natürlich endete die Sache mit einer vollständigen Zerrüttung ihrer geistigen Fähigkeiten. Ich wiederhole, ich verstehe mich schlecht auf die Schilderung von Gefühlen; aber hier war die Hauptsache ein Hang zu phantastischer Träumerei. Und Nikolai Wsewolodowitsch nährte wie mit Absicht diesen Hang bei ihr noch mehr: statt über sie zu lachen, begann er auf einmal ihr mit überraschender Hochachtung zu begegnen. Kirillow, der dort lebte (er ist ein außerordentliches Original, Warwara Petrowna, und ein äußerst wortkarger Mensch; Sie werden ihn vielleicht einmal zu sehen bekommen; denn er wohnt jetzt hier), na also dieser Kirillow, der gewöhnlich immer schweigt, der wurde da auf einmal hitzig und sagte, wie ich mich erinnere, zu Nikolai Wsewolodowitsch, dieser behandle das Fräulein wie eine Marquise und richte sie damit vollständig zugrunde. Ich füge hinzu, daß Nikolai Wsewolodowitsch vor diesem Kirillow eine gewisse Achtung empfand. Und was meinen Sie, daß er ihm antwortete? ›Sie glauben, Herr Kirillow,‹ sagte er, ›daß ich mich über sie lustig mache; aber seien Sie versichert, ich schätze sie wirklich hoch; denn sie ist besser als wir alle.‹ Und wissen Sie, das sagte er in durchaus ernstem Tone. Dabei hatte er in diesen zwei, drei Monaten außer ›Guten Tag‹ und ›Adieu‹ in Wirklichkeit zu ihr kein Wort gesprochen. Ich, der ich damals dort lebte, erinnere mich zuverlässig, daß sie schließlich dahin gelangte, ihn für ihren Liebhaber zu halten, der einzig deswegen nicht wage, sie zu entführen, weil er viele Feinde habe oder in seiner Familie auf Hindernisse stoße oder aus ähnlichen Gründen. Es wurde dort viel darüber gelacht. Die Sache endete damit, daß Nikolai Wsewolodowitsch, als er damals hierher reisen mußte, vorher für ihren Unterhalt sorgte, und zwar in der Weise, daß er ihr eine ziemlich beträchtliche jährliche Pension aussetzte, mindestens dreihundert Rubel, wenn nicht mehr. Kurz, wir können annehmen, daß das alles von seiner Seite ein mutwilliges Spiel war, die Laune eines vor der Zeit müde Gewordenen, oder auch schließlich, wie Kirillow sagte, eine neue psychologische Studie eines Übersättigten, um zu sehen, wie weit man einen geistesgestörten Krüppel treiben kann. ›Sie haben sich‹, sagte Kirillow, ›absichtlich das elendeste Wesen ausgesucht, ein verkrüppeltes Wesen, das lebenslänglich nur Schande und Schläge kennen gelernt hat, und von dem Sie obendrein wissen, daß es in komischer Weise in Sie verliebt ist; und nun machen Sie sich absichtlich daran, dieses Mädchen zu betrügen, lediglich um zu sehen, was dabei herauskommt! Schließlich: trifft denn einen Mann wirklich ein so besonderer Vorwurf, wenn eine geistesgestörte Frauensperson, mit der er, wohlgemerkt, die ganze Zeit über kaum ein paar Worte gewechselt hatte, auf phantastische Ideen gerät? Es gibt Dinge, Warwara Petrowna, über die man nicht verständig sprechen kann, ja, über die überhaupt zu reden unverständig ist. Nun, mag es schließlich auch eine wunderliche Laune gewesen sein; aber einen stärkeren Ausdruck kann man jedenfalls nicht dafür anwenden; und trotzdem hat man jetzt eine Skandalgeschichte daraus gemacht ... Es ist mir zum Teil bekannt, Warwara Petrowna, was hier vorgeht.«

Der Erzähler brach plötzlich ab und wollte sich an Lebjadkin wenden; aber Warwara Petrowna hielt ihn davon zurück; sie befand sich in einer hochgradigen Erregung.

»Sind Sie zu Ende?« fragte sie.

»Nein, noch nicht; um der Vollständigkeit wegen muß ich, wenn Sie erlauben, diesen Herrn hier über etwas befragen ... Sie werden sofort sehen, um was es sich handelt, Warwara Petrowna.«

»Genug davon; lassen Sie das bis nachher; warten Sie einen Augenblick; ich bitte Sie. O wie gut habe ich daran getan, daß ich Sie reden ließ!«

»Und bitte, beachten Sie das wohl, Warwara Petrowna,« rief Peter Stepanowitsch erregt: »Konnte etwa Nikolai Wsewolodowitsch Ihnen dies alles selbst vorhin auseinandersetzen, als Antwort auf Ihre Frage, die vielleicht etwas zu schroff war?«

»Ja, das war sie!«

»Und hatte ich nicht recht, wenn ich sagte, daß es in manchen Fällen für einen dritten weit leichter ist, eine Erklärung zu geben, als für den Beteiligten selbst?«

»Ja, ja! ... Aber in einem Punkte haben Sie sich geirrt und irren sich, wie ich zu meinem Bedauern sehe, auch noch.«

»Wirklich? Worin denn?«

»Sehen Sie ... Aber wollen Sie sich denn nicht setzen, Peter Stepanowitsch?«

»Oh, wie es Ihnen beliebt; ich bin allerdings müde; ich danke Ihnen.«

Im Nu hatte er einen Lehnstuhl herbeigezogen und so gedreht, daß er zwischen Warwara Petrowna auf der einen Seite und Praskowja Iwanowna am Tische auf der andern Seite saß und Herrn Lebjadkin sich gegenüber hatte, von dem er seine Augen auch nicht einen Augenblick wegwandte.

»Sie irren sich darin, daß Sie dies eine wunderliche Laune nennen ...«

»Oh, wenn es nur das ist ...«

»Nein, nein, nein, warten Sie!« hielt ihn Warwara Petrowna zurück, die sich offenbar zu einer längeren, affektvollen Äußerung anschickte.

Sobald Peter Stepanowitsch dies bemerkte, war er sofort ganz Ohr.

»Nein, das war etwas Höheres als eine wunderliche Laune, und ich versichere Sie, sogar etwas Heiliges! Er ist ein stolzer, in früher Jugend gekränkter Mensch, der schließlich dahin gelangt ist, jenes ›spöttische Leben‹ zu führen, von dem Sie so treffend gesprochen haben; kurz, er ist ein Prinz Harry, mit dem ihn damals Stepan Trofimowitsch so prächtig verglich; und das würde vollständig richtig sein, wenn er nicht noch mehr Ähnlichkeit mit Hamlet hätte, wenigstens meiner Ansicht nach.«

» Et vous avez raison," rief Stepan Trofimowitsch gefühlvoll und nachdrücklich.

»Ich danke Ihnen, Stepan Trofimowitsch, und danke Ihnen ganz besonders dafür, daß Sie nie den Glauben an Nikolai, den Glauben an seine Seelengröße und an seinen hohen Beruf verloren haben. Diesen Glauben haben Sie auch bei mir gekräftigt, als ich kleinmütig geworden war.«

» Chère, chère ...«

Stepan Trofimowitsch wollte schon vortreten; aber er bedachte, daß es gefährlich sei, sie zu unterbrechen, und blieb auf seinem Platze.

»Und wenn Nikolai immer« (Warwara Petrowna war bereits in einen etwas singenden Ton geraten) »einen stillen, in seiner Ruhe großen Horatio um sich gehabt hätte (ein anderer schöner Ausdruck von Ihnen, Stepan Trofimowitsch), dann wäre er vielleicht schon längst von dem traurigen ›Dämon der Ironie‹, der ihn sein ganzes Leben lang gepeinigt hat, befreit. (Der Dämon der Ironie, das ist wieder ein wundervoller Ausdruck von Ihnen, Stepan Trofimowitsch.) Aber Nikolai hat nie weder einen Horatio noch eine Ophelia gehabt. Er hatte nur seine Mutter; aber was kann eine Mutter allein tun, und in solchen Umständen? Wissen Sie, Peter Stepanowitsch, es ist mir sogar außerordentlich verständlich, daß ein Mensch wie Nikolai es fertiggebracht hat, sich in jenen schmutzigen Spelunken zu zeigen, von denen Sie erzählt haben. Ich stelle mir jetzt mit völliger Klarheit dieses ›spöttische Leben‹ vor (ein erstaunlich treffender Ausdruck von Ihnen!), diesen unersättlichen Durst nach dem Kontraste, diesem dunklen Hintergrund des Bildes, von dem er sich wie ein Brillant abhebt; wieder ein Vergleich von Ihnen, Peter Stepanowitsch. Und da trifft er nun ein von allen Menschen gequältes, verkrüppeltes, halbirres Wesen, das gleichzeitig vielleicht von den edelsten Gefühlen erfüllt ist! ...«

»Hm ... Ja, nehmen wir das an!«

»Und unter diesen Umständen ist es Ihnen nicht begreiflich, daß er über dieses Mädchen nicht lacht wie alle andern? O ihr Menschen! Habt ihr denn kein Verständnis dafür, daß er sie gegen ihre Beleidiger verteidigt, ihr ›wie einer Marquise‹ Achtung erweist (dieser Kirillow muß eine ungewöhnlich tiefe Menschenkenntnis besitzen, wiewohl auch er Nikolai nicht verstanden hat). Möglicherweise ist das Unglück gerade infolge dieses Kontrastes entstanden; hätte die Unglückliche in anderen Verhältnissen gelebt, so wäre sie vielleicht nicht zu solchen wahnwitzigen Phantasien gelangt. Nur eine Frau, nur eine Frau kann das verstehen, Peter Stepanowitsch, und wie schade, daß Sie ... das heißt nicht, daß Sie keine Frau sind, sondern daß Sie es nicht wenigstens für dieses Mal sind, um die Sache verstehen zu können!«

»Also in dem Sinne, wie man sagt: je schlimmer, um so besser; ich verstehe, ich verstehe, Warwara Petrowna. Das ist ungefähr so wie in der Religion: je schlechter es einem Menschen geht, oder je geplagter und ärmer ein Volk ist, um so hartnäckiger träumen sie von den Belohnungen im Paradiese; und wenn dabei noch hunderttausend Geistliche eifrig tätig sind, die diese phantastischen Hoffnungen anfachen und auf sie ihre Spekulationen gründen, dann ... ich verstehe Sie, Warwara Petrowna; seien Sie unbesorgt!«

»Ganz allerdings doch wohl nicht; aber sagen Sie: sollte Nikolai wirklich, um diese phantastische Idee in diesem unglücklichen Organismus zu vernichten« (warum Warwara Petrowna hier das Wort »Organismus« gebrauchte, war mir nicht verständlich), »sollte er wirklich auch seinerseits über sie lachen und mit ihr so umgehen, wie es jene gemeinen Gesellen taten? Verwerfen Sie wirklich jenes hohe Mitleid, jenes edle Zittern des ganzen Organismus, mit welchem Nikolai Herrn Kirillow ernst zur Antwort gab: ›Ich lache nicht über sie‹? Eine edle, eine heilige Antwort!«

» Sublime!« murmelte Stepan Trofimowitsch.

»Und beachten Sie auch dies: er ist keineswegs so reich, wie Sie meinen; ich bin reich, nicht er, und er erhielt damals von mir fast gar nichts.«

»Ich verstehe, ich verstehe das alles, Warwara Petrowna,« versetzte Peter Stepanowitsch, der sich bereits etwas ungeduldig auf seinem Stuhle hin und her bewegte.

»Oh, das ist mein eigener Charakter! Ich erkenne mich selbst in Nikolai wieder. Ich erkenne diese Jugendlichkeit wieder, diese Neigung zu stürmischen, heftigen Ausbrüchen ... Und wenn wir beide einander einmal näher treten sollten, Peter Stepanowitsch, was ich meinerseits aufrichtig wünsche, um so mehr, da ich Ihnen bereits zu Dank verpflichtet bin, dann werden Sie vielleicht den Drang begreifen ...«

»Oh, glauben Sie mir, ich wünsche es auch meinerseits,« murmelte Peter Stepanowitsch kurz.

»Sie werden dann den Drang begreifen, vermöge dessen man in der Blindheit des Edelmutes auf einmal nach einem Menschen greift, der unser in keiner Beziehung wert ist, nach einem Menschen, der uns absolut nicht versteht und es fertigbringt, uns bei jeder Gelegenheit zu quälen. Und in einem solchen Menschen sieht man dann trotz alledem die Verkörperung eines Ideales, des eigenen Traumgebildes und setzt auf ihn all seine Hoffnungen; man beugt sich vor ihm, liebt ihn das ganze Leben lang, ohne im geringsten zu wissen, wofür, – vielleicht ebendeswegen, weil er dieser Liebe nicht würdig ist ... Oh, wie ich mein ganzes Leben lang gelitten habe, Peter Stepanowitsch!«

Stepan Trofimowitsch wollte mit schmerzlicher Miene meinen Blick auffangen; aber ich wandte mich noch rechtzeitig ab.

»... Und erst vor kurzem, erst vor kurzem – oh, wie habe ich mich gegen Nikolai vergangen! ... Sie können es gar nicht glauben: von allen Seiten haben sie mich gequält, alle, alle, meine Feinde, und elende Menschen, und meine Freunde; und die Freunde vielleicht noch mehr als die Feinde. Als ich den ersten verächtlichen anonymen Brief erhielt, Peter Stepanowitsch, da ließ ich es (Sie werden es nicht glauben) an der gebührenden Verachtung als Antwort auf diese ganze Schändlichkeit fehlen ... Niemals, niemals werde ich mir meinen Kleinmut verzeihen!«

»Ich habe schon ein wenig von den hiesigen anonymen Briefen gehört,« bemerkte Peter Stepanowitsch, der nun auf einmal wieder lebhaft wurde, »und ich werde den Schreiber derselben schon ausfindig machen; seien Sie unbesorgt!«

»Aber Sie können sich gar nicht vorstellen, was hier für Intrigen begonnen haben! Sogar unsere arme Praskowja Iwanowna hat man gequält; und warum sie eigentlich, warum sie? Ich habe mich vielleicht dir gegenüber heute arg vergangen, meine liebe Praskowja Iwanowna,« fügte sie in einem Anfalle von hochherziger Rührung, aber nicht ohne eine gewisse triumphierende Ironie hinzu.

»Lassen Sie es gut sein, meine Liebe!« murmelte jene mißvergnügt. »Meiner Ansicht nach sollte man nun der ganzen Sache ein Ende machen; es ist schon zuviel darüber geredet worden ...«

Sie ließ wieder einen schüchternen Blick zu Lisa hinüberschweifen; aber diese sah nach Peter Stepanowitsch hin.

»Aber dieses arme, unglückliche Wesen, diese Irrsinnige, die alles verloren und sich nur ihr Herz bewahrt hat, die beabsichtige ich jetzt selbst an Kindes Statt anzunehmen!« rief Warwara Petrowna plötzlich. »Das ist eine heilige Pflicht, die ich gewissenhaft zu erfüllen beabsichtige. Von diesem Tage an nehme ich sie unter meinen Schutz!«

»Und das wird in gewisser Hinsicht sogar sehr gut sein!« sagte Peter Stepanowitsch mit großer Lebhaftigkeit. »Entschuldigen Sie, ich war vorhin mit dem, was ich sagen wollte, nicht zu Ende gekommen. Ich wollte gerade noch über die Notwendigkeit eines Schutzes reden. Können Sie sich das vorstellen, daß damals nach Nikolai Wsewolodowitschs Abreise (ich fange genau an der Stelle wieder an, wo ich stehen blieb, Warwara Petrowna) dieser Herr, eben dieser Herr Lebjadkin hier, sich sofort für berechtigt hielt, über die seiner Schwester ausgesetzte Pension restlos zu verfügen? Und er verfügte darüber. Ich weiß nicht genau, welche Einrichtungen Nikolai Wsewolodowitsch damals getroffen hatte; aber als er nach einem Jahre (er befand sich zu dieser Zeit schon im Auslande) das Vorgefallene erfuhr, sah er sich genötigt, diese Einrichtungen abzuändern. Die Einzelheiten darüber sind mir wieder nicht bekannt; er wird sie ja selbst erzählen; ich weiß nur, daß die interessante Person in einem fernen Kloster untergebracht wurde, sogar in recht komfortabler Weise, aber unter freundlicher Aufsicht – Sie verstehen? Und was meinen Sie, was Herr Lebjadkin nun unternahm? Er machte zunächst die größten Anstrengungen, um herauszubekommen, wo man seinen Pachtacker, das heißt seine Schwester, vor ihm versteckt hatte; erst vor kurzem erreichte er seinen Zweck, nahm sie aus dem Kloster heraus, indem er eine Art von Recht auf sie geltend machte, und brachte sie geradeswegs hierher. Hier gibt er ihr nichts zu essen, schlägt sie, tyrannisiert sie, erhält schließlich auf irgendwelchem Wege von Nikolai Wsewolodowitsch eine beträchtliche Geldsumme und fängt sogleich an zu trinken. Statt aber dankbar zu sein, benimmt er sich gegen Nikolai Wsewolodowitsch mit der unverschämtesten Dreistigkeit, stellt ihm sinnlose Forderungen und droht, wenn die Pension künftig nicht zu seinen eigenen Händen bezahlt werde, mit dem Gerichte. Auf diese Weise faßt er Nikolai Wsewolodowitschs freiwillige Gabe als einen schuldigen Tribut auf, – können Sie sich das vorstellen? Herr Lebjadkin, ist alles, was ich soeben gesagt habe, wahr?«

Der Hauptmann, der bisher schweigend und mit niedergeschlagenen Augen dagestanden hatte, trat schnell zwei Schritte vor und wurde dunkelrot.

»Peter Stepanowitsch, Sie sind grausam mit mir verfahren,« sagte er und stockte dann.

»Wieso grausam? Warum? Aber erlauben Sie, über Grausamkeit oder Milde können wir nachher reden; jetzt bitte ich Sie nur, auf meine erste Frage zu antworten: ist alles, was ich gesagt habe, wahr oder nicht? Wenn Sie finden, daß es unwahr ist, so können Sie unverzüglich Ihre Gegenerklärung abgeben.«

»Ich ... Sie wissen selbst, Peter Stepanowitsch ...« murmelte der Hauptmann; dann brach er ab und verstummte.

Ich muß bemerken, daß Peter Stepanowitsch auf einem Lehnstuhl saß und ein Bein über das andere geschlagen hatte, der Hauptmann aber in respektvollster Haltung vor ihm stand.

Herrn Lebjadkins Zaudern schien Peter Stepanowitschs großes Mißfallen zu erregen; sein Gesicht verzog sich krampfartig zu einem bösen Ausdruck.

»Wollen Sie nicht doch eine Erklärung abgeben?« fragte er, den Hauptmann listig anblickend. »In diesem Falle seien Sie so gut; wir warten darauf.«

»Sie wissen selbst, Peter Stepanowitsch, daß ich keine Erklärung abgeben kann.«

»Nein, das weiß ich nicht; ich höre es sogar zum ersten Male; warum können Sie es denn nicht?«

Der Hauptmann schwieg und blickte zu Boden.

»Erlauben Sie mir, wegzugehen, Peter Stepanowitsch,« sagte er in entschlossenem Tone.

»Aber nicht eher, ehe Sie nicht eine Antwort auf meine erste Frage gegeben haben: ist alles, was ich gesagt habe, wahr?«

»Ja, es ist wahr,« antwortete Lebjadkin dumpf und richtete die Augen auf seinen Peiniger.

Es trat ihm sogar der Schweiß an den Schläfen heraus.

»Ist alles wahr?«

»Ja, alles.«

»Haben Sie nichts hinzuzufügen, zu bemerken? Wenn Sie finden, daß wir ungerecht sind, so sprechen Sie das aus; protestieren Sie dagegen; erklären Sie laut Ihre Unzufriedenheit!«

»Nein, ich habe nichts.«

»Haben Sie vor kurzem Nikolai Wsewolodowitsch gedroht?«

»Das ... das war mehr der Wein, Peter Stepanowitsch.« Er hob auf einmal den Kopf in die Höhe. »Peter Stepanowitsch! Wenn die Ehre der Familie und eine Schande, die das Herz nicht verdient hat, in einem aufheulen, ist dann ... ist dann wirklich der Mensch schuldig?« brüllte er, indem er sich plötzlich wieder in der Art wie vor einem Weilchen vergaß.

»Sind Sie jetzt nüchtern, Herr Lebjadkin?« fragte Peter Stepanowitsch und sah ihn durchdringend an.

»Ich ... bin nüchtern.«

»Was bedeutet denn das: ›die Ehre der Familie und eine Schande, die das Herz nicht verdient hat‹?«

»Das bezieht sich auf niemand; ich habe damit niemand gemeint. Ich sprach nur von mir ...« versetzte der Hauptmann, der wieder zusammensank.

»Sie scheinen sich durch die Ausdrücke, die ich von Ihnen und Ihrem Benehmen gebraucht habe, sehr beleidigt zu fühlen? Sie sind sehr empfindlich, Herr Lebjadkin. Aber erlauben Sie, ich habe ja noch gar nichts von Ihrem wirklichen Benehmen gesagt. Von Ihrem wirklichen Benehmen werde ich noch reden. Das werde ich tun, das kann sehr wohl noch geschehen; aber bis jetzt habe ich von Ihrem wirklichen Benehmen noch nicht gesprochen.«

Lebjadkin fing an zu zittern und starrte Peter Stepanowitsch wild an.

»Peter Stepanowitsch, ich fange erst jetzt an aufzuwachen!«

»Hm! Und da bin ich es wohl, der Sie aufgeweckt hat?«

»Ja, Sie haben mich aufgeweckt, Peter Stepanowitsch; ich habe vier Jahre lang unter einer über mir hängenden Gewitterwolke geschlafen. Darf ich mich nun endlich entfernen, Peter Stepanowitsch?«

»Das dürfen Sie jetzt, vorausgesetzt, daß nicht Warwara Petrowna selbst für nötig findet ...«

Aber diese winkte ablehnend mit der Hand.

Der Hauptmann verbeugte sich, machte zwei Schritte nach der Tür zu, blieb plötzlich stehen, legte die Hand aufs Herz, schien etwas sagen zu wollen, sagte aber nichts, sondern ging schnell hinaus. Aber in der Tür stieß er gerade mit Nikolai Wsewolodowitsch zusammen; dieser trat zur Seite; der Hauptmann krümmte sich ordentlich vor ihm zusammen und blieb regungslos auf dem Flecke stehen, ohne seine Augen von ihm abzuwenden, wie ein Kaninchen eine Riesenschlange anstarrt. Nikolai Wsewolodowitsch wartete einen Augenblick; dann schob er ihn sacht mit der Hand zur Seite und trat in den Salon.

 

VII

Er war heiter und ruhig. Vielleicht war ihm soeben etwas sehr Gutes begegnet, das uns noch unbekannt war; jedenfalls schien er mit etwas sehr zufrieden zu sein.

»Verzeihst du mir, Nikolai?« rief Warwara Petrowna, die sich nicht mehr beherrschen konnte, und erhob sich eilig, um ihm entgegenzugehen.

Aber Nikolai lachte laut auf.

»Na, da haben wir's!« rief er gutmütig und scherzhaft. »Ich sehe, daß den Herrschaften schon alles bekannt ist. Als ich von hier weggegangen war, dachte ich im Wagen: ›Hättest doch wenigstens ein Geschichtchen erzählen sollen; wer geht auch so weg?‹ Aber als mir dann einfiel, daß ja Peter Stepanowitsch hiergeblieben war, da verschwand meine Sorge.«

Während er sprach, sah er sich flüchtig ringsum.

»Peter Stepanowitsch hat uns eine alte Petersburger Geschichte aus dem Leben eines wunderlichen Kauzes erzählt,« sagte Warwara Petrowna in hellem Entzücken, »aus dem Leben eines launenhaften, verdrehten Menschen, der aber immer eine hohe Gesinnung hegt, immer ritterlich und edel denkt ...«

»Ritterlich? Wie sind Sie nur auf den Gedanken gekommen?« unterbrach Nikolai sie lachend. »Übrigens bin ich Peter Stepanowitsch diesmal für seine Eilfertigkeit sehr dankbar« (hier wechselte er mit ihm einen schnellen Blick). »Sie müssen wissen, Mama, daß Peter Stepanowitsch der allgemeine Friedensstifter ist; das ist nun einmal seine Rolle, seine Krankheit, sein Steckenpferd, und ich empfehle ihn Ihnen in dieser Hinsicht angelegentlich. Ich kann mir denken, worüber er Ihnen hier Bericht erstattet hat. Wenn er erzählt, kommt es immer wie eine Berichterstattung heraus; er hat ein Büro im Kopfe. Beachten Sie, daß er als Realist nicht lügen darf und ihm die Wahrheit wertvoller ist als der Erfolg ... ausgenommen natürlich die besonderen Fälle, wo ihm der Erfolg wertvoller ist als die Wahrheit.« (Während des Redens blickte er fortwährend um sich.) »Sie sehen also klar, Mama, daß Sie mich nicht um Verzeihung zu bitten haben, und daß, wenn hier irgendwo eine Verrücktheit vorliegt, sie jedenfalls vor allen Dingen auf meiner Seite zu suchen ist, und daß ich somit letzten Endes doch verrückt bin, – ich muß doch den Ruf, in dem ich hier früher gestanden habe, aufrechterhalten.«

Dann umarmte er seine Mutter zärtlich.

»Jedenfalls ist jetzt durch Peter Stepanowitschs Erzählung diese Sache erledigt, und wir können also damit aufhören,« fügte er hinzu; seine Stimme hatte bei diesen Worten einen etwas trockenen, harten Klang.

Warwara Petrowna bemerkte diesen Klang; aber ihr Enthusiasmus verschwand nicht, im Gegenteil.

»Ich hatte dich erst in einem Monat erwartet Nikolai.«

»Ich werde Ihnen natürlich alles erklären, Mama: aber jetzt ...«

Er ging zu Praskowja Iwanowna.

Aber diese drehte kaum den Kopf zu ihm hin, trotzdem sie eine halbe Stunde vorher bei seinem ersten Erscheinen wie betäubt gewesen war. Jetzt aber hatte sie wieder neue Sorgen: von dem Augenblicke an, wo der Hauptmann hinausgegangen und in der Tür mit Nikolai Wsewolodowitsch zusammengestoßen war, hatte Lisa auf einmal angefangen zu lachen, zuerst leise und in Absätzen, aber dann hatte ihr Lachen immer mehr zugenommen und war immer lauter und vernehmlicher geworden. Ihr Gesicht war ganz rot. Der Kontrast mit der finsteren Miene, die sie soeben noch gezeigt hatte, war überraschend. Während Nikolai Wsewolodowitsch mit Warwara Petrowna sprach, hatte sie ein paarmal Mawriki Nikolajewitsch zu sich herangewinkt, wie wenn sie ihm etwas zuflüstern wollte; aber sowie er sich zu ihr herabgebeugt hatte, war sie in ein Gelächter ausgebrochen, so daß es aussah, als ob sie über den armen Mawriki Nikolajewitsch selbst lachte. Sie suchte sich übrigens offenbar zu beherrschen und drückte das Taschentuch gegen die Lippen. Nikolai Wsewolodowitsch wandte sich mit dem unschuldigsten, gutmütigsten Gesichte zu ihr und begrüßte sie.

»Bitte, entschuldigen Sie!« sagte sie hastig. »Sie ... Sie haben gewiß auch Mawriki Nikolajewitsch gesehen ... Mein Gott, wie unerlaubt groß Sie doch sind, Mawriki Nikolajewitsch!«

Sie lachte von neuem. Mawriki Nikolajewitsch war allerdings nicht klein, aber ganz und gar nicht »unerlaubt groß.«

»Sind Sie ... sind Sie schon lange hier?« murmelte sie; sie beherrschte sich wieder und war sogar verlegen geworden, aber ihre Augen funkelten.

Etwas über zwei Stunden,« antwortete Nikolai, indem er sie aufmerksam betrachtete. Ich bemerke, daß er sich ungewöhnlich gemessen und höflich benahm, aber, von der Höflichkeit abgesehen, einen ganz gleichmütigen, sogar matten Gesichtsausdruck zeigte.

»Wo werden Sie denn wohnen?«

»Hier.«

Warwara Petrowna richtete ihre Aufmerksamkeit ebenfalls auf Lisa; aber plötzlich machte ein Gedanke, der ihr kam, sie stutzig.

»Wo bist du denn bis jetzt diese ganzen zwei Stunden und mehr gewesen, Nikolai?« fragte sie herantretend. »Der Zug kommt doch um zehn Uhr an.«

»Ich habe zuerst Peter Stepanowitsch zu Kirillow gebracht. Peter Stepanowitsch hatte ich in Matwejewo« (drei Stationen von unserer Stadt entfernt) »getroffen, und wir waren dann in demselben Abteil hierher gefahren.«

»Ich hatte vom Morgengrauen an in Matwejewo warten müssen,« fiel Peter Stepanowitsch ein. »Bei unserm Zuge waren in der Nacht die hintersten Waggons aus den Schienen gesprungen; wir hätten uns dabei die Beine brechen können.«

»Die Beine brechen!« rief Lisa. »Mama, Mama, und wir beide. Sie und ich, wollten in der vorigen Woche nach Matwejewo fahren; da hätten wir uns auch die Beine brechen können!«

»Um Gotteswillen!« rief Praskowja Iwanowna und bekreuzte sich.

»Mama, Mama, liebe Mama, erschrecken Sie nicht, wenn ich wirklich einmal beide Beine breche; das kann mir sehr leicht passieren; Sie sagen ja selbst, daß ich alle Tage einen halsbrecherischen Galopp reite. Mawriki Nikolajewitsch, werden Sie mich führen, wenn ich lahm bin?« Sie lachte wieder. »Wenn das passiert, werde ich mich von niemand als von Ihnen führen lassen; darauf können Sie sich sicher verlassen. Ich nehme an, daß ich nur ein Bein breche ... Nun, seien Sie doch liebenswürdig und sagen Sie, daß Sie das für ein Glück halten werden!«

»Was soll das für ein Glück sein, wenn man nur ein Bein hat?« erwiderte Mawriki Nikolajewitsch ernst mit finsterem Gesichte.

»Dafür werden Sie auch mein Führer sein, Sie allein, sonst niemand!«

»Sie werden auch dann meine Führerin sein, Lisaweta Nikolajewna,« brummte Mawriki Nikolajewitsch noch ernster.

»O Gott, jetzt hat er einen Witz machen wollen!« rief Lisa ordentlich erschrocken. »Mawriki Nikolajewitsch, wagen Sie sich nie auf dieses Gebiet! Aber was sind Sie für ein schrecklicher Egoist! Ich bin zu Ihrer Ehre davon überzeugt, daß Sie sich jetzt selbst verleumden; Sie werden mir dann vielmehr vom Morgen bis zum Abend versichern, daß ich ohne das Bein noch interessanter sei! Nur eines ist ein Übelstand, der sich nicht wird beseitigen lassen: Sie sind so schrecklich groß, und ich werde ohne das Bein sehr klein sein; wie werden Sie mich dann am Arm führen? Wir werden nicht richtig zusammenpassen!«

Sie lachte krampfhaft auf. Ihre Scherze und Anspielungen waren geringwertig gewesen; aber es lag ihr augenscheinlich nicht daran, Ehre damit einzulegen.

»Hysterie!« flüsterte Peter Stepanowitsch mir zu. »Man müßte ihr schnell ein Glas Wasser geben.«

Er hatte recht; einen Augenblick darauf waren alle in eifriger Bewegung und brachten Wasser. Lisa umarmte ihre Mama, küßte sie herzlich und weinte an ihrer Schulter; dann wich sie wieder ein wenig zurück, blickte ihr ins Gesicht und fing an zu lachen. Schließlich schluchzte auch die Mama los. Warwara Petrowna führte beide zu sich in die Wohnstube, und zwar durch dieselbe Tür, durch welche Darja Pawlowna zu uns hereingekommen war. Aber sie blieben dort nicht lange, nur etwa vier Minuten, nicht mehr.

Ich gebe mir Mühe, mich jetzt an jede Einzelheit der letzten Augenblicke dieses denkwürdigen Vormittags zu erinnern. Ich erinnere mich, daß, als wir damals allein geblieben waren, ohne die Damen (nur Darja Pawlowna war noch anwesend, die sich nicht vom Fleck rührte), Nikolai Wsewolodowitsch bei uns allen herumging und jeden begrüßte, mit Ausnahme Schatows, der in seiner Ecke zu sitzen fortfuhr und den Kopf noch tiefer gesenkt hielt als vorher. Stepan Trofimowitsch wollte mit Nikolai Wsewolodowitsch über irgendeinen Gegenstand ein sehr geistreiches Gespräch anfangen; dieser entfernte sich jedoch eilig von ihm, um zu Darja Pawlowna zu gehen. Aber unterwegs faßte ihn Peter Stepanowitsch beinah mit Gewalt und zog ihn ans Fenster, wo er ihm schnell etwas zuzuflüstern anfing; nach seinem Gesichtsausdrucke und den Gestikulationen zu urteilen, mit denen er sein Geflüster begleitete, mußte es sich wohl um etwas sehr Wichtiges handeln. Nikolai Wsewolodowitsch aber hörte nur sehr lässig und zerstreut mit seinem förmlichen Lächeln zu, und gegen das Ende bekundete er sogar Ungeduld, wie wenn er sich losmachen und fortgehen wollte. Er ging vom Fenster gerade in dem Augenblicke weg, als unsere Damen zurückkehrten. Warwara Petrowna drang in Lisa, sich wieder auf ihren früheren Platz zu setzen; sie versicherte, sie müßten unbedingt wenigstens noch zehn Minuten warten und sich erholen; wenn Lisa sofort an die frische Luft käme, so würde das ihren kranken Nerven schwerlich gut tun. Sie war außerordentlich besorgt um Lisa und setzte sich selbst neben sie. Peter Stepanowitsch kam, sobald er frei geworden war, unverzüglich zu ihnen gesprungen und begann schnell und heiter zu plaudern. Und nun ging Nikolai Wsewolodowitsch endlich in seinem ruhigen Gange zu Darja Pawlowna hin; diese geriet bei seiner Annäherung auf ihrem Platze in lebhafte Bewegung und sprang dann in sichtlicher Erregung und das ganze Gesicht von roter Glut übergossen schnell auf.

»Man kann Ihnen wohl Glück wünschen ... oder noch nicht?« fragte er; in seinem Gesichte bildete sich dabei eine besondere Falte.

Dascha antwortete ihm etwas; aber es war schwer zu verstehen.

»Verzeihen Sie meine Indiskretion,« sagte er mit erhobener Stimme. »Aber Sie wissen ja wohl, daß ich ausdrücklich davon benachrichtigt worden bin. Ist Ihnen das bekannt?«

»Ja, ich weiß, daß Sie ausdrücklich benachrichtigt worden sind.«

»Ich hoffe doch, daß mein Glückwunsch keinen Schaden angerichtet hat,« meinte er lachend; »und wenn Stepan Trofimowitsch ...«

»Wozu wird Ihnen Glück gewünscht, wozu?« fragte Peter Stepanowitsch, der plötzlich hinzusprang. »Wozu wird Ihnen Glück gewünscht? Ei, gewiß zu dem wichtigsten Ereignis, das es gibt? Ihre Röte bezeugt, daß ich richtig geraten habe. In der Tat, wozu gratuliert man unseren schönen jungen Damen am meisten, und über welche Gratulationen pflegen sie am meisten zu erröten? Nun, nehmen Sie auch von mir, wenn ich richtig geraten habe, den besten Glückwunsch entgegen, und bezahlen Sie Ihre Wette: Sie erinnern sich, Sie haben in der Schweiz gewettet, Sie würden sich nie verheiraten ... Ach ja, apropos Schweiz ... was mache ich nur! Denken Sie sich: ich bin halb und halb gerade deswegen hergefahren, und nun hätte ich es beinah vergessen: sage mir doch,« wandte er sich schnell zu Stepan Trofimowitsch um, »wann fährst du denn nach der Schweiz?«

»Ich ... nach der Schweiz?« erwiderte Stepan Trofimowitsch erstaunt und verlegen.

»Wie? Fährst du etwa nicht hin? Aber du verheiratest dich ja ebenfalls ... Du hast es mir ja geschrieben!«

» Pierre!« rief Stepan Trofimowitsch.

»Ach was, Pierre ... Sieh mal, wenn du das gern hörst, so will ich dir sagen: ich bin hierher geflogen, um dir mitzuteilen, daß ich nicht das geringste dagegen habe, da du doch nun einmal durchaus gewünscht hast, meine Meinung so schnell wie möglich zu hören; wenn es aber notwendig ist, dich zu ›retten‹« (die Worte rieselten ihm nur so aus dem Munde), »wie du gleichzeitig in demselben Briefe schreibst und inständig bittest, so stehe ich auch darin zu deinen Diensten. Ist es wahr, daß er sich verheiraten wird, Warwara Petrowna?« wandte er sich schnell an diese. »Ich hoffe, daß ich nicht indiskret bin; er schreibt mir ja selbst, die ganze Stadt wisse es und gratuliere ihm, so daß er, um dem aus dem Wege zu gehen, nur bei Nacht ausgehe. Ich habe den Brief in der Tasche.« Er zog ihn heraus. »Aber können Sie es glauben, Warwara Petrowna, daß ich in dem Briefe nichts begreife? Sage mir nur das eine, Stepan Trofimowitsch: soll man dir Glück wünschen oder dich ›retten‹? Sie werden es gar nicht glauben: neben Zeilen voll der höchsten Glückseligkeit stehen bei ihm Zeilen voll der ärgsten Verzweiflung! Zuerst bittet er mich um Verzeihung; nun, das liegt ja allerdings so in seiner Art ... Übrigens, ich muß sagen: denken Sie sich, er hat mich im Leben nur zweimal gesehen, und auch da nur zufällig, und jetzt auf einmal, wo er sich zum dritten Male verheiraten will, bildet er sich ein, er verletze dadurch mir gegenüber irgendwelche Vaterpflichten, und bittet mich inständig auf tausend Werst Entfernung, deswegen nicht böse zu sein und es ihm zu erlauben! Bitte, fühle dich nicht beleidigt, Stepan Trofimowitsch; deine Handlungsweise liegt im Charakter deiner Zeit; ich habe einen weiten Blick und verurteile nicht leicht jemanden, und deine Gesinnung macht dir ja auch alle Ehre usw usw. Aber um es noch einmal zu sagen: die Hauptsache ist, daß ich die Hauptsache nicht verstehe. Hier steht etwas von ›Sünden in der Schweiz‹. ›Ich heirate‹, schreibt er, ›wegen gewisser Sünden‹ oder ›um fremder Sünden willen‹, oder wie es sonst heißt; kurz: ›Sünden‹ kommen ein paarmal vor. ›Das Mädchen‹, sagt er, ›ist eine Perle, ein Diamant‹; na, und natürlich ist er ›ihrer unwürdig‹ – das ist so sein Stil; aber wegen gewisser dortiger Sünden und Umstände sei er ›genötigt zu heiraten und nach der Schweiz zu fahren‹; darum ›laß alles stehn und liegen und eile herbei, um mich zu retten!‹ Verstehen Sie davon etwas? Übrigens ... übrigens sehe ich an dem Ausdruck der Gesichter« (er drehte sich mit dem Briefe in der Hand herum und betrachtete mit unschuldigem Lächeln alle Gesichter), »daß ich nach meiner Gewohnheit wohl wieder irgendeinen Bock geschossen habe, infolge meiner dummen Offenherzigkeit oder, wie Nikolai Wsewolodowitsch es nennt, Übereilung. Aber ich dachte, wir wären hier lauter gute Freunde, das heißt, es wären alles deine guten Freunde, Stepan Trofimowitsch, deine guten Freunde; denn ich bin tatsächlich ein Fremder und sehe ... und sehe, daß alle etwas wissen und gerade ich nichts weiß.«

Er fuhr fort, seinen Blick umhergehen zu lassen.

»Hat Ihnen Stepan Trofimowitsch das geschrieben, daß er fremde, in der Schweiz begangene Sünden heirate, und daß Sie hereilen möchten, um ihn zu retten, mit diesen selben Ausdrücken?« fragte auf einmal Warwara Petrowna, die herangetreten war. Sie sah ganz gelb aus; ihre Gesichtszüge hatten sich verzerrt; ihre Lippen zuckten.

»Daß heißt ... sehen Sie ... wenn ich da etwas nicht verstanden habe,« erwiderte Peter Stepanowitsch anscheinend sehr erschrocken und noch hastiger als zuvor, »so ist natürlich er daran schuld, weil er so schreibt. Da ist der Brief. Wissen Sie, Warwara Petrowna, er hat mir endlos lange Briefe geschrieben, und ohne Aufhören, in den letzten zwei, drei Monaten immer Brief auf Brief, und ich muß gestehen, ich habe sie zuletzt manchmal nicht bis zu Ende durchgelesen. Nimm mir mein dummes Bekenntnis nicht übel, Stepan Trofimowitsch; aber du mußt ja selbst zugeben, daß du die Briefe zwar an mich adressiert, aber doch mehr für die Nachwelt geschrieben hast; also kann es dir ja ganz gleich sein, ob ich sie vollständig gelesen habe ... Nun, nun, sei nicht böse: du und ich, wir sind ja doch gute Freunde! Aber diesen Brief, Warwara Petrowna, diesen Brief habe ich bis zu Ende gelesen. Diese ›Sünden‹, diese ›fremden Sünden‹, das sind gewiß irgendwelche kleinen Sünden, die wir selbst begangen haben, und ich möchte darauf wetten: Sünden allerunschuldigster Art; aber wir haben auf einmal den Einfall gehabt, daraus eine furchtbare Geschichte mit hochedlem Anstrich zu machen; und eben wegen des hochedlen Anstrichs haben wir diesen Einfall auch ausgeführt. Und hier (bitte, sehen Sie!) will bei uns im Rechnungswesen etwas nicht stimmen; das müssen wir schließlich eingestehen. Wissen Sie, wir haben so eine kleine Passion für das Kartenspiel ... aber was ich da sage, ist ungehörig, ganz ungehörig; Pardon; ich bin zu schwatzhaft; aber weiß Gott, Warwara Petrowna, er hat mir einen Schreck eingejagt, und ich habe mich wirklich darauf vorbereitet, ihn nach Kräften zu ›retten‹. Schließlich schäme ich mich auch selbst. Wie? Setze ich ihm denn etwa das Messer an die Kehle? Bin ich denn ein unerbittlicher Gläubiger? Er schreibt hier etwas von einer Mitgift ... Übrigens, wirst du dich denn nun wirklich verheiraten, Stepan Trofimowitsch? Die Sache wird ja wohl zustande kommen; wir machen ja hier viel Gerede, aber doch mehr wegen der Ausdrucksweise ... Ach, Warwara Petrowna, ich fürchte, daß Sie mir jetzt zürnen, und namentlich wegen dessen, was ich über die Ausdrucksweise gesagt habe ...«

»Im Gegenteil, im Gegenteil; ich sehe, daß Sie die Geduld verloren haben; und gewiß haben Sie dazu Ihre Gründe gehabt,« erwiderte Warwara Petrowna boshaft.

Sie hatte mit boshaftem Genusse das ganze »wahrheitsgemäße« Wortgeriesel Peter Stepanowitschs angehört, der offenbar eine Rolle spielte (was für eine, das wußte ich damals nicht; aber daß es eine Rolle war, unterlag keinem Zweifel; er spielte sie sogar ziemlich plump).

»Im Gegenteil,« fuhr sie fort, »ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, daß Sie gesprochen haben; ohne Sie hätte ich das alles nicht erfahren. Zum erstenmal seit zwanzig Jahren öffne ich die Augen. Nikolai Wsewolodowitsch, Sie sagten vorhin, auch Sie seien ausdrücklich benachrichtigt worden: hat Stepan Trofimowitsch auch an Sie in demselben Sinne geschrieben?«

»Ich habe von ihm einen sehr unschuldigen und ... und ... sehr edlen Brief erhalten ...«

»Sie sind verlegen, Sie suchen nach Worten ... das genügt! Stepan Trofimowitsch, ich erwarte von Ihnen eine außerordentliche Gefälligkeit,« wandte sie sich plötzlich mit funkelnden Augen an ihn. »Haben Sie die Güte, uns jetzt sofort zu verlassen und in Zukunft nie mehr über die Schwelle meines Hauses zu kommen!«

Ich bitte den Leser, sich an Warwara Petrownas vorherige starke Aufregung zu erinnern, die auch jetzt noch nicht vorüber war. Allerdings war Stepan Trofimowitsch wirklich schuldig! Was mich aber damals am meisten in Erstaunen versetzte, das war die bewundernswerte Würde, mit der er sowohl die »Entlarvung« durch Peter, ohne ein Wort dazwischen zu werfen, als auch die »Verfluchung« durch Warwara Petrowna über sich ergehen ließ. Woher nahm er soviel Mut? Ich hatte nur das eine bemerkt, daß er vorher bei der ersten Begegnung mit Peter und namentlich bei der Umarmung sich unzweifelhaft tief beleidigt gefühlt hatte. Das war, wenigstens in seinen Augen, ein tiefes, echtes Herzensleid. Er hatte in diesem Augenblicke auch ein anderes Leid, nämlich das schmerzliche eigene Bewußtsein, daß er eine gemeine Handlung begangen hatte; das hat er mir später selbst mit aller Offenheit gestanden. Nun aber ist ein echtes, unzweifelhaftes Leid imstande, sogar einen phänomenal leichtsinnigen Menschen manchmal gesetzt und standhaft zu machen, wenigstens auf kurze Zeit; ja, durch ein wirkliches, echtes Leid werden sogar Dummköpfe manchmal klug, natürlich ebenfalls nur für eine gewisse Zeit; das ist eben eine eigentümliche Wirkung des Leides. Wenn sich das aber so verhält, was konnte da mit einem solchen Menschen wie Stepan Trofimowitsch vorgehen? Eine vollständige Umwandlung, – allerdings auch nur für eine gewisse Zeit.

Er verbeugte sich würdevoll vor Warwara Petrowna, ohne ein Wort zu sprechen; und in der Tat blieb ihm auch nichts anderes übrig. Er wollte auch schon in dieser Weise ganz weggehen; aber er konnte es doch nicht über sich gewinnen und trat zu Darja Pawlowna heran. Diese schien das geahnt zu haben; denn sie begann sofort ganz erschrocken selbst zu sprechen, als wenn sie sich beeilte, ihm zuvorzukommen.

»Bitte, Stepan Trofimowitsch, um Gottes willen, sagen Sie nichts!« sagte sie in fieberhafter Hast mit schmerzerfüllter Miene und streckte ihm eilig die Hand hin. »Seien Sie überzeugt, daß ich Sie immer in gleicher Weise hochachten werde ... und verehren werde, und ... denken Sie von mir ebenfalls gut, Stepan Trofimowitsch; das wird mir sehr, sehr viel wert sein ...«

Stepan Trofimowitsch machte ihr eine tiefe, tiefe Verbeugung.

»Tu, was du willst, Darja Pawlowna; du weißt, daß du in dieser ganzen Sache völlige Freiheit hast! So ist es gewesen, so ist es jetzt, und so wird es auch in Zukunft sein,« sagte Warwara Petrowna mit großem Nachdruck.

»Ach! Nun begreife ich alles!« rief Peter Stepanowitsch und schlug sich vor die Stirn. »Aber ... aber in was für eine Situation bin ich nun dadurch geraten? Darja Pawlowna, bitte, verzeihen Sie mir! … Was hast du mir da angerichtet?« wandte er sich an seinen Vater.

» Pierre, du könntest dich mir gegenüber anders ausdrücken; nicht wahr, mein Lieber?« sagte Stepan Trofimowitsch ganz ruhig.

»Schrei nicht so, ich bitte dich!« versetzte Peter und bewegte abwehrend beide Hände. »Glaube mir, das kommt alles von deinen alten, kranken Nerven, und Schreien taugt dabei gar nichts. Sage mir lieber (denn du mußtest dir doch Vorhersagen, daß ich gleich von vornherein davon zu reden anfangen würde): warum hast du mich nicht vorher orientiert?«

Stepan Trofimowitsch sah ihn durchdringend an.

» Pierre, du, der so viel von den hiesigen Vorgängen weiß, du solltest wirklich von dieser Sache nichts gewußt, nichts gehört haben?«

»Wa-a-as? Na, du bist mir schön! Also nicht genug, daß ich ein altes Kind sein soll, ich soll auch noch ein böses Kind sein! Warwara Petrowna, haben Sie gehört, was er gesagt hat?«

Es erhob sich ein großer Lärm; aber da brach plötzlich ein Ereignis herein, das niemand hatte erwarten können.

 

VIII

Vor allen Dingen muß ich erwähnen, daß in den letzten zwei, drei Minuten sich Lisaweta Nikolajewnas eine neue Unruhe bemächtigt hatte; sie flüsterte schnell mit ihrer Mama und mit Mawriki Nikolajewitsch, der sich zu ihr herabbeugte. Ihr Gesicht war erregt, drückte aber gleichzeitig eine große Entschlossenheit aus. Endlich stand sie von ihrem Platze auf; sie hatte es offenbar eilig, fortzufahren, und trieb auch ihre Mama zur Eile an, welcher Mawriki Nikolajewitsch beim Aufstehen aus dem Lehnstuhl behilflich war. Aber es war ihnen nicht beschieden, wegzufahren, ehe sie nicht alles bis zu Ende gesehen hatten.

Schatow, der, von allen vollständig vergessen, in seiner Ecke nicht weit von Lisaweta Nikolajewna saß und anscheinend selbst nicht wußte, warum er dasaß und nicht lieber fortging, stand plötzlich vom Stuhle auf, ging, ohne Eile, aber mit festem Schritte, durch das ganze Zimmer, zu Nikolai Wsewolodowitsch hin und sah ihm gerade ins Gesicht. Dieser hatte schon von weitem seine Annäherung wahrgenommen und ganz leise gelächelt; aber als Schatow dicht vor ihn hintrat, hörte er mit dem Lächeln auf.

Als Schatow schweigend vor ihm stehen blieb, ohne ein Auge von ihm abzuwenden, bemerkten dies plötzlich alle Anwesenden und verstummten, zuletzt von allen Peter Stepanowitsch; Lisa und ihre Mama blieben mitten im Zimmer stehen. So vergingen etwa fünf Sekunden; der Ausdruck dreister Verwunderung auf Nikolai Wsewolodowitschs Gesichte ging in den Ausdruck des Zornes über; er zog die Augenbrauen finster zusammen, und plötzlich ...

Und plötzlich holte Schatow mit seinem langen, schweren Arme aus und schlug ihn aus aller Kraft auf die Backe. Nikolai Wsewolodowitsch taumelte stark auf der Stelle, wo er stand.

Schatow hatte aber auch auf eine besondere Weise geschlagen, ganz und gar nicht so, wie man nach herkömmlichem Brauche Ohrfeigen zu geben pflegt, wenn man sich so ausdrücken kann, nicht mit der flachen Hand, sondern mit der ganzen Faust, und seine Faust war groß, schwer, knochig, mit rötlichem Flaum bewachsen und mit Sommersprossen bedeckt. Wäre der Schlag auf die Nase gegangen, so hatte er die Nase zerschmettert. Aber er ging auf die Backe und traf den linken Mundwinkel und die Oberzähne, von wo denn auch sofort Blut floß.

Ich glaube, es erscholl ein momentaner Aufschrei; vielleicht hatte ihn Warwara Petrowna ausgestoßen; ich erinnere mich nicht daran, weil alle sogleich wieder starr standen. Übrigens dauerte die ganze Szene nicht länger als ungefähr zehn Sekunden.

Nichtsdestoweniger ereignete sich in diesen zehn Sekunden außerordentlich viel.

Ich erinnere den Leser wieder daran, daß Nikolai Wsewolodowitsch zu denjenigen Naturen gehörte, die keine Furcht kennen. Beim Duell konnte er vor der Pistole des Gegners kaltblütig dastehen, selbst zielen und mit einer tierisch zu nennenden Ruhe töten. Hätte ihn jemand auf die Backe geschlagen, so würde er, wie ich glaube, den Beleidiger nicht zum Duell gefordert, sondern gleich auf dem Fleck getötet haben; gerade das lag in seinem Wesen, und er würde ihn mit vollem Bewußtsein und keineswegs in sinnloser Erregung getötet haben. Es scheint mir sogar, daß er auch jene Zornesausbrüche nicht kannte, die den Menschen blind machen und der Überlegung berauben. Bei dem grenzenlosen Ingrimm, der sich seiner manchmal bemächtigte, vermochte er doch immer vollständige Selbstbeherrschung zu bewahren und somit auch es sich gegenwärtig zu erhalten, daß er für einen nicht im Duell begangenen Totschlag unfehlbar zur Zwangsarbeit nach Sibirien verschickt werden würde; aber trotzdem hatte er den Beleidiger totgeschlagen, und zwar ohne im geringsten zu zaudern.

Ich habe Nikolai Wsewolodowitsch in der ganzen letzten Zeit genau studiert und weiß infolge besonderer Umstände jetzt, wo ich dies schreibe, sehr viele Tatsachen über ihn. Ich möchte ihn mit einigen Herren aus dem vergangenen Zeitalter vergleichen, an welche sich bei uns noch jetzt gewisse legendenhafte Erinnerungen erhalten haben. Man erzählte zum Beispiel von dem Dekabristen Ein Teilnehmer an der Verschwörung im Jahre 1825. Anmerkung des Übersetzers. L***n, er habe sein ganzes Leben lang die Gefahr absichtlich aufgesucht, sich an dem Gefühl der Gefahr berauscht und dieses Gefühl zu einem Bedürfnis seiner Natur gemacht; in seiner Jugend habe er sich oft ohne jeden Grund duelliert; in Sibirien sei er, nur mit einem Messer bewaffnet, auf den Bären losgegangen; er sei in den sibirischen Wäldern gern mit entlaufenen Sträflingen zusammengetroffen, die, nebenbei bemerkt, noch furchtbarer sind als der Bär. Unzweifelhaft waren diese legendenhaften Herren fähig, das Gefühl der Furcht zu empfinden, vielleicht sogar in hohem Grade; sonst wären sie weit ruhiger gewesen und hätten nicht das Gefühl der Gefahr zu einem Bedürfnisse ihrer Natur gemacht. Aber die in ihnen steckende Feigheit zu überwinden, das war es, was sie reizte. Die ununterbrochene Siegestrunkenheit und das Bewußtsein, keinen Stärkeren über sich zu haben, das hatte für sie eine große Anziehungskraft. Dieser L***n hatte schon vor seiner Verschickung eine Zeitlang mit dem Hunger gekämpft und sich sein Brot durch schwere Arbeit erworben, einzig und allein weil er sich den Forderungen seines reichen Vaters nicht fügen wollte, die er für ungerecht hielt. Also verstand er sich auf vielen Gebieten darauf, zu kämpfen und zu ringen; nicht nur dem Bären gegenüber und nicht nur in Duellen legte er Wert darauf, Festigkeit und Charakterstärke zu beweisen.

Aber seitdem sind viele Jahre vergangen, und bei der nervösen, abgequälten und zerspaltenen Natur der Menschen unserer Zeit kann jetzt überhaupt kein Bedürfnis nach jenen starken, vollen Empfindungen aufkommen, nach denen damals manche von ruhiger Tätigkeit nicht befriedigte Herren der guten alten Zeit so begierig waren. Nikolai Wsewolodowitsch hätte auf einen L***n vielleicht von oben herabgesehen und ihn wohl gar einen stets tapfer tuenden Feigling, ein Hähnchen genannt; allerdings würde er das nicht laut ausgesprochen haben. Er würde im Duell auf den Gegner geschossen haben und einem Bären entgegengetreten sein, wenn es nötig gewesen wäre, und im Walde sich eines Räubers erwehrt haben, alles ebenso erfolgreich und ebenso furchtlos wie L***n, aber ohne jede Lustempfindung, sondern lediglich infolge der unangenehmen Notwendigkeit, matt, träge, sogar gelangweilt. Was Bosheit anlangte, war er natürlich einem L***n und sogar einem Lermontow weit überlegen. Bosheit besaß Nikolai Wsewolodowitsch vielleicht mehr als diese beiden zusammen; aber diese Bosheit war eine kalte, ruhige und, wenn man sich so ausdrücken kann, eine vernünftige, also die abscheulichste und furchtbarste, die es nur geben kann. Ich wiederhole noch einmal: ich hielt ihn damals und halte ihn noch jetzt (wo alles schon zu Ende ist) entschieden für einen Menschen, der, wenn er einen Schlag ins Gesicht oder eine ähnliche Beleidigung von gleicher Starke empfangen hätte, seinen Gegner unverzüglich totgeschlagen haben würde, sofort, auf der Stelle und ohne Herausforderung zum Duell.

Und doch geschah im vorliegenden Falle etwas ganz Anderes, etwas Seltsames.

Kaum hatte er sich wieder geradegerichtet, nachdem er sich infolge der erhaltenen Ohrfeige so schmählich beinah bis zur halben Höhe seines Wuchses zur Seite gebeugt hatte, und noch war, wie es mir vorkam, im Zimmer der gemeine und gewissermaßen feuchte Klang von dem Faustschlage ins Gesicht nicht verhallt, als er sofort Schatow mit beiden Händen an den Schultern faßte; aber unmittelbar darauf, fast in demselben Augenblicke, zog er auch seine beiden Arme wieder zurück und verschränkte sie hinter seinem Rücken. Er schwieg, blickte Schatow an und wurde bleich wie Leinwand. Aber sonderbar: sein Blick war wie erloschen. Nach zehn Sekunden blickten seine Augen kalt und (ich bin überzeugt, daß ich nicht die Unwahrheit rede) ruhig. Er war nur furchtbar blaß. Natürlich weiß ich nicht, was in seinem Innern vorging; ich sah nur die Außenseite. Mir scheint, wenn es jemanden gäbe, der zum Beispiel eine rotglühende Eisenstange ergriffe und mit der Hand festhielte, um seine Standhaftigkeit zu erproben, und dann zehn Sekunden lang den entsetzlichen Schmerz zu überwinden suchte und ihn schließlich wirklich überwände, dann würde, glaube ich, dieser Mensch eine ähnliche Empfindung haben wie jetzt Nikolai Wsewolodowitsch in diesen zehn Sekunden.

Der erste von den beiden, der die Augen niederschlug, war Schatow, und offenbar, weil er sich gezwungen sah, sie niederzuschlagen. Dann drehte er sich langsam um und ging aus dem Zimmer, aber keineswegs mehr mit demselben Gange, mit dem er soeben an seinen Gegner herangetreten war. Er ging leise fort, zog in einer eigentümlich unbeholfenen Weise die Schultern von hinten in die Höhe, ließ den Kopf herunterhängen und schien etwas bei sich zu überlegen. Mir war, als ob er etwas vor sich hin flüsterte. Er ging vorsichtig bis an die Tür, ohne an etwas anzustoßen oder etwas umzuwerfen, und öffnete die Tür nur ein wenig, so daß er sich durch die Öffnung beinahe seitwärts hindurchschob. Während er hindurchschlüpfte, war der auf seinem Hinterkopfe aufragende Haarbüschel besonders auffällig.

Dann erscholl, noch vor allen anderen Ausrufen, ein furchtbarer Schrei. Ich sah, wie Lisaweta Nikolajewna ihre Mama an der Schulter und Mawriki Nikolajewitsch bei der Hand faßte und zwei-, dreimal den Versuch machte, sie hinter sich her aus dem Zimmer zu ziehen, plötzlich aber aufschrie und der Länge lang ohnmächtig zu Boden stürzte. Bis heute noch ist es mir, als hörte ich, wie sie mit dem Hinterkopfe auf den Teppich aufschlug.


 

Druck von F. Haberland in Leipzig

 


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