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Der Mann auf dem Felsturm

Der Auszug aus meinem persönlichen Tagebuch, aus dem das vorangegangene Kapitel bestand, hat meine Erzählung bis zum 18. Oktober geführt, eine Zeit, da diese seltsamen Ereignisse rasch auf ihr schreckliches Ende zuzustreben begannen. Die Ereignisse der wenigen folgenden Tage sind mir unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt, so dass ich sie wiedergeben kann, ohne auf meine damaligen Notizen zurückzugreifen. Es beginnt mit dem Tag, nachdem ich zwei Tatsachen von großer Bedeutung herausgefunden hatte, nämlich einmal, dass Mrs. Laura Lyons aus Coombe Tracey an Sir Charles geschrieben und mit ihm an genau dem Platz und zu genau der Stunde verabredet war, da er den Tod gefunden hat, und zum zweiten, dass sich der Unbekannte, welcher auf dem Moor herumschlich, zwischen den Steinhütten auf dem Hügel aufhalten musste. Mit diesen Tatsachen in Händen, so ahnte ich, müssten entweder meine Intelligenz oder mein Mut nicht ausreichend sein, wenn ich nicht Licht in diese dunklen Punkte bringen könnte.

Ich hatte zunächst keine Gelegenheit, dem Baronet zu berichten, was ich über Mrs. Lyons am Abend zuvor erfahren hatte, denn Dr. Mortimer war bei ihm und sie spielten bis spät in die Nacht Karten. Zum Frühstück jedoch informierte ich ihn über meine Entdeckung und fragte ihn, ob er mich nach Coombe Tracey begleiten wolle. Zunächst schien er sehr interessiert daran mitzukommen, doch auf den zweiten Blick schien es uns beiden, dass das Resultat der Nachforschungen ergiebiger sein würde, wenn ich alleine ging. Je formeller der Besuch wäre, um so weniger Informationen würden wir erhalten. So ließ ich Sir Henry zurück, nicht ohne ein paar leichte Gewissensbisse, und begab mich auf meine neue Entdeckungsfahrt.

Als ich Coombe Tracey erreicht hatte, wies ich Perkins an, die Pferde auszuspannen, und erkundigte mich nach der Dame, die ich befragen wollte. Es war kein Problem, ihre Wohnung ausfindig zu machen, die zentral gelegen und gut eingerichtet war. Ein Dienstmädchen ließ mich ohne Umstände herein, und als ich das Wohnzimmer betrat, erhob sich eine Dame, die vor einer Remington-Schreibmaschine gesessen hatte, und lächelte mir ein freundliches Willkommen zu. Das Lächeln fiel jedoch in sich zusammen, als sie bemerkte, dass ich ein Fremder war; sie setzte sich wieder hin und fragte nach dem Anlass meines Besuchs.

Der erste Eindruck, den Mrs. Lyons auf mich machte, war von einer äußersten Schönheit. Ihr Augen wie auch ihre Haare waren von derselben haselnussbraunen Farbe, und ihre mit Sommersprossen besprenkelten Wangen waren von dem erlesenen Flaum der Brünetten bedeckt, jenem zarten Rosa, das sich im Inneren einer gelben Rose befindet. Bewunderung also, ich wiederhole, war mein erstes Gefühl. Doch auf den zweiten Blick wurde ich kritisch. Mit ihrem Gesicht schien auf subtile Weise etwas nicht zu stimmen; es lag eine gewisse Derbheit im Ausdruck, vielleicht Härte in den Augen, die Lippen erschienen schlaff und trübten so den Eindruck ihrer vollkommenen Schönheit. Aber diese Gedanken kamen mir natürlich erst später. Im Moment war mir lediglich bewusst, mich in Gegenwart einer sehr schönen Frau zu befinden, die mich nach den Gründen für meinen Besuch fragte. Bis zu diesem Augenblick hatte ich mir nicht klar gemacht, wie delikat meine Mission war.

»Ich habe das Vergnügen«, begann ich, »Ihren Vater zu kennen.« Es war ein unbeholfener Anfang und die Dame ließ es mich spüren.

»Ich habe mit meinem Vater nichts zu schaffen«, antwortete sie. »Ich schulde ihm nichts und seine Freunde sind nicht die meinen. Wären da nicht der selige Sir Charles Baskerville und einige andere freundliche Herzen gewesen, hätte ich verhungern können, ohne dass sich mein Vater darum geschert hätte.«

»Gerade wegen des verstorbenen Sir Charles Baskerville suche ich Sie auf.«

Die Sommersprossen in ihrem Gesicht verblassten.

»Was kann ich Ihnen über Sir Charles erzählen?« fragte sie, während ihre Finger nervös an den Tasten ihrer Schreibmaschine spielten.

»Sie haben ihn doch gekannt, nicht wahr?«

»Ich habe Ihnen gerade gesagt, dass ich seiner Güte eine Menge verdanke. Wenn ich in der Lage bin, mein Leben zu bestreiten, so liegt das zu einem großen Teil an seinem Interesse an meiner unglücklichen Lage.«

»Standen Sie mit ihm in Briefkontakt?«

Die Dame warf mir kurz einen verärgerten Blick aus ihren haselnussbraunen Augen zu.

»Worauf wollen Sie hinaus?« fragte sie scharf.

»Es liegt mir daran, öffentliches Aufsehen zu vermeiden. Es ist besser, ich frage Sie hier, als dass sich die Angelegenheit unserer Kontrolle entzieht.«

Einen Moment lang blieb sie still und ihr Gesicht war immer noch sehr blass. Schließlich sah sie mit trotziger und herausfordernder Miene auf.

»Nun gut«, sagte sie. »Ich werde Ihre Fragen beantworten.«

»Standen Sie mit Sir Charles in Briefkontakt?«

»Sicher habe ich ihm ein- oder zweimal geschrieben, um mich für seine Feinfühligkeit und Großzügigkeit zu bedanken.«

»Können Sie mir die genauen Daten dieser Briefe angeben?«

»Nein.«

»Haben Sie ihn jemals getroffen?«

»Ja, ein- oder zweimal, als er nach Coombe Tracey kam. Er war ein sehr zurückhaltender Mensch und zog es vor, im Verborgenen als Wohltäter zu handeln.«

»Aber wenn Sie ihn so selten gesehen haben und auch so selten geschrieben, woher wusste er dann genug über Ihre Angelegenheiten, um Ihnen so helfen zu können, wie Sie es beschrieben haben?«

Sie parierte meine Zweifel mit äußerstem Geschick.

»Es gab mehrere Herren, die meine traurige Geschichte kannten und sich zusammengetan hatten, um mir zu helfen. Einer war Mr. Stapleton, ein Nachbar und vertrauter Freund von Sir Charles. Er war über die Maßen freundlich, und Sir Charles hat durch ihn von meinen Angelegenheiten erfahren.«

Ich wusste schon, dass Stapleton zu verschiedenen Gelegenheiten der Almosenpfleger von Sir Charles gewesen war, so dass mir die Ausführungen von Mrs. Lyons glaubhaft erschienen.

»Haben Sie jemals Sir Charles geschrieben, dass sie ihn treffen möchten?« fuhr ich fort.

Mrs. Lyons wurde rot vor Ärger.

»Wirklich, Sir, das ist eine sehr merkwürdige Frage.«

»Es tut mir Leid, Madam, aber ich muss Sie das fragen.«

»Nun, dann ist meine Antwort: Sicher nicht.«

»Auch nicht am Todestag von Sir Charles?«

Die Röte war augenblicklich aus ihrem Gesicht gewichen und sie saß leichenblass vor mir. Ihre trockenen Lippen konnten kaum das ›Nein‹ hauchen, das ich eher sah als hörte.

»Bestimmt täuscht Sie Ihre Erinnerung«, sagte ich. »Ich kann sogar einen Teil Ihres Briefes zitieren. Er lautete: ›Ich flehe sie an, da Sie ein Gentleman sind, diesen Brief zu verbrennen und um zehn Uhr am Tor zu sein‹.«

Einen Moment lang glaubte ich, sie würde ohnmächtig, doch mit äußerster Anstrengung bekam sie sich wieder in ihre Gewalt.

»Gibt es denn keinen Gentleman mehr?« keuchte sie.

»Sie tun Sir Charles Unrecht, er hat den Brief verbrannt, aber manchmal ist ein Brief auch dann noch lesbar, wenn er verbrannt wurde. Geben Sie nunmehr zu, ihn geschrieben zu haben?«

»Ja, ich habe ihn geschrieben«, rief sie und schüttete ihr Herz in einem Strom von Worten aus. »Ich habe ihn geschrieben. Warum sollte ich es leugnen? Ich habe keinen Grund, mich dafür zu schämen. Ich wollte, dass er mir hilft. Ich war der Ansicht, durch ein Gespräch könnte ich seine Hilfe erlangen, daher bat ich ihn, mich zu treffen.«

»Aber warum zu solcher Stunde?«

»Weil ich gerade erst erfahren hatte, dass er im Begriff war, nach London zu fahren, und möglicherweise einige Monate lang abwesend sein würde. Es hatte seinen Grund, warum ich nicht früher dort sein konnte.«

»Aber warum eine Verabredung im Garten an Stelle eines Besuchs im Haus?«

»Sind Sie der Meinung, eine Dame könnte um diese Uhrzeit einen Junggesellen allein in seiner Wohnung aufsuchen?«

»Nun, was ist passiert, als Sie dort ankamen?«

»Ich bin nie hingegangen.«

»Mrs. Lyons!«

»Nein, ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist, ich bin nie hingegangen. Etwas ist mir dazwischen gekommen.«

»Und was war das?«

»Dabei handelt es sich um eine persönliche Angelegenheit, von der ich Ihnen nicht erzählen kann.«

»Sie geben also zu, dass Sie mit Sir Charles eine Verabredung zu eben jener Stunde und an eben jenem Ort hatten, wo er gestorben ist, aber Sie bestreiten, die Verabredung eingehalten zu haben.«

»Das ist die Wahrheit.«

Wieder und wieder nahm ich sie ins Kreuzverhör, doch kam ich über diesen Punkt nicht hinaus.

»Mrs. Lyons«, sagte ich, als ich mich nach diesem langen und unbefriedigendem Verhör erhob, »Sie laden eine sehr große Verantwortung auf sich und bringen sich in eine unangenehme Lage, wenn Sie nicht reinen Tisch machen hinsichtlich allem, das Sie wissen. Wenn ich mich gezwungen sehe, die Polizei einzuschalten, werden Sie feststellen, wie ernsthaft Sie sich selbst belasten. Wenn Sie so unschuldig sind, warum haben Sie dann zuerst abgestritten, Sir Charles an jenem Tag einen Brief geschrieben zu haben?«

»Weil ich fürchtete, dass falsche Schlüsse daraus gezogen werden könnten und ich in einen Skandal verwickelt würde.«

»Und warum war Ihnen so daran gelegen, dass Sir Charles den Brief verbrannte?«

»Wenn Sie den Brief gelesen haben, dann wissen Sie warum.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich den ganzen Brief gelesen habe.«

»Sie haben daraus zitiert.«

»Ich habe das Postskriptum zitiert. Wie ich sagte, war der Brief verbrannt worden und nicht vollständig lesbar. Ich frage Sie noch einmal, warum es für Sie so wichtig war, dass Sir Charles den Brief verbrannte, den er am Tage seines Todes erhalten hatte.«

»Das ist eine sehr persönliche Angelegenheit.«

»Ein Grund mehr, warum Sie eine öffentliche Untersuchung vermeiden sollten.«

»Nun gut, ich werde es Ihnen sagen. Wenn Sie von meinem unglücklichen Schicksal gehört haben, werden Sie wissen, dass ich überstürzt geheiratet und Grund dazu hatte, dies zu bedauern.«

»Insoweit bin ich informiert.«

»Mein Leben war eine einzige Flucht vor einem Ehemann, den ich verabscheute. Das Gesetz ist auf seiner Seite und jeden Tag kann ich mit der Möglichkeit konfrontiert werden, dass er mich dazu zwingt, mit ihm zusammenzuleben. Als ich diesen Brief an Sir Charles schrieb, hatte ich gerade erfahren, dass eine gewisse Aussicht für mich bestand, meine Freiheit wiederzuerlangen, sofern ich bestimmte Aufwendungen bestreiten konnte. Es hat mir alles bedeutet – Seelenfrieden, Glück, Selbstachtung – einfach alles! Ich kannte Sir Charles' Großzügigkeit und hoffte, dass er mir helfen würde, wenn er die Geschichte aus meinem eigenen Mund hören würde.«

»Aber warum sind Sie dann nicht hingegangen?«

»Weil ich in der Zwischenzeit aus einer anderen Quelle Hilfe bekommen hatte.«

»Warum haben Sie dann Sir Charles nicht geschrieben und alles erklärt?«

»Das hätte ich getan, hätte ich nicht am nächsten Tag aus der Zeitung von seinem Tod erfahren.«

Die Geschichte dieser Dame passte in allen Details und keine meiner Fragen war fähig, sie zu erschüttern. Die einzige Möglichkeit zu prüfen, ob sie den Tatsachen entsprach, war herauszufinden, ob sie tatsächlich zum Zwecke der Scheidung entsprechende Schritte gegen ihren Ehemann zur Zeit der Tragödie in die Wege geleitet hatte.

Es schien mir unwahrscheinlich, dass sie es wagen würde zu bestreiten, in Baskerville Hall gewesen zu sein, wenn sie wirklich dort gewesen wäre, denn sie hätte eine Kutsche gebraucht, um dort hinzugelangen, und sie hätte nicht vor dem nächsten Morgen in Coombe Tracey zurück sein können. Ein solche Ausflug konnte nicht verheimlicht werden. Es war daher wahrscheinlich, dass sie die Wahrheit sagte oder jedenfalls einen Teil der Wahrheit. Verwirrt und niedergeschlagen kehrte ich zurück. Wieder einmal stand ich vor der unüberwindlichen Mauer, die quer über jeden Weg gebaut zu sein schien, auf welchem ich mich dem Ziel meiner Mission zu nähern suchte. Doch je mehr ich über die Mimik und Gestik jener Dame nachdachte, um so stärker fühlte ich, dass sie etwas vor mir verbarg. Warum sonst hätte sie so blass werden sollen? Warum sträubte sie sich gegen jedes Zugeständnis, bis ich es ihr entrissen hatte? Warum schwieg sie so verbissen über den Tag der Tragödie? Sicher konnte die Erklärung dafür nicht ganz so unschuldig sein, wie sie mich glauben machen wollte. Im Moment kam ich in dieser Richtung nicht weiter, daher musste ich mich der anderen Spur zuwenden, die ich zwischen den Steinhütten auf dem Moor zu suchen hatte.

Doch dies war eine recht unsichere Spur. Das wurde mir deutlich, während ich zurückfuhr und bemerkte, wie Hügel auf Hügel Überreste des alten Volkes aufwies. Barrymores einziger Hinweis besagte, dass der Fremde in einer dieser verlassenen Hütten lebte, und davon lagen hunderte kreuz und quer über das Moor verstreut. Doch wies mir mein eigenes Erlebnis den Weg, hatte ich doch den Mann mit eigenen Augen auf dem Gipfel des Black Tor stehen sehen. Auf diese Stelle wollte ich meine Suche konzentrieren. Von hier aus wollte ich jede Hütte untersuchen, bis ich auf die richtige stieß, und sollte sich der Mann darinnen aufhalten, so würde ich ihn mit meinem Revolver bedrohen und aus seinem eigenen Mund hören, wer er sei und warum er uns so lange Zeit beschattet habe. In Regent Street konnte er uns leicht entkommen, doch in der Einsamkeit des Moores würde ihm das schwer fallen. Sollte ich jedoch die Hütte finden, ohne dass er sich darinnen befände, müsste ich dort auf ihn warten, wie lange es auch dauern sollte, bis er zurückkäme. Er war Holmes in London entwischt. Es wäre wirklich ein Triumph für mich, dort erfolgreich zu sein, wo der Meister versagt hatte.

In der ganzen Angelegenheit hatte sich das Glück immer und immer wieder gegen uns gestellt, doch jetzt endlich kam es mir zu Hilfe, und der Überbringer der guten Nachricht war niemand anderer als Mr. Frankland, der mit seinem grauen Schnurrbart und rotem Gesicht vor seinem Gartentor auf der Landstraße stand, die ich entlang kam.

»Guten Tag, Dr. Watson«, rief er mit ungewohnt guter Laune. »Sie müssen ihren Pferden wirklich eine Pause gönnen und hereinkommen, um mit mir ein Glas Wein zu trinken und mich zu beglückwünschen.«

Nach allem, was ich darüber erfahren hatte, wie er seine Tochter behandelt hat, waren meine Gefühle ihm gegenüber nicht sonderlich freundschaftlicher Natur, doch erschien mir dies eine gute Gelegenheit, Perkins und den Wagen nach Hause zu schicken. So stieg ich aus und sandte Sir Henry die Nachricht, dass ich rechtzeitig zum Abendessen zurückkehren würde. Dann folgte ich Frankland in sein Speisezimmer.

»Heute ist ein großer Tag für mich, einer, den ich rot im Kalender anstreichen kann«, rief er glucksend. »Ich habe einen doppelten Sieg errungen. Ich werde ihnen in diesem Teil der Welt schon noch beibringen, dass Gesetz Gesetz ist und sie einen Mann vor sich haben, der nicht davor scheut, sein Recht einzufordern. Es ist mir gelungen, freien Durchgang mitten durch den Park des alten Middleton einzuklagen, keine hundert Meter von seiner Haustür entfernt. Was halten Sie davon? Wir werden diese Magnaten schon lehren, dass sie die Rechte der Bürger nicht mit Füßen treten können! Und ich habe erreicht, dass der Wald gesperrt wird, in welchem die Leute von Fernworthy zu picknicken pflegten. Anscheinend glauben diese Leute, dass es kein Eigentumsrecht gibt und sie herumlungern können, wo es ihnen beliebt mit ihrem Wurstpapier und ihren Flaschen. Beide Fälle entschieden, Dr. Watson, und beide zu meinen Gunsten. Einen solchen Tag habe ich nicht mehr erlebt, seit ich Sir John wegen Hausfriedensbruch verurteilen ließ, weil er in seinem eigenen Gehege jagte.«

»Aber wie um alles in der Welt haben Sie das fertig gebracht?«

»Lesen Sie das in den Büchern nach, es ist es wert – Frankland gegen Morland, Queen's Bench Court. Ich habe zwar 200 Pfund zahlen müssen, aber ich habe meinen Urteilsspruch bekommen.«

»Hat es Ihnen einen Nutzen gebracht?«

»Keinen, Dr. Watson. Ich kann voller Stolz sagen, dass ich kein persönliches Interesse an diesem Fall hatte. Ich handle vollständig aus öffentlichem Interesse heraus. Natürlich habe ich keinen Zweifel, dass die Leute von Fernworthy mein Bild noch heute Nacht auf dem Scheiterhaufen verbrennen werden. Letztes Mal habe ich der Polizei gesagt, sie sollte solche schamlosen Veranstaltungen unterbinden. Die Polizei der Grafschaft ist in einem erbärmlichen Zustand und war nicht in der Lage, mir angemessenen Schutz zukommen zu lassen. Der Fall Frankland gegen die Krone wird die Angelegenheit vor die Öffentlichkeit bringen. Ich habe ihnen bereits erklärt, dass sie ihre Behandlung meiner Person noch zu bereuen haben, und schon haben sich meine Worte bewahrheitet.«

»Wie das?« fragte ich.

Der alte Mann setzte eine schlaue Miene auf.

»Weil ich ihnen verraten könnte, was sie für ihr Leben gern wissen möchten; aber nichts kann mich veranlassen, diesen Lumpen auf irgendeine Weise zu helfen.«

Die ganze Zeit hatte ich nach einer Entschuldigung gesucht, um seinem Klatsch zu entkommen, doch nun war ich neugierig, mehr zu erfahren. Inzwischen war ich mit dem widerspenstigen Charakter des alten Sünders vertraut genug, um zu wissen, dass jedes zu offensichtliche Anzeichen meines Interesses ihn am sichersten davon abbringen würde, mir weitere Vertraulichkeiten zu erzählen.

»Bestimmt ein Wildererfall«, sagte ich in gleichgültigem Ton.

»Ha, mein Junge, etwas viel Wichtigeres als das! Was halten Sie von dem Sträfling im Moor?«

Ich fuhr zusammen. »Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie wissen, wo er sich versteckt?« rief ich.

»Vielleicht weiß ich nicht genau, wo er ist, aber ich bin ganz sicher, dass ich der Polizei helfen könnte, ihn zu schnappen. Ist Ihnen denn noch nie der Gedanke gekommen, dass man einen Mann am einfachsten fängt, indem man herausfindet, woher er seine Nahrung bekommt, und diese Spur zu ihm zurückverfolgt?«

Er schien sicherlich der Wahrheit auf unangenehme Weise nahe gekommen zu sein. »Kein Zweifel«, sagte ich, »aber woher wissen Sie, dass er sich noch im Moor aufhält?«

»Weil ich mit eigenen Augen den Boten gesehen habe, der ihm das Essen bringt.«

Ich begann mir Sorgen um Barrymore zu machen. Diesem boshaften alten Prozesshansel ausgeliefert zu sein sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Doch seine nächste Bemerkung nahm mir eine Last von der Seele.

»Sie werden überrascht sein zu hören, dass sein Essen von einem Kind gebracht wird. Jeden Tag sehe ich es durch das Teleskop auf meinem Dach. Es nimmt denselben Weg zur selben Stunde, und wohin sonst sollte es wohl gehen außer zu dem entflohenen Sträfling?«

Das war wirklich ein Glücksfall! Und doch unterdrückte ich jeden Anschein von Interesse. Ein Kind! Barrymore hatte erzählt, dass unser Unbekannter von einem Jungen beliefert wurde. Frankland war auf seine und nicht auf die Fährte des Sträflings gestoßen. Wenn ich sein Wissen aus ihm herausbekäme, könnte es mir eine lange und mühevolle Suche ersparen. Meine stärksten Trümpfe waren offensichtlicher Unglaube und Gleichgültigkeit.

»Es scheint mir doch wahrscheinlicher, dass es sich um den Sohn eines Moorschäfers handelt, der seinem Vater das Mittagessen bringt.«

Das leiseste Anzeichen von Widerstand provozierte den alten Autokraten. Seine Augen blitzen mich böse an und sein grauer Schnurrbart zitterte wie der einer verärgerten Katze.

»Also wirklich, Sir!« rief er und wies mit der Hand über das sich weit erstreckende Moor. »Sehen Sie den Schwarzen Felsturm dort drüben? Gut, sehen Sie den flachen Hügel dahinter mit dem Dornengestrüpp obendrauf? Der steinigste Teil des ganzen Moores. Ist das ein Ort, wo sich aller Wahrscheinlichkeit nach ein Schäfer aufhalten würde? Ihre Vermutung ist völlig absurd, Dr. Watson!«

Demütig entgegnete ich ihm, dass ich gesprochen hatte, ohne alle Fakten zu kennen. Meine Unterwürfigkeit gefiel ihm und verleitete ihn zu weiteren Offenbarungen.

»Sie können sicher sein, Sir, dass ich gute Argumente habe, bevor ich mir ein Urteil bilde. Immer wieder habe ich den Jungen mit seinem Bündel beobachtet. Jeden Tag und manchmal sogar zweimal konnte ich – doch warten Sie, Dr. Watson, täuschen mich meine Augen oder bewegt sich gerade in diesem Moment etwas auf jener Seite des Hügels?«

Obwohl er sich einige Kilometer entfernt befand, konnte ich doch deutlich einen kleinen dunklen Punkt vom dunklen, grünlich-grauen Himmel unterscheiden.

»Kommen Sie, Dr. Watson!« rief Frankland und rannte nach oben. »Sie werden es mit eigenen Augen sehen und selbst beurteilen können.«

Das Teleskop, ein prächtiges, auf einem Stativ befestigtes Instrument, stand auf dem flachen Dach des Hauses. Frankland schaute hindurch und stieß einen befriedigten Schrei aus.

»Schnell, Dr. Watson, schnell, bevor er den Hügel überschreitet.«

Dort befand er sich zweifellos, ein schmächtiges Bürschchen mit einem kleinen Bündel auf der Schulter, der sich langsam den Hügel hinauf mühte. Als er den Kamm erreichte, sah ich die zerlumpte, linkische Gestalt sich einen Moment gegen den kalten blauen Himmel abheben. Er schaute sich mit flüchtiger und verstohlener Miene um, als ob er einen Verfolger fürchtete. Dann verschwand er jenseits des Hügels.

»Nun? Habe ich Recht?«

»Sicher, das war ein Junge, der einen geheimen Auftrag zu haben scheint.«

»Und was dieser Auftrag ist, kann wohl sogar ein Grafschaftspolizist vermuten. Aber ich werde ihnen nicht ein Wort sagen, und Sie verpflichte ich auch zum Schweigen, Dr. Watson. Kein Wort! Haben Sie verstanden?«

»Ganz wie Sie wünschen.«

»Sie haben mich schändlich behandelt, schändlich! Wenn im Fall Frankland gegen die Krone die Wahrheit ans Licht kommt, so wage ich zu behaupten, dass ein Aufschrei der Entrüstung durch das Land gehen wird. Nichts wird mich dazu bringen, der Polizei in irgendeiner Weise zu helfen. So wie sie sich um mich gekümmert haben, hätte es ich selbst an Stelle einer Puppe sein können, die diese Lumpen auf dem Scheiterhaufen verbrannt hätten. Sie wollen doch nicht schon gehen, Dr. Watson? Sie werden mir helfen, den Weinkrug zu leeren zu Ehren dieses herausragenden Anlasses.«

Doch ich widerstand all seinen Bemühungen und brachte ihn auch erfolgreich von der angekündigten Idee ab, mich nach Hause zu begleiten. So lange ich in Sichtweite war, hielt ich mich auf der Straße, dann ging ich quer durchs Moor in Richtung auf den steinigen Hügel, wo der Junge verschwunden war. Alles lief zu meinen Gunsten und ich schwor, dass ich die Chance, die das Schicksal mir zu Füßen gelegt hatte, nicht durch Mangel an Energie oder Ausdauer vertun würde.

Die Sonne war schon am Untergehen, als ich die Spitze des Hügels erreichte, und die langen Abhänge unter mir waren alle goldgrün auf der einen und schattengrau auf der anderen Seite. Ein leichter Dunst hing über der entferntesten Linie am Horizont, vor welcher sich die fantastischen Umrisse von Belliver und Vixen Tor abzeichneten. Über die gesamte Weite hörte man keinen Ton und sah nicht die geringste Bewegung. Ein großer grauer Vogel, eine Möwe oder ein Brachvogel, stieg in den blauen Himmel hinauf. Er und ich schienen die einzigen Lebewesen zwischen dem Himmelsgewölbe und der Wüstenei darunter zu sein. Die triste Landschaft, das Gefühl der Einsamkeit und das Geheimnisvolle und Dringende meiner Aufgabe ließen mich erschauern. Von dem Jungen war keine Spur zu sehen, doch weit unter mir lag in einer Senke zwischen den Hügeln ein Kreis von alten Steinhütten, und in ihrer Mitte erblickte ich eine mit noch ausreichend erhaltenem Dach, um als Schutz gegen die Unbilden des Wetters zu dienen. Mein Herz machte einen Sprung, als ich es sah. Dies musste die Höhle sein, in welcher der Fremde lauerte. Endlich hatte mein Schritt die Schwelle seines Verstecks erreicht – sein Geheimnis war in meiner Reichweite.

Als ich mich ebenso vorsichtig der Hütte näherte, wie sich Stapleton mit seinem Netz an einen ruhenden Schmetterling anschleichen würde, bemerkte ich zu meiner Genugtuung, dass dieser Platz tatsächlich als Behausung gedient hatte. Ein kaum erkennbarer Pfad führte zwischen den Findlingen zu der zerfallenen Öffnung, die einst als Tür gedient hatte. Drinnen war alles still. Möglicherweise lauerte mir der Unbekannte dort auf oder er trieb sich auf dem Moor herum. Meine Nerven vibrierten vor Abenteuerlust, ich warf meine Zigarette fort, schloss meine Hand um den Revolver, lief flink auf die Tür zu und schaute in die Hütte hinein. Der Platz war leer.

Doch gab es eine Reihe von Anzeichen, dass ich nicht auf der falschen Fährte war. Dies war bestimmt der Ort, wo der Mann wohnte. Einige in einen Regenmantel eingerollte Decken lagen auf genau der Steinplatte, auf der die Menschen im Neolithikum geschlummert hatten. Die Asche eines Feuers war unter einem einfachen Herdrost aufgehäuft. Daneben lagen einige Kochwerkzeuge und ein halb gefüllter Wassereimer. Einige leere Dosen zeigten, dass der Ort eine ganze Weile bewohnt worden war, und nachdem sich meine Augen an das dämmerige Licht gewöhnt hatten, sah ich einen Becher und eine halb leere Schnapsflasche in der Ecke. Ein flacher Stein, der sich in der Mitte der Hütte befand, diente als Tisch und auf diesem befand sich ein kleines Stoffbündel – dasselbe, ohne Zweifel, das ich durch das Teleskop auf der Schulter des Jungen gesehen hatte. Es enthielt einen Laib Brot, eine Dose Zunge und zwei Dosen eingelegte Pfirsiche. Nachdem ich es untersucht hatte, wollte ich es wieder hinlegen, als ich plötzlich darunter auf dem Tisch ein Blatt Papier liegen sah, auf dem etwas Handgeschriebenes stand. Ich hob es auf und las fahrig mit einem Bleistift gekritzelt:

Dr. Watson ist nach Coombe Tracey gefahren.

Einen Moment lang stand ich wie vom Donner gerührt, das Papier in der Hand, und überlegte, was diese kurze Mitteilung zu besagen hatte. Offenbar war es nicht Sir Henry, sondern ich, der von diesem geheimnisvollen Mann beschattet wurde. Er war mir nicht selbst gefolgt, sondern hatte einen anderen – vielleicht den Jungen – auf meine Fährte gesetzt und dies war sein Bericht. Wahrscheinlich hatte ich keinen Schritt unternommen, seit ich im Moor angekommen war, der nicht beobachtet und aufgezeichnet worden war. Immer war da dieses Gefühl einer unsichtbaren Macht gewesen, ein fein gesponnenes Netz, mit unendlicher Sorgfalt und Geschick um uns gewoben, uns so sacht festhaltend, dass wir nur in einigen wenigen Augenblicken bemerkt hatten, wie sehr wir tatsächlich in seine Maschen verstrickt waren.

Gab es diesen Bericht, so gab es sicher noch andere, also durchsuchte ich die Hütte, doch ich fand keinerlei Spur von irgendetwas anderem dieser Art noch konnte ich irgend einen Hinweis darauf entdecken, welche Absichten der Mann verfolgte, der an diesem seltsamen Platz lebte, oder was für einen Charakter er besaß, abgesehen davon, dass er spartanische Gewohnheiten haben musste und wenig um Komfort besorgt war. Wenn ich an die schweren Regenfälle dachte und mir die klaffenden Lücken des Daches ansah, wurde mir klar, wie stark und unumstößlich das Ziel sein musste, das ihn an diesem ungastlichen Wohnplatz festhielt. War er unser grausamer Feind oder vielleicht doch unser Schutzengel? Ich schwor, dass ich die Hütte nicht verlassen würde, bis ich die Lösung kannte.

Draußen stand die Sonne tief am Horizont und der Westen glühte scharlachrot und golden. Der Himmel spiegelte sich in den rötlichen Flecken der fernen Tümpel im großen Grimpener Moor. Dort sah man die zwei Türme von Baskerville Hall, und in der Ferne markierten Rauchschwaden die Stelle, wo sich das Dorf Grimpen befand. Dazwischen befand sich hinter dem Hügel das Haus der Stapletons. Im goldenen Abendlicht erschien alles sanft, mild und friedlich, doch während ich mich so umschaute, konnte ich das friedliche Bild der Natur nicht nachempfinden, sondern zitterte vor der Unbestimmtheit und dem Schrecken der Unterhaltung, die jede Minute näher rückte. Die Nerven zum Zerreißen gespannt, doch fest entschlossen, saß ich in einer dunklen Nische der Hütte und wartete voll düsterer Geduld auf die Rückkehr ihres Bewohners.

Und schließlich hörte ich ihn. Von fern ertönte das scharfe Schaben eines Schuhs auf einem Felsen. Dann noch einmal und noch einmal, näher und näher kommend. Ich zog mich in den dunkelsten Winkel zurück, spannte die Pistole in meiner Tasche, entschlossen, mich nicht zu zeigen, bevor ich nicht selbst Gelegenheit hatte, einen Blick auf den Fremden zu werfen. Eine lange Pause zeigte mir an, dass er stehen geblieben war. Dann näherten sich die Schritte wieder und ein Schatten fiel durch die Öffnung der Hütte.

»Welch schöner Abend, lieber Watson«, sagte eine wohlbekannte Stimme. »Ich glaube wirklich, dass es hier draußen viel angenehmer ist als dort drinnen.«


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