Fjodr Michailowitsch Dostojewski
Aufzeichnungen aus einem toten Hause
Fjodr Michailowitsch Dostojewski

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Zweiter Teil

I

Das Hospital

Bald nach den Feiertagen erkrankte ich und kam ins Militärspital. Es stand abseits, eine halbe Werst von der Festung entfernt. Es war ein langgestrecktes, gelbgestrichenes Gebäude. Im Sommer, wenn alle Baulichkeiten renoviert wurden, verwendete man darauf eine außerordentliche Menge Ocker. Auf dem riesengroßen Hofe befanden sich die Wirtschaftsgebäude, Häuser für das ärztliche Personal und sonstige notwendige Baulichkeiten. Im Hauptbau lagen ausschließlich die Krankensäle. Es gab ihrer viele, aber nur zwei von ihnen waren für die Sträflinge bestimmt. Sie waren immer außerordentlich überfüllt, besonders aber im Sommer, so daß man oft die Betten zusammenrücken mußte. Unsere Krankensäle waren von »Unglücklichen« aller Art angefüllt. Es waren Leute aus unserem Zuchthause dabei, auch solche, die als Angeklagte vor dem Kriegsgericht standen und in verschiedenen Arrestlokalen saßen, Verurteilte und auch Nichtverurteilte; es gab auch welche aus der Korrektionskompagnie, einer seltsamen Einrichtung, in welche Soldaten, die sich etwas zuschulden kommen ließen, und auch solche, auf die kein besonderer Verlaß war, zwecks Besserung ihrer Aufführung gesteckt wurden und die sie gewöhnlich nach zwei oder mehr Jahren als solche Schurken verließen, wie man sie selten findet. Wenn ein Arrestant bei uns erkrankte, so meldete er es gewöhnlich am Morgen dem Unteroffizier. Der Kranke wurde dann sofort in ein Buch eingetragen und mit diesem Buch in Begleitung eines Wachsoldaten ins Bataillonslazarett geschickt. Der dortige Arzt untersuchte zunächst alle Kranken aus sämtlichen in der Festung untergebrachten Militärkommandos und schickte diejenigen, die er für wirklich krank hielt, ins Hospital. So wurde auch ich ins Buch eingetragen und begab mich gegen zwei Uhr, als alle Unsrigen aus dem Zuchthause zur Nachmittagsarbeit gegangen waren, ins Hospital. Ein kranker Arrestant pflegte möglichst viel Geld und Brot mitzunehmen, da er am ersten Tage im Hospital noch keine Ration zu erwarten hatte; ferner ein winziges Pfeifchen, einen Tabaksbeutel und einen Feuerstein nebst Stahl. Die letztgenannten Gegenstände pflegte man sorgfältig in den Stiefeln zu verstecken. Ich betrat das Hospital nicht ohne eine gewisse Neugier auf diese neue, mir noch unbekannte Variation unseres Arrestantendaseins.

Der Tag war warm, trüb und traurig, – einer jener Tage, an denen solche Anstalten wie ein Hospital ein besonders nüchternes, unfreundliches und griesgrämiges Aussehen haben. Ich betrat mit dem Wachsoldaten das Aufnahmezimmer, wo zwei kupferne Wannen standen und schon zwei kranke Angeklagte mit ihren Wachsoldaten warteten. Der Feldscher kam, musterte uns mit einem faulen und hochmütigen Ausdruck und begab sich noch fauler zum diensthabenden Arzt mit der Meldung. Dieser kam bald, untersuchte uns, behandelte uns sehr freundlich und gab einem jeden von uns einen »Krankenbogen«, auf dem der Name des Betreffenden verzeichnet war. Die fernere Beschreibung der Krankheit, die Verordnung der Arzneien und Beköstigung oblag aber einem der Assistenzärzte, die die Arrestantensäle unter sich hatten. Ich hatte auch schon früher gehört, daß die Arrestanten diese Ärzte gar nicht genug loben konnten. »Sie sind besser als leibliche Väter!« antworteten sie mir auf meine Fragen, bevor ich mich ins Spital begab. Indessen hatten wir uns umgekleidet. Die Kleider und die Wäschestücke, in denen wir gekommen waren, wurden uns abgenommen, und man bekleidete uns mit der Hospitalwäsche und gab uns außerdem lange Strümpfe, Pantoffeln, Nachtmützen und dicke tuchene Schlafröcke von brauner Farbe, die mit einem Zeug, das halb an Leinwand und halb an ein Pflaster erinnerte, gefüttert waren. Kurz, mein Schlafrock war außergewöhnlich schmutzig, aber ich lernte ihn erst an Ort und Stelle richtig schätzen. Dann führte man uns in die Arrestantensäle, die am Ende eines außerordentlich langen, hohen und sauberen Korridors lagen. Die äußere Reinlichkeit war überall sehr befriedigend; alles, was einem zuerst ins Auge fiel, glänzte förmlich. Es ist übrigens möglich, daß es mir nur nach dem Aufenthalte in unserem Zuchthaus so vorkam. Die beiden Angeklagten kamen in den Saal links und ich in den Saal rechts. Vor der mit einer eisernen Querstange verschlossenen Türe stand ein Wachtposten mit einem Gewehr und neben ihm ein Mann zur Ablösung. Der zweite Unteroffizier (von der Hospitalwache) befahl ihm, mich einzulassen, und ich kam in einen langen, schmalen Raum, an dessen beiden Längswänden etwa zweiundzwanzig Betten standen, von denen drei oder vier noch unbesetzt waren. Die Betten waren aus Holz und grün gestrichen, – solche Betten sind bei uns in Rußland jedermann bekannt und können infolge einer geheimnisvollen Schicksalsfügung unmöglich wanzenfrei sein. Ich bekam das Bett in der Ecke an der Fensterseite.

Wie ich schon sagte, befanden sich hier auch Arrestanten aus unserem Zuchthause. Einige von ihnen kannten mich schon oder hatten mich wenigstens früher gesehen. Weit mehr gab es hier Leute im Anklagezustande und aus der Korrektionskompagnie. Schwerkranke, d. h. solche, die das Bett nicht verlassen konnten, gab es nicht viel. Die übrigen, die leicht Kranken und die Genesenden, saßen auf den Betten oder gingen im Zimmer auf und ab, wo es zwischen den beiden Bettreihen einen zu solchen Spaziergängen völlig ausreichenden freien Raum gab. Im Saale herrschte ein erstickender Hospitalgeruch. Die Luft war von verschiedenen unangenehmen Ausdünstungen und vom Geruch der Arzneien geschwängert, obwohl in der Ecke fast den ganzen Tag ein Ofen brannte. Mein Bett war mit einem gestreiften Überzug bedeckt. Ich nahm ihn ab. Unter dem Überzug fand ich eine mit Leinwand gefütterte tuchene Bettdecke und dicke Wäsche von zweifelhafter Sauberkeit. Neben dem Bette stand ein Tischchen mit einem Krug und einer Zinntasse. Diese Gegenstände wurden des Anstandes halber mit dem kleinen Handtuch, das ich bekam, zugedeckt. Unten im Tischchen befand sich noch ein Fach; darin hielten diejenigen, die Tee zu trinken pflegten, ihre Teekannen; hier standen auch Gefäße mit Kwas und ähnliche Dinge; Teetrinker gab es aber unter den Kranken nicht viel. Die Pfeifen und die Tabaksbeutel, die fast alle, die Schwindsüchtigen nicht ausgeschlossen, besaßen, wurden aber unter den Betten verwahrt. Der Arzt und die anderen Vorgesetzten untersuchten die Betten fast nie, und wenn sie jemand mit einer Pfeife antrafen, so taten sie so, als sähen sie sie nicht, übrigens waren auch die Kranken fast immer vorsichtig und rauchten ihre Pfeifen am Ofen. Nur in der Nacht rauchte man einfach auf dem Bette liegend; aber in der Nacht kam niemand in die Krankensäle, höchstens zuweilen der die Hospitalwache befehligende Offizier.

Bisher hatte ich noch in keinem Krankenhause gelegen; darum war die ganze Umgebung für mich außerordentlich neu. Ich merkte, daß ich eine gewisse Neugier erweckte; man hatte von mir schon gehört und musterte mich höchst ungeniert, sogar mit dem Ausdruck einer gewissen Überlegenheit, mit dem man in einer Schule einen Neueingetretenen oder in einem Amtslokal einen Bittsteller anzusehen pflegt. Rechts neben mir lag ein im Anklagezustand befindlicher Schreiber, der uneheliche Sohn eines Hauptmannes a. D. Er stand wegen Falschmünzerei vor Gericht und lag schon fast ein Jahr da, obwohl er anscheinend gar nicht krank war; aber er versicherte die Ärzte, daß er das Aneurysma habe. Er hatte damit sein Ziel erreicht: er entging dem Zuchthause und der Körperstrafe und wurde nach einem Jahr nach T–k geschickt, um dort in einem Krankenhause untergebracht zu werden. Er war ein kräftiger, stämmiger Bursche von etwa achtundzwanzig Jahren, ein großer Schwindler und Kenner der gesetzlichen Vorschriften, gar nicht dumm, außerordentlich ungeniert, seiner selbst sicher und von einem krankhaften Ehrgeiz; er hatte sich selbst ernsthaft eingeredet, daß er der ehrlichste und rechtschaffenste Mensch in der Welt und dabei völlig unschuldig sei, und behielt diese Überzeugung für immer. Er sprach mich als erster an, fragte mich neugierig aus und erzählte mir recht ausführlich von den äußeren Einrichtungen des Hospitals. Vor allen Dingen erklärte er mir natürlich, daß er ein Hauptmannssohn sei. Er wollte furchtbar gern als ein Edelmann oder wenigstens als ein Mensch adliger Abstammung erscheinen. Gleich nach ihm ging auf mich ein Kranker aus der Korrektionskompagnie zu und begann, mir zu versichern, daß er viele von den früher verbannten Adligen gekannt habe, die er mit Vor- und Vatersnamen nannte. Er war ein schon ergrauter Soldat; in seinem Gesicht stand geschrieben, daß er log. Er hieß Tschekunow. Er machte mir offenbar deshalb den Hof, weil er mich im Besitze von Geld vermutete. Als er bei mir ein Paket mit Tee und Zucker bemerkte, bot er mir gleich seine Dienste an: er wollte mir eine Teekanne holen und den Tee aufbrühen. Eine Teekanne hatte mir aber schon M–cki aus dem Zuchthause durch einen der Arrestanten, die im Hospital zu arbeiten hatten, zu schicken versprochen. Aber Tschekunow besorgte mir die ganze Sache. Er verschaffte irgendeinen kleinen Kessel und sogar eine Tasse, kochte Wasser und brühte den Tee auf, diente mir mit einem Worte mit ungewöhnlichem Eifer, womit er einen der Kranken zu einigen giftigen Bemerkungen über mich verleitete. Dieser Kranke, ein Schwindsüchtiger namens Ustjanzew, lag mir gegenüber; er gehörte zu den im Anklagezustande befindlichen Soldaten und war derselbe, der aus Angst vor der Strafe eine Schale mit Branntwein, den er stark mit Tabak angesetzt, ausgetrunken und sich dadurch die Schwindsucht zugezogen hatte; ihn habe ich schon früher einmal erwähnt. Bisher hatte er schweigend und schwer atmend dagelegen, mich mit ernster Miene gemustert und das Benehmen Tschekunows mit Entrüstung verfolgt. Ein ungewöhnlich ernster, galliger Ausdruck verlieh seiner Entrüstung etwas Komisches. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.

»Dieser Knecht! Da hat er einen vornehmen Herrn gefunden!« versetzte er mit einigen Unterbrechungen, vor Erregung atemlos. Er hatte nur noch wenige Tage zu leben.

Tschekunow wandte sich empört zu ihm um.

»Wer ist hier ein Knecht?« sprach er mit einem verächtlichen Blick auf Ustjanzew.

»Du bist der Knecht!« antwortete jener mit solcher Sicherheit, als hätte er volles Recht, Tschekunow Rügen zu erteilen und wäre sogar zu diesem Zweck angestellt.

»Ich bin ein Knecht?«

»Ja, du. Hört ihr es, Leute, er glaubt es nicht! Er wundert sich noch!«

»Was geht es dich an! Du siehst doch, der Herr kann sich allein nicht behelfen, wie wenn er keine Hände hätte. Er ist natürlich nicht gewohnt, ohne einen Diener zu sein! Warum soll ich ihm nicht den Dienst erweisen, du borstschnauziger Hanswurst!«

»Wer ist borstschnauzig?«

»Du.«

»Ich bin borstschnauzig?«

»Ja, du!«

»Und du bist wohl hübsch? Hast selbst ein Gesicht wie ein Krähenei, wenn ich borstschnauzig bin.«

»Gewiß bist du borstschnauzig! Wenn dich Gott einmal geschlagen hat, so liege ruhig da und stirb! Aber er muß sich auch einmischen! Was mischt du dich ein?«

»Was ich mich einmische? Ich werde mich lieber vor einem Stiefel als vor einem Bastschuh verbeugen. Mein Vater hat sich vor keinem Bastschuh verbeugt und hat es auch mir verboten. Ich . . . ich . . .«

Er wollte noch fortfahren, bekam aber einen schrecklichen Hustenanfall, der einige Minuten dauerte und bei dem er Blut spuckte. Bald trat ihm kalter Schweiß der Erschöpfung auf die schmale Stirn. Der Hustenanfall hinderte ihn, sonst hätte er noch lange gesprochen; man sah es seinen Augen an, wie gern er noch schimpfen wollte; in seiner Ohnmacht winkte er aber nur mit der Hand . . . So achtete Tschekunow auf ihn bald nicht mehr.

Ich fühlte, daß die Bosheit des Schwindsüchtigen mehr gegen mich als gegen Tschekunow gerichtet war. Der Wunsch Tschekunows, mir nützlich zu sein und damit eine Kopeke zu verdienen, hätte wohl in niemand einen Zorn oder Verachtung gegen ihn geweckt. Ein jeder wußte, daß er es einfach des Geldes wegen tat. In dieser Beziehung ist das einfache Volk nicht so heikel und versteht seine Unterschiede zu machen. Den Unwillen Ustjanzews hatte eigentlich meine Person erweckt; ihm mißfiel mein Tee, auch daß ich mich selbst in Ketten noch als ein Herr gab, als könnte ich mich ohne einen Diener nicht behelfen, obwohl ich nach einem solchen gar nicht verlangt hatte. Ich wollte ja wirklich immer alles selbst machen und gab mir besondere Mühe, den Eindruck zu vermeiden, daß ich ein verzärtelter Herr mit sauberen Händen sei. Darin lag sogar ein gewisser Ehrgeiz meinerseits, – wenn ich darüber schon sprechen soll. Ich kann unmöglich begreifen, warum es immer so kam, – aber ich konnte niemals die Leute, die sich mir als Diener aufdrängten, zurückweisen; diese gewannen schließlich solche Gewalt über mich, daß eigentlich sie meine Herren waren, ich aber ihr Diener; von außen betrachtet sah es aber immer so aus, als wäre ich wirklich ein verwöhnter Herr und könne mich ohne Dienstboten nicht behelfen. Dies war mir natürlich sehr ärgerlich. Aber Ustjanzew war ein schwindsüchtiger, reizbarer Mensch. Die übrigen Kranken sahen mich gleichgültig, sogar mit einem gewissen Hochmut an. Ich erinnere mich, daß ein besonderer Umstand sie alle beschäftigte; ich erfuhr aus den Gesprächen der Sträflinge, daß am gleichen Abend zu uns einer der Angeklagten gebracht werden sollte, der in diesem Augenblick die Spießrutenstrafe bekam. Die Arrestanten erwarteten diesen Neuling mit gewisser Neugier. Man sagte übrigens, daß die Strafe eine leichte sei: bloß fünfhundert Hiebe.

Allmählich lernte ich meine Umgebung kennen. Soweit ich bemerken konnte, litten hier die meisten an Skorbut und Augenkrankheiten, die in dieser Gegend allgemein verbreitet waren. Solche gab es hier mehrere. Die anderen wirklich Kranken hatten Fieber, allerlei Geschwüre und Brustleiden. Hier war es anders als in den anderen Krankensälen: alle Kranken, selbst die Venerischen, lagen beieinander. Ich sprach eben von den »wirklich« Kranken, denn es gab hier auch solche, die ohne jede Krankheit hergekommen waren, einfach um auszuruhen. Die Ärzte nahmen solche gern aus Mitleid auf, besonders wenn es viel unbesetzte Betten gab. Das Leben in den Arrestlokalen und in den Zuchthäusern war im Vergleich mit dem im Hospital dermaßen schlecht, daß viele Arrestanten hier trotz der stickigen Luft und der verschlossenen Türe mit Vergnügen lagen. Es gab sogar besondere Liebhaber für das Liegen und für das Hospitalleben; diese gehörten übrigens zum größten Teil der Korrektionskompagnie an. Ich musterte mit Neugier meine neuen Genossen, aber meine besondere Neugier erregte, wie ich mich erinnere, ein gleichfalls schwindsüchtiger Arrestant aus unserem Zuchthause, der in den letzten Zügen, nur durch ein Bett von Ustjanzew getrennt, also gleichfalls mir fast gegenüber lag. Er hieß Michailow; erst vor zwei Wochen hatte ich ihn im Zuchthause gesehen. Er war schon seit langem krank und hätte sich längst in ärztliche Behandlung begeben sollen; aber er überwand sich mit einer trotzigen, völlig überflüssigen Geduld, beherrschte sich und kam erst in den Feiertagen ins Hospital, um nach drei Wochen seiner entsetzlich vorgeschrittenen Schwindsucht zu erliegen; der Mann war gleichsam bei lebendigem Leibe verbrannt. Mich frappierte sein schrecklich verändertes Gesicht, das mir schon bei meinem Eintritt ins Zuchthaus als eines der ersten aufgefallen war. Neben ihm lag ein Soldat aus der Korrektionskompagnie, ein schon bejahrter Mensch, der sich durch eine schreckliche, ekelerregende Unsauberkeit auszeichnete . . . Aber ich will hier gar nicht alle Kranken aufzählen . . . Diesen Alten erwähnte ich eben nur aus dem Grunde, weil er auf mich damals gleichfalls einigen Eindruck gemacht und mir in einem Augenblick einen ziemlich vollständigen Begriff von gewissen Eigentümlichkeiten des Arrestantensaals verschafft hatte. Dieser Alte hatte damals, wie ich mich erinnere, einen heftigen Schnupfen. Er nieste die ganze Zeit, nieste eine ganze Woche lang sogar im Schlafe, salvenweise, in fünf und sechs Anfällen hintereinander, wobei er jedesmal sagte: »Mein Gott, ist das eine Strafe!« Damals saß er auf seinem Bette und stopfte sich gierig aus einem kleinen Papierpaket Schnupftabak in die Nase, um auf diese Weise seine Nase möglichst gründlich zu säubern. Er nieste in sein eigenes baumwollenes kariertes Schnupftuch, das wohl hundertmal gewaschen und äußerst verschossen war; dabei verzog er eigentümlich seine kleine Nase, in der sich zahllose kleine Runzeln bildeten, und zeigte die Überreste seiner alten schwarzgewordenen Zähne zugleich mit dem roten, speicheltriefenden Zahnfleisch. Nachdem er sich tüchtig ausgeniest hatte, entfaltete er sofort das Schnupftuch, betrachtete aufmerksam den darin aufgefangenen Schleim und strich diesen sofort auf seinen dunkelbraunen Kommiß-Schlafrock, so daß der ganze Schleim auf den Rock kam, während das Schnupftuch nur feucht blieb. So trieb er es die ganze Woche, Dieses knauserige, sorgfältige Schonen des eigenen Schnupftuches zuschaden des Kommiß-Schlafrockes erregte bei den andern Kranken gar keinen Protest, obwohl jemand von ihnen gleich nach ihm diesen selben Schlafrock bekommen mußte. Aber unser einfaches Volk ist erstaunlich wenig heikel und empfindlich. Ich fühlte mich sofort angeekelt und begann unwillkürlich mit Abscheu und Neugier den Schlafrock, den ich soeben angelegt hatte, zu betrachten. Da merkte ich, daß er mir schon längst durch seinen starken Geruch aufgefallen war; er war an meinem Leibe wärmer geworden und roch immer stärker nach Arzneien, Pflastern und, wie mir schien, nach Eiter, was auch kein Wunder war, da er seit Jahren ständig von Kranken getragen wurde. Vielleicht wurde das leinene Unterfutter am Rücken manchmal gewaschen; aber ich weiß es nicht sicher. Jedenfalls war dieses Unterfutter jetzt von allen möglichen unangenehmen Säften, Mundwassern und Absonderungen von durchschnittenen Geschwüren nach dem Spanischfliegenpflaster durchtränkt. Außerdem kamen in die Krankensäle oft Arrestanten, die eben erst die Spießrutenstrafe erhalten hatten, mit verwundeten Rücken; diese wurden mit Umschlägen behandelt, und darum konnte der Schlafrock, der direkt auf dem nassen Hemd getragen wurde, unmöglich sauber bleiben: alles blieb an ihm haften. Während der Jahre, die ich im Zuchthause blieb, zog ich daher so einen Schlafrock, sooft ich ins Hospital kam (ich kam aber oft hin), nur mit Widerwillen und Angst an. Besonders mißfielen mir die zuweilen in diesen Schlafröcken vorkommenden großen und auffallend fetten Läuse. Die Arrestanten richteten sie mit Genuß hin, und wenn unter dem dicken, ungelenken Arrestantennagel das zum Tode verurteilte Tier platzte, konnte man vom Gesicht des Jägers den Grad des dabei empfangenen Genusses ablesen. Ebensowenig mochten sie die Wanzen und machten sich zuweilen an manchem langen, langweiligen Winterabend in großer Gesellschaft auf, sie auszurotten. Obwohl im Krankensaale, abgesehen vom stickigen Geruch, äußerlich alles nach Möglichkeit sauber schien, war die innere, sozusagen unsichtbare Reinlichkeit durchaus nicht hervorragend. Die Kranken waren daran gewöhnt und glaubten sogar, daß es so sein müsse; auch die ganze Ordnung war wenig dazu angetan, den Reinlichkeitssinn zu stärken. Aber von der Ordnung werde ich später sprechen . . .

Kaum hatte mir Tschekunow den Tee gebracht (der, nebenbei bemerkt, mit dem Wasser des Krankensaales bereitet war, das nur einmal am Tage erneuert wurde und in unserer Luft sehr schnell verdarb), als die Türe etwas geräuschvoll aufging und der soeben mit Spießruten bestrafte Soldat unter starker Bewachung hereingeführt wurde. Das war das erste Mal, daß ich einen auf diese Weise Bestraften sah. Später wurden solche oft zu uns gebracht, zuweilen sogar (wenn die Strafe allzuschwer gewesen war) hereingetragen, und dies bot den Kranken jedesmal eine große Zerstreuung. Ein solcher Delinquent wurde bei uns meistens mit einer betont und stark übertrieben ernsten Miene empfangen. Der Empfang hing übrigens zum Teil auch von dem Grade des Verbrechens und folglich auch von der Schwere der Strafe ab. Ein besonders schwer bestrafter Mann, der obendrein als schwerer Verbrecher galt, genoß auch größeren Respekt und größere Aufmerksamkeit als irgendein desertierter Rekrut, wie der, den man jetzt zu uns brachte. Aber im einen wie im anderen Falle wurde kein besonderes Mitleid geäußert, und man hörte auch keinerlei gereizte Bemerkungen. Man half dem Unglücklichen und pflegte ihn schweigend, besonders wenn er ohne fremde Hilfe nicht auskommen konnte. Die Feldschere wußten schon selbst, daß sie das Opfer in geschickte und erfahrene Hände gaben. Die Hilfe bestand gewöhnlich im häufigen und notwendigen Wechsel des in kaltes Wasser getauchten Lakens oder Hemdes, mit dem man den zerschundenen Rücken deckte, besonders wenn der Bestrafte nicht mehr die Kraft hatte, für sich selbst zu sorgen, außerdem im geschickten Herausziehen der Splitter, die die gebrochenen Spießruten oft in den Wunden hinterließen. Die letztere Operation war für den Patienten meistens sehr unangenehm. Aber im allgemeinen wunderte ich mich über die ungewöhnliche Standhaftigkeit im Ertragen des Schmerzes. Ich habe viele Bestrafte gesehen, darunter auch solche, die schon gar zu grausam bestraft worden waren, und doch hörte ich keinen von ihnen stöhnen! Nur die Gesichter schienen verändert und blaß geworden; die Augen brannten; der Blick war zerstreut und unruhig, und die Lippen zitterten so, daß der Ärmste zuweilen die Zähne so fest in sie biß, daß sie bluteten. Der Soldat, den man eben hereinbrachte, war ein Bursch von etwa dreiundzwanzig Jahren, stark und muskulös, hübsch, groß, schlank, von gebräunter Hautfarbe. Sein Rücken war übrigens ordentlich zerschlagen. Sein Körper war von oben bis zum Gürtel entblößt; auf seine Schultern war ein nasses Laken geworfen, vor dem er an allen Gliedern wie im Fieber zitterte. Anderthalb Stunden ging er im Krankensaale auf und ab. Ich betrachtete sein Gesicht: er schien in diesen Augenblicken an nichts zu denken und sah sonderbar und wild, mit irrenden Blicken um sich, denen es offenbar schwer fiel, auf irgendeinem bestimmten Gegenstände aufmerksam zu verweilen. Mir kam es vor, daß er meinen Tee anstarre. Der Tee war heiß, der Dampf stieg aus der Tasse, der Ärmste war ganz erfroren, zitterte und klapperte mit den Zähnen. Ich bot ihm von meinem Tee an. Er wandte sich stumm und schnell zu mir um, nahm die Tasse und trank den Tee stehend, ohne Zucker, wobei er sich sehr beeilte und sich Mühe gab, mich nicht anzuschauen. Nachdem er den Tee ausgetrunken hatte, stellte er die Tasse hin, nickte mir nicht mal zu und fing wieder an, auf- und abzugehen. Allerdings war ihm nicht so zu Mute, daß er mir etwas sagen oder bloß zunicken konnte! Was aber die anderen Arrestanten betrifft, so vermieden sie anfangs aus irgendeinem Grunde jede Unterhaltung mit dem bestraften Rekruten; im Gegenteil, nachdem sie ihm anfangs geholfen hatten, bemühten sie sich, ihm keine weitere Beachtung zu schenken, vielleicht um ihn möglichst in Ruhe zu lassen und mit keinen weiteren Fragen und »Mitleidsäußerungen« zu belästigen, womit er vollkommen zufrieden schien.

Indessen war es dunkel geworden, und man zündete das Nachtlicht an. Einige Arrestanten besaßen, wie es sich zeigte, eigene Leuchter, aber nur wenige. Endlich kam nach der Abendvisite des Arztes der wachhabende Unteroffizier und zählte alle Kranken nach. Der Krankensaal wurde nun verschlossen, nachdem man vorher den Nachtzuber hereingebracht hatte . . . Ich erfuhr mit Erstaunen, daß dieser Zuber hier die ganze Nacht bleiben sollte, obwohl der eigentliche Abort sich im gleichen Korridor, nur zwei Schritte von der Tür befand. Aber so wollte es die einmal eingeführte Ordnung. Tagsüber wurde der Arrestant aus dem Krankensaal hinausgelassen, übrigens nicht länger als für eine Minute; doch in der Nacht unter keinen Umständen. Die Arrestantensäle glichen in keiner Weise den übrigen Krankensälen, und ein kranker Arrestant mußte sogar in der Krankheit seine Strafe tragen. Von wem diese Ordnung ursprünglich eingeführt ist, weiß ich nicht; ich weiß nur, daß dies mit der wahren Ordnung gar nichts zu tun hatte und daß die ganze Zwecklosigkeit des strengen Festhaltens an den Vorschriften nirgends so kraß zum Ausdruck kam, wie gerade in diesem Fall. Diese Ordnung rührte natürlich nicht von den Ärzten her. Ich wiederhole: die Arrestanten konnten ihre Ärzte nicht genug loben, sie hielten sie für ihre Väter und brachten ihnen jede Achtung entgegen. Jeder Arrestant war von ihnen schon freundlich behandelt worden, hatte von ihnen ein gutes Wort gehört, und der von allen Verstoßene schätzte es, da er die Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit dieses guten Wortes und der freundlichen Behandlung sah. Die letztere hätte ja ebenso gut auch nicht sein können; niemand hätte den Ärzten etwas angehabt, wenn sie die Kranken anders, d. h. roher und unmenschlicher behandelten: folglich waren sie aus echter Menschenliebe so gutmütig. Jedenfalls wußten sie, daß jeder Kranke, wer er auch sei, ob ein Arrestant oder nicht, ebenso die frische Luft brauchte wie jeder andere Kranke, selbst vom höchsten Range. Die Rekonvaleszenten aus den anderen Krankensälen durften z. B. frei in den Korridors auf- und abgehen, sich Bewegung machen und eine weniger verpestete Luft atmen als die in den Krankensälen, die übelriechend und selbstverständlich immer von erstickenden Ausdünstungen erfüllt war. Ich kann mir jetzt nur mit Ekel vorstellen, in welchem Grade die schon ohnehin verpestete Luft bei uns nachts vergiftet wurde, wenn man diesen Zuber hereinbrachte, in Anbetracht der warmen Temperatur im Saale und der gewissen Krankheiten, bei denen man unbedingt austreten muß! Wenn ich soeben sagte, daß der Arrestant auch in der Krankheit seine Strafe tragen mußte, so nahm und nehme ich durchaus nicht an, daß diese Ordnung ausschließlich als Strafe eingeführt worden ist. Natürlich wäre dies eine unsinnige Verleumdung. Kranke brauchen nicht mehr bestraft zu werden. Und wenn dem so ist, so hat wohl irgendeine harte Notwendigkeit die Obrigkeit zu dieser in ihren Folgen, so schädlichen Maßregel gezwungen. Was für eine Notwendigkeit mag es gewesen sein? Das ist eben so ärgerlich, daß man die Notwendigkeit dieser Maßregel auf keine andere Weise erklären kann, genau wie die der anderen Maßregeln, die dermaßen unbegreiflich sind, daß man sie nicht nur nicht erklären, sondern auch keinerlei Erklärung für sie vermuten kann. Womit soll man sich diese zwecklose Grausamkeit erklären? Vielleicht damit, daß ein Arrestant sich absichtlich krank stellt und die Ärzte anführt, um ins Hospital zu kommen, dann des Nachts auf den Abort gehen und in der Dunkelheit entfliehen kann? Es ist fast überflüssig, die ganze Sinnlosigkeit einer solchen Annahme zu beweisen. Wohin soll er fliehen? Wie soll er fliehen? In welcher Kleidung? Bei Tage werden ja die Sträflinge nur einzeln herausgelassen; ebenso hätte man es auch nachts machen können. Vor der Türe steht ein Posten mit geladenem Gewehr. Der Abort befindet sich buchstäblich zwei Schritte von diesem Posten, aber der Kranke wird trotzdem vom Hilfsposten auf den Abort begleitet, und dieser läßt ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen. Im Abort gibt es nur ein Fenster mit doppelten Scheiben und einem Eisengitter. Vor diesem Fenster auf dem Hofe, dicht vor den Fenstern der Arrestantensäle geht gleichfalls die ganze Nacht ein Wachtposten auf und ab. Um durch das Fenster zu fliehen, müßte man das Fenster einschlagen und das Gitter herausbrechen. Wer wird das zulassen? Nehmen wir sogar an, daß der Arrestant zunächst den ihn begleitenden Hilfsposten erschlägt, ohne daß dieser einen Ton von sich gibt, und daß es niemand hört. Selbst wenn wir diese unsinnige Annahme machen, muß er dennoch das Fenster und das Gitter herausbrechen. Es ist zu beachten, daß dicht neben dem Wachtposten die Krankensaalwärter schlafen, daß in zehn Schritt Entfernung vor dem nächsten Arrestantensaale ein anderer Wachtposten mit Gewehr steht und sich neben ihm ein anderer Hilfsposten und andere Krankensaalwächter befinden. Wohin soll er im Winter in seinen Strümpfen und Pantoffeln, im Schlafrock und Nachtmütze fliehen? Und wenn es sich so verhält, wenn die Gefahr wirklich so gering ist (eigentlich liegt überhaupt keine Gefahr vor), – wozu dann diese Erschwerung für die Kranken, vielleicht in den letzten Tagen und Stunden ihres Lebens, für die Kranken, die die frische Luft vielleicht noch notwendiger brauchen als die Gesunden? Wozu? Ich habe es niemals begreifen können.

Wenn ich aber schon einmal die Frage »wozu?« gestellt und die Rede darauf gebracht habe, so kann ich nicht umhin, noch ein anderes Rätsel zu erwähnen, dem ich so viele Jahre gegenüberstand und für das ich unmöglich eine Erklärung finden konnte. Ich muß jetzt unbedingt wenigstens einige Worte darüber sagen, ehe ich in meiner Schilderung fortfahre. Ich meine die Fesseln, von denen keine Krankheit den Zuchthäusler befreit. Ich habe selbst Schwindsüchtige in diesen Fesseln sterben sehen. Dabei waren alle daran gewöhnt und hielten sie für eine gegebene, unabänderliche Tatsache. Ich glaube kaum, daß sich jemand irgendwelche Gedanken darüber machte, denn es war während meiner Zuchthausjahre keinem von den Ärzten je eingefallen, sich bei der Obrigkeit für die Befreiung irgendeines schwerkranken, schwindsüchtigen Arrestanten von den Fesseln zu verwenden. Die Fesseln sind zwar an sich keine Gott weiß wie schwere Last. Sie wiegen acht bis zwölf Pfund. Ein Gewicht von zehn Pfund ist für einen gesunden Menschen nicht beschwerlich. Man erzählte mir übrigens, daß die Fesseln nach einigen Jahren die Abzehrung der Arme und Beine bewirken. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit scheint hier doch vorzuliegen. Die Last ist zwar nicht groß, obwohl die ständig am Bein befestigten zehn Pfund immerhin das Gewicht des Gliedes in unnormaler Weise vergrößern und nach längerer Zeit eine schädliche Wirkung zeigen müssen . . . Aber nehmen wir an, daß es dem Gesunden nichts macht. Wie ist es aber mit einem Kranken? Wollen wir sogar annehmen, daß es dem gewöhnlichen Kranken nichts macht. Aber ich wiederhole: wie ist es mit den Schwerkranken, mit dem Schwindsüchtigen, bei dem die Arme und Beine auch ohnehin so abgezehrt sind, daß ihm jeder Strohhalm als eine Last erscheint? Wenn die ärztlichen Vorgesetzten eine Erleichterung, sei es auch nur für die Schwindsüchtigen, allein durchsetzen könnten, so wäre schon das allein eine wahre und große Wohltat. Vielleicht wird jemand einwenden, daß der Arrestant ein Bösewicht ist und keine Wohltaten verdient; darf man aber die Strafe für einen Menschen vergrößern, der schon ohnehin vom Finger Gottes getroffen ist? Ich kann auch gar nicht glauben, daß es nur als Strafe gedacht ist. Ein Schwindsüchtiger ist ja selbst von einer gerichtlich zudiktierten Körperstrafe befreit. Folglich steckt wiederum eine geheimnisvolle, wichtige Vorsichtsmaßregel dahinter. Aber was für eine, ist nicht zu verstehen. Es ist doch wirklich nicht zu befürchten, daß ein Schwindsüchtiger entfliehen kann. Wer wird an die Flucht denken, besonders beim gewissen Entwicklungsstadium dieser Krankheit? Die Schwindsucht simulieren und die Ärzte betrügen, um zu fliehen, ist unmöglich. Es ist ja eine Krankheit, die man auf den ersten Blick erkennt. Legt man übrigens einem Menschen die Fußfesseln nur dazu an, damit er nicht fliehen könne und damit sie ihn an der Flucht hindern? Durchaus nicht. Die Fesseln bedeuten nur eine Ächtung, eine körperliche und moralische Schmach und Last. So nimmt man an. An der Flucht können aber die Fesseln niemand hindern. Selbst der ungeschickteste und unerfahrenste Arrestant kann sie immer ohne besondere Mühe durchfeilen oder die Nieten mit einem Stein zerschlagen. Die Fußfesseln garantieren also absolut nichts, und wenn dem so ist und sie für den verurteilten Zuchthäusler nur eine Strafe bedeuten, so frage ich wiederum: darf man denn auch einen Sterbenden strafen?

Jetzt, da ich dieses schreibe, sehe ich deutlich einen sterbenden Schwindsüchtigen vor mir, denselben Michailow, der fast mir gegenüber, nicht weit von Ustjanzew lag und, wenn ich nicht irre, am vierten Tage nach meinem Eintritt in den Krankensaal starb. Wenn ich jetzt von den Schwindsüchtigen spreche, so wiederhole ich vielleicht nur unwillkürlich jene Eindrücke und Gedanken, die mir damals anläßlich seines Todes kamen. Den Michailow selbst habe ich übrigens wenig gekannt. Er war ein noch sehr junger Mann von höchstens fünfundzwanzig Jahren, groß, schlank, von einem angenehmen Äußeren. Er befand sich in der Besonderen Abteilung, war auffallend schweigsam und zeigte immer den Ausdruck einer stillen, ruhigen Trauer. Er schien im Zuchthause zu »verdorren«. So drückten sich wenigstens nachher die Arrestanten aus, bei denen er ein gutes Andenken hinterließ. Ich erinnere mich nur noch, daß er wunderschöne Augen hatte, und ich weiß wirklich nicht, warum er sich mir so scharf ins Gedächtnis eingeprägt hat. Er starb um drei Uhr nachmittags, an einem heiteren Frosttage. Ich erinnere mich, wie die Sonne mit ihren scharfen, schrägen Strahlen die grünen, leicht angefrorenen Fensterscheiben in unserm Krankensaale durchdrang. Ein ganzer Strom von Sonnenlicht ergoß sich über den Unglücklichen. Er starb ohne Besinnung, sein Tod war schwer und dauerte lange, mehrere Stunden. Schon am Morgen hatte er begonnen, die sich ihm Nähernden nicht zu erkennen. Man wollte ihm den Zustand erleichtern, man sah, daß er es sehr schwer hatte; er atmete mit großer Mühe, tief und röchelnd; seine Brust hob sich hoch, als hätte sie zu wenig Luft. Er warf die Bettdecke und alle Kleider von sich und fing schließlich an, auch das Hemd von sich herunterzureißen: selbst das Hemd war für ihn eine Last. Man half ihm und zog ihm das Hemd aus. Es war schrecklich, diesen ungewöhnlich langen Körper mit den bis zu den Knochen abgezehrten Armen und Beinen, dem eingefallenen Bauch, der gehobenen Brust und den Rippen, die sich so deutlich wie bei einem Skelett abzeichneten, zu sehen. Auf seinem ganzen Körper hatte er nur noch ein hölzernes Kreuz mit einem Amulett und die Fesseln, aus denen er jetzt die abgemagerten Füße einfach herausziehen zu können schien. Eine halbe Stunde vor seinem Tode waren alle bei uns irgendwie stiller geworden und sprachen nur noch im Flüsterton. Wer gehen mußte, bemühte sich, unhörbar aufzutreten. Man sprach untereinander wenig und nur von ganz abseits liegenden Dingen, wobei man nur ab und zu den Sterbenden ansah, der immer stärker röchelte. Endlich fand er mit seiner tastenden, unsichern Hand an seiner Brust das Amulett und begann es von sich herunterzureißen, als wäre es für ihn zu schwer, als beunruhigte und beengte es ihn. Man nahm ihm auch das Amulett ab. Nach etwa zehn Minuten gab er den Geist auf. Man klopfte an die Türe und meldete es dem Wachtposten. Ein Wächter trat ein, sah den Toten mit stumpfem Blick an und begab sich zum Feldscher. Der Feldscher, ein junger und guter Kerl, der sich zuviel mit seinem, übrigens recht vorteilhaften Äußeren beschäftigte, erschien sehr bald; er ging mit schnellen Schritten, die im stillen Krankensaal laut widerhallten, auf den Toten zu, ergriff mit besonders ungezwungener Miene, die er eigens für diesen Fall vorbereitet zu haben schien, dessen Hand, fühlte den Puls, winkte mit der Hand und ging hinaus. Man meldete den Fall sofort auf die Wache: der Verstorbene war ein schwerer Verbrecher gewesen und hatte der Besonderen Abteilung angehört; darum konnte er auch nur unter Beobachtung besonderer Zeremonien als tot befunden werden. In Erwartung der Wachen sagte einer der Arrestanten mit leiser Stimme, daß man dem Verstorbenen eigentlich die Augen schließen sollte. Ein anderer hörte ihn aufmerksam an, näherte sich dann stumm der Leiche und drückte ihr die Augen zu. Als er das auf dem Kissen liegende Kreuz sah, nahm er es in die Hand, besah es sich und legte es dann schweigend Michailow wieder um den Hals; dann bekreuzigte er sich. Das Gesicht des Toten war indessen starr geworden; ein Sonnenstrahl spielte auf ihm; der Mund war halb geöffnet; zwei Reihen weißer junger Zähne schimmerten unter den dünnen, am Zahnfleisch haftenden Lippen. Endlich kam der wachhabende Unteroffizier mit Seitengewehr und Helm, von zwei Wärtern gefolgt. Er kam näher, die Schritte immer mehr verlangsamend und die stillgewordenen, ihn von allen Seiten ernst anblickenden Arrestanten etwas erstaunt anschauend. Als er sich dem Toten auf einen Schritt genähert hatte, blieb er wie angewurzelt, gleichsam erschrocken, stehen. Die gänzlich entblößte, abgezehrte Leiche, die nur noch mit den Fesseln bekleidet war, machte auf ihn einen starken Eindruck; er löste plötzlich die Schuppenkette, nahm den Helm ab, was gar nicht verlangt wurde, und bekreuzigte sich mit breiter Gebärde. Er hatte ein strenges, ergrautes Soldatengesicht. Ich besinne mich, daß in diesem Augenblick Tschekunow, gleichfalls ein grauhaariger Alter, neben ihm stand. Er blickte die ganze Zeit stumm und unverwandt dem Unteroffizier aus nächster Nähe ins Gesicht und verfolgte mit seltsamer Aufmerksamkeit jede seiner Gesten. Aber ihre Blicke begegneten sich, und bei Tschekunow zitterte plötzlich aus irgendeinem Grunde die Unterlippe. Er verzog sie auf eine sonderbare Weise, zeigte die Zähne, nickte schnell, wie zufällig dem Unteroffizier zu und sagte:

»Er hat ja auch einmal eine Mutter gehabt!« Und er trat zur Seite.

Ich erinnere mich noch, wie diese Worte mich förmlich durchbohrten . . . Wozu hatte er sie gesprochen und wie waren sie ihm in den Sinn gekommen? Nun hob man aber die Leiche mit dem Bette auf; das Stroh raschelte, die Fesseln schlugen in der allgemeinen Stille laut gegen den Boden . . . Man hob sie auf. Dann trug man die Leiche hinaus. Plötzlich begannen alle laut zu sprechen. Man hörte, wie der Unteroffizier schon im Korridor jemand nach dem Schmied schickte. Der Tote sollte von seinen Fesseln befreit werden . . .

Ich bin aber von meinem Thema abgeschweift . . .


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