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»Holmes«, sagte ich eines Morgens, während ich am Erkerfenster stand und auf die Straße hinabschaute, »da kommt ein Verrückter die Straße herab. Ich finde es ja eigentlich unrecht, daß man so einen Menschen allein umherlaufen läßt.« Mein Freund erhob sich träge aus dem Armstuhl und trat, die Hände in den Taschen seines Hausrocks, hinter mich, um mir über die Schulter zu sehen. Es war ein klarer, frischer Februarmorgen, der tags zuvor gefallene, tiefe Schnee bedeckte den Boden und glitzerte hell in der Wintersonne. In der Mitte der Straße war er durch den Verkehr bereits in eine braune Masse verwandelt; zu beiden Seiten dagegen und auf den erhöhten Rändern der Fußsteige lag er noch so weiß, wie er gefallen war. Das graue Pflaster dazwischen war, obwohl gekehrt und abgekratzt, noch gefährlich glatt und vielleicht deshalb weniger belebt als sonst. Tatsächlich war auch der Herr, dessen sonderbares Benehmen meine Aufmerksamkeit erregt hatte, der einzige Fußgänger, der aus der Richtung des Metropolitan-Bahnhofs herkam. Es war ein Mann in den fünfziger Jahren, groß und stattlich, eine vornehme Erscheinung mit breitem, scharfgeschnittenem Gesicht und von achtunggebietender Gestalt. Er war auffallend gut gekleidet. Zu dem würdigen Eindruck seines ganzen Äußern stand jedoch sein Benehmen in schroffem Gegensatz; er lief nämlich in großer Hast und machte dabei von Zeit zu Zeit einen kleinen Sprung, wie es bei eintretender Ermüdung Leute zu tun pflegen, die nicht gewohnt sind, ihren Beinen viel zuzumuten. Dabei fuhr er mit den Händen in der Luft umher, wackelte mit dem Kopf und verzerrte sein Gesicht aufs sonderbarste.
»Was in aller Welt mag nur mit ihm los sein?« fragte ich. »Er schaut an allen Häusern hinauf.«
»Ich glaube, er kommt zu uns«, versetzte Holmes und rieb sich die Hände.
»Zu uns?«
»Jawohl; ich vermute stark, er beabsichtigt, mich zu Rate zu ziehen. Es hat ganz den Anschein danach. Nun – habe ich es nicht gesagt?«
Der Mann war pustend und schnaubend auf unsere Haustür losgestürzt und läutete, daß das ganze Haus davon widerhallte.
Wenige Augenblicke darauf stand er im Zimmer, noch immer keuchend und mit den Händen umherfahrend, aber mit einem so kummervollen und verzweifelten Ausdruck in dem starren Blick, daß unsere unwillkürliche Heiterkeit sich mit einem Schlage in Schrecken und Mitleid verwandelte. Eine Zeitlang vermochte er kein Wort hervorzubringen; er wiegte sich nur hin und her und zerrte an seinen Haaren, als wäre er nahe daran, den Verstand zu verlieren. Holmes drückte ihn in den Armstuhl, setzte sich neben ihn, streichelte ihm die Hand und sprach ihm in der heiteren, beruhigenden Art zu, auf die er sich so gut verstand.
»Sie haben mich aufgesucht, um mir Ihre Geschichte zu erzählen, nicht wahr?« begann er. »Das rasche Gehen hat Sie müde gemacht. Bitte, warten Sie nur, bis Sie sich erholt haben, dann wird es Ihnen leichter fallen, mir alles der Reihe nach zu sagen, was Sie bedrückt.«
Eine oder zwei Minuten saß der Mann mit schwer arbeitender Brust da, gegen seine Erregung kämpfend. Dann fuhr er sich mit dem Taschentuch über die Augen, preßte die Lippen zusammen und wandte uns sein Gesicht zu.
»Sie halten mich sicherlich für verrückt«, begann er.
»Soviel ich sehe, hat Sie irgend ein schwerer Kummer getroffen«, antwortete Holmes.
»Gott weiß es, ja! – Ein Kummer, so plötzlich und so furchtbar, daß ich den Verstand darüber verlieren möchte. Die Schande vor der Öffentlichkeit würde ich zu ertragen gewußt haben, obwohl an meinem Namen bisher noch nie ein Flecken gehaftet hat; Kummer im Privatleben bleibt ja keinem Menschen erspart, aber daß beides zusammen und in so schrecklicher Gestalt über mich hereinbricht, das hat mich im Innersten erschüttert. Außerdem betrifft die Sache nicht mich allein. Eine sehr hochstehende Persönlichkeit in England kann dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn sich nicht ein rettender Ausweg aus dieser schauderhaften Geschichte findet.«
»Bitte, beruhigen Sie sich«, erwiderte Holmes, »und sagen Sie mir klar und deutlich, wer Sie sind und was Ihnen begegnet ist.«
»Meinen Namen«, fuhr der andere fort, »haben Sie vermutlich schon oft gehört. Ich bin Alexander Holder, Teilhaber der Bankfirma Holder & Stevenson in der Threadneedle-Straße.«
Der Name war uns gut bekannt als der des älteren Teilhabers im zweitgrößten Privatbankinstitut der City. Was konnte nur geschehen sein, um einen der angesehensten Bürger Londons in diese wahrhaft klägliche Verfassung zu bringen? In höchster Spannung harrten wir, bis er sich mit erneuter Kraftanstrengung dazu aufraffte, seine Geschichte zu erzählen.
»Ich fühle«, begann er, »daß die Zeit kostbar ist. Deshalb habe ich mich augenblicklich hierher auf den Weg gemacht, nachdem mir der Polizeiinspektor nahegelegt hatte, mich Ihrer Mitwirkung zu versichern. Ich fuhr mit der Untergrundbahn und bin dann bis nach der Bakerstraße vollends zu Fuß gelaufen, denn die Wagen fahren so langsam bei diesem Schnee. Deshalb war ich so außer Atem; ich mache mir nämlich sonst nur sehr wenig Bewegung. Jetzt ist mir wieder besser, und ich will Ihnen die Tatsachen möglichst kurz und klar vortragen.
Sie werden wohl wissen, daß es in einem Bankgeschäft ebensoviel auf lohnende Anlagen für die Kapitalien ankommt, als auf die stete Erweiterung der Verbindungen und die immer ausgedehntere Heranziehung von Depositoren. Zu den einträglichsten Geldanlagen gehört die Gewährung von Darlehen gegen unzweifelhafte Pfandsicherheit. Wir haben in den letzten Jahren viel in dieser Richtung gearbeitet und zahlreichen vornehmen Familien erhebliche Summen auf ihre Gemäldesammlungen, ihre Bibliotheken oder ihr Silberzeug vorgestreckt. Gestern vormittag saß ich in meinem Büro, als mir einer der Angestellten unseres Bankhauses eine Visitenkarte überbrachte. Wie ich den Namen las, war ich zuerst sehr verblüfft, denn es war kein anderer als – doch es ist vielleicht auch Ihnen gegenüber besser, wenn ich nur sage, daß dieser Name jedermann überall bekannt ist, einer der höchsten, vornehmsten, angesehensten in ganz England. Überwältigt von der Ehre, versuchte ich beim Eintritt des Herrn etwas derartiges zu sagen, allein er brachte sofort sein geschäftliches Anliegen vor, als sei es ihm darum zu tun, mit einer unangenehmen Aufgabe möglichst rasch fertig zu werden.
›Herr Holder‹, begann er,›ich habe gehört, daß Sie sich mit Vorschußgeschäften befassen.‹
›Allerdings, gegen gute Sicherheit‹, erwiderte ich.
›Ich brauche auf der Stelle sehr notwendig fünfzigtausend Pfund. Natürlich könnte ich diese Summe zehnmal bei meinen Bekannten borgen, allein es paßt mir weit besser, die Sache in geschäftlicher Weise abzumachen, und zwar persönlich. Bei einer Stellung wie ich sie bekleide, ist es nicht klug, sich auf private Verbindlichkeiten einzulassen.‹
›Auf wie lange brauchen Sie diese Summe, wenn ich fragen darf?‹
›Nächsten Montag wird ein großer Betrag fällig, und dann werde ich den Vorschuß sofort zurückzahlen, samt den Zinsen, die Sie dafür zu berechnen haben. Mir ist hauptsächlich daran gelegen, das Geld unverzüglich in die Hand zu bekommen.‹
›Ich würde Ihnen sehr gerne die Summe aus meiner eigenen Tasche vorstrecken, aber es ist mehr, als ich auf mich nehmen darf. Tue ich es jedoch im Namen der Firma, so muß ich aus Rücksicht für meinen Teilhaber selbst Ihnen gegenüber auf der Beachtung aller geschäftsmäßigen Vorsichtsmaßregeln bestehen.‹
›Es ist mir viel lieber so‹, bemerkte er, indem er ein viereckiges schwarzes Maroquin-Etui zur Hand nahm, das er neben seinen Stuhl gelegt hatte. ›Sie haben ohne Zweifel schon von dem Beryll-Diadem gehört?‹
›Eines der kostbarsten Stücke unserer Reichskleinodien‹, versetzte ich.
›Gewiß‹. Er öffnete das Etui, und darin lag in weichen fleischfarbenen Samt gebettet das wundervolle Schmuckstück.
›Es enthält neununddreißig Berylle von außerordentlicher Größe, und der Wert der Goldfassung läßt sich gar nicht berechnen. Die niedrigste Schätzung würde als Wert des Schmuckes das Doppelte der Summe ergeben, die ich verlangt habe. Ich bin bereit, das Stück als Pfand in Ihren Händen zu lassen.‹ Er reichte mir das Etui, und ich blickte in einiger Verwirrung erst auf dessen kostbaren Inhalt und dann auf meinen hohen Besuch.
›Sie haben Zweifel über den Wert des Schmuckes?‹ fragte er.
›Durchaus nicht, ich bezweifle nur –‹
›Meine Befugnis zur Verpfändung desselben? Darüber können Sie sich beruhigen. Ich würde mir nicht im Traume einfallen lassen, es zu verpfänden, hätte ich nicht die unumstößliche Gewißheit, daß ich es binnen vier Tagen wieder einlösen kann. Es ist eine reine Formsache. Genügt die Sicherheit?‹
›Reichlich.‹
›Sie sehen ein, Herr Holder, daß ich Ihnen einen sehr großen Beweis des Vertrauens gebe. Ich verlasse mich darauf, daß Sie nicht nur verschwiegen sind und sich jedes Wortes über die Angelegenheit enthalten, sondern vor allem, daß Sie dieses Stück mit jeder möglichen Vorsicht aufbewahren, da die geringste Beschädigung schon einen gewaltigen öffentlichen Skandal nach sich ziehen würde. Eine Beschädigung wäre fast so schlimm wie ein völliger Verlust, denn es gibt in der ganzen Welt keine Berylle mehr, die diesen gleichkommen, sie wären überhaupt gar nicht zu ersetzen. Trotzdem überlasse ich Ihnen den Schmuck mit vollem Vertrauen und werde ihn Montag vormittag persönlich wieder abholen.‹
Da ich sah, daß es meinem Besuch darum zu tun war, möglichst rasch fortzukommen, sagte ich weiter nichts, sondern wies meinen Kassier an, dem Herrn fünfzig Tausendpfundnoten einzuhändigen. Als ich jedoch allein war und das Etui mit seinem kostbaren Inhalt vor mir auf dem Tische stand, vermochte ich nur mit Unbehagen an die ungeheure Verantwortung zu denken, die ich mir damit aufgeladen hatte. Da das Stück zum Reichsschatz gehörte, so mußte unfehlbar das geringste Mißgeschick, das ihm begegnete, großes Aufsehen verursachen. Ich bedauerte bereits, daß ich mich überhaupt zu einer Annahme hatte bestimmen lassen. Allein es war jetzt nichts mehr an der Sache zu ändern; so schloß ich denn den Schmuck in meinen eigenen Sicherheitsschrank ein und ging wieder an meine Arbeit. Als es Abend wurde, dachte ich, daß es eine Unvorsichtigkeit wäre, einen solchen Wertgegenstand im Büro zu lassen. Diebessichere Schränke bei Banken waren schon öfters erbrochen worden, warum sollte das nicht auch bei dem meinigen denkbar sein? Welch gräßliche Lage für mich, wenn so etwas vorkäme! Ich beschloß deshalb, während der nächsten Tage das Etui auf Schritt und Tritt bei mir zu tragen und es so tatsächlich keinen Augenblick aus meinem Bereich kommen zu lassen. Mit diesem Vorsatz fuhr ich nach meinem Hause in Streatham und nahm das Schmuckstück mit. Erst als ich es in meinen Schreibtisch oben in meinem Ankleidezimmer eingeschlossen hatte, atmete ich wieder frei.
Und nun ein Wort über mein Hauswesen, Herr Holmes, denn ich möchte Ihnen einen gründlichen Einblick in die Sachlage verschaffen. Der Stallbursche und der Hausbursche schlafen außerhalb des Hauses und können somit außer Betracht bleiben. Meine drei Dienstmädchen sind sämtlich schon seit einer Reihe von Jahren bei mir, und ihre Zuverlässigkeit ist über jeden Zweifel erhaben. Dann ist noch ein zweites Kammermädchen da, namens Lucy Parr, das erst seit wenigen Monaten in meinem Hause ist. Sie brachte jedoch ein ausgezeichnetes Zeugnis mit, und ich war stets zufrieden mit ihr. Sie ist sehr hübsch und hat viele Verehrer, die sich gelegentlich wohl einmal um das Haus herumtrieben. Das ist das einzige, was wir an ihr auszusetzen fanden, allein wir halten sie für ein durchaus braves Mädchen.
So viel von den Dienstboten. Meine Familie ist klein. Ich bin Witwer und habe einen einzigen Sohn namens Arthur. Dieser Junge hat mich in meinen Hoffnungen getäuscht, Herr Holmes, schmerzlich getäuscht! Gewiß bin ich selbst dabei nicht ohne Schuld. Man sagt, ich habe ihn verzogen. Das mag wohl sein. Als ich meine Frau verlor, übertrug ich meine ganze Liebe auf ihn. Ich habe ihm nie einen Wunsch abgeschlagen. Vielleicht wäre es für uns beide besser gewesen, ich hätte mehr Strenge gezeigt, aber ich meinte es herzlich gut.
Ich hatte natürlich vor, ihn zu meinem Nachfolger im Geschäft heranzubilden, allein er zeigte gar keine Neigung für den Beruf eines Bankbeamten. Er war unbeständig und launisch, und, um die Wahrheit zu gestehen, ich hätte ihm nicht die Verfügung über eine größere Geldsumme anvertrauen mögen. Schon in früher Jugend trat er in einen vornehmen Klub ein, wo er sich durch sein liebenswürdiges Wesen mit einer Reihe von Leuten eng befreundete, die volle Brieftaschen und kostspielige Gewohnheiten hatten. Er verstand es bald meisterhaft, sein Geld im Kartenspiel und auf dem Rennplatz zu vergeuden, so daß er mich immer wieder um Vorschuß auf sein Taschengeld angehen mußte, um seine Ehrenschulden begleichen zu können. Mehr als einmal versuchte er, sich von dieser gefährlichen Gesellschaft loszumachen, allein dem Einfluß seines Freundes Sir George Burnwell gelang es jedesmal, ihn wieder in diesen Kreis hineinzuziehen.
Daß ein Mann wie Sir George Burnwell Einfluß auf ihn gewonnen hatte, war wirklich nicht zu verwundern; er hat ihn oft zu mir ins Haus gebracht, und ich muß gestehen, daß ich selbst kaum imstande war, mich seinem anziehenden Wesen zu entziehen. Er ist älter als Arthur, ein vollendeter Weltmann, der schon überall war und alles gesehen hat, ein glänzender Redner und ein auffallend schöner Mensch. Und doch, wenn ich ihn mir bei vernünftiger Überlegung und völlig frei von der Wirkung seiner Gegenwart vorstelle, so kann ich bei seinen zynischen Reden und dem Blick, den ich gelegentlich schon an ihm bemerkt habe, nicht anders, als ihm gründlich mißtrauen. Darin ist auch meine Nichte Mary, die den echt weiblichen Scharfblick für Menschenherzen besitzt, mit mir einverstanden.
Mary ist die einzige, die ich noch zu schildern habe. Als mein Bruder vor fünf Jahren starb und sie allein in der Welt dastand, nahm ich sie an Kindesstatt an und betrachte sie seitdem als meine Tochter. Sie ist ein Sonnenstrahl für mein Haus, freundlich, liebevoll, schön; sie leitet das ganze Hauswesen und ist sehr umsichtig, sanft und ruhig. Sie ist sozusagen meine rechte Hand. Ich weiß nicht, was ich ohne sie anfangen sollte. Nur in einem einzigen Punkt ist sie meinen Wünschen nicht entgegengekommen. Zweimal hat mein Junge um ihre Hand angehalten, denn er liebt sie aufrichtig, aber beidemale hat sie ihn ausgeschlagen. Ich glaubte, sie allein wäre imstande, ihn auf den rechten Weg zu bringen; an ihrer Seite hätte er vielleicht ein ganz neues Leben angefangen, aber jetzt ist es zu spät – für immer zu spät!
Nun, Herr Holmes, kennen Sie alle, die mit mir unter einem Dache leben, und ich will in meinem Bericht fortfahren.
Beim Kaffee nach dem Essen im Wohnzimmer teilte ich Arthur und Mary mit, was mir begegnet war, und was für einen kostbaren Schatz wir unter unserem Dache hatten; ich verschwieg dabei nur den Namen des Verpfänders. Lucy Parr, die den Kaffee hereingebracht hatte, war schon nicht mehr im Zimmer, das weiß ich gewiß; ob jedoch die Türe geschlossen war, kann ich nicht beschwören. Mary und Arthur interessierten sich sehr für die Sache und hätten das berühmte Schmuckstück gerne gesehen, allein ich dachte, es sei besser, es an seinem Platze zu lassen.
›Wo hast du es aufgehoben?‹ fragte Arthur.
›In meinem Schreibtisch.‹
›Ich will nur hoffen, daß heute nacht nicht im Hause eingebrochen wird‹, fuhr er fort.
›Der Schreibtisch ist verschlossen.‹
›Oh, auf den paßt jeder alte Schlüssel. Als kleiner Junge habe ich ihn schon selbst mit dem Schlüssel zum Büfett aufgemacht.‹
Er führte oft so kecke Reden, deshalb achtete ich nicht viel auf seine Bemerkung. Nun ging er mir aber gerade diesen Abend mit sehr ernstem Gesicht in mein Zimmer nach.
›Sag mal, Papa‹, sagte er und heftete dabei die Augen auf den Boden, ›kannst du mir zweihundert Pfund geben?‹
›Nein, gewiß nicht?‹ erwiderte ich scharf. ›Ich bin in Geldsachen schon viel zu nachsichtig gegen dich gewesen.‹
›Du warst allerdings sehr gut gegen mich‹, versetzte er, ›aber ich muß diese Summe haben, oder ich kann mich nie wieder im Klub blicken lassen.‹
›Das wäre ja ein wahres Glück!‹ rief ich aus.
›Jawohl; aber du wirst doch nicht wollen, daß ich mit Schimpf und Schande abziehe. Ich könnte die Schmach nicht ertragen. Ich muß das Geld irgendwo auftreiben; und wenn du es mir nicht geben willst, so muß ich andere Mittel und Wege versuchen.‹
Ich war sehr aufgebracht; denn das war das drittemal in einem Monat, daß er mich um Geld anging. ›Keinen Deut bekommst du von mir!‹ rief ich. Darauf verließ er wortlos das Zimmer.
Als ich allein war, öffnete ich den Schreibtisch und überzeugte mich, daß mein Schatz noch unversehrt darin lag, dann schloß ich wieder ab. Ich machte noch einen Gang durch das Haus, um nachzusehen, ob alles verwahrt sei – eine Obliegenheit, die ich gewöhnlich Mary überlasse, die ich jedoch heute selbst erfüllen wollte. Unten an der Treppe angelangt, sah ich Mary am Seitenfenster des Hausgangs, das sie zumachte und verriegelte, während ich näher trat.
›Sag' einmal, Papa‹, fragte sie mich in etwas erregtem Ton, ›hast du Lucy heute abend Erlaubnis zum Ausgehen gegeben?‹
›Gewiß nicht.‹
›Sie kam soeben durch die Hintertür herein. Ich bin zwar ganz sicher, daß sie nur an der Seitenpforte mit irgend jemand zusammengetroffen ist, aber wir sollten doch jetzt gerade, da der Schmuck im Hause ist, sehr vorsichtig sein und es nicht so hingehen lassen.‹
›Du mußt morgen früh mit ihr sprechen, oder ich will es tun, wenn dir das lieber ist. Hast du dich überzeugt, daß alles gut verschlossen ist?‹
›Dann gute Nacht.‹ Ich gab ihr einen Kuß und ging wieder in mein Schlafzimmer hinauf, wo ich bald einschlief.
Ich bestrebe mich, Ihnen alles zu sagen, Herr Holmes, was für den Fall irgend von Bedeutung sein kann. Aber ich möchte bitten, daß Sie mich über jeden Punkt, der ihnen nicht völlig verständlich ist, ruhig befragen.«
»Ihre Darstellung ist im Gegenteil ganz ausnehmend klar.«
»Nun komme ich zu einem Abschnitt meiner Geschichte, bei dem es mir ganz besonders darum zu tun ist, Ihnen alles anschaulich zu machen. Ich habe keinen sehr festen Schlaf, und die Unruhe in meinem Innern trug wohl dazu bei, daß dies noch weniger der Fall war als sonst.
Etwa um zwei Uhr morgens erwachte ich von einem Geräusch im Hause. Es hörte bereits auf, ehe ich völlig wach war; aber ich hatte davon den Eindruck behalten, als wäre irgendwo im Hause ein Fenster zugemacht worden. Voll Spannung horchend lag ich da. Plötzlich vernahm ich zu meinem Entsetzen ganz deutlich leise Tritte im Nebenzimmer. Bebend vor Angst schlüpfte ich aus dem Bett und spähte vorsichtig durch die Türe in das Nebenzimmer.
›Arthur‹, rief ich, ›du Elender, du Dieb! Wie kannst du dich unterstehen, dich an dem Schmuck zu vergreifen?‹
Die Schreibtischlampe brannte noch, wie ich sie gelassen hatte, und mein unseliger Junge, nur mit Hemd und Hosen bekleidet, stand daneben, das Schmuckstück in der Hand. Es sah aus, als ziehe oder biege er daran herum mit aller Kraft. Auf meinen Zuruf ließ er es fallen und wurde blaß wie der Tod. Ich hob es auf und besichtigte es. Eine der goldenen Ecken, welche drei Berylle enthielt, fehlte.
›Du Lump!‹ schrie ich, außer mir vor Wut, ›du hast es zerbrochen, du hast mich in ewige Schande gestürzt! Wo sind die Steine, die du gestohlen hast?‹
›Gestohlen!‹ rief er dagegen.
›Jawohl, du Dieb!‹ schrie ich wieder und schüttelte ihn dabei an der Schulter.
›Es fehlt keiner. Es kann keiner fehlen‹, entgegnete er.
›Es fehlen drei. Und du weißt wohl, wo sie sind. Ist es nicht genug, daß du ein Dieb bist, muß ich dich auch noch einen Lügner heißen? Habe ich nicht mit eigenen Augen gesehen, wie du noch ein Stück davon abbrechen wolltest?‹
›Du hast mich genug beschimpft‹, versetzte er, ›ich lasse mir das nicht länger gefallen. Kein Wort kommt in dieser Angelegenheit mehr über meine Lippen, nachdem du mich ohne weiteres wie einen ehrlosen Menschen behandelt hast. Morgen früh verlasse ich dein Haus. Ich werde schon allein weiterkommen.‹
›Die Polizei wird die Sache in die Hand nehmen‹, rief ich, halb wahnsinnig vor Kummer und Wut. ›Ich werde dafür sorgen, daß alles gründlich untersucht wird.‹
›Von mir werdet ihr nichts erfahren!‹ erwiderte er mit einer Leidenschaftlichkeit, die ich gar nicht in ihm gesucht hätte. ›Beliebt es dir, die Polizei zu rufen, so mag sie auch sehen, wie sie fertig wird.‹
Inzwischen war alles im Hause wach geworden, denn ich hatte im Zorn laut genug gesprochen. Mary kam zuerst angelaufen. Beim ersten Blick auf den Schmuck und auf Arthurs Gesicht erriet sie alles und stürzte mit einem Schrei ohnmächtig zu Boden. Ich schickte das Hausmädchen auf die Polizei, damit die weiteren Nachforschungen gleich eingeleitet werden sollten. Als der Inspektor mit einem Schutzmann eintraf, richtete Arthur, der die ganze Zeit über mit gekreuzten Armen finster dagestanden, die Frage an mich, ob ich wirklich gesonnen sei, ihn des Diebstahls zu bezichtigen. Ich erklärte ihm, daß die Sache keine Privatangelegenheit mehr, sondern ein öffentliches Vergehen sei, da das beschädigte Schmuckstück zum Nationaleigentum gehöre. Ich sei entschlossen, dem Gesetz seinen vollen Lauf zu lassen. ›Dann wirst du doch wenigstens nicht auf einer sofortigen Festnahme bestehen‹, sagte er jetzt. ›Es wäre ebensosehr in deinem Interesse wie in meinem eigenen, wenn ich das Haus auf fünf Minuten verlassen dürfte.‹
›Um zu entfliehen, oder vielleicht um deinen Raub zu verstecken‹, erwiderte ich bitter. Dann stellte ich ihm die schreckliche Lage vor, in die ich mich versetzt sah; ich bat ihn, doch zu bedenken, wie nicht nur meine Ehre, sondern auch die einer viel höheren Persönlichkeit auf dem Spiele stehe, und daß er einen Skandal heraufbeschwöre, der die ganze Nation in Aufregung versetzen würde. Das alles ließe sich aber noch abwenden, wenn er mir nur sagen wollte, was er mit den drei fehlenden Steinen angefangen hätte.
›Du bist auf frischer Tat ertappt worden‹, fuhr ich fort, ›mache die Sache wenigstens so weit wieder gut, als es in deiner Macht steht; sage mir, wo die Steine sind, und alles soll vergeben und vergessen sein.‹
›Behalte deine Vergebung für Leute, die dich darum bitten‹, gab er zur Antwort und kehrte mir höhnisch den Rücken. Ich sah, daß sein Trotz ihn für alles Zureden taub machte. Nun gab es keine andere Wahl mehr. Ich rief den Inspektor herein und ließ Arthur verhaften. Sofort wurde eine Durchsuchung vorgenommen, nicht allein an ihm, sondern auch in seinem Zimmer und überall sonst im Hause, wo er möglicherweise die Steine versteckt haben konnte. Doch es fand sich keine Spur davon, und aus dem nichtsnutzigen Burschen war weder durch Überredung, noch durch Drohung eine Silbe herauszubringen.
Heute früh wurde er in Gewahrsam gebracht, und nach Erledigung der polizeilichen Förmlichkeiten bin ich sofort hierher geeilt, um Sie dringend zu bitten, all Ihren Scharfsinn an die Aufklärung dieser Angelegenheit zu setzen. Auf der Polizei hat man offen eingestanden, daß man mir vorläufig nicht zu helfen wisse. Wegen der Kosten brauchen Sie sich keinerlei Beschränkung aufzuerlegen. Ich habe bereits tausend Pfund Belohnung ausgesetzt. Mein Gott, was soll ich machen? In einer Nacht habe ich die Juwelen verloren und meinen Sohn dazu! Oh, was soll ich nur tun!«
Er fuhr sich mit beiden Händen an die Schläfen, wiegte sich hin und her und stöhnte dabei wie ein Kind, das für seine Betrübnis keinen Ausdruck mehr findet.
Holmes saß einige Minuten lang mit gerunzelten Brauen und starr auf das Kaminfeuer gerichtetem Blick schweigend da.
»Führen Sie ein großes Haus?« fragte er dann. »Geben Sie viele Einladungen?«
»Ich lade niemand ein außer gelegentlich meinen Teilhaber mit seiner Familie oder mal einen Bekannten von Arthur. Sir George Burnwell war in letzter Zeit mehrmals da. Sonst glaube ich, kein Mensch.«
»Gehen Sie viel in Gesellschaft?«
»Arthur, ja; ich und Mary bleiben zu Hause. Wir machen uns beide nichts daraus.«
»Das ist auffallend bei einem jungen Mädchen.«
»Sie ist ein ruhiges, anspruchsloses Wesen. Außerdem ist sie nicht mehr so jung. Sie ist vierundzwanzig.«
»Der Vorfall, den Sie uns soeben geschildert haben, hat anscheinend auch sie schwer getroffen.«
»Furchtbar. Sie ist noch fassungsloser als ich.«
»Und Sie haben beide durchaus keinen Zweifel an der Schuld Ihres Sohnes?«
»Wie wäre das möglich, da ich doch mit eigenen Augen sah, wie er den Schmuck in der Hand hielt!«
»Ich vermag dies kaum als einen zwingenden Beweis anzusehen. War das Diadem selbst sonst noch beschädigt?«
»Ja, es war verbogen.«
»Glauben Sie nicht, daß Ihr Sohn vielleicht versuchte, es wieder zurechtzubiegen?«
»Gott lohne Ihnen! Sie tun für ihn und mich, was Sie können; aber das geht über Ihre Kräfte. Was hatte er überhaupt dort zu schaffen? Wenn seine Absicht unsträflich war, warum sagte er es nicht?«
»Ganz richtig. Aber, wenn er schuldig war, warum brachte er nicht eine Lüge vor? Ich finde, sein Stillschweigen läßt sich in diesem wie in jenem Sinne deuten. Der Fall bietet mehrere eigentümliche Momente. Wie erklärte die Polizei das Geräusch, von dem Sie aufwachten?«
»Sie meinte, das werde wohl durch das Schließen von Arthurs Schlafzimmertür entstanden sein.«
»Außerordentlich glaubhaft! Als ob ein Mensch, der sich zur Ausführung eines Verbrechens anschickt, seine Tür zuschlägt, daß das ganze Haus davon wach wird. Und was meinten sie wegen des Verschwindens der Steine?«
»Sie sind noch dabei, die Fußböden und das Mobiliar zu untersuchen, in der Hoffnung, sie aufzufinden.«
»Hat man daran gedacht, auch außen um das Haus herum nachzusehen?«
»Jawohl. Die Polizei betreibt die Sache mit großem Eifer. Der ganze Garten ist bereits aufs genaueste abgesucht worden.«
»Nun, mein lieber Herr«, sagte Holmes, »Sie werden wohl selbst einsehen, daß die Sache nicht so klar auf der Hand liegt, wie Sie oder die Polizei von vornherein anzunehmen geneigt waren. – Der Fall kam Ihnen einfach vor, mir scheint er äußerst verwickelt. Vergegenwärtigen Sie sich nur einmal, was Ihre Auffassung alles in sich schließt. Sie nehmen an, Ihr Sohn sei aus seiner Stube heruntergekommen, habe unter großer Gefahr Ihr Ankleidezimmer betreten, Ihren Schreibtisch geöffnet, den Schmuck herausgenommen, an diesem ein Stück gewaltsam abgebrochen, sich sodann an einen dritten Ort begeben und daselbst drei Steine von den neununddreißig so schlau versteckt, daß kein Mensch sie zu finden imstande ist, um dann mit den übrigen sechsunddreißig nach dem Zimmer zurückzukommen, wo er die größte Gefahr lief, entdeckt zu werden. Nun frage ich Sie: ist das eine haltbare Auffassung?«
»Aber was läßt sich sonst annehmen?!« rief der Bankier mit einer Gebärde der Verzweiflung. »Warum redet er nicht, wenn er keine bösen Absichten hatte?«
»Das herauszubringen, ist unsere Sache«, erwiderte Holmes. »Wenn es Ihnen recht ist, Herr Holder, so wollen wir jetzt zusammen nach Streatham fahren und eine Stunde darauf verwenden, uns die Sache ein wenig genauer zu besehen.«
Mein Freund bestand auf meiner Begleitung, und ich war sehr gerne bereit dazu, denn die Erzählung, deren Ohrenzeuge ich gewesen war, hatte meine Neugier und Teilnahme erregt. Ich gestehe, daß mir die Schuld des jungen Mannes nicht minder zweifellos erschien, als dessen unglücklichem Vater, aber trotzdem hatte ich solches Vertrauen zu Holmes Urteil, daß ich überzeugt war, die Sache stehe noch nicht hoffnungslos, solange er sich mit der vorliegenden Erklärung nicht zufrieden gab. Holmes sprach unterwegs kaum ein Wort, vielmehr saß er, das Kinn auf die Brust gesenkt und den Hut über die Augen gedrückt, in tiefstes Nachdenken versunken da. Der Bankier war angesichts des schwachen Hoffnungsschimmers, den man ihm gezeigt hatte, wie neu belebt, so daß er sich sogar mit mir in eine gleichgültige Unterhaltung über seine Geschäftsangelegenheiten einließ. Nach kurzer Eisenbahnfahrt und einem noch kürzeren Weg zu Fuß erreichten wir Fairbank, den bescheidenen Wohnsitz des reichen Finanzmannes.
Es war ein stattliches viereckiges Gebäude aus weißem Werkstein, das etwas hinter der Straßenlinie zurückstand. Ein doppelter Fahrweg, der in der Mitte einen schneebedeckten freien Platz bildete und gegen die Straße durch zwei große Gittertore abgeschlossen war, führte von vorne auf das Haus zu. Rechts davon befand sich ein kleines Gehölz, durch das man zu einem schmalen Weg gelangte, der zwischen zwei sauberen Hecken von der Straße aus nach der Küche hinführte und den Eingang für die Lieferanten bildete. Links, und zwar bereits außerhalb des Anwesens, lief ein Gäßchen vorbei, durch das man zu den Ställen kam und das als allgemeine, wenn auch selten benutzte Durchfahrt diente. Holmes ließ uns an der Haustür stehen und ging langsam um das ganze Haus herum, vor demselben auf und ab, den Weg zur Küche entlang, dann hinten herum durch den Garten nach dem Weg zu den Ställen. Er hielt sich dabei so lange auf, daß Herr Holder mit mir unterdessen ins Speisezimmer ging, wo wir beim Feuer auf ihn warteten. Da saßen wir schweigend beisammen, als die Tür aufging und eine junge Dame eintrat. Sie war über mittelgroß, schlank, schwarzhaarig und schwarzäugig, was bei ihrer bleichen Gesichtsfarbe um so mehr hervortrat. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben keine solche Todesblässe auf einem Frauenangesicht gesehen. Auch ihre Lippen waren blutlos, dagegen ihre Augen vom Weinen gerötet. Wie sie schweigend in das Zimmer glitt, machte sie auf mich einen noch kummervolleren Eindruck als der Bankier am Morgen. Dies war bei ihr um so auffallender, als sie offenbar einen starken Charakter und eine außerordentliche Fähigkeit der Selbstbeherrschung besaß. Ohne mich zu beachten, ging sie geradeswegs auf ihren Onkel zu und streichelte ihm sanft und zärtlich die Wangen.
»Du hast Weisung gegeben, daß Arthur wieder auf freien Fuß gesetzt wird, nicht wahr, Papa?« fragte sie.
»Nein, nein, mein Kind; die Sache muß erst gründlich untersucht werden.«
»Aber ich bin so gewiß, daß er unschuldig ist. Mein Gefühl täuscht mich nicht. Ich weiß, er hat nichts Unrechtes begangen, und es wird dir noch leid tun, daß du so streng verfahren bist.«
»Warum spricht er denn nicht, wenn er unschuldig ist?«
»Wer kann das wissen? Vielleicht aus Unwillen über den Verdacht, den du gegen ihn hast.«
»Konnte ich denn anders als ihn in Verdacht haben, da er den Schmuck vor meinen Augen in der Hand hielt?«
»Ach, er hatte ihn doch nur aufgehoben, um ihn anzusehen. Glaube mir, er ist unschuldig. Laß die Sache auf sich beruhen und sprich nicht mehr davon. Es ist so entsetzlich, sich unsern guten Arthur im Gefängnis vorstellen zu müssen.«
»Ich werde die Sache niemals ruhen lassen, bis die Steine gefunden sind – niemals, Mary. Deine Anhänglichkeit an Arthur macht dich blind für die furchtbaren Folgen, die die Angelegenheit für mich hat. Ich werde sie keineswegs vertuschen, im Gegenteil, ich habe aus London einen Herrn mitgebracht, der sich noch eingehender damit befassen soll.«
»Diesen Herrn?« fragte sie, sich nach mir umwendend.
»Nein, seinen Freund. Er wünschte, wir sollen ihn allein lassen. Er ist eben drüben in dem Gäßchen bei den Ställen.«
»Bei den Ställen?« Sie zog ihre dunklen Brauen in die Höhe. »Was mag er denn dort suchen? Ach, das ist er vermutlich. Ich hoffe fest«, wandte sie sich an den eben eintretenden Holmes, »daß Sie imstande sein werden, die Unschuld meines Vetters Arthur nachzuweisen, von der ich ganz fest überzeugt bin.«
»Ich teile Ihre Anschauung vollkommen und nicht minder Ihre Hoffnung, daß wir den Beweis dafür erbringen werden«, entgegnete Holmes, indem er nochmals zur Fußmatte zurückging, um den Schnee von seinen Schuhen abzuklopfen. »Ich habe wohl die Ehre, mit Fräulein Mary Holder zu sprechen. Dürfte ich vielleicht eine oder zwei Fragen an Sie stellen?«
»Gewiß, wenn es zur Aufklärung dieser schrecklichen Sache dienen kann.«
»Sie haben vergangene Nacht selbst nichts gehört?«
»Nichts, bis mein Onkel hier laut zu sprechen anfing. Das hörte ich, und daraufhin kam ich herunter.«
»Sie haben am Abend vorher die Fenster und Türen verschlossen. Haben Sie sämtliche Fenster fest zugemacht?«
»Jawohl.«
»Waren heute früh noch alle fest zu?«
»Gewiß.«
»Eines Ihrer Dienstmädchen hat einen Liebhaber? Sie machten, soviel ich weiß, gestern abend Ihren Onkel darauf aufmerksam, daß sie das Haus verlassen hätte, um mit ihm zusammenzutreffen.«
»Jawohl, und sie war es eben, die im Wohnzimmer bediente, und die dabei vielleicht Onkels Äußerung über den Schmuck mit angehört hat.«
»Aha. Sie vermuten, sie habe dies ihrem Liebhaber mitgeteilt, und darauf haben dann die beiden zusammen den Diebstahl verabredet.«
»Aber was sollen denn diese unbestimmten Vermutungen!« rief der Bankier ungeduldig dazwischen, »wenn ich Ihnen doch sage, daß ich sah, wie Arthur den Schmuck in der Hand hatte!«
»Gedulden Sie sich ein wenig, Herr Holder, wir müssen noch darauf zurückkommen. Was dieses Mädchen anbelangt, Fräulein Holder, so sahen Sie mit an, wie es wieder zur Küchentür hereinkam, nicht wahr?«
»Jawohl. Als ich eben nachsehen wollte, ob die Türe gut geschlossen sei, schlüpfte sie herein; ich bemerkte auch den Mann draußen im Dunkeln.«
»Kennen Sie ihn?«
»O freilich, es ist ein Gemüsehändler, der uns den Küchenbedarf ins Haus liefert. Er heißt Francis Prosper.«
»Er stand«, fuhr Holmes fort, »links von der Tür, etwas weiter unten an der Hecke?«
»Allerdings.«
»Und er hat einen Stelzfuß!«
Hier blitzte etwas wie Angst in den ausdrucksvollen Augen des jungen Mädchens auf. »Sie sind ja ein wahrer Hexenmeister«, sagte sie, »woher wissen Sie das?« Dabei lächelte sie, aber auf Holmes magerem, scharfgeschnittenem Gesicht fand dies Lächeln keine Erwiderung.
»Ich möchte nun sehr gerne in den oberen Stock gehen. Nachher werde ich voraussichtlich noch einmal die Runde um das Haus machen müssen. Vielleicht ist es übrigens zweckmäßiger, ich besichtige die Fenster unten, ehe ich hinaufgehe.«
Rasch ging er von einem zum andern; nur bei dem einen großen Fenster, das vom Hausgang nach dem Gäßchen hinaussah, hielt er sich länger auf. Dies öffnete er und untersuchte die Fensterbank aufs sorgfältigste mit einem starken Vergrößerungsglas. »Jetzt wollen wir hinaufgehen«, sagte er endlich.
Des Bankiers Ankleidezimmer war ein einfach ausgestatteter kleiner Raum, mit einem grauen Teppich belegt, und enthielt einen großen Schreibtisch und einen hohen Spiegel. Holmes ging zunächst auf den Schreibtisch zu und unterzog das Schloß einer genauen Besichtigung.
»Mit welchem Schlüssel ist es geöffnet worden?« fragte er.
»Mit dem Schlüssel zum Büfett unten, den mein Sohn selbst bezeichnet hat.«
»Haben Sie ihn hier?«
»Dort liegt er auf dem Toilettentisch.«
Holmes nahm ihn und schloß den Schreibtisch damit auf. »Er schließt lautlos. Kein Wunder, daß Sie nicht davon aufwachten. In diesem Etui hier befindet sich wohl der Schmuck. Wir müssen einen Blick darauf werfen.« Er öffnete das Etui, nahm den Schmuck heraus und legte ihn auf den Tisch. Es war ein Prachtstück der Goldschmiedekunst, und die sechsunddreißig Steine waren die schönsten, die ich je gesehen. An dem einen Ende war ein Stück abgebrochen; es fehlte eine Zacke mit drei Steinen.
»Nun, Herr Holder«, sagte Holmes, »wir wollen jetzt versuchen, eine der andern Zacken abzubrechen. Dürfte ich Sie bitten, das vorzunehmen?«
Der Bankier wich vor Schrecken einen Schritt zurück. »Es fällt mir nicht im Traum ein, so etwas zu versuchen«, versetzte er.
»Dann will ich es tun.« Holmes versuchte seine ganze Stärke daran, allein ohne Erfolg. »Ich fühle, daß sie ein wenig nachgibt«, sagte er; »aber obwohl ich ausnahmsweise große Kraft in den Fingern habe, würde ich doch geraume Zeit brauchen, eine der Zacken auszubrechen. Ein gewöhnlicher Mensch wäre dazu gar nicht imstande.«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll. Es ist mir völlig rätselhaft.«
»Nun, vielleicht wird es Ihnen doch mit der Zeit klarer werden. – Was halten Sie davon, Fräulein Holder?«
»Ich gestehe, daß ich vorläufig noch ebensowenig klug daraus werde, wie mein Onkel.«
»Ihr Sohn hatte keine Schuhe oder Pantoffeln an, als Sie ihn überraschten?« fragte er darauf Herrn Holder.
»Nichts als Hosen und Hemd.«
»Danke. Wir sind bei der Untersuchung wirklich außerordentlich vom Glück begünstigt, und es wird lediglich unsere eigene Schuld sein, wenn es uns nicht gelingt, die Sache aufzuklären. Wenn Sie erlauben, Herr Holder, will ich jetzt meine Nachforschungen draußen fortsetzen.« Wir ließen ihn dabei auf seine ausdrückliche Bitte wiederum allein; er hatte nämlich erklärt, daß alle unnötigen Fußspuren ihm seine Aufgabe nur erschweren könnten. Eine Stunde oder darüber brachte er damit zu, dann kam er zurück mit einer Masse Schnee an den Stiefeln und einer Miene, die völlig undurchdringlich war.
»Ich habe, glaube ich, jetzt alles gesehen, was es zu sehen gibt, Herr Holder«, sagte er, »ich kann nun nichts Besseres für Sie tun als wieder nach Hause gehen.«
»Aber die Steine, Herr Holmes, wo sind die?«
»Das kann ich nicht sagen.«
Der Bankier rang die Hände. »Ich sehe sie nie wieder!« rief er aus. »Und mein Sohn? Sie geben mir Hoffnung?«
»Meine Überzeugung hat sich nicht im mindesten geändert. Wenn Sie mich morgen vormittag zwischen neun und zehn Uhr in meiner Wohnung besuchen können, so werde ich Ihnen mit Vergnügen Aufschluß darüber geben, soweit dies irgend in meinen Kräften steht. Doch setze ich dabei voraus, daß Sie mir unbeschränkte Freiheit lassen, für Sie zu handeln und Sie mit jeder Summe zu belasten, die ich für nötig halte.«
»Mein ganzes Vermögen gebe ich hin, wenn ich nur die Steine wieder erlange!«
»Ganz gut; ich werde inzwischen die Sache weiter zu ergründen suchen. Leben Sie wohl. Es kann leicht sein, daß ich vor Abend noch einmal hierherkommen muß.«
Ich erkannte klar, daß mein Freund sich nunmehr seine Ansicht über den Fall gebildet hatte, obwohl ich mir von seinen Schlußfolgerungen auch nicht einmal eine dunkle Vorstellung machen konnte. Mehrmals bemühte ich mich auf unserer Heimfahrt, ihn darüber auszuholen, aber er ging immer wieder unmerklich auf einen anderen Gegenstand über, bis ich es schließlich als hoffnungslos aufgab. Vor drei Uhr befanden wir uns bereits wieder zu Hause. Er eilte auf sein Zimmer und erschien schon nach wenigen Minuten wieder in der Verkleidung eines gewöhnlichen Trödlers. Mit seinem aufgeschlagenen Kragen, dem ausgewaschenen, fadenscheinigen Rock, einem roten Halstuch und abgetragenen Stiefeln war er ein vollendetes Muster dieser Menschenklasse.
»Ich denke, so wird es gehen«, sagte er, in den Spiegel über dem Kamin blickend. »Ich möchte nur, du könntest mich begleiten, Watson, aber ich glaube, es geht wohl doch nicht an. Jedenfalls werde ich bald wissen, ob ich auf der richtigen Spur bin oder einem Irrlicht nachjage. Ich hoffe, in ein paar Stunden wieder da zu sein.« Er steckte sich ein belegtes Brötchen in die Tasche und machte sich auf den Weg.
Ich hatte eben meinen Tee getrunken, als er wieder eintraf, in ausgezeichneter Laune, einen alten Zugstiefel in der Hand schwingend, den er sofort in eine Ecke warf, um sich eine Tasse Tee einzuschenken. »Ich bin nur im Vorbeigehen schnell auf einen Augenblick hereingekommen. Ich muß sogleich weiter.«
»Wohin?«
»Hinüber nach der andern Seite des Westends. Ich bleibe vielleicht ziemlich lange aus. Warte nicht auf mich, falls ich spät heimkomme.«
»Wie macht sich die Sache?«
»Ganz leidlich. Kann nicht klagen. Ich bin seither draußen in Streatham gewesen, aber ohne im Hause vorzusprechen. Ein hübscher kleiner Fall, den ich nicht um vieles hergäbe! Aber ich darf die Zeit nicht länger verplaudern und muß aus dieser schnöden Hülle wieder in meine anständigen Kleider schlüpfen.«
Sein Wesen zeigte mir, daß er mehr Grund zur Befriedigung hatte, als seine Äußerungen erraten ließen. Es zuckte in seinen Augen, und auf seinen blassen Wangen zeigte sich sogar eine Spur von Farbe. Rasch ging er nach oben, und schon nach wenigen Minuten hörte ich an dem Zuschlagen der Haustür, daß er sich bereits wieder an die Verfolgung des Zieles gemacht hatte, das auf seinen Scharfsinn eine so unwiderstehliche Anziehung ausübte. Ich wartete bis Mitternacht, aber er kam nicht; ich zog mich deshalb auf mein Zimmer zurück. Es geschah nicht selten, daß er ganze Tage und Nächte ausblieb, wenn er eine Spur verfolgte. So hatte sein Ausbleiben nichts Überraschendes für mich. Wann er heimkam, weiß ich nicht, aber als ich mich morgens zum Frühstück einfand, saß er schon mit einer Kaffeetasse in der einen Hand und einer Zeitung in der andern, ganz frisch und sorgfältig angekleidet da.
»Entschuldige, daß ich nicht auf dich gewartet habe, Watson«, rief er mir entgegen, »aber du weißt ja, daß unser Klient heute schon zu ziemlich früher Stunde vorsprechen will.«
»Ich glaube, es kommt eben jemand«, versetzte ich. »Es ist ja schon neun Uhr vorüber; es sollte mich nicht wundernehmen, wenn er es wäre.«
Es war wirklich unsere neue Bekanntschaft, der Bankier. Ich war ganz betroffen über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war; er sah schlecht und eingefallen aus, und sein Haar kam mir um eine Schattierung weißer vor. Er trat mit einer Müdigkeit und Gleichgültigkeit ein, die einen noch betrübenderen Eindruck machte, als seine gestrige Aufregung, und ließ sich schwer in den Armstuhl fallen, den ich ihm hinschob.
»Ich weiß nicht, womit ich diese harte Prüfung verdient habe«, begann er. »Noch vor zwei Tagen war ich ein glücklicher wohlhabender Mann und ohne die geringste Sorge; nun gehe ich einem einsamen, ehrlosen Alter entgegen. Ein Schlag folgt dem andern auf dem Fuße. Meine Nichte Mary hat mich verlassen.«
»Sie verlassen?« –
»Jawohl. Ihr Bett war heute früh unberührt, ihr Zimmer leer und auf dem Tisch im Salon lag ein Brief an mich. Gestern abend hatte ich ihr gegenüber geäußert, – aber nur aus Betrübnis, nicht im Bösen – wenn sie meinen Jungen geheiratet hätte, so wäre er vielleicht auf gutem Wege geblieben. Es war wohl eine unbedachte Äußerung von mir. Sie spielt in dem Brief hier darauf an. ›Liebster Onkel!‹ schreibt sie, ›ich sehe ein, daß ich Dich betrübt habe, und daß, wenn ich anders gehandelt hätte, dieses schreckliche Mißverständnis vielleicht niemals eingetreten wäre. Mit diesem Gefühl im Herzen kann ich unter Deinem Dache nicht wieder glücklich werden und muß Dich daher auf immer verlassen; mache Dir keinen Kummer um meine Zukunft, denn dafür ist gesorgt; und vor allem forsche nicht nach mir; es wäre vergebliche Mühe und mir ein schlechter Dienst. Im Leben wie im Tode verbleibe ich stets
Deine Dich liebende Mary.‹
Was kann der Brief zu bedeuten haben, Herr Holmes? Glauben Sie, daß er auf Selbstmord hindeutet?«
»Nein, nein; kein Gedanke daran. Diese Lösung ist vielleicht die allerbeste. Ich glaube, Herr Holder, Sie sind dem Ende Ihrer Kümmernisse nahe.«
»Was sagen Sie da? – Sie haben etwas gehört, Herr Holmes, Sie haben etwas erfahren? Wo sind die Steine?«
»Würden Ihnen tausend Pfund für das Stück zu hoch erscheinen?«
»Ich gebe das Zehnfache dafür.«
»So viel braucht es nicht. Mit dreitausend Pfund ist die Sache gedeckt. Um eine kleine Belohnung wird es sich freilich auch noch handeln. Haben Sie Ihr Scheckbuch bei sich? Hier ist eine Feder. Schreiben Sie lieber viertausend Pfund.«
Mit ganz verdutzter Miene fertigte der Bankier den verlangten Scheck aus. Holmes ging nun an sein Schreibpult, nahm ein kleines dreieckiges Stück Gold heraus, an dem sich drei Steine befanden, und legte es auf den Tisch.
Der Bankier stieß einen Freudenschrei aus und griff danach.
»Sie haben es!« stammelte er. »Ich bin gerettet, ich bin gerettet!«
Der Ausbruch seiner Freude war jetzt ebenso leidenschaftlich, als es zuvor sein Kummer gewesen.
»Sie haben noch eine Schuld zu tilgen, Herr Holder«, bemerkte Holmes ziemlich ernst.
»Noch eine Schuld?« Er griff nach einer Feder. »Nennen Sie nur die Summe, und ich werde sie bezahlen.«
»Nein. Die Schuld betrifft nicht mich. Ihrem Sohn schulden Sie eine recht demütige Abbitte. Der hochherzige junge Mann hat sich in dieser Sache so brav gehalten, daß ich stolz auf meinen eigenen Sohn sein würde, falls ich je einen bekommen sollte, wenn er im gleichen Fall ebenso handeln würde.«
»Also ist Arthur nicht der Dieb?«
»Nein, wie ich Ihnen gestern schon sagte und heute wiederhole.«
»Sie wissen es gewiß? Dann lassen Sie uns gleich zu ihm eilen, um ihm zu sagen, daß sich der wahre Sachverhalt herausgestellt hat.«
»Er weiß bereits alles. Sobald ich selbst in der Sache zur Klarheit gekommen war, suchte ich ihn auf. Da er sich nicht dazu verstehen wollte, mir den Hergang zu erzählen, so erzählte ich ihm denselben. Darauf konnte er nicht anders als alles zuzugeben und die wenigen Einzelheiten beizufügen, die mir noch unverständlich waren. Die Neuigkeit, die Sie heute mitgebracht haben, öffnet ihm vielleicht vollends die Lippen.«
»So sagen Sie mir um des Himmels willen, was ist das für ein unbegreifliches Rätsel?«
»Das will ich, und ich werde Ihnen auch sagen, was für Schritte ich getan habe, um zur Lösung zu gelangen. Vor allem lassen Sie mich Ihnen mitteilen, was für mich auszusprechen und für Sie zu hören am schmerzlichsten ist: Ihre Nichte Mary handelte im Einverständnis mit Sir George Burnwell. Sie sind jetzt zusammen entwichen.«
»Meine Mary – unmöglich!«
»Es ist leider mehr als möglich, es ist sicher. Weder Sie selbst noch Ihr Sohn kannten den wahren Charakter dieses Menschen, als Sie ihm in Ihrem häuslichen Kreise Aufnahme gewährten. Er ist eines der gefährlichsten Subjekte in ganz England – ein heruntergekommener Spieler, ein ganz verzweifelter Schurke, ein Mensch ohne Herz und Gewissen. Ihre Nichte hat keine Ahnung davon, daß es solche Menschen auf der Welt gibt. Als er ihr seine Liebe gestand, wie hundert anderen vor ihr, schmeichelte sie sich, die einzige zu sein, die sein Herz gerührt habe. Der Teufel mag wissen, wie er es anfing, aber er brachte es dahin, daß sie zu seinem willenlosen Werkzeug wurde und fast jeden Abend mit ihm zusammentraf.«
»Ich kann, ich will es nicht glauben!« rief der Bankier mit aschfahlem Gesicht.
»Nun, dann will ich Ihnen erzählen, was vorletzte Nacht in Ihrem Hause vorging. Als Ihre Nichte annahm, Sie hätten sich in Ihr Zimmer zurückgezogen, schlüpfte sie hinunter und unterhielt sich mit ihrem Liebhaber durch das Fenster, das nach dem Gäßchen bei den Ställen hinausgeht. Seine Fußstapfen haben sich ganz durch den Schnee durchgedrückt, so lange hat er dortgestanden. Sie erzählte ihm von dem Schmuck. Diese Kunde entflammte seine verruchte Gier nach Gold, und er gewann sie für seine Pläne. Ich zweifle nicht an ihrer Anhänglichkeit für Sie, allein es gibt Frauen, bei denen neben der Anhänglichkeit an einen Geliebten keine andere mehr Raum findet, und zu diesen muß sie wohl gehört haben. Sie hatte kaum die nötigen Vorschriften für ihr Verhalten von ihm empfangen, als Sie die Treppe herunterkamen, worauf sie das Fenster eiligst schloß und ihnen die Geschichte von dem Dienstmädchen erzählte, das sich zu dem stelzfüßigen Liebhaber hinausgeschlichen habe, womit es auch seine volle Richtigkeit hatte.
Ihr Sohn begab sich nach der Unterredung mit Ihnen wohl zu Bett, konnte aber vor Sorgen wegen seiner Schulden im Klub nicht schlafen. Mitten in der Nacht hörte er jemand mit leisem Tritt an seiner Tür vorbeischleichen. Er stand auf, schaute hinaus und sah zu seiner größten Verwunderung seine Base verstohlen durch den Gang gleiten und in Ihrem Ankleidezimmer verschwinden. Rasch warf er ein paar Kleidungsstücke über und harrte im Dunkeln auf die weitere Entwicklung dieser merkwürdigen Geschichte. Nun kam sie wieder aus dem Zimmer heraus, und beim Schein der Flurlampe sah Ihr Sohn, daß sie das kostbare Schmuckstück in der Hand hatte. Sie ging die Treppe hinunter, und er eilte, zitternd vor Schrecken, zu dem Vorhang bei Ihrer Tür, um, dahinter versteckt, sehen zu können, was unten im Hausgang vorgehe. Er sah, wie sie vorsichtig das Fenster aufmachte und das Schmuckstück jemand im Dunkeln reichte, dann das Fenster wieder schloß und eiligst den Rückweg nach ihrem Zimmer einschlug, der sie ganz dicht an seinem Versteck vorbeiführte. Solange sie sich auf dem Schauplatz befand, konnte er nichts unternehmen, ohne das Mädchen, das er liebte, aufs furchtbarste bloßzustellen. Aber sobald sie verschwunden war, machte er sich klar, was für ein namenloses Unglück für Sie daraus entstehen müßte, und wie unendlich wichtig es sei, das Kleinod zurückzubekommen. Barfuß, wie er ging und stand, eilte er hinab, öffnete das Fenster, sprang in den Schnee hinaus und rannte das Gäßchen entlang, wo er eine dunkle Gestalt im Mondschein bemerkte. Es war Sir George, der sich aus dem Staube zu machen suchte, allein Arthur holte ihn ein und rang mit ihm, wobei beide an dem Schmuckstück zerrten, Ihr Sohn am einen Ende, sein Gegner am andern. Auf einmal knackte es, und Ihr Sohn sah, daß ihm der Schmuck in der Hand geblieben war. Er eilte nun ins Haus zurück, machte das Fenster wieder zu und ging hinauf in Ihr Ankleidezimmer. Dort bemerkte er, daß der Schmuck im Handgemenge verbogen worden war. Als er noch versuchte, ihn wieder zurechtzubiegen, erschienen Sie auf dem Schauplatz.«
»Ist es möglich?« stammelte der Bankier.
»Nun brachten Sie ihn in Wut, indem Sie ihm alle möglichen Schimpfreden in das Gesicht schleuderten, in einem Augenblick, wo er sich bewußt war, Ihren wärmsten Dank verdient zu haben. Den wahren Sachverhalt konnte er nicht enthüllen, ohne ein Mädchen zu verraten, das sicherlich keine große Rücksicht von seiner Seite verdient hatte. Er stellte sich jedoch auf den ritterlichen Standpunkt und wahrte ihr Geheimnis.«
»Also darum ihr Schrecken und ihre Ohnmacht beim Anblick des Schmuckes!« rief Herr Holder aus. »Oh, mein Gott, was war ich doch für ein blinder Narr! Und seine Bitte, auf fünf Minuten vor das Haus gehen zu dürfen! Der Junge wollte nur sehen, ob das fehlende Stück nicht noch auf dem Kampfplatz liege. Wie grausam von mir, wie habe ich ihn verkannt!«
»Sogleich nach meinem Eintreffen ging ich sorgfältig um das ganze Haus herum, um nach Spuren im Schnee zu suchen, die mir von Wert sein könnten. Ich wußte, daß seit dem Abend vorher kein Schnee mehr gefallen war, und bei dem starken Frost hatten sich auch die Eindrücke unverändert erhalten. Ich ging den Lieferantenweg entlang. Hier war jedoch alles zusammengetreten, so daß man nichts zu unterscheiden vermochte. Nur gerade oberhalb des Eingangs zur Küche hatte eine Frau bei einem Manne gestanden, der, nach den runden Spuren seines einen Fußes zu schließen, ein hölzernes Bein trug. Man vermochte sogar zu erkennen, daß sie gestört worden waren, denn die Frau war rasch zur Tür zurückgelaufen, wie die leichten Eindrücke ihrer Zehen im Gegensatz zur Ferse bewiesen, während der Stelzfuß noch eine Zeitlang gewartet und sich dann erst entfernt hatte. Ich dachte mir gleich, es werde das Dienstmädchen und ihr Liebhaber gewesen sein, von denen Sie bereits gesprochen hatten, und meine weiteren Nachforschungen bestätigten dies auch. Auf dem Gang durch den Garten konnte ich zahlreiche regellos durcheinanderlaufende Fußspuren bemerken, die ich den Polizeileuten zuschrieb. Als ich jedoch in das Stallgäßchen kam, stand dort in den Schnee geschrieben eine ganze lange, verwickelte Geschichte vor meinen Augen.
Da war eine zweifache Reihe von männlichen Stiefelspuren und eine weitere Doppelreihe von Eindrücken, die – wie ich zu meiner Freude sah – von den bloßen Füßen eines Mannes herrührten. Auf Grund Ihrer Erzählung war ich augenblicklich überzeugt, daß dieser Mann Ihr Sohn sein müsse. Der erste war hinauf- und heruntergegangen, der mit den bloßen Füßen dagegen war rasch gelaufen, und da sein Tritt an manchen Stellen über den des ersten fortging, so war er offenbar nach diesem gekommen. Ich folgte den Spuren und fand, daß sie zu dem Fenster im Hausgang führten, wo der mit den Stiefeln so lange gestanden hatte, daß der Schnee völlig weggetreten war. Dann ging ich ihnen bis zu ihrem andern Ende nach, vielleicht sechzig Meter das Gäßchen hinunter. Ich fand eine Stelle, wo der mit den Stiefeln sich umgewendet hatte und der Schnee aufgewühlt war, als ob ein Kampf stattgefunden hätte, eine Vermutung, welche durch ein paar Blutstropfen im Schnee ihre Bestätigung fand. Der Mann mit den Schuhen war dann rasch das Gäßchen hinabgelaufen, und eine zweite kleine Blutspur zeigte mir, daß er es war, der die Verwundung erhalten hatte. Auf der Straße draußen ließ sich die Spur nicht weiter verfolgen, da der Fußsteig inzwischen gesäubert worden war.
Nach meiner Rückkehr ins Haus untersuchte ich, wie Sie sich erinnern können, den Sims und den Rahmen an dem Gangfenster mit einem Vergrößerungsglas und konnte dabei sogleich erkennen, daß jemand hinausgestiegen war. Ferner vermochte ich die Umrisse eines nassen Fußes zu unterscheiden, den jemand beim Hereinsteigen aufgesetzt hatte. Nun fühlte ich mich allmählich imstande, mir ein Bild von den Vorgängen zu machen. Ein Mann hatte vor dem Fenster gewartet, bis ihm jemand die Steine hinausbrachte, Ihr Sohn hatte die Tat mit angesehen, den Dieb verfolgt und mit diesem gerungen, wobei sie beide an dem Schmuckstück zogen und dieses so mit vereinter Kraft in einer Weise beschädigten, wie dies keinem von beiden allein möglich gewesen wäre. Ihr Sohn brachte wohl das Schmuckstück an sich, mußte aber ein Stück davon in den Händen seines Gegners lassen. So weit war ich im reinen. Nun entstand die Frage, wer war dieser Mann und wer hatte ihm den Schmuck hinuntergebracht?
Es ist ein alter Grundsatz von mir: Nachdem alles Unmögliche ausgeschlossen worden ist, muß man in dem, was übrig bleibt, so unwahrscheinlich es sein mag, die Wahrheit finden. Nun wußte ich, daß Sie den Schmuck nicht hinunter gebracht hatten, demnach blieben nur noch Ihre Nichte und die Dienstmädchen übrig. Aber wenn es eines der Dienstmädchen war, warum hatte sich Ihr Sohn an ihrer Stelle beschuldigen lassen? Dafür war kein vernünftiger Grund zu finden. Er liebte jedoch seine Base, und darin lag die einzige Erklärung für sein Bestreben, ihr Geheimnis zu wahren – um so mehr, als es ein entehrendes Geheimnis war. Wenn ich ferner bedachte, daß Sie Ihre Nichte an jenem Fenster gesehen hatten, und sie in Ohnmacht gefallen war, als sie den Schmuck wieder erblickte, so wurde meine Vermutung zur Gewißheit.
Wer aber konnte es sein, mit dem sie unter einer Decke steckte? Doch nur ein Geliebter, denn nur ein solcher wäre imstande, über ihre Liebe und Dankbarkeit Ihnen gegenüber den Sieg davon zu tragen. Ich wußte, daß Sie wenig ausgingen und Ihr Bekanntenkreis ein sehr beschränkter war. Allein zu diesem kleinen Kreis gehörte Sir George Burnwell. Ich hatte schon früher erfahren, daß er im Hinblick auf seine Beziehungen zu Frauen berüchtigt war. Von ihm mußten die Stiefelspuren herrühren, in seinem Besitz mußten sich die fehlenden Steine befinden. Trotzdem er von Arthur entdeckt worden war, durfte er sich in der Hoffnung wiegen, unbehelligt zu bleiben, denn der junge Mann konnte ja kein Wort sagen, ohne seine eigene Familie bloßzustellen.
Nun werden Sie sich leicht denken können, welche Schritte ich zunächst tat. Ich begab mich, als Trödler verkleidet, in Sir Georges Wohnung, wo ich mit dessen Diener Bekanntschaft anzuknüpfen wußte, und erfuhr, daß sich sein Herr den Abend vorher am Kopf verletzt habe. Durch eine Ausgabe von sechs Schilling stellte ich dann vollends die ganze Wahrheit fest. Ich kaufte nämlich ein Paar seiner abgelegten Stiefel, nahm sie mit nach Streatham und überzeugte mich, daß sie vollkommen in die Fußspuren paßten.«
»Ich bemerkte gestern allerdings einen Strolch in abgerissener Kleidung vor meinem Hause«, warf Herr Holder ein.
»Ganz recht. Das war ich. Nachdem ich meines Mannes sicher war, wechselte ich zu Hause die Kleider. Nun harrte meiner noch eine heikle Aufgabe; denn ich sah ein, daß, um Aufsehen zu vermeiden, keine Verfolgung der Sache stattfinden dürfe, und wußte, ein solch abgefeimter Schurke würde sofort durchschauen, daß uns in dieser Sache die Hände gebunden seien. Ich suchte ihn also auf. Zuerst leugnete er natürlich alles. Als ich ihm jedoch sämtliche Einzelheiten des Hergangs vorhielt, machte er Miene, gewalttätig zu werden, und nahm einen Totschläger von der Wand. Ich kannte meinen Mann und drückte ihm, ehe er zuschlug, eine Pistole an die Stirn. Nun wurde er etwas vernünftiger. Ich erklärte ihm, wir seien bereit, ihm die Steine abzukaufen, und zwar um tausend Pfund das Stück. Diese Eröffnung entlockte ihm zum erstenmal ein Zeichen des Bedauerns. ›Verwünscht!‹ rief er, ›ich habe sie alle zusammen für sechshundert Pfund losgeschlagen.‹ Durch die Zusage, daß jede Verfolgung der Sache unterbleibe, brachte ich ihn bald so weit, mir die Adresse des Käufers der Steine zu geben. Augenblicklich machte ich mich dorthin auf und erhielt endlich nach langem Feilschen unsere Steine für tausend Pfund das Stück. Dann sprach ich noch bei Ihrem Sohne vor, um ihm mitzuteilen, daß alles in Ordnung sei, und ging endlich gegen zwei Uhr in mein Bett, nach einem Tagewerk, das gewiß ein schweres genannt werden darf.«
»Einem Tagewerk, durch das Sie einen großen öffentlichen Skandal verhindert haben«, versetzte der Bankier, indem er sich erhob. »Die Worte fehlen mir, um Ihnen meinen Dank auszudrücken, aber Ihre Leistung soll nicht unbelohnt bleiben. Ihr Scharfsinn übersteigt in der Tat alles, was ich je Ähnliches gehört habe. Aber jetzt muß ich zu meinem Jungen eilen, um ihm das Unrecht abzubitten, das ich ihm angetan habe. Was die arme Mary betrifft, so bin ich durch Ihre Auskunft über sie im Innersten erschüttert. Mir zu sagen, wo sie jetzt sein mag, dazu wird aber freilich selbst Ihr Scharfsinn nicht hinreichen.«
»Ich glaube, wir dürfen ruhig behaupten«, erwiderte Holmes, »sie befindet sich da, wo Sir George Burnwell ist. Wie groß aber auch ihr Unrecht sein mag, so wird sie sicher gar bald die Strafe dafür in mehr als genügendem Maß erhalten.«
*
Während Holmes das Blatt weglegte und das folgende aufschlug, dachte er: Ja, es ist so, das Leben gleicht immer irgendwie alles wieder aus, ohne unser Dazutun, das Gute und das Böse.
Dann fing er an, die nächste Geschichte zu lesen: