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Als die Beichte vollendet war, nahm Karl das Abendmahl; dann verlangte er, seine Kinder zu sehen. Das Volk hielt sich indessen schon bereit; da es wußte, daß zehn Uhr die für die Hinrichtung bestimmte Stunde war, so scharte es sich jetzt in den Straßen und beim Palast zusammen.
Die Kinder des Königs langten an: zuerst die Prinzessin Charlotte, dann der Herzog von Glocester, – ein kleines, blondes Mädchen, die Augen in Tränen gebadet, und ein Knabe von acht bis zehn Jahren, dessen trockenes Auge und verächtlich aufgeworfene Lippe den aufkeimenden Stolz verrieten. Das Kind hatte die ganze Nacht hindurch geweint, aber vor diesen Leuten weinte es nicht.
Karl fühlte, wie sein Herz beim Anblick der beiden Kinder schmolz, die er seit zwei Jahren nicht gesehen hatte und jetzt nur in der Stunde seines Todes wiedersah. Eine Träne trat in seine Augen, und er wandte sich und trocknete sie, denn er wollte stark sein vor denjenigen, denen er ein so schweres Erbe von Leid und Unglück hinterließ.
Er sprach zuerst mit dem jungen Mädchen, zog sie zu sich, empfahl ihr Frömmigkeit, Demut und kindliche Liebe; dann nahm er den jungen Herzog von Glocester und setzte ihn auf seinen Schoß, damit er ihn zugleich an sein Herz drücken und aus das Gesicht küssen könnte.
Er forderte ihn auf, ihm einen Eid zu leisten, daß er sich niemals wolle bei Lebzeiten seiner älteren Brüder, des Prinzen von Wales und des Herzogs von York, auf den Thron setzen lassen.
Das Kind streckte seine kleine Hand in die seines Vaters aus und sprach: Sire, ich schwöre Eurer Majestät . . .
Karl unterbrach ihn und sagte: Heinrich, nenne mich deinen Vater.
Mein Vater, versetzte das Kind, ich schwöre Euch, daß sie mich eher töten, als zum König machen sollen.
Gut, mein Sohn. Nun umarme mich, und Du auch, Charlotte, und vergeßt mich nicht!
Oh! nein! nein! riefen die Kinder, ihre Arme um den Hals des Königs schlingend.
Gott befohlen! sprach Karl, Gott befohlen, meine Kinder. Führt sie weg, Juxon, ihre Tränen würden mir den Mut zum Sterben rauben.
Als man die Kinder fortgeführt hatte, öffnete man die Pforten, und jedermann konnte eintreten.
Als sich der König unter der Menge der Wachen und Neugierigen, die das Zimmer zu füllen begannen, allein sah, erinnerte er sich, daß der Graf de la Fère dicht unter dem Boden des Gemaches war und, da er ihn nicht sehen konnte, vielleicht immer noch hoffte.
Er zitterte, das geringste Geräusch könnte Athos als Signal erscheinen, und dieser möchte sich durch Wiederaufnahme seiner Arbeit selbst verraten. Er hielt sich deshalb geflissentlich völlig ruhig und unbeweglich und nötigte dadurch alle Anwesenden zur Ruhe.
Der König täuschte sich nicht, Athos war wirklich in gespannter Erwartung; er horchte, er verzweifelte, da er kein Signal hörte; er fing mehrmals möglichst geräuschlos seine Arbeit wieder an; da er aber gehört zu werden fürchtete, hielt er bald wieder inne.
Diese furchtbare Untätigkeit dauerte zwei Stunden. Eine Todesstille herrschte im Zimmer des Königs.
Nun entschloß sich Athos, die Ursache dieser düstern, stummen, nur von dem ungeheuren Lärm des Volkes gestörten Ruhe zu erforschen. Er öffnete die Tapete, die das Loch des Spaltes verbarg, ein wenig und stieg auf den ersten Stock des Schafotts hinab. Kaum vier Zoll über seinem Kopfe war der Boden, der sich in einer Höhe mit der Plattform ausdehnte und das Schafott bildete.
Das Geräusch, das er bis jetzt nur dumpf gehört hatte und das nun düster und bedrohlich an sein Ohr drang, ließ ihn vor Schrecken beben. Er ging bis an den Rand des Schafotts, öffnete das schwarze Tuch in der Höhe seines Auges ein wenig und sah Reiter, die an der furchtbaren Maschine aufgestellt waren, weiterhin eine Reihe Partisanenträger, sodann Musketiere, endlich die ersten Reihen des Volkes, das einem erregten Ozean ähnlich brauste und tobte. Was ist denn vorgefallen? fragte sich Athos, heftiger zitternd als das Tuch, dessen Falten er zerknitterte; das Volk drängt sich, die Soldaten stehen unter den Waffen, und unter den Zuschauern, die insgesamt die Augen nach dem Fenster gerichtet haben, erblicke ich d'Artagnan! Was erwartet er? Was betrachtet er? Großer Gott, sollte er den Henker haben entwischen lassen!
Plötzlich erscholl die Trommel dumpf und düster auf dem Platze; ein Geräusch schwerer, langsamer Tritte machte sich über seinem Kopfe hörbar. Es kam ihm vor, als ob eine ungeheure Prozession das Parkett über ihm beträte; bald hörte er sogar die Bretter des Blutgerüstes krachen. Er warf einen letzten Blick nach dem Platz, und die Haltung der Zuschauer lehrte ihn, was eine im Grunde seines Herzens zurückgebliebene Hoffnung zu erraten bis jetzt verhindert hatte.
Das Geräusch auf dem Platze hatte gänzlich aufgehört. Aller Augen waren nach dem Fenster von Whitehall gerichtet; die aufgesperrten Mäuler und der zurückgehaltene Atem der Menge verrieten, daß sie einem furchtbaren Schauspiel entgegensah.
Das Getöse der Tritte, das Athos auf dem Platz, den er unter dem Boden des königlichen Zimmers einnahm, über seinem Kopfe gehört hatte, wiederholte sich auf dem Schafott, das sich dergestalt unter dem Gewichte bog, daß die Bretter beinahe den Kopf des unglücklichen Edelmanns berührten. Offenbar waren es zwei Reihen Soldaten, die den ihnen zugewiesenen Platz besetzten.
In demselben Augenblicke sprach eine Athos wohlbekannte Stimme, eine edle Stimme, über seinem Kopfe:
Herr Oberst, ich wünsche zu dem Volk zu reden.
Athos bebte vom Scheitel bis zu den Zehen: es war der König, der auf dem Blutgerüste sprach.
Nachdem Karl ein paar Tropfen Wein getrunken und etwas Brot gebrochen, hatte er sich wirklich, um den Tod nicht allzulange erwarten zu müssen, plötzlich entschlossen, ihm entgegenzugehen, und das Zeichen zum Aufbruch gegeben.
Dann hatte man die beiden Flügel des nach dem Platze gehenden Fensters geöffnet, und das Volk sah schweigend aus dem Hintergrunde des Zimmers einen verlarvten Mann hervortreten, in dem man an dem Beile, das er in der Hand hielt, den Scharfrichter erkannte. Dieser Mann näherte sich dem Block und legte sein Beil darauf.
Nach diesem Menschen erblickte man Karl Stuart, der ruhig und festen Schrittes zwischen zwei Priestern ging, gefolgt von einigen Oberoffizieren, die der Hinrichtung beizuwohnen hatten, und von zwei Gliedern Partisanenträgern, die sich auf beiden Seiten des Schafotts aufstellten.
Der Anblick des verlarvten Mannes hatte ein lange anhaltendes Geräusch hervorgebracht. Jedermann war neugierig, zu erfahren, wer der unbekannte Henker wäre, der sich noch zur rechten Zeit angeboten hatte, damit das dem Volk verheißene Schauspiel stattfinden konnte, während man bereits geglaubt hatte, es müsse auf den andern Tag verschoben werden. Jeder verschlang ihn gleichsam mit den Augen, aber man konnte nichts sehen, als daß es ein schwarz gekleideter Mann von mittlerem Wuchse war, der bereits ein gewisses Alter erreicht zu haben schien, denn das Ende eines grau werdenden Bartes stand unter der Larve hervor, die sein Gesicht bedeckte.
Doch beim Anblick des so ruhigen, so edlen, so würdigen Königs stellte sich die Ruhe wieder her, und jedermann konnte es hören, als er sein Verlangen aussprach, mit dem Volk zu reden.
Dieses Verlangen hatte der, an den es gerichtet war, ohne Zweifel mit einem bejahenden Zeichen beantwortet, denn der König fing an, mit fester, wohlklingender, unserem Athos bis in die Tiefe seines Herzens dringender Stimme zu sprechen.
Er rechtfertigte vor dem Volke, was er getan hatte, und gab ihm Ratschläge zur Wohlfahrt Englands.
Oh! sprach Athos zu sich selbst, ist es denn möglich, daß ich höre, was ich höre? Ist es möglich, daß Gott seinen Stellvertreter auf Erden so sehr verlassen hat, daß er so elendiglich sterben muß? . . . Und ich habe ihn nicht gesehen . . . habe ihm kein Lebewohl gesagt!
Man vernahm ein Geräusch, als würde das Todeswerkzeug auf dem Blocke bewegt.
Der König unterbrach sich und sprach: Berührt das Beil nicht.
Und er setzte seine Rede fort; als sie zu Ende war, trat eine furchtbare Stille über dem Kopfe des Grafen ein. Er hielt seine Hand vor die Stirn, aber zwischen seiner Hand und seiner Stirn rieselten Schweißtropfen durch, obgleich die Luft eiskalt war.
Diese Stille deutete die letzten Vorbereitungen an.
Nachdem der König seine Rede geschlossen, ließ er einen Blick voll Mitleids über die Menge hinschweifen. Dann machte er den Orden, den er trug, eben jenen Demantstern, den die Königin ihm geschickt hatte, los und übergab ihn dem Priester, der Juxon begleitete. Hierauf zog er aus seiner Brust ein kleines Kreuz, ebenfalls von Diamanten. Dieses kam, wie der Stern, ebenfalls von Frau Henriette.
Mein Herr, sagte er, sich an den Priester wendend, der Juxon begleitete, ich werde dieses Kreuz bis zu meinem letzten Augenblick in der Hand behalten; aber nehmt es von mir, wenn ich tot bin.
Ja, Sire, sprach eine Stimme, in der Athos die von Aramis erkannte.
Karl, der bis dahin seinen Kopf bedeckt gehabt hatte, nahm nun seinen Hut ab und warf ihn von sich. Dann löste er die Knöpfe seines Wamses, zog es aus und warf es neben seinen Hut. Da es aber sehr kalt war, forderte er seinen Schlafrock, den man ihm reichte.
Alle diese Vorbereitungen waren mit furchtbarer Ruhe vor sich gegangen. Man hätte glauben sollen, der König sei im Begriff, sich zu Bett und nicht in seinen Sarg zu legen.
Endlich hob er seine Haare mit der Hand in die Höhe und sagte zu dem Henker: Werden sie Euch hinderlich sein? In diesem Fall könnte man sie mit einer Schnur aufbinden.
Karl begleitete diese Worte mit einem Blick, der unter die Larve des Unbekannten dringen zu wollen schien. Der so edle, so ruhige, so sichere Blick nötigte diesen Menschen, den Kopf abzuwenden. Aber hinter dem tiefen Blicke des Königs begegnete er dem glühenden Blicke Aramis'. Als der König sah, daß er nicht antwortete, wiederholte er seine Frage.
Es wird genügen, wenn Ihr sie vom Halse entfernt, antwortete der Mann mit dumpfer Stimme.
Der König sagte hierauf, den Block anschauend: Dieser Block ist sehr niedrig; sollte sich kein höherer finden?
Es ist der gewöhnliche Block, antwortete der Verlarvte.
Glaubt Ihr mir den Kopf mit einem Streiche abzuhauen? fragte der König.
Ich hoffe es, antwortete der Scharfrichter.
In den Worten: Ich hoffe es, lag eine so seltsame Betonung, daß alle Anwesenden, den König ausgenommen, bebten.
Es ist gut, sprach der König, und nun, Henker, höre.
Der Verlarvte machte einen Schritt gegen den König und stützte sich auf sein Beil.
Du sollst mich nicht überraschen, sprach Karl zu ihm. Ich werde niederknien, um zu beten; dann schlage noch nicht.
Wann soll ich schlagen? fragte der Verlarvte.
Sobald ich den Hals auf den Block gelegt habe, die Arme ausstrecke und Remember (Gedenke) rufe.
Der Mann mit der Larve machte eine leichte Verbeugung.
Der Augenblick, von der Welt zu scheiden, ist gekommen, sprach der König zu seiner Umgebung. Meine Herren, ich lasse Euch mitten im Sturme und gehe Euch in jenes Vaterland voran, das kein Ungewitter kennt. Gott befohlen.
Er schaute Aramis an und nickte ihm noch besonders zu.
Nun entfernt Euch, fuhr er fort, und laßt mich leise mein Gebet verrichten. Entferne du dich auch, sagte er zu dem Verlarvten; ich weiß, daß ich dir gehöre; aber erinnere dich, daß du erst bei meinem Signal schlagen sollst.
Karl kniete nieder, machte das Zeichen des Kreuzes und näherte seinen Mund den Brettern, als wollte er die Plattform küssen. Dann stützte er sich mit der einen Hand auf den Boden, mit der andern auf den Block, und sagte in französischer Sprache:
Graf de la Fère, seid Ihr da, und kann ich sprechen?
Diese Stimme schlug gerade in Athos' Herz und durchdrang es, wie ein kaltes Eisen.
Ja, Majestät, erwiderte er zitternd.
Treuer Freund, edles Herz, sprach der König, ich konnte nicht von dir gerettet werden, ich sollte es nicht werden. Nun aber, und sollte ich eine Entheiligung begehen, sage ich: Ja, ich habe zu den Menschen, ich habe zu Gott gesprochen, ich spreche zuletzt zu dir. Um eine Sache aufrechtzuhalten, die ich für heilig hielt, habe ich den Thron meiner Väter verloren und das Erbe meiner Kinder verschleudert. Eine Million in Gold bleibt mir. Ich habe sie in den Kellern des Schlosses von Newcastle in dem Augenblick vergraben, wo ich diese Stadt verließ. Du allein weißt, daß dieses Geld vorhanden ist. Mache Gebrauch davon, wenn du es zum Wohle meines ältesten Sohnes für zeitgemäß hältst. Und nun, Graf de la Fère, nimm Abschied von mir.
Gott befohlen, heilige Majestät, Märtyrer-Majestät! stammelte Athos, vor Schrecken zu Eis geworden.
Es trat nun ein Stillschweigen ein, währenddessen es Athos vorkam, als stände der König auf und wechselte seine Stellung.
Dann rief der König mit voller, klingender Stimme, so daß man es nicht nur auf dem Schafott, sondern auch auf dem ganzen Platze hörte: Remember!
Kaum war dieses Wort aus seinem Munde, als ein furchtbarer Schlag den Boden des Blutgerüstes erschütterte. Der Staub drang aus dem Tuche hervor und blendete den unglücklichen Edelmann.
Plötzlich hob er mechanisch die Augen und den Kopf empor, und ein warmer Tropfen fiel auf seine Stirn. Athos wich mit einem Schauer des Schreckens zurück, und in demselben Augenblick verwandelten sich die Tropfen in einen dunklen Erguß, der auf dem Boden aufprallte.
Athos fiel auf die Knie und blieb einige Augenblicke wie vom Wahnsinn erfaßt. An dem abnehmenden Gemurmel bemerkte er bald, daß das Volk sich entfernte. Er verharrte noch einen Moment unbeweglich, stumm und bestürzt. Dann tauchte er, sich umwendend, das Ende seines Taschentuches in das Blut des Märtyrer-Königs, und als das Volk immer mehr den Platz verließ, stieg er hinab, schlitzte das Tuch, drängte sich zwischen zwei Pferde, mischte sich unter das Volk und gelangte in die Taverne.
Als er in sein Zimmer trat, beschaute er sich im Spiegel, sah auf seiner Stirn einen breiten roten Fleck, fuhr mit der Hand danach, zog sie voll vom Blute des Königs zurück und fiel in eine Ohnmacht.