Max Dreyer
Ohm Peter
Max Dreyer

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30

Peter stand auf dem Balkon, um sich die Winterkälte, den Sternenhimmel über sich.

Nun trat Ellen zu ihm heraus.

Die Luft schwieg voll Andacht, denn der Abendstern segnete sie mit seinem Glanz. Auf einer leuchtenden Bahn wallte und schwebte diese Andacht ihnen entgegen. Ellen wies auf den Lichtstreif, der zu ihnen herniederging. »Das ist wie eine Straße.«

»Ein Weg ihn zu gehen und ein Ziel.«

Dann waren sie still. Und dann sagte Ellen: »Morgen früh!« Darin war nun doch der Klang eines bangen Herzens. Der Ohm aber sah zum Abendstern.

»Und du bringst mich nach Stralsund?« fragte sie zärtlich.

»Ja.« Aber seine Augen gingen die Lichtbahn.

Da blickte auch sie wieder zu dem Stern hinüber. »Er hat von allen das schönste Licht.« 309

»Das tiefste und das frohste.«

»Immer wenn ich ihn sehe, werde ich an dich denken – an uns beide. Auch sonst noch so oft. Aber dann besonders.«

Jetzt waren Tränen in ihrer Stimme, und sie sprang auf, als wollte sie sich in Sicherheit bringen.

»Ich will vernünftig sein, Ohm. Du hast so oft den Kopf über mich geschüttelt. Das sollst du nicht mehr. Und du sollst freudig an mich denken.«

Seine Blicke lösten sich von dem Stern. Und Ellen plauderte weiter: »Wie lange dauert es groß, dann sehen wir uns wieder. Dann komm' ich wieder zu dir, du! Und bleib' immer bei dir! Ja, das tu' ich.« Sie faßte seine Hand. »Nicht? Wir beiden! Wir beiden Alten.«

»Gott segne deine Jahre!« Er sprach es mit rauher Munterkeit.

Sie umschlang seinen Arm. Er reichte ihr nur die Hand. Da blieb sie eine Weile vor ihm, als erwarte sie einen freundlicheren Gruß. Er aber regte sich nicht. So wandte sie sich zum Gehen.

Doch im Gehen drehte sie sich um nach ihm, und ihre Worte hatten den alten Klang: »Wenn du willst, komm noch an mein Bett und sag mir gute Nacht.« 310

Er sah in dem Sternenschein ihre großen, weichen Augen. Sie ging. Er blieb, wie er stand, und war ohne Leben. Nur ein großes Schaudern war in ihm.

Da kriecht etwas durch die Finsternis. Es zittert die Nacht. Schwillt und wogt und drängt. Es zittert die Nacht.

Die Zeit – diese eine Stunde – sie füllt sich mit allem Schweren, mit allem Grauen. Die Stunde will zerbersten von ihrer dunkeln Fülle.

Und Peter Brandt steht noch immer auf demselben Fleck, die Augen auf den Weg des Kindes, ins dunkle Haus gerichtet. Sie gehen durch das dunkle Tor, sie ziehen ihn nach sich durch das dunkle, schwüle, brauende Tor –

Hinterrücks drängt es durch die Nacht, hinterrücks schwillt es gegen ihn und packt ihn und stößt –

Da reißt er sich um, jäh, mit zornigen, drohenden Augen –

Was ist da hinter ihm? Was wagt sich so an ihn? Was will ihm die Nacht? Was will ihm diese Stunde, durch die das Grauen des Geschehens sich wühlt?

Nichts ist in der Nacht! Es ist nicht die Tat, was durch die dunkle Stunde bebt! Kein Geschehen 311 – nichts, nichts ist in der Nacht! Die reine, stete Lichtbahn des Abendsterns herrscht über sie. Seine Augen fliegen aus diese Straße, erst noch unsicher in irdischem Zittern, dann fest und freudig, und sie irren nicht von ihr ab.

Sie dürfen nicht – sie müssen auf ihr bleiben – sie müssen – sie wollen – sie wollen –

Sie können nicht anders. All seine Sinne sind in das Licht geschlossen, atmen das Licht und schwingen in ihm.

Das ist ein Schwimmen, ein Schweben, ein Fliegen! Wann ist er so frei, so stark und so froh gewesen wie jetzt in dieser Lichtfahrt? Wann hat je die Lächerlichkeit des Leidens so weit hinter ihm gelegen?

Und es ist ein Jauchzen in ihm, wie es nur die Heimat geben kann. Hinter ihm bleibt die Fremde.

Immer tiefer sinkt das alte Land; immer kleiner werden seine Dinge. Wie drollig sie sich ausnehmen, alle diese breiten Wichtigkeiten der Erde, auf die er lächelnd hinabblickt.

Da sind seine ersten Verse – da ist sein Abiturientenexamen – da ist seine erste Mensur – und da, der Zeit nach von diesem das 312 allererste, sein erster Kuß. Sie war die Tochter eines Maurerpoliers, hatte Sommersprossen und hieß Alwine.

So schwimmen – immer so zu schwimmen – um sich das Licht und vor sich den Stern –

Und immer ferner der Staub der Dinge. Vater Wittmüs, guter alter Kerl, das ist alles wirklich und wahrhaftig weiter nichts als Fliegenschmutz. Nur daß der eine weißer ist und der andre schwärzer –

Vater Wittmüs – Mutter Wittmüs – Jum und Jim – Karl Christian Willers –

Karl Christian – du und deine kleine Menschheit und das bißchen Erlösung –

Aber das Heimweh bleibt –! Die Heimat – die große Heimat –

Jum und Jim – ihr treulosen Kerle! Was wird nun aus euch werden, die ihr euch so verlangsamt habt in weicher Sanftmütigkeit! Du, Jim, du wirst mal Direktor einer Sekundärbahn. Und was du wirst, Jum? Prokurist einer Wattefabrik – ja ja –

Und immer weiter schwindet das alte Land. Frau Brigitte! Ob es auf dem Stern Klaviere gibt? Und singende Pastorenfrauen? 313

Jetzt – ein Krampf durchzuckt ihn – ein Schmerz – hat er die Grenze zwischen den beiden Ländern durchschnitten – ist es der letzte Gruß aus dem Reich der Schmerzen?

Was bleibt nun noch bei ihm? Nichts – doch! Doch! Das eine doch.

Sie – sie hat mit ihm zu dem Stern sich aufgesehnt. Sie liebt den Stern und weiß seinen Weg. Ellen, das Kind.

Da war etwas gewesen, das wühlte sich schaudernd vor sich selbst zwischen ihn und das Kind, das wollte ihm das Kind rauben – etwas Wildes und Trübes – in dem Lichtschein hat es keinen Raum –

Ellen, das Kind. Er hat sie an seiner Sehnsucht teilnehmen lassen. Sie weiß vom Heimweh. Und ist sein Kind geblieben.

Der Stern – sie kennt ihn und liebt ihn und gehört ihm zu. Und sie weiß seinen Weg.

Der Stern – wie dicht er vor ihm ist. Er hört die Stimme des Lichts. Wie ihn das Licht an sich zieht, ihn umschlingt, ihn in sich austrinkt. Wie selig er zerrinnt und verklingt in das tönende Licht. Singt nicht eine Geige hinein, gütig und nah – der Mutter Geige – der Mutter Hand – 314

 


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