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Es ist nicht allzu lange her, da wurden von den Schicksalsgöttinnen die Menschenlose des kommenden Jahrhunderts – jetzt das unsre – gewoben und gestaltet. Die schwerwiegenden und die im Alltagsgeleise leicht hingleitenden, die dunkeln und die hellen waren bestimmt. Über Glück und Unglück und über alles, was sie herbeiführt, war verfügt. Nur eines blieb noch vorzunehmen, eine schwierige Verteilung – die des dichterischen Genius.
»Tun wir einmal etwas Außerordentliches!« sagte die jüngste der Schwestern, »schenken wir den ganzen Reichtum einem einzigen Sterblichen, lassen wir den einen die poetische Leuchte des ganzen nächsten Zeitalters sein.«
Die zweite Schwester war mit dem Vorschlag einverstanden, die älteste nicht – durchaus nicht! Wovon lebt der Olymp? – Von der Tradition. An der Tradition darf nicht gerüttelt werden. Wie sie es bestimmt, sollen auch im kommenden Zeitalter einige Auserwählte mit einer der höchsten Gaben des Göttervaters begnadet werden.
Die jüngeren Schwestern beharrten auf ihrer Meinung, ein Streit entbrannte, wurde immer heftiger, zog immer weitere Kreise, und bald beteiligte sich an ihm der ganze Olymp.
Kupido, der in den Armen seiner Mutter eingeschlafen war, erwachte über dem Lärm und sah verdrossen um sich. Auf dem Altar vor den Schicksalsgöttinnen stand ein ihm unbekanntes Ding: Eine geschlossene Schale aus verdichtetem, zugeschliffenem Äther, in der es geheimnisvoll qualmte und wallte und mit dem Glanze von hundert Sonnen glühte. Geblendet, von einer wilden Laune erfaßt, lief das Knäblein hinzu, ergriff die Schale und schleuderte sie in weitem Bogen in den Weltenraum hinab.
Das herrliche Gefäß zerschellte an Monden und Sternen, und sein himmlischer Feuerstrom ergoß sich, in einen Funkenregen zerstiebend, über die Erde.
Dort sieht man jetzt unzählige große und kleine Lichter glänzen – nirgends aber lodert eine Flamme.
Die Aufrichtigkeit schritt eines Tages durch die Welt und hatte eine rechte Freude über sich.
– Ich bin doch eine tüchtige Person, dachte sie; ich scheide scharf zwischen gut und schlecht, mit mir gibt's kein Paktieren; keine Tugend ist denkbar ohne mich. Da begegnete ihr die Lüge in schillernden Gewändern, an der Spitze eines großen Zuges. Mit Ekel und Entrüstung wandte die Aufrichtigkeit sich ab. Die Lüge ging süßlich lächelnd weiter; die letzten ihres Gefolges aber, kleines, schwächliches Volk mit Kindergesichtchen, schlichen demütig und schüchtern vorbei und neigten sich bis zur Erde vor der Aufrichtigkeit.
»Wer seid ihr denn?« fragte sie.
Eines nach dem andern antwortete: »Ich bin die Lüge aus Rücksicht.« – »Ich bin die Lüge aus Pietät.« – »Ich bin die Barmherzigkeitslüge.« – »Ich bin die Lüge aus Liebe«, sprach die vierte, »und diese Kleinsten von uns sind: das Schweigen aus Höflichkeit, das Schweigen aus Respekt und das Schweigen aus Mitleid.«
Die Aufrichtigkeit errötete, sie kam sich plötzlich ein wenig plump und brutal vor.
Lange schon weilte Goethe im Olymp; er war dort heimisch geworden, hatte seine Kunst immer weiter ausgeübt, und sie entfaltete eine Blütenpracht, von der die Götter selbst geblendet waren. Der große Dichter nahm ihr Lob wie etwas Erfreuliches hin; dennoch schwebte eine Sehnsuchtswolke über seiner Stirn, und in seinen vom Sonnengott selbst um ihren Glanz beneideten Augen schimmerte manchmal eine Träne.
Vater Zeus bemerkte es und sprach: »Deine olympische Zufriedenheit ist nicht vollkommen. Was fehlt dir, Wolfgang?«
»Kronide,« erwiderte Goethe, »der Umgang mit Menschen fehlt mir. Diese Wesen haben mir während meines Erdendaseins freundliche Gesellschaft geleistet. Sie haben auch jedes Wort, das von meinen Lippen fiel, aufgehoben, artig einbalsamiert und mit einigem Eifer registriert und bewahrt zum Nutzen und heiteren Genuß ihrer Nachwelt. Wie würde es mir jetzt doch willkommen sein, Vertreter dieser Nachwelt, besonders die jüngsten und also fortgeschrittensten, die Ururenkel meiner Riemer, von Müller, von Meyer, Boisserée, Eckermann und so weiter, hier zu sehen! Ich fühle mich oft gestimmt, ihnen einiges aus den wunderlichen Werken meiner olympischen Periode mitzuteilen.«
»Ein bescheidener Wunsch, den ich gern erfülle,« sprach Jupiter und winkte.
Im nächsten Augenblick war Goethe umringt von einer Schar fast noch kindlicher Jünglinge und Mädchen. Sie umjauchzten, umschwärmten, umschmeichelten, umarmten ihn. Er wurde angefleht, beschworen, ja bedroht und – schwieg. Immer höher hob sich sein Haupt, immer strenger verzogen sich seine Lippen, und – er schwieg. Schwieg wartend, wartete schweigend, aber der Sturm legte sich nicht.
– Endlich streckte er den Arm aus … Zum Halbgott verklärt stand er da, frei von jedem Zug nach Irdischem; auf seiner Brust erlosch ein Stern, mit einer Gebärde, bei der die letzte Spur von Geheimrätlichkeit entwich, wies er den Bedrängern die Pforte.
»Ich staune,« bemerkte Jupiter, »warum hast du sie weggeschickt, ohne ihnen etwas von deinen aufgehäuften Geistesschätzen gespendet zu haben?«
»O du Bester und Höchster,« lautete die Antwort, »ahnt dir, was sie wollten? Die einen Autographen, die andern wünschten mich zu interviewen, noch andre erkundigten sich, ob mein Verhältnis zu Charlotte von Stein platonisch gewesen; einige schleppten einen ansehnlichen Trichter herbei und verlangten, daß ich meinen Erlkönig hineinsprechen möge.«
»Die meisten werden aber doch nach den Werken deiner olympischen Periode gefragt haben.«
»Nein. Die meisten wollten mir die ihren vorlesen.«
Ein zwölfjähriges Bübchen des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts, das sehr klug war, schon eine Geliebte und eine Glatze hatte, stöberte gern im Trödel auf dem Speicher. Eines Tages fand es dort die halb verwitterten Reste eines Buches, überflog ihren Inhalt, stutzte plötzlich – begann nachzusinnen. Diese Beschäftigung setzte es eine Weile fort und begab sich dann zu seinem Vater.
»Da bin ich,« sprach es, »auf ein seltsam fremdes Wort gestoßen, habe bis zur Erschöpfung darüber spekuliert, aber dunkel blieb mir seine Bedeutung.«
»Wie lautet es?« fragte der Vater.
Das müde Knäblein buchstabierte mit leise hinfließendem Tone: »Rit–ter–lich–keit.«
»Ritterlichkeit?« Mählich ließ der Vater den mageren, blassen Zeigefinger der überdamenhaft schmalen Hand zur neurasthenischen Stirn emporschweben. »Ritterlichkeit?« wiederholte er visionär; »mir ist, als hätte ich deinen Großvater dereinst etwas ähnlich Klingendes aussprechen gehört. Warte – ich will nachschlagen – in einem alten Wörterbuch.«
Er kam müde von einer weiten Wanderung zurück und stieg langsam den waldigen Bergpfad zum Felsenkegel empor, den sein altertümliches Schloß krönte. Ruhig und schwer lagerten im Tal die weißlichen Nebel, mit verräterischer Eile schwebte die Dunkelheit heran und umfing die Stämme und die Wipfel der Bäume.
Als dem einsam Schreitenden aus einem der Türme seines Hauses helle Lichter entgegenblinkten, erschien ihr Glanz ihm lieblich wie Sternenschimmer.
Die Gartenmauer entlang ging er eine Weile tastend bis zur kleinen Pforte, die sich nur einem bestimmten Drucke der kundigen Hand öffnete.
Im Augenblick, in dem er sie berühren wollte, hatte sie sich wie von selbst leise aufgetan, und bereit, mit ihm zugleich einzutreten, stand an seiner Seite eine schattenhafte Gestalt. Ihre Umrisse verschwammen in der grauen Dämmerung, eine Schleiermaske bedeckte ihr Gesicht.
Angewidert wandte er sich ab und schwieg und fragte nicht: Wer bist du? Was willst du von mir? – Kein menschliches Ohr würde ihre Antwort vernehmen.
Ihm graute auch nicht, es wunderte ihn kaum, daß die Körperlose ihm folgte.
Plötzlich aufgeschossen und dennoch unerschütterlich, frei von Furcht und Schauder, aber traurig wie das Sterben des Gottlosen, durchdrang ihn die Überzeugung: Wo die einkehrt, da ist ihr die Heimstätte bereitet. Sie ist gekommen, um nie mehr von mir zu weichen. An meinem Tische wird sie sitzen, an meinem Lager wird sie stehen, auftauchen wird sie vor mir, wenn ich den Rätseln der Welt und des Lebens nachsinne, ihren Schatten wird sie werfen zwischen mich und jede Daseinsfreude und jedes Erdenglück.
An den Pfeilern des Einganges zum Schloßhof, in eisernen Ringen, staken brennende, schwelende Fackeln. Stoßweise und spielend entriß der Wind ihnen Funkenbüschel und streute sie, kleinen feurigen Blumen gleich, auf das Pflaster.
Diener erwarteten den Herrn, gingen ihm voraus, durch die Halle, über die breite, sanft aufsteigende Treppe, und er wußte, daß ihm, den andern unsichtbar, die Begleiterin folgte.
Er führte sein gewöhnliches Leben fort als Jäger, als Reiter, als Segler, als gastfreier Hausherr, als allenthalben freudig begrüßter Gast.
Dann wieder monatelang als einsamer Denker und Träumer, versunken in die vergessene Weisheit der uralten Foliantenschätze, die er angesammelt hatte.
Immer der selbe erschien er. Niemand sah ihm die geringste Veränderung an. Keiner bemerkte, daß ihm das Herz schwer und daß in seinem Innern das Licht der Heiterkeit erloschen war.
Die stille Begleiterin kam nicht mehr allein. Mit ihr schwebten herbei die Schatten aller seiner Toten. Ein jeder von ihnen erhob einen Vorwurf gegen ihn, einen leisen oder schweren. Zuckende Lippen, tränenumflorte Augen fragten: »Weißt du noch?« – »Besinnst du dich noch?«
Nur eine lächelte ihn selig an – sie, die nie erwog, wie schwer das Unrecht, das er ihr angetan, weil seine Schuld in dem reinen Feuer ihrer Liebe zerschmolz.
Die Zeit verfloß, Jahre um Jahre gingen dahin.
Einmal, auf einer ziel- und planlosen Wanderung, kam er zu einem Kirchlein im Walde, in dessen Nähe sich ein aufgelassener Friedhof befand. Dort war sie einst zur Erde bestattet worden, die ihn am meisten geliebt hatte; eine Flatterrüster bezeichnete die Stelle. Damals eine Gerte bloß, jetzt ein schlanker Baum mit zierlichem Geäst und seidigen Blättern, in dessen Zweigen Singvögel nisteten. Vom Grabe war nichts mehr zu sehen; nur üppiger als auf dem Waldboden ringsum entfaltete sich auf ihm ein reiches Pflanzenleben. Kleinblättriger Efeu, Gräser und Farren drängten ans Licht, in Fülle hervorgestrotzt breitete die wilde Erika mit ihren winzigen Glöckchen einen rosigen Schein über die stille Stätte.
»Sind das Grüße, die dein Staub mir entgegen schickt?« fragte er.
Heiße Tropfen schossen ihm ins Auge, und Erinnerungen an entschwundene Tage stiegen vor ihm auf. Bittere, herbe Erinnerungen an seinen Undank, seine Härte, an schlecht belohnte grenzenlose Hingebung. Nicht einer schönen und süßen Stunde entsann er sich, und ihrer waren doch so manche gewesen. Vergessen alle – nur die andern, die dunkeln, seinem Geiste eingeprägt mit grausamer Deutlichkeit. Ihm war, als öffne eine Wunde sich in seiner Brust und blute – blute … Und was er vermochte, war und besaß, und allen Reichtum des Wissens und jeden Triumph des Erkennens hätte er gegeben, um hinknien zu können vor sie und sagen zu können: Verzeih!
O Gott! – sie sehen, wenn auch nur im Traume! Vor sie hinknien und sagen können: Verzeih! – wenn auch nur im Traume …
Seine stumme Begleiterin indessen glitt immer näher an ihn heran. Und zum ersten Male wendete er sein Haupt nicht ab, senkte er nicht die Augen. Leiddurstig sah er sie an, und sein Blick durchdrang den Schleier auf ihrem Angesicht. Und er staunte, denn nicht wie ein feindliches erschien es ihm, sondern wie das einer Versöhnerin.
Zwei Freunde und Studiengenossen hatten durch eine Reihe von Jahren die selbe wissenschaftliche Richtung verfolgt. Doch kam die Zeit, in der ihre Wege sich trennten und sie sich entgegengesetzten Zielen zuwandten. Mit leidenschaftlichem Bemühen suchte einer dem andern zu beweisen, daß er auf falscher Fährte sei und einer furchtbaren Täuschung entgegen steuere. Jeder Angriff auf einen vermeinten Irrtum des Freundes wirkte wie ein Hammerschlag, der die bestehende Überzeugung noch mehr befestigte. Unerschütterlich war die eines jeden der beiden; und als sie es endlich einsahen, gaben sie den Kampf auf.
Ohne ausgesprochenen Vorsatz, gleichsam von selbst, fand ein stillschweigendes Übereinkommen zwischen ihnen statt. Sie wollten Fragen, die für sie ewig Streitfragen bleiben mußten, nicht mehr berühren. Sie wollten durch rücksichtsvolles Schweigen ihre Achtung – nicht für die fremde Überzeugung, sondern für den, der sie hegte, bekunden.
Sie verkehrten miteinander scheinbar in alter Herzlichkeit, sprachen lebhaft von Dingen, die in zweiter Reihe ihres Interesses standen, aber von dem, was ihnen das Teuerste und Wichtigste war und die Achse bildete, um die ihr ganzes Leben sich drehte – kein Wort.
Große gegenseitige Hochachtung belohnte diese Rücksicht, wenn sich auch manchmal ganz leise in tiefster Seele die Empfindung regte, daß sie eine beschämende Komödie spielten.
Die Hochachtung war ja noch da, war wie in Erz begründet, erhob sich zwischen ihnen, eine edle Schutzwehr, an der nur leider das Vertrauen und die Liebe so lang anprallten, bis sie sich endlich abstumpften.
Es war einmal ein reicher Mann, der am Wohltun eine so große Freude fand, daß er ihretwegen jede andre Freude, ja sogar jedes eigene Behagen aufgab. Er wohnte in einer Dachstube, nährte und kleidete sich ärmlich und galt infolgedessen bei allen seinen Bekannten für einen abscheulichen Geizhals. Obwohl er das wußte, brachte er es doch nicht über sich, irgend jemand einen Einblick in seine Vermögensverwaltung zu gestatten. Sich selbst gab er genaue Rechenschaft in einem Buche, das er sorgfältig führte und das er denjenigen zu hinterlassen gedachte, deren Tadel ihn am meisten verdrossen hatte.
Er wurde alt, und am Ende seiner Tage und seines Reichtums blieb das Buch sein Glück, seine Erquickung. Wenn er darin las, stiegen beseligende Erinnerungen vor ihm empor; er sah Verzweifelte wieder hoffen, sah gebrochene Menschen sich aufrichten an seiner Hand. Und die toten Buchstaben belebten sich, und aus den stummen Blättern klang es wie lautes Jauchzen heraus, wie hold geflüsterter Segen.
Die Sterbestunde des Greises kam, zum letzten Male griff er nach seinem Buche und dachte: Ich gehe, aber du bleibst und wirst von mir erzählen. –
Da durchblitzte ihn plötzlich die Frage: und was? – Daß mir unrecht geschehen … den einen gleichgültig, den andern ein ewiger Stachel? Wem zum Nutzen? Keinem. Nur mir zum Nachruhm …
Beschämt senkte er sein Haupt. Angesichts der großen Stunde wie klein erschien ihm, womit er sich vertröstet hatte, viele Jahre hindurch! Wie klein, wie eitel!
Und nun verbrannte er das Buch und freute sich, daß seine erlahmenden Hände noch die Kraft dazu fanden; und mit den verglimmenden Blättern zugleich erloschen seine Augen.
Es gab einmal in Griechenland eine Zeit außerordentlicher Fruchtbarkeit. Eine Menge Kinder kam täglich zur Welt, und Juno, die Geburtshelferin, wußte vor Arbeit nicht ein noch aus. Müde und abgehetzt kam sie zu Jupiter und sprach:
»Zwanzigtausend Kinder sind in Aussicht; hast du Vorrat an Seelen?«
»Einigen, allerdings,« erwiderte der Beherrscher des Olymps, »aber für zwanzigtausend Menschlein reicht er nicht aus.«
»Für wie viele denn?«
»Nun – zur Not für zehntausend.«
»Das ist ja viel zu wenig! Was fangen wir nun an um Jovis willen?«
»Wir geben jedem nur eine halbe Seele; man muß sich zu helfen wissen.«
Bald darauf liefen zwanzigtausend Leute mit halben Seelen herum, und sie waren die Vergnügtesten in ganz Griechenland und wurden um ihren guten Humor viel beneidet, am meisten von den Seelenvollen.
Im Traume sah ich mich in eine geheimnisvolle, eine unabsehbare Werkstätte versetzt. Um mich her war ein Keimen und Werden, eine leise Ruhelosigkeit. Schatten glitten, Dämpfe qualmten, formlose Gebilde ballten sich langsam, träge, aber ohne Stillstand. Das kroch und schwebte, schlich und sickerte und platzte. Und ein Großartiges, Unnennbares, schien Ausgangspunkt dieser Regsamkeit zu sein.
Es ragte aus den Tiefen, es durchdrang die Höhen. Ich glaubte ein Haupt zu entdecken – war das ein Haupt? Und geschlossene Augen – waren das Augen? Und eine gebieterische Gebärde glaubte ich wahrzunehmen. Sogleich entstand eine heftige Bewegung in allen Teilchen des Unermeßlichen. Durch Fernen, die mein Blick, wunderbar geschärft, durchflog, sah ich Menschen im Kampfe. Kaum dem Kindesalter entwachsene Jünglinge, Männer, Greise, Frauen. Sie rangen in blutigem Schweiß, bauten, meißelten, musizierten und schrieben. Auf ihren Stirnen thronte der Hochmut der Titanen. Ehrwürdige Trümmer und die Kuppeln und Zinnen hehrer Tempel und Paläste, reich an Kunstwerken und Büchereien, bildeten den Boden, auf dem sie standen; aber verächtlich blickten sie über ihn und über die Schätze, die er ihnen darbot, hinweg. Buntes, Blendendes, Unverständliches schufen sie in fieberhafter Tätigkeit. Einige übergossen gediegenes Gold mit ätzenden Giften, bemüht, es in Flittergold umzuwerten. Viele zerrten geheime Häßlichkeiten ans Licht, traten das Schöne und Reine mit Füßen und trugen aus dem Kampfe mit den unüberwindlichen Mächten unheilbare Wunden davon. Zerfleischt und verstümmelt, ruhten sie nicht; schon überwunden, hielten sie sich für Sieger und stimmten sterbend Triumphgesänge an.
Ein herzzerreißendes Mitleid ergriff mich, und ich schrie zu ihr, die mir die Ursache alles Regens schien: »Welch einen Kampf hast du mit einem Wink entfacht! Ist einer unter diesen Ringenden, der nicht fruchtlos ringt? Einer, dessen in Liebe und Qual geschaffenes Werk leben wird?«
Die blinde, stumme, taube Allmutter verstand meine Frage und ich ihre lautlose Antwort:
»Keiner.«
»Umsonst also triebst du diese Opfer ins Gemetzel, gabst ihnen Kraft, Können und Wollen umsonst?«
»Umsonst ist nichts.«
»Und wer gewinnt durch die ungeheure Vergeudung von Menschenarbeit und Menschenglück? Was wächst hervor aus diesem Totenfeld, auf dem unsägliches Leiden begraben liegt?«
»Eine neue Schattierung auf dem Bilde der Kunst, eine kleine Erweiterung ihres Gebietes.«
Der Schöpfer sprach: »Die Rose werde!« Und eine herrliche Rose entfaltete sich auf sein Geheiß.
Der Schöpfer sprach: »Die Rose werde!« Und ein Keimchen entstand. Es schwoll und trieb, es machte ungezählte Wandlungen durch, und nach unermeßlichen Zeiträumen entfaltete sich eine herrliche Rose.
Ein Sklave in Damaskus hatte zeitlebens den heißen Wunsch, nach Mekka zu pilgern. Als er alt und gebrechlich geworden war, schenkte sein Herr ihm die Freiheit. Sogleich griff er nach seinem Stabe und wollte die Wanderung antreten. Aber nach den ersten Schritten schon brach er zusammen, vom Hauch des Todes angeweht. Mitleidige beklagten sein trauriges Schicksal; doch er verwies es ihnen mit den Worten:
»Beneidet mich vielmehr; ich sterbe auf dem Wege nach dem Ziel meiner Sehnsucht.«
Ein Jüngling trat in eine Gesellschaft schweigender Weisen. Er sah ihnen in die ehrwürdigen Gesichter und sprach dann laut die Gedanken eines jeden von ihnen aus.
Sie staunten und fragten: »Wer bist du, du Schauender?«
Der Jüngling antwortete: »Ich bin ein Poet.«
»Das Herz ist ein hohler, empfindungsloser Muskel, der im tierischen Organismus die Funktionen einer Pumpe versieht.«
Die Tochter lernt das in der Schule. »Entsetzlich!« meint die Mutter. »Wie soll ein Mädchen sich noch bemühen, einen empfindungslosen Muskel zu erobern?«
Es ist ganz merkwürdig, wodurch manche Menschen zur Berühmtheit gelangen. Handlungen, von denen die Nachwelt nicht die geringste Notiz zu nehmen pflegt, haben, in einer gewissen Stunde, an einem bestimmten Orte vollzogen, ihrem Urheber einen unvergänglichen Namen gemacht.
Da ist zum Beispiel Jenny Geddes, die fromme Puritanerin, die, von protestantischem Eifer erfüllt, im Jahre 1637 in der Hochkirche von Edinburg dem im Ornate zelebrierenden Bischof ihren Faltstuhl an den Kopf warf. Nun frage ich, wie viel Leute haben nicht schon in einem Augenblick der Aufregung einem Nebenmenschen einen Stuhl an den Kopf geworfen, ohne dadurch etwas andres zu werden als straffällig. Jenny Geddes Faltstühlchen indessen schwirrte durch das Gotteshaus, und »Kirche und Staat gerieten in Aufruhr, Adel, Geistlichkeit und Bürger traten zusammen, faßten den Covenant ab« … Die Glorious Revolution hatte begonnen, und Jenny Geddes rasche Tat sicherte ihrer Urheberin ein Anrecht auf Unsterblichkeit.
Dem Faltstuhl, den sie mit sicherer Hand geschleudert, entschwebten die Habeas-Corpus-Akte, freie Parlamente, die Selbstherrlichkeit eines Volkes.
Die Ehrlichkeit hatte das Tun und Treiben der Liebenswürdigkeit eine Zeitlang beobachtet.
»Höre,« sprach sie zu ihr, »ich habe etwas recht mißfällig bemerkt – du versündigst dich alle Augenblicke an mir.«
Die Liebenswürdigkeit brach sogleich in Tränen aus und schluchzte: »O weh, das ist ja mein Unrecht oder vielmehr mein Unglück! So klar ich meinen Fehler einsehe, so tief meine Beschämung über ihn ist, ob ich will oder nicht – ich muß ihn begehen, ich muß mich betätigen an jedem, der mir in die Nähe kommt. Meine eigenste Natur zwingt mich dazu.«
»Du folgst ihr wieder, indem du das eingestehst,« versetzte die Ehrlichkeit; »und wer dürfte leugnen, daß sie eine nette Natur ist? Trotzdem kann ich dich den Tugenden absolut nicht ebenbürtig nennen; zu dem Rang erhebe nur ich. Du bist eben eine angenehme Eigenschaft.«
Allerlei Tugenden und Untugenden, allerlei gute und üble Eigenschaften hatten sich versammelt, vertrugen sich, verkehrten friedlich miteinander. Nur die Dummheit verstand keinen einzigen Spaß, fühlte sich beleidigt bei jedem noch so unabsichtlich gesprochenen Scherzwort, hielt sich abseits und schmollte.
Die Nachsicht und das Wohlwollen traten zu ihr: »Komm,« sagten sie, »mische dich in unsre ohnehin gemischte Gesellschaft. Du brauchst keine Beleidigung zu fürchten; wir haben Mitleid mit dir und nehmen Rücksicht auf deine Hilflosigkeit.«
Da ließ ein häßliches Kichern sich hören – die Bosheit hatte es hervorgebracht und sprach: »Strengen Sie sich nicht an, meine Herrschaften; meine Freundin bedarf weder Ihres Mitleids, noch Ihrer Rücksichtnahme. Wenn nur ich ihr meine Stütze leihe, ist sie mächtiger als Ihr alle zusammen!«
Die Herzensgüte begegnete eines Tages einem Wesen, das ihr auf den ersten Blick zum Verwechseln ähnlich sah.
»Wer bist du?« fragte sie, »wer geht einher in meiner Gestalt?«
Das Wesen verneigte sich tief und erwiderte:
»Verzeih, ich bin's – ich bin die Höflichkeit.«
Ein großer Sünder lag im Sterben.
»Bete! Bereue!« flehten die Seinen ihn an; »in wenigen Augenblicken wirst du vor dem ewigen Richter stehen.«
»Den Allwissenden fürchte ich nicht,« sprach der Sünder und starb in Frieden.
Es gibt einen Engel in den himmlischen Scharen, der still in sich versunken steht, wenn alle andern jubeln und lobpreisen. Nie stimmt er ein in ihren jauchzenden Chor, nie erhellt ein Lächeln sein schönheitsverklärtes Angesicht. Die seligen Geister ehren sein Schweigen und neigen sich seiner Trauer. Denn er ist der Engel, der die unausgesprochenen Leiden der Menschen in seinem Herzen sammelt, sie auszuschütten vor Gottes Thron.
Als Prometheus nach langer Qual entfesselt vor den Beherrscher der Welten trat, nahm dieser ihn gnädig auf und hieß ihn fortan mit den Göttern hausen. Weil aber der Eid, den Zeus einst geschworen: Ewig solle der Titane an den Kaukasus geschmiedet bleiben, nicht gebrochen werden durfte, mußte Prometheus einen Fingerreif tragen, in welchem ein Steinchen aus dem Felsen gefaßt war, an dem er sein Märtyrertum erduldet hatte.
Lächelnd nahm er die leichte Bürde hin, – kein Leiden mehr, nur noch des Leidens Symbol. Aber schwerer von Tag zu Tag wurde die anfangs kaum spürbare Last und drückte endlich so schwer, wie Vulkans eherne Spangen getan.
Prometheus saß im Rate der Götter, und sie lauschten den Sprüchen der Weisheit, die von seinen Lippen kamen. Ehrfurcht und Liebe umgaben ihn; mit den Unsterblichen wohnte er im Reiche der Freiheit, des Lichtes, der Schönheit. Aber ein Blick auf den Ring an seiner Hand, und wieder lag er an den Felsen geschmiedet, und über seinem Haupte rauschte ein Flügelschlag, und er fühlte den Griff der Geierklauen und das grausame Hacken des Geierschnabels in seinem Fleische.
Und auf schrie der Titane zum Weltenbeherrscher: »Ohnmächtiger Gott, der nur begnadigen und nicht entsühnen kann! Die Erinnerung an meine Schmach und Buße spottet deiner Huld!«
»Du Tor! du Tor! weil du mich überschritten hast, verachtest du mich? Ständest du, wo du stehst, wenn ich nicht gewesen wäre?«
Alle Augenblicke wird ein armer Marsyas geschunden – nur nicht von einem Apoll.
Der Hochmut ging eines schönen Tages spazieren. Er trug eine Krone aus Seifenblasen auf dem Kopf, und sie schillerten bunt und prächtig im Sonnenschein. An seinem purpurfarbigen Gewand hingen zahllose vergoldete Glaskugeln; die Plattfüße hatte er in Schuhe mit ungeheuren Hacken gesteckt und schritt auf ihnen so majestätisch einher wie ein hölzerner König in der Puppenkomödie. Sein breites Gesicht strahlte von Selbstzufriedenheit, seine roten, fingerdicken Lippen waren verächtlich verzogen; aus halbgeschlossenen Lidern blickte er um sich, als ob nichts da wäre, der Mühe wert, ihm einen ganzen Blick zu gönnen.
Da kam ein Wesen ihm entgegen, bei dessen Erscheinen er stutzte. Ein Wesen von schlichtem Aussehen; bescheiden sein Gang, seine Haltung, seine Gebärde; schön sein Angesicht, auf dem ein edler Ernst und tiefinnerlichster Frieden sich malten.
»Weiche mir aus!« rief der Hochmut ihm zu.
»Gern,« erwiderte der andre lächelnd und gab Raum.
Dennoch fühlte der Hochmut sich verletzt: »Du lächelst? Wie darfst du es wagen, zu lächeln in meiner Gegenwart?« schnaubte er und warf sich wütend auf den Beleidiger.
Dieser wehrte ihn nicht ab, regte sich nicht einmal, stand nur ruhig und fest. Der Hochmut aber stürzte zur Erde, und alle seine Seifenblasen zerplatzten und alle seine Glaskugeln lagen in Scherben – er war an das Verdienst angerannt.
Ein Maulwurf, gefräßig wie alle, die seines Geschlechtes sind, war auf einem Raubzug begriffen. Er wurde von einem Füchslein beobachtet, das ihn nach einer Weile fragte:
»Warum gehst du immer nur der Nase nach? Mach doch die Augen auf!«
»Werde mich wohl hüten,« erwiderte der Maulwurf, »es könnte mir ja Licht hineinfallen.«
»Berühmt möchte ich sein,« sagst du und weißt nicht, was du redest. Berühmt sein heißt, mit nackten Füßen über ausgestreute Glasscherben dahinschreiten.
Gott schenkte den Menschen einige Leidenschaften und einige Gedanken, und Satan sprach: »Warum so karg?«
Und Gott sprach: »Sie haben genug, um sich bis ans Ende der Welt in jeder Stunde einzubilden, daß sie ganz Neues empfinden und denken.«
Der Blonde und der Braune waren Nachbarn, jeder von ihnen stand an der Spitze eines gutmütigen Hirtenvolkes. Sie tauschten nach Bedarf die Produkte ihrer Ländereien und blieben einander stets hilfreich in Not und Gefahr.
Niemand hätte bestimmen können, welchem von beiden ihr Bündnis mehr Nutzen brachte.
Eines Tages, im Herbste, begab es sich, daß ein heftiger Sturm großen Schaden anrichtete im Walde des Braunen. Viele junge Bäume wurden entwurzelt oder gebrochen, viele alte Bäume verloren mächtige Äste.
Der Herr rief seine Knechte; sie sammelten die dürren Reiser und schichteten sie in Bündel.
Aus dem frischen Holze aber wurden Stöcke zugehauen. Im Frühjahr sollten sie verwendet werden zu einem neuen Zaune für den Hühnerhof der braunen Herrin.
Nun wollte der Zufall, daß ein Diener des Blonden die Stöcke in die Scheune bringen sah. Ihre Anzahl schien seinen etwas blöden Augen ungeheuer. Von Angst ergriffen, lief er heim und sprach zu seinem Gebieter: »Ein Verräter will ich sein, wenn der Nachbar nicht Böses wider uns im Schilde führt!«
Er und andre ängstliche Leute – es waren auch Weise darunter –, schürten so lange das Mißtrauen, das sie ihrem Herrn gegen den Freund eingeflößt hatten, bis jener sich entschloß, zu rüsten gegen die vermeintlich Gerüsteten.
Eine Scheune voll von Stöcken hatte der Braune; der Blonde wollte drei Scheunen voll von Stöcken haben.
Holzknechte wurden in den Wald geschickt. Was lag ihnen an seiner hohen Kultur? Ihnen tat es nicht leid, einen jungen Baum zu fällen, ihm die aufstrebende Krone abzuhauen und die lichtsuchenden Äste und die Zweige mit den atmenden Blättern.
Nach kurzer Zeit war der Wald verwüstet, aber der Blonde hatte viele tausend Stöcke.
Wie es ihm ergangen war, erging es nun seinem ehemaligen Freunde. Die Klugen und die Törichten, die Verwegenen und die Zaghaften im Lande, alle schrien: »Es ist deine Pflicht, Herr, dafür zu sorgen, daß uns der Tag des Kampfes reich an Stöcken finde!«
Und der Braune und der Blonde überboten einander in der Anschaffung von Verteidigungsmitteln und bedachten nicht, daß sie endlich nichts mehr zu verteidigen hatten als Armut und Elend. Weit und breit war kein Baum zu erblicken, die Felder waren unbebaut; nicht Pflug, noch Egge, noch Spaten gab es mehr: Alles war in Stöcke verwandelt.
Es kam so weit, daß die größte Menge des Volkes zu Gott betete: »Laß den Kampf ausbrechen, laß den Feind über uns kommen; wir würden leichter zugrunde gehen unter seinen Stöcken als unter den Qualen des Hungers!« –
Der Blonde und der Braune waren alt und müde geworden, und auch sie sehnten sich im stillen nach dem Tode. Ihre Freude am Leben und Herrschen war abgestorben mit dem Glücke ihrer Untertanen.
Und einmal wieder trieb der Zufall sein Spiel.
Die beiden Nachbarn stiegen zugleich auf einen Berg, der die Grenze zwischen ihren Besitzungen bildete.
Jeder von ihnen dachte: Ich will mein armes, verwüstetes Reich noch einmal überschauen.
Sie kletterten mühsam empor, kamen zugleich auf dem Grate des Berges an, standen plötzlich einander gegenüber und taumelten zurück … Aber nur einen Augenblick. Ihre abwehrend ausgestreckten Hände sanken herab und ließen die Stöcke fallen, auf welche sie sich gestützt hatten.
Die ein halbes Jahrhundert hindurch in Haß verkehrte Liebe trat in ihr altes Recht. Mit schmerzvoller Rührung betrachtete der Freund den Freund aus halb erloschenen Augen. Nicht mehr der Blonde, nicht mehr der Braune! Wie aus einem Munde riefen sie: »O du Weißer!« und lagen Brust an Brust.
Wer zuerst die Arme ausgebreitet, wußten sie ebensowenig, als sie sich besinnen konnten, wer dereinst die ersten Stöcke aufgestellt wider den andern. Sie begriffen nicht, wie das Mißtrauen hatte entstehen können, dem alles zum Opfer gefallen war, was ihr Dasein und das der Ihren lebenswert gemacht hatte.
Eines nur stand ihnen fest: die niederdrückende Überzeugung, daß nichts auf Erden ihnen ersetzen konnte, was die Furcht vor dem Verlust ihrer Erdengüter ihnen geraubt hatte.
»Nein, diese Eintagsfliegen, wie keck die werden!« sagte eine junge Hummel zu ihrer Mutter. »Überall drängen sie sich vor, man sieht und hört nur sie; wir sind wie weggewischt, von uns nimmt niemand Notiz.«
Die Hummelmutter schüttelte ihren dicken Kopf: »Was liegt daran? Sie haben ja nur den einen Tag.«
»Aber nach ihnen kommen neue, immer und immer neue, und den ganzen Sommer hindurch spielen Eintagsfliegen die erste Rolle in der Welt.«
Jetzt lächelte die Hummelmutter: »Und rechnest du das Bewußtsein für nichts, so viele Generationen überlebt zu haben?«
Madame Justine war eine liebe, kleine, alte Französin, die ihr tägliches Brot durch Unterrichtgeben in ihrer Muttersprache erwarb. Ihre Schüler und Schülerinnen vergötterten sie, bezahlten sie aber schlecht, denn die meisten waren selbst unbemittelt.
Einmal kam eine Landsgenossin zu ihr und beschwor sie um Rettung aus dringender Geldverlegenheit.
Justine war rot geworden und fragte ganz befangen: »Wie viel brauchen Sie?«
»Ach, wenn Sie mir fünf Gulden leihen könnten!«
Das war ein erlösendes Wort. Die alte Frau öffnete ihr Portemonnaie und rief freudig: »Fünf Gulden? – warum denn nicht? Ich hab ja sieben!«
Ein großer und guter Mensch wurde zu Grabe getragen. Die Besten des Landes bildeten sein ehrenvolles Geleite, und tiefe Trauer sprach aus dem Angesichte eines jeden von ihnen.
In der Nähe des Sarges aber, jetzt an seiner Seite, jetzt ihm folgend oder ihn umkreisend, schwebte ein grauer Schatten.
Nicht alle sahen ihn, nur wenige, und sein Anblick schnitt denen am tiefsten ins Herz, die den Guten und Großen gekannt hatten wie sich selbst und Rechenschaft geben konnten von jeder Stunde seines reinen Lebens.
Die Trauerfeierlichkeiten waren vorbei, die Teilnehmer traten den Heimweg an.
Einer – der treueste – blieb am Ausgang des Friedhofs zurück und sah noch einmal nach der Ruhestätte des Freundes hinüber.
Der Schatten war nicht von ihr gewichen, er hob und senkte sich, bildete wallende Wolken, nahm abenteuerliche Formen an, schien verweht von einem Lufthauche, ballte sich dann um so dichter zusammen, und der Beobachter wußte:
Er wird nie weichen, nie vergehen, er ist unsterblich und unüberwindlich. So oft die Wahrheit ihre leuchtende Fackel in seine dumpfe Finsternis stieß, erlosch die leuchtende Fackel. Er hat den Glanz eines edlen Daseins getrübt, er wird ein edles Andenken verdunkeln und beschmutzen, er ist ja die ewig neu und ewig wieder aus sich selbst erzeugte Frucht der Niedertracht und heißt – Verleumdung.
In einen mit Kreuzern gefüllten Sack geriet zufällig einmal ein Dukaten. Nachdem er einige Zeit bei ihnen geweilt hatte, sagten sie: »Wir müssen unserm Gastfreunde einen Rang anweisen; laßt uns denn zuvor seinen Wert bestimmen.«
Die Alten, die Patinierten, traten zusammen, berieten lange und brachten es endlich zu dem Vorschlage:
»Der gelbe Bursche ist zwar schwächlich, doch beantragen wir, ihn um seines hellen Klanges und seiner feinen Legierung willen ebensoviel gelten zu lassen wie unsereinen.«
»Von meinesgleichen werde ich höher gehalten,« wagte der Dukaten einzuwenden, und sogleich brachen die neuen, blanken Kreuzer, die schon über den Vorschlag der alten gemurrt hatten, in einen Sturm des Unwillens aus.
»Was geht uns an, wie deinesgleichen dich schätzt,« riefen sie. »Im Kupferlande gilt das Gold ein für allemal – nichts!«
Ein Käferchen hatte nach vielen gescheiterten Versuchen endlich mit großer Mühe und großer Ausdauer die Spitze eines Grashalms erklommen. Nun sonnte es sich auf seiner Höhe, spreizte wonnig die Flügel und war vergnügt bis in den letzten Winkel seiner Käferseele.
Da kam ein Esel des Weges, blieb vor ihm stehen und lachte es aus: »Du meinst wohl Gletscherluft zu atmen auf deiner Grashalmzinne?«
Ein alter Löwe kam ebenfalls vorbei, blieb ebenfalls stehen und betrachtete den kleinen Emporkömmling mit Wohlgefallen: »Heil dir, Käferchen!« sprach er, »du hast das Ziel deines Strebens erreicht; das gelingt nicht jedem Löwen.«
In ein Massengrab, das eben geschlossen werden sollte, wurde ganz zuletzt noch ein schmales Särglein gesenkt, und Leute, die der Arbeit zusahen, fragten: »Wer war der, der so wenig Platz beansprucht in der Mutter Erde?«
»Ja,« antwortete ein Handlanger, »das war der Zeisi, Tagelöhner seines Zeichens, haben ihn aber nirgends behalten. Ist dann herumgezogen mit der Gitarre und hat in den Höfen der Häuser gesungen um ein Stück Brot, um ein Paar Stiefel, sehr oft umsonst.«
Wie der Mann so erzählte, trat eine verhüllte Gestalt heran, warf Blumen auf den schmalen Sarg und blickte lange wehmütig zu ihm nieder.
In ehrfurchtsvoller Scheu wichen die andern zurück; ein überirdisches Wesen erschien sie ihnen. Niemand wagte sie anzureden. Sie selbst aber sprach: »Hier ward ein Poet begraben.«
Eine Stunde später kam, von einer unabsehbaren Menge begleitet, ein prachtvoller Leichenzug auf dem Friedhofe an. Der kostbare Sarg, ganz bedeckt mit Lorbeerkränzen, barg einen gefeierten Schriftsteller. Er wurde in die Gruft gesenkt, und der berühmteste Redner der Stadt weihte dem Dahingeschiedenen einen Nachruf voll dithyrambischen Schwunges.
Plötzlich hielt er inne … Er hatte die Herrliche erblickt, die noch immer an der Ruhestätte der Armen stand.
»Gebt Raum,« rief er ins Gedränge. »Die hohe Göttin, deren Gunst unsern großen Toten beglückte, naht heran, mit uns um ihn zu trauern. Gebt Raum der hohen Göttin!«
Die Anwesenden gehorchten, und sofort öffnete sich für die nächste, die edelste Leidtragende, ein Weg zur Gruft.
Sie betrat ihn nicht – sie schüttelte das Haupt; über ihr schimmerndes Antlitz flog ein Lächeln himmlischer Verachtung, und sie sprach: » Der Tote war mir fremd; ihr habt einen Tagelöhner begraben.«
I.
Im Urwalde tief verborgen befand sich ein großartiger Ameisenbau. Das Völkchen, das ihn bewohnte, war fleißig und weise; es hatte sich im Laufe der Jahrhunderte eine vortreffliche Verfassung und eben solche Gesetze gegeben. Die Wissenschaften wurden in Ehren gehalten, die Künste gepflegt; so blühten sie denn auch und trugen reiche Früchte. Fortwährend entdeckten die Gelehrten ewige Wahrheiten, und die Künstler hörten nicht auf, unsterbliche Werke zu schaffen. »Eine Zivilisation wie die unsre,« sagten die Ameisen, »kann nicht mehr untergehen. Künftige Geschlechter werden das Erbe antreten, es vermehren und im unaufhaltsamen Fortschritt zu einer Vollendung gelangen, von der sogar das ameisliche Ahnungsvermögen sich keinen Begriff machen kann.«
In diesem Hochgefühle schwelgte die Nation, und es begeisterte sie zu immer neuen und edleren Bestrebungen.
Da ereignete es sich, daß eines Tages ein Löwe des Weges kam. Er bemerkte den Ameisenbau nicht und schritt gemächlich mit breiten Tatzen über ihn hinweg. Dabei wedelte er mit dem Schwanze, denn ihm war heiß, und wedelte den ganzen Bau samt seiner Kultur und den ewigen Wahrheiten und den unsterblichen Kunstwerken so gründlich fort, daß keine Spur von ihnen übrig blieb.
II.
»Schau,« sagte ein Kolibri zu seinem Weibchen, das neben ihm auf einer Lianenblüte saß, »da hat ein großer Erdentreter eine Menge kleiner Erdentreter vernichtet.«
Das Weibchen zwitscherte: »Schade! Diese kleinen Klümpchen sind so nett hin und her gerollt um ihren großen Klumpen; es schien fast, als ob sie es wären, die ihn wachsen machten. Ich habe mich manchmal gefragt,« setzte sie nach einer Pause hinzu und bemühte sich, geistreich auszusehen, »ob sie sich nicht am Ende doch absichtlich bewegen und einen Willen und sogar einen Ansatz von Seele haben?«
»Gerade so viel als die Blätter des Baumes. Die rühren sich auch zeitweise; sind deshalb sie die Ursache seines Wachstums?« spöttelte das Männchen. »Nein, geliebte Einfalt, schreibe ihnen nicht zu, was das alleinige Erbteil der ersten unter den geflügelten Lebewesen ist – der Vögel, und ganz besonders der Kolibri, weil sie die Feinsten, die Schönsten sind, und weil die Geschwindigkeit ihres Fluges mit der Geschwindigkeit des Schalles wetteifern kann. Für uns scheint die Sonne, für uns bringt die Scholle, das Wasser, die Luft Nahrung in tausendfältiger Gestalt hervor. Wir sind der Mittelpunkt alles Seienden, vollendete Vögel, angefangene Engel; denn als solche schweben die seligen Geister unsrer Vorfahren um das Nest des höchsten Engels, nach dessen Vorbild wir geschaffen sind, der Himmel und Erde und das Schicksal jedes einzelnen Kolibri in seinen mächtigen Fängen hält.«
Das Weibchen verstand ihn zwar nicht, bewunderte ihn aber doch sehr, beeilte sich auch, ihm recht zu geben, denn sie befanden sich noch in den Flitterwochen.
Die alte Gärtnersfrau steht vor uns und trägt ihren Enkel auf dem Arme. Ein blasses Kindlein mit seltsam vorwurfsvollen Augen und blauen Adern, die man pulsieren sieht, an den Schläfen. Sein Gesichtchen hat etwas Altes, Leidendes. Ihre Tochter ist auch da, ein schönes blondes Weib, jugendstolz, lebensfreudig. Fest an ihre Hüfte schmiegt sich ein etwa sechsjähriger brauner Junge. Er strotzt in Gesundheit und Kraft, seine reichen dunklen Haare wellen und locken sich mit trotziger Anmut, seine prachtvollen Augen sind kohlschwarz, und tief drin in ihnen glüht's wie Feuer.
»Auch Ihr Enkel – der Erstgeborene?« sage ich zur Alten. Sie drückt das weinerliche Geschöpfchen zärtlich an sich und blickt wegwerfend über den braunen Buben hin.
»Ach der! das ist ja das unglückliche Kind der Liebe.«
Die junge Frau lächelt weder beschämt noch frech; es ist ein gar liebliches Lächeln. Der Junge starrt finster zu Boden.
Zu dem Erdgeist Gaeus war das Mondwesen Elanuh zu Besuch gekommen. Sie flogen zusammen durch die herrlichsten Gegenden der Erde, und Elanuh, entzückt von dem Anblick der Wiesen, der Wälder, der Flüsse und Seen, rief aus: »Sie haben einen schönen Wohnplatz, die Menschen; es muß sich gut auf ihm leben lassen.«
»Ja wohl,« erwiderte der Erdgeist mit Stolz, »besonders dann, wenn sie, die atmen in dieser reichen Natur, mit ihrer höchsten Kraft begnadet und fähig sind, das Beste, das es gibt, zu empfinden.«
»Was ist das Beste?« fragte Elanuh.
»Die Liebe«, entgegnete der Erdgeist.
Während ihres Gespräches schwebten sie über den Dächern einer großen Stadt. Auf einem Hügel, das Häusermeer beherrschend, erhob sich ein fürstlicher Palast. Elanuh flog über das vergoldete Gitter, das denselben umringte, ließ sich an einem der Fenster hingleiten und guckte voll Neugier in ein prunkhaft eingerichtetes Schlafgemach.
Da sah er ein Weib auf dem Boden liegen, ein reizvolles Weib, in der Fülle des Lebens. Sie raufte ihr Haar und rang verzweiflungsvoll die Hände vor einem Christusbilde an der Wand und betete:
»Gib es nicht zu, o Herr! Errette mich! Laß mich nicht unterliegen in Schmach. Nimm mich zu dir, ehe ich verderbe! Denn ich verderbe, Herr – ich bin verloren. Ich war eine treue Frau, eine gute Mutter, und bin nun verloren. – Herr! Herr! … Der du für uns geblutet hast, sieh meinen Undank … Laß deine Blitze auf mich niedersinken – ich frevle, indem ich zu dir bete, denn während des Gebetes denk ich nur Sünde … Töte mich, retten kannst du mich nicht mehr!«
Sie zerriß ihre prächtigen Gewänder und raste in Verzweiflung gegen sich selbst.
Elanuh wandte sich ab und sprach zu Gaeus:
»Die Unselige ringt wie in den Krallen eines wilden Tieres. Was ist die Ursache ihrer Leiden?«
Gaeus, etwas verlegen, antwortete: »Die Liebe.«
Er flog weiter mit seinem Gaste, bis dieser vor einer Dachkammer Halt machte, die, trotz der vorgerückten Nachtstunde, noch erleuchtet war. Wieder guckte er durch das Fenster und überblickte einen kleinen Raum, eine Stätte der Armut. Auf einem Bänkchen an der Wand saß ein greises Ehepaar, Schulter an Schulter, und Elanuh hörte die Alten jammern und wehklagen.
»Sie hat uns verlassen, sie hat uns dem Elend preisgegeben. Was bleibt uns noch übrig, als zu sterben, da sie fort ist, unsre Erhalterin, unsre Trösterin, unsre Einzige!«
»Fluch ihm, der unser Kind verleitet hat,« sprach der Greis und hob die geballte, zitternde Faust gegen den Himmel. – Und die Greisin, mit dem Aufblitzen des Wahnsinns in ihren trüben Augen, wiederholte: »Fluch ihm!«
»Komm näher, Gaeus,« sprach Elanuh – »sieh diese Armen und sage mir, welche Macht konnte eine gute Tochter bewegen, ihre Eltern, die hilflosen, – die sterbenden, in solchem Elend zurückzulassen?«
Gaeus senkte das Haupt und murmelte: »Die Liebe.«
Abermals nahmen sie ihren Flug, und plötzlich schoß Elanuh aus seiner Höhe zu einem kleinen, ebenerdigen Hause hinab. Er schmiegte sich an das Fenster einer einfachen, weiß getünchten Stube und erblickte ein liebliches Mädchen, das halb ausgekleidet an seinem Bette lehnte. Mit dem Ausdruck der Todesangst ruhten ihre Augen auf einem jungen Manne, der vor ihr stand, bleich und verstört.
»Geh,« beschwor sie ihn – »der Vater erwacht. – Geh – was willst du von mir?«
»Dich fragen: Ist morgen deine Hochzeit?«
Sie brach in Tränen aus: »Quäle mich nicht, frage nicht, was du weißt.«
»So ist deine Hochzeit,« sprach er knirschend.
Das Mädchen schluchzte: »Du weißt es ja, und wem mein Herz gehört, das weißt du auch.«
Wild und glühend sah er sie an: »Wenn du nicht lügst, einen Kuß denn: – den ersten, den letzten: Ich will's!«
Verstohlen zog er mit der Rechten ein Messer hervor, riß mit dem linken Arm die Widerstrebende an sich, küßte sie und stieß ihr den Stahl in die Brust.
»Alle guten Geister! … Was hat diesen Mann zum Mörder gemacht?« fragte Elanuh.
Gaeus verhüllte sein Antlitz und antwortete: »Die Liebe.«
»Und das ist das Beste, was es auf Erden gibt?« rief sein Gastfreund entsetzt. »Der gnädige Schöpfer steh mir bei. Ich wünsche nichts mehr von Eurem Besten zu sehen. Lebe wohl.«
»Verweile,« bat Gaeus. »Ein unglücklicher Zufall hat uns geführt. Ich zeige dir andre Bilder.«
»Sei bedankt; du vermagst mir keine zu zeigen, welche mich diese vergessen machen könnten.«
Und ehe Gaeus ihn zurückhalten konnte, war Elanuh entflohen nach seiner kühlen Heimat.
In der Hauptstraße einer kleinen, hochkultivierten Stadt gingen dreihundert Schriftsteller und vierhundert Schriftstellerinnen spazieren. Unter ihnen herrschten im Innern wie im Äußern große Verschiedenheiten, sämtlich aber waren sie selbstbewußt.
Plötzlich entstand in ihren Reihen und Gruppen eine Bewegung. Ausrufe wurden laut, alle Hälse streckten sich. Alle Blicke flogen einem Herannahenden zu, der in der Avenue zu den Gartenanlagen erschienen war.
Die Schriftsteller beugten die stolzen Häupter, die Schriftstellerinnen übertrafen im Knicksen die höflichste Japanerin. Herren und Damen machten Spalier.
»Er kommt! Er wird gleich da sein!« lief es von Mund zu Mund.
»Wer?« fragte eine kurzsichtige Lyrikerin ihren Nachbarn, einen Werte umwertenden Novellisten.
Und er, unter rieselnden Schauern, hauchte:
Ein Jüngling hatte ein schönes, treues Liebchen, strebte aber der Gunst einer Göttin nach. Diese wies ihn ab.
»Wie kannst du glauben«, spöttelte sie, »daß ich mich einem Menschen huldreich erweisen werde, dessen Herz ich teilen müßte mit einem irdischen Weibe?«
Da verstieß er seine Geliebte, rief die Göttin wieder an und fragte: »Wirst du mich belohnen für das Opfer, das ich dir gebracht habe?«
»Schon deshalb nicht, weil du Lohn erwartest. Ein Recht auf mich läßt sich nie und durch nichts erwerben.«
»Ich spreche auch nicht von Recht,« versetzte der Jüngling, »ich flehe um deine Gnade.«
Die Göttin ließ ihr heiteres Lachen erschallen: »Behilf dich einstweilen ohne sie. Du hast genug andre Güter; du hast teure Eltern, Geschwister, Freunde, ein schmuckes Heim, Reichtum, Jugend, Gesundheit.«
Nun verschenkte er alles, was er besaß, nahm auf Nimmerwiedersehen Abschied von den Seinen und folgte der Göttin nach – aus weiter, weiter Entfernung.
Weil er nichts andres mehr zu opfern hatte, opferte er ihr den Schlaf seiner Nächte und das Rot seiner Wangen, wachte und sang vor den Altären der Unsterblichen, verkündete ihren Ruhm und rief die Welt zum Zeugen seiner Anbetung und seiner ringenden Qual.
Aber seine Lobpreisungen und seine Klagen blieben ohne Widerhall, denn die Göttin hatte die Lippen, denen sie entströmten, nicht geküßt. Das Alter kam, zehrte an seiner Kraft, bleichte ihm die Locken; seine Sehnsucht blieb jung und heiß, und sie, deren Schrei die Ruhe des Himmels stört, zwang die Unsterbliche einmal wieder zu ihrem treuesten Diener herab.
Er warf sich ihr zu Füßen und flehte:
» Einen freundlichen Blick gewähre mir, ein holdes Lächeln, damit mein Leben nicht ganz verloren sei!«
»Wenn du's verloren, ist es meine Schuld?« fragte sie. »Warum wandelst du auf meinen Spuren? – Wann rief ich dich? – Laß ab von meinem Dienste, unberufener Knecht!«
Zürnend schritt sie hinweg, und er stand auf und folgte ihr.
Ein Steinmetz hatte dem Lysipp durch längere Zeit als Handlanger gedient. Er war von Begeisterung für die Werke des Meisters beseelt, und dieser holte gern die Urteile des schlichten Mannes ein, freute sich seines Lobes, ließ gar oft seine naiven Einwendungen gelten. Ihm war leid, als er das Interesse an seinen Arbeiten bei dem guten Gesellen immer mehr abnehmen sah, als er immer seltener erschien und endlich ganz fortblieb. Von Ungeduld und Sorge ergriffen, machte Lysipp sich eines Morgens auf und ging zu ihm. Er fand ihn im tiefen Schlafe in einer Ecke der Werkstatt. Neben ihm die ausgebrannte Lampe. Offenbar hatte er die Nacht bei der Arbeit durchwacht – Bildhauerarbeit. Welchen Schlages, Ihr, Talent spendende, Ihr, Talent verweigernde Götter!
Er wußte nun, warum ihm die Teilnahme seines guten Gesellen verloren gegangen war.
Der Steinmetz war selbst produktiv geworden.
Es kam einst zu einem ungeheuren, einem echten Titanenkampf. Alle Tugenden und alle Laster rangen miteinander auf Leben und Tod. Furchtbare Wunden klafften, in Strömen floß das Blut. Hinterlist und Tücke hatten die Gerechtigkeit überwältigt und ihr den Arm gelähmt. Zerfleischt von den Zähnen und Klauen des Hasses und der Eifersucht starb die Liebe; die Großmut röchelte unter den würgenden Händen der Habgier. Vielen Tugenden erging es schlecht an dem Tage, aber auch viele Laster meinten den Rest bekommen zu haben.
In der ganzen großen Heerschar blieb nur eine unversehrt; es war eine der Tugenden, es war die Güte.
Mit Steinen beworfen, von den Pfeilen des Undanks durchbohrt, hundertmal niedergezwungen, erhob sie sich immer wieder unverwundbar, unüberwindlich, und trat von neuem in den wütenden Kampf.
Es wurde Abend und Nacht; der Streit blieb unentschieden, die Streiter lagen erschöpft. Die Güte allein wandelte über die Wahlstatt, munter wie ein sprudelnder Quell, lieblich wie das Morgenrot, und labte die Leidenden; und in dem Augenblick ließen sogar ihre Feinde es gelten: die Stärkste bist du!
Der verkörperte Tadel – übrigens ein ehrlicher Bursche – begegnete einem jungen Poeten, erhob sofort seinen Knüttel und bläute den ahnungslos Dahinschreitenden tüchtig durch. Wenn aber der Tadel nichts weniger als ein Höfling war, so war der Poet nichts weniger als ein Weichling. – Jetzt weiß ich, dachte er, wo ich zu treffen bin, und will mir die Lehre zunutze machen.
Er kühlte seine brennenden Striemen an der nächsten frischen Quelle und schritt unverdrossen weiter.
Nach langer Zeit stieß er einmal auf das verkörperte Lob. Das hatte leider seinen unentbehrlichen Halt, den Takt, zu Hause gelassen und ergoß sich so lawinenartig über den Dichter, daß er sein Gleichgewicht verlor. Nicht genug. Immer in der besten Absicht und beeifert, der Welt zu zeigen, mit welcher Berechtigung sein Hymnus ertöne, nahm das Lob ein Seziermesser und öffnete dem Poeten das Herz.
Der Sterbende aber rief: – »O Tadel, mein guter Feind, singe du meinen Grabgesang!«
Fath Ali hatte hundertundfünfzehn Söhne. Hundert waren fein gebildet, fünfzehn waren Lümmel. Da vertraute er die fünfzehn ihren hundert Brüdern zur Erziehung an und verreiste für ein Jahr. Nach seiner Heimkehr freute Fath Ali sich darauf, seine Söhne durchweg als Musterbilder edler Sitten anzutreffen, besuchte sie und fand – hundertundfünfzehn Lümmel.
Vor Jahren lebte in einer großen Handelsstadt ein Mann, dem alles, was er unternahm, gelang, den niemals ein Mißgeschick traf, der von Jugend an bis ins reife Alter nur Freude und Erfolg erlebte und nur Dankbarkeit und Treue erfuhr. Plötzlich verwandelte sich sein Los; er sank ins Elend, er lernte den Undank und die Bosheit kennen, und allem, was er liebte, drohte Gefahr. Ebenso rasch jedoch, wie es sich abgewendet, kam das Glück ihm zurück, ersetzte ihm zehnfach, was er verloren, überschüttete ihn und die, die ihm teuer waren, von neuem mit seinen reichsten Gaben.
»Nun,« fragte jemand, »bist du zufrieden? Du hast es wieder, dein Glück.«
»Ach,« antwortete er, »wo ist meine Zuversicht! Ich habe ein Glück wieder, das mich schon einmal verlassen hat.«
In einer armseligen Hütte kam ein Knäblein zur Welt. Blaß und schmächtig lag es in den Armen seiner Mutter. Diese fühlte sich sterben und jammerte: »Was wird aus meinem hilflosen Kinde werden?«
Da trat ein Engel an ihr Lager: – »Ein Glücklicher!« sprach er, die Hand auf das Haupt des Neugeborenen legend.
»Willst du ihn groß und geehrt machen?« rief die Mutter aufleuchtenden Blickes. »Willst du ihn schmücken mit Schönheit ohne Makel, mit Weisheit ohne Fehl? Willst du ihm den Genuß der Reichtümer dieser Erde schenken, ungetrübt durch die Angriffe der Mißgunst und des Neides?«
Der Engel erwiderte: »Das kann ich nicht; dem Los der Sterblichen kann ich ihn nicht entziehen; wie alle seine Brüder muß er beides erfahren – Gutes und Böses. Aber einen Segen spreche ich über ihn bei seinem Eintritt ins Leben. Er soll kein blind vertrauender Tor und dennoch ohne Gedächtnis für das Böse sein, das die Menschen ihm antun werden. Die Erinnerung an das Gute jedoch, das er sie vollbringen sehen und das er selbst durch sie genießen wird, soll sich unauslöschlich in seine Seele prägen. Stirb in Frieden, du hast einen Glücklichen geboren.«
Alles verläßt uns im Alter, die Treue des Gedächtnisses, die Schärfe des Verstandes, die Fähigkeit des Fleißes, zuletzt versiegt sogar der Quell unsres guten, braven Talents. Nur eines bleibt dem Begnadeten, steht noch vor seinem brechenden Auge – die schöne Illusion.
Mir träumte, ich hätte das vollkommene Luftschiff erfunden und sei mit ihm an eine so ferne Stelle im Weltraum gelangt, daß erst jetzt Bilder von Ereignissen zu ihr drangen, die sich vor tausend und abertausend Jahren auf unsrer Erde abgespielt hatten.
Ein überraschender Anblick stellte sich im Äther mir dar. Ich sah eine große Menge brauner, schlanker Menschen mit der Ausführung eines riesigen Bauwerks beschäftigt. Sie projizierten, visierten, gruben, hämmerten und sägten an ungeheuren Blöcken, hieben gewaltige Stufen zu. In der Höhe über ihnen schwärmten Flieger, die ich anfangs für vielgestaltige Vögel hielt. Es waren aber keine Vögel, es waren Luftfahrzeuge der verschiedensten Art nach allen Systemen, die wir kennen, erbaut, aber jedes zur höchsten Vollkommenheit ausgebildet. Sie kamen von überall daher, mit dem Winde, gegen den Wind, mit rasender Eile herabgewirbelt, nahe dem Boden sachte hingleitend. Sie kamen, schwer beladen mit Wüstensand, mit Ziegeln und Nilschlamm, mit Quadern und auch mit Melonen, Datteln, Bananen, Granatäpfeln, köstlichen Früchten der sonnengeliebten, sonnengeküßten Tropen. Ein Ewigkeits-, ein Pyramidenbau war's, der sich mir darstellte, und die beschwingten Helfer nahmen den armen Fronern die schwerste Arbeit ab und brachten ihnen Nahrung und Erquickung. O die herrlichen Wohltäter, edle Erzeugnisse des schaffenden Menschengeistes; damals schon standen sie in Übung und Gebrauch und waren mit einer uralten Kultur vom Erdboden verschwunden.
Mir aber, mir war es gegeben worden, sie zu neuem, unermeßlich erhöhtem Leben zu erwecken. Mit jubelvoller Dankbarkeit pries ich mein Geschick und hatte im Traume den wonnigen Traum von einer in heller Blüte der Wohlfahrt stehenden Welt. Durch meine Flieger – sie wurden Legion – stieg der Verkehr zu fabelhafter Höhe, dem Handel und Wandel die Pfade bereitend. Hungersnot kannte man nur noch dem Namen nach; trat Mißwuchs in einem Lande ein, stellte ein andres, wenn auch auf der jenseitigen Hemisphäre gelegen, unverweilt Lebensmittel in Fülle zur Verfügung, sehr froh, Absatz für seine reiche Ernte zu finden. Der Wohlstand wuchs und mit ihm die Gesittung. Die wilde Habgier erlosch; leicht wird ein guter Gönner, wer nicht selbst allzu bitter entbehrt. Verleumdung, tendenziöse Lobpreisungen beeinflußten das Urteil eines Volkes über das andre nicht mehr; dieses Urteil bildete sich aus eigener Anschauung, eigener Erfahrung. Aus dem Verständnis erwuchs die Gerechtigkeit, die, was gilt, auch gelten läßt; ein Band von Geist zu Geist bildete sich, die Kunst der einen erweckte die Bewunderung der andern, und ihre Wissenschaft wurde ihnen nutzbringend und ehrwürdig. Trennende Grenzen fielen, es gab keine Fremde mehr, alle Menschen hatten nur eine mit gleich heißer Liebe gehegte Heimat – die Erde.
Wohltäter, Erlöser aus materieller Not waren die Flieger einem alten Volke gewesen – was sie einem fortgeschrittenen Zeitalter werden konnten, ermißt die Phantasie eines Sterblichen nicht.
Von einem Wonnerausch erfaßt, ein glückseliger Glückbringer, flog ich pfeilgerade dem Erdball zu und nahm die Richtung nach einer Werkstätte, in der emsige Erfinder mit der Herstellung von Flugmaschinen beschäftigt waren. Eine Weile beobachtete ich ihr Treiben, und ein großes Mitleid erfaßte mich. Ich sah ihr rastloses Mühen und seine Erfolglosigkeit, die Gefahren, denen sie sich tollkühn aussetzten, die Enttäuschungen, die ihnen bevorstanden …
Kinder! Kinder! wollte ich ihnen zurufen und ihnen die Lösung des großen Rätsels darlegen. – Da begannen sie zu sprechen, sich zu beraten, und ich erschrak, ich zögerte – und schwieg.
Worauf sannen diese Erfinder? Was war das Ziel ihrer Bestrebungen? … Kriegszwecken sollten ihre Flieger dienen, Mordwerkzeuge gedachten sie herzustellen. Sie hatten nicht genug an ihren weittragenden Geschützen, die, meisterlich gehandhabt, die Reihen der Gegner niedermähen wie Gras, wie reifes Korn – aus den Wolken wollten sie kommen, als Feuerhagel herunter prasseln auf Menschenbrüder, auf unsre geliebte Heimat: Erde.
»Lebendiger Gott, laß Diese die Lösung nicht finden, Diese nicht!« schrie ich auf und erwachte.
Ein Gottesleugner starb. Drüben im Jenseits traf er zu seiner entsetzensvollen Überraschung den, dessen Spur ihm auf Erden unfindbar geschienen, den Schöpfer, den Erhalter, den Urquell alles Lebens.
Da warf er sich auf sein Angesicht nieder und rief: »O Herr, du bist, und ich blinder Wurm habe dein Dasein verneint. Nun richte und verdamme mich!«
Aber unendlich mild und gnädig neigte sich ihm der Herr. »Sei getrost,« sprach er. »Du hast deinen Nächsten geliebt und ihn gelten lassen; du hast deine eigene Überzeugung nicht für die allein richtige gehalten und die nicht gehaßt, verachtet, verleumdet, die sie nicht teilten. Ob ein armes Menschlein wie du an mich glaubt oder nicht, trübt das meines Namens Glanz? Erfülle ich darum weniger das All? – Die aber, die ohne Güte und Duldung sind, denen die Liebe fehlt und die sich doch berühmen, in meinem Dienst und zu meiner Ehre zu handeln, die freveln, die versündigen sich an meiner Majestät, sie werde ich zur Rechenschaft ziehen. Dich, du Suchender, du Irrender, nehme ich auf in mein Himmelreich.«
König Ahmed hatte zwei wißbegierige Söhne: Behmed und Cehmed.
Und der König schenkte seinem Erstgeborenen, Behmed, tausend gute Bücher und seinem Zweitgeborenen, Cehmed, ein gutes Buch.
Und die wißbegierigen Söhne lasen in einem fort.
Und Cehmed wurde weise und Behmed wurde dumm.
Zwei reisende Pygmäen erfuhren zufällig, daß ein großes Etwas, an dem sie vorbei gekommen waren, ein Riese gewesen sei. Nach Hause zurückgekehrt, erzählten sie von diesem Erlebnis und wurden mit Fragen bestürmt.
»Einem Riesen seid ihr begegnet – das ist ja ungeheuer merkwürdig! Wie sieht er denn aus, so ein Riese? Wie ist er denn?«
Die Kleinen nahmen etwas wegwerfende Mienen an und sagten: »Wie soll er sein? – staubig ist er.«
Sie hatten nur den Rand seiner Stiefelsohlen gesehen.
O, er war ein großer Mensch! Ein siegreiches Genie, eine gewaltige Natur. Ein Adler an Schwung, ein Löwe an Mut, ein Elefant an Weisheit, und in ihm grunzte auch ein kleines Schwein.
Nach dem Tode des Lykurgus erfuhren seine Sklaven, daß sie im Dienst eines berühmten Mannes gestanden hatten.
Als sie darüber staunten, fragte man: Seid ihr denn stumpfsinnig? Ihr habt ja mit ihm verkehrt. Und erfahren müßt ihr doch haben, daß der pythische Apoll sich unfähig erklärte, einen Ausspruch über den großen Gesetzgeber zu tun, weil er nicht wisse, ob er ihn zu den Menschen oder zu den Göttern zählen solle.
Nein, davon wußten sie nichts, vielleicht auch war es ihnen entschwunden. Um so besser hatten sie sich gemerkt, daß ihr Herr einmal von der Menge mit Steinen beworfen wurde.
Ich hatte einen alten Freund. Er war ein großer Schauspieler. Wir wohnten nicht in der selben Stadt, doch besuchte ich ihn von Zeit zu Zeit. Beim Wiedersehen begrüßte er mich jedesmal mit einem Jubelschrei und stürzte mir mit ausgebreiteten Armen entgegen.
Vor dem Scheiden gab es dann schmerzvoll verzogene Mundwinkel, Kummerfalten die Wangen entlang, eine verdüsterte Stirn, trauerbeseelte Händedrücke.
Eines Tages kam es anders.
Mein Freund war bei meinem Abschiedsbesuch ungewöhnlich heiter und lebhaft, und als ich aufstand und sagte: »Nun lebe wohl, in einem halben Jahre bin ich wieder da,« erhob auch er sich rasch.
»Gut also, gut,« sprach er hastig, »in einem halben Jahre. Wort halten. Adieu, adieu. Ich kann, weißt du, das Abschiednehmen nicht mehr leiden.«
Seine Stimme klang rauh und gepreßt, er sah an mir vorbei, während er mich zur Wohnungstür geleitete. Wortlos schloß er sie hinter mir.
Ich aber wußte nun, daß ich ihm lieb geworden war im Laufe der langen Jahre.
Der Glaube und die Liebe waren einst ein Paar und führten die glücklichste Ehe. Eines Tages sprach der Glaube: »Ich muß wandern, ich muß mich über die Erde verbreiten,« und die Liebe bat: »Nimm mich mit.« Er aber erwiderte: »Das kann nicht sein. Ohne dich bin ich stärker; allein ist der Held.«
Er ging und verirrte sich unterweges in Nacht und Finsternis, und als er heimkam, erkannte die Liebe ihn kaum wieder, so sehr hatte er sich verändert – auch gegen sie. Sie hatte ihre Macht über ihn verloren.
Seitdem wendet er sich gar oft von ihr ab. Finden sie sich flüchtig zusammen, geschieht es nur, um sich bald wieder zu trennen.
Ihr Bund war Segen, ihre Uneinigkeit ist Fluch, und die Menschenkinder fühlen ihn schwer.
(Nicht erfunden, nur nacherzählt.)
Nach den heiligen Stätten von Kasan wallten Jünglinge, Männer, Greise im langen Pilgerzug. Betend und singend wanderten sie über Unland und graue Steppen und gelangten zum hochberühmten Rätselsteine. Halb schon in den Boden versunken lag der mächtige Würfel; wuchernde Flechten umschleierten ihn. Zerstört durch die kleinen Kräfte der zu Eis gefrorenen Regentropfen waren einzelne Buchstaben der Inschrift:
»Hebe mich, und du wirst das Geheimnis wissen.«
Hunderte und Tausende hatten hier geweilt, gelesen, gesonnen, und waren weitergezogen, denn ihnen graute. Die Jünglinge aber, die Männer dieser Pilgerschar sprachen: »Wir ziehen nicht vorbei, wir wollen das Geheimnis wissen.«
Und sie mühten sich, gruben und harkten zwei Tage und zwei Nächte lang. Die Erde trank ihren Schweiß und das Blut ihrer zerschundenen Hände. Am Morgen des dritten Tages hoben und wendeten sie den Block und fanden in seine untere Fläche eingegraben – eine zweite Inschrift, schwer zu entziffern, seltsam. Schweigend starrten sie einander an. Einer der Greise trat hinzu. Er las:
»Was sucht ihr? – Es ist nichts.«
Da befahl er: »Verschüttet den Stein!«
Die Reichen sitzen an der Tafel und schmausen, und es ist so verschwenderisch angerichtet worden, daß die Schüsseln kaum halb geleert in die Küche zurückgebracht werden. Die Dienerschaft tut sich gütlich an diesen splendiden Resten, und was die Gäste auf den Tellern übrig ließen, wird ins Spülfaß geworfen.
Eine arme Frau, für den Tag ausgenommen, sagte: »Ich bitte euch, laßt mir diese Abfälle. Ich habe ein Hündchen zu Hause, das oft Hunger leidet; laßt mir diese Abfälle für mein Hündchen.«
»Mit Vergnügen,« sagten die Leute und schoben ihr die Teller zu, und bald war ihr Korb mit den mannigfaltigsten Überbleibseln gefüllt.
Als sie nach Hause kam, saßen ihre zwei kleinen Kinder auf der Türschwelle und warteten. Die arme Frau hatte sich geschämt, für ihre Kinder Brocken zu erbitten, die bestimmt waren, im Spülicht zu verfaulen.
Nun leerte sie den Inhalt ihres Korbes in eine Schüssel und setzte sie den Kindern vor, und die hielten eine Mahlzeit wie noch nie in ihrem Leben.
Aber was schlich da heran und war nur Haut und Knochen? – Das kurzhaarige, schwarze Hündchen des Nachbarn. Es setzte sich vor die Kinder hin und eröffnete das Gespräch mit einem messerscharfen Winseln, leckte sich emsig die Nase mit der langen, fleischfarbigen Zunge, lächelte mit dem halben Gesicht und richtete auf die Kinder seine gierigen Bettleraugen.
Ein abgenagter Knochen nach dem andern flog ihm zu, und es zermalmte sie mit seinen starken, gesunden Zähnen, und sie schmeckten ihm noch besser, als den Kindern die zusammengelesenen Häppchen, als den Dienern die splendiden Reste, und viel, viel besser als den Gästen an der Tafel die feinsten Leckerbissen.
Wann wirst du endlich heiraten?« sprach ein alter Gänserich zu seinem Sohne. »Es ist wirklich schon die höchste Zeit.«
»Vater,« erwiderte der junge Gänserich, »ich mag keine von unsern Dorfgänsen. Du machst dir keinen Begriff davon, wie sehr ich nicht mag. Unsre Dorfgänse sind entsetzlich, lieber Vater. Beobachte sie nur, wenn sie am Morgen auf die Weide gehen und wenn sie am Abend von der Weide zurückkommen. Ihr Geschnatter würde ich ihnen noch verzeihen, was sollen sie andres tun als schnattern; aber die blödsinnig eingebildeten Gesichter, die sie dazu machen, der ordinäre Hochmut, mit dem sie die dicken, kurzen Hälse strecken und die Flachköpfe heben – pfui, pfui, das alles ist mir widerlich. Nein, lieber Vater, eine unsrer Dorfgänse heirate ich nicht.«
»Eine der unsren nicht? Hast du vielleicht eine anderweitige im Kopfe?«
»Und was für eine denn?«
»Eine Schloßgans. Ich habe sie neulich gesehen, drüben im Park auf dem großen Teich. Mitten unter andern edlen Schwestern schwamm sie schweigend dahin. Ihre Federn waren schneeweiß und hatten einen matten Schimmer, wie manchmal weiße Wolken am Himmel haben, und ihr Hals war lang und biegsam und schmal, und sie bog ihn voll Anmut und trug ihr Haupt mit würdevoller Bescheidenheit – gelassene, majestätische Ruhe lag in jeder Bewegung dieser herrlichen Gans, die wie ein schönes Märchenbild an mir vorüber glitt. Seitdem ich sie gesehen habe, ist mir der Anblick unsrer Dorfgänse völlig unerträglich geworden, und ich bitte, verschone mich mit der Zumutung, daß ich eine von ihnen heimführen soll.«
Der Vater hatte ihn ausreden lassen, herrschte ihm aber dann grimmig zu:
»So bleibe unvermählt, du Narr, denn darauf, daß die Schloßgans dich erhört, mache dir keine Rechnung. Hüte dich, ihr einen Antrag zu stellen, du würdest schmählich abgewiesen.«
Statt ihn abzuschrecken, stachelte diese Warnung den Verliebten zu einer kühnen Unternehmung auf. Er putzte sich heraus, so schön er konnte, ging hin und erklärte der vermeinten Schloßgans seine Gefühle. Sie verlor keinen Augenblick ihre hoheitsvolle Ruhe und erwiderte, als er geendet hatte:
»Ich weiß nicht, mein Herr, was ich mehr bin, erstaunt oder geschmeichelt. Das aber weiß ich und kann ich Ihnen nicht verhehlen, daß mein Herz bereits an einen Jüngling meines Stammes und meiner Art vergeben ist.«
Im Innersten tödlich verwundet, wackelte der Abgewiesene heim und wurde aus Verzweiflung ein Lebegänserich. Er schloß flüchtige Verbindungen mit schon dreimal gerupften Gänsen wie mit kaum erwachsenen, er war der Schrecken aller Eltern, Vormünder und Gatten, er umwarb die ehrsame Familienmutter wie das unschuldigste ihrer Töchterlein, gewann jede und verachtete alle.
Als seine Sterbestunde kam, versammelte er seine zahlreichen Söhne um sich und sprach zu ihnen die grausamen und sentimentalen Worte:
»Eure Mütter – wer sind sie? wo sind sie?
Ich weiß nichts von ihnen, ich erinnere mich keiner von ihnen.
»Die Einzige, der meine letzten Gedanken gehören, die Einzige, an die mich noch in dieser Stunde das unzerreißbare Band einer ewig lebendigen Erinnerung knüpft, das ist die Eine, die mich verschmäht hat.«
Vom Winde getrieben, flog ein welkes Blatt neben einem Vogel durch die Luft.
»Sieh,« raschelte es triumphierend, »ich kann fliegen wie du.«
»Wenn du fliegen kannst, so mache mir das nach!« antwortete der Vogel, wandte sich und steuerte mit kräftigem Flügel gegen den Wind.
Das Blatt aber wirbelte ohnmächtig dahin, bis sein Träger plötzlich den Atem anhielt und es in ein Bächlein fallen ließ, das klar und munter durch den Wiesengrund jagte. Nun segelte das Blatt auf den Wellen und gluckste den Fischen zu: »Seht mich an, ich kann schwimmen wie ihr!«
Die schweigsamen Fische widersprachen ihm nicht; da blähte es sich auf und meinte: »Das sind anständige Kreaturen, die lassen einen doch gelten.«
Weiter glitt es und merkte nicht, wie es dabei aufquoll und schon faul war durch und durch.
Ein schwer beladenes, mageres Eselchen wurde von einem kräftigen, wohlgenährten Esel eingeholt, der mit seiner kaum spürbaren Last munter einhertrabte. Als dieser sah, wie geduldig der arme Mühselige seine Bürde schleppte, blieb er stehen und ließ auch die eigene ihm auf den Rücken gleiten:
»Du trägst schon so viel,« sagte er, »so trag auch das!«
Ein hohes Ziel, von mächtiger Hand gesteckt, sollte erreicht werden. Der Sieggewohnte, der auch bisher allen andern voraus gewesen war, geriet auf eine schroffe Klippe, von der es kein Empor- und kein Zurückgelangen mehr gab.
»Verstiegen!« riefen schadenfroh die auf breitgetretenen Pfaden weiterklimmenden. Und der Kampfrichter sprach:
»Ja! um sich aber so zu versteigen, muß man ein guter Schreiter sein.«
Frau Gutmütigkeit sitzt dick und breit in ihrem Hause beim Souper, läßt sich's schmecken und lacht vor Vergnügen am eigenen Wohlbefinden. Da klopft es, und eine helle Stimme spricht:
»Frau Gutmütigkeit, laß mich ein, es regnet.«
»Wollen sehen,« sagt Frau Gutmütigkeit. »Wer bist du denn?«
»Ich bin der Herr Verstand.«
»Der Herr Verstand? … So, so? – Ja, dann tut es mir leid. Du bleibst draußen, deine Gesellschaft muß ich meiden. Wie ich höre, entwickelst du dich gern auf meine Kosten.«
Alsbald vernahm man ein Klatschen – der Herr Verstand hatte die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen: »O Sie Vorurteil!« rief er, »Sie altes, eingefleischtes Vorurteil! Erfahren Sie und merken Sie sich! Ich entwickle mich nie auf Kosten von irgend etwas oder von irgend wem. Allem und jedem, dem ich mich zugeselle, gebe ich zu, ich bin immer ein Spender; ich kläre, stärke, bereichere immer. Hören Sie?«
Sie hörte ihn, ließ ihn aber doch nicht ein.
Wir verwundern uns überhaupt zu wenig, unter andrem aber viel zu wenig über die kleinen, unscheinbaren Zufälle, die uns fortwährend begegnen. Geringfügigkeiten, ein Schritt, ein Wort zu wenig oder zu viel. Und doch haben sie einmal eine drohende Gefahr abgewendet, ein Unglück verhütet, haben uns ein andres Mal um ein Glück gebracht, durch dessen rasches Erfassen unser ganzes Leben eine bessere, schönere Richtung erhalten hätte.
Denke, beobachte, vertiefe dich, und du wirst staunen über das dicht verschlungene Gewebe, in dessen Mitte du stehst und dessen labyrinthischen Windungen nachzuspüren dein Scharfsinn nicht scharf genug, dein Blick nicht durchdringend genug ist.
Manchmal nur geschieht's, daß in diesem geheimnisvollen Gespinste ein Faden sichtbar wird, den du vermagst im Auge zu behalten auf seinem ganzen Wege bis ans Ziel. Vor dir liegen alle Möglichkeiten der Folgen deines Tuns, du siehst, was geworden wäre, wenn du damals statt kühn zaghaft, zaghaft statt kühn, hart statt milde, milde statt hart, mißtrauisch statt vertrauensvoll, vertrauensvoll statt mißtrauisch gewesen wärst, wenn du gesprochen statt geschwiegen, geschwiegen statt gesprochen hättest. Und dich ergreift ein tiefes Entsetzen, wohl auch eine bittere Reue oder ein feuriges Dankgefühl, indem sich dir offenbart, was hätte werden können – »wenn du damals …«
Wir leiden oft schwer im Traume und erwachen mit dem Gefühl, ein großes Unglück erfahren zu haben. Aber ein Augenblick des Besinnens, und verschwunden ist der Schmerz, der noch leise in uns nachgezittert hatte. Kaum daß im Laufe des Tages eine unklare Erinnerung an ihn, als fliegender Schatten, vor unserm inneren Auge dahinzieht.
So vielleicht wird in einem zukünftigen, wachen Leben die Erinnerung an unsres Erdendaseins oft qualvollen Traum als fliegender Schatten vor uns auftauchen.
In einem einst mächtigen Reiche erhob sich ein altehrwürdiger, prachtvoller Bau. Seine Fundamente griffen tief in die Erde, seine Kuppel verlor sich in den Wolken. Unabsehbar, unzählig waren seine hochragenden Hallen, die schönsten Werke der Kunst schmückten seine Altäre, vom hohen Chore erklangen herzerhebende Gesänge, seelenbefreiende Musik.
Jahrtausende gingen und kamen, gewaltige Erdbewegungen entstanden und erschütterten den tausendjährigen Bau in seinen Grundfesten. Er wankte, seine Säulen barsten, seine Quadern zerspellten, seine hochragenden Gewölbe stürzten ein. Aber die den Glauben an seine Ewigkeitsdauer von Vätern und Urvätern übernommen hatten, hielten fest an ihm. Sie wanden sich in den Hallen durch Grus und Geröll, sie beteten an den zertrümmerten Altären und empfingen dort Labsal, Trost und Gnadengaben.
Da kam ein Weltweiser, der sprach: »Ihr seid in Gefahr, verschüttet und in Finsternis begraben zu werden,« und trug den ehrwürdigen Bau bis auf den Grund ab.
Die Menschen jedoch gaben nicht zu, daß er abgetragen sei, vor ihren Augen ragte er immer noch in unerloschener Herrlichkeit; sie wallfahrteten nach wie vor zu ihm hin und empfingen nach wie vor Labsal, Trost und Gnadengaben.
Und auf der leeren Stätte steht jetzt wirklich ein Ewigkeitsbau, denn der Glauben hat ihn errichtet.
Ein Gewaltiger hatte auf dem Hauptplatz einer Weltstadt in heißer Arbeit vieler Jahre einen Tempel auferbaut. Seine Wände waren aus Granit, seine Pforten waren aus Erz, seine Kuppel ragte in die Wolken. Die Menschen fuhren und ritten, tanzten und liefen und schritten an ihm vorbei und – sahen ihn nicht. Sie stießen an ihn an, die Fuhrwerke kippten um, die Reiter stürzten von den Pferden, die Tanzenden, Eilenden, Schreitenden schlugen sich an seinen Quadern die Nasen platt, schlugen sich auch die Schädel ein und sahen den Tempel noch immer nicht. Und als eines Tages ein Weltstadtferner, Weltstadtfremder kam und sagte: »Da steht ja ein herrlicher Tempel; seine Wände sind aus Granit, seine Pforten aus Erz, seine Kuppel umspielen die Wolken,« erhob sich ein allgemeines Gelächter.
Er schwieg und begriff: Sie sehen ihn nicht. Die Zeit, in der sie alle ihn sehen werden, muß erst kommen.
Aber wie wird ihnen dann ihre Stadt erscheinen?
Sie war alt, arm und einsam und doch ganz glücklich. Sie wandelte dahin wie Moses in der Wolke, umwoben von ihren Gedanken. Sie wich auf der Straße niemand aus, sie kümmerte sich nicht darum, ob ein Wagen einhergesaust kam, während sie eben über den Weg schritt. Der Kutscher riß seine Pferde zusammen und fluchte ihr nach. Sie sah und hörte nichts. Sie war zu Gast bei dem Weisen von Ephesos oder dem göttergleichen Akragantiner. Irgendein Lümmel, den ihre zerstreute Miene verdroß, trat ihr auf den Fuß; sie entschuldigte sich. Gassenjungen machten ihr eine lange Nase, riefen ihr Schimpfwörter zu; sie meinte, diese Kinder hätten sie angebettelt, zog ihr Beutelchen und schenkte noch etwas weg von seinem dürftigen Inhalt.
Als jemand sagte: – Man braucht nur eine halbe Stunde lang in unsrer Stadt umherzugehen, um sich zu überzeugen, wie unaufhaltsam die Verrohung fortschreitet, da machte die Philosophin große Augen und sprach:
– »Ich kann das nicht finden. Gegen mich sind alle Menschen immer gleich gut und höflich.«
Im verheißungsvollen Japan lebte ein berühmter Schlachtenmaler. Seine Bilder wurden zu den höchsten Preisen verkauft, die ganze japanische Welt war darüber einig, daß er der größte Künstler sei, der je gelebt habe. Er freute sich dieser Anerkennung, wurde aber doch immer von dem Zweifel gequält, ob denn sein Ruf auch so felsenfest begründet sei, daß ihn nichts erschüttern könne.
Eines Tages legte er eben die letzte Hand an ein neues, großes Bild, als sich eine Schar seiner glühendsten Verehrer in sein Atelier drängte und in so frenetisches Lob ausbrach, daß er sich angewidert fühlte und die ganze Gesellschaft hinaus komplimentierte.
Ergrimmt und all den Schwätzern zum Hohne, nahm er sein Bild und stellte es verkehrt auf die Staffelei. Was Himmel gewesen, wurde Erdboden, was Erdboden gewesen, wurde Himmel. Statt der Köpfe der Reiter und Pferde ragten ihre Beine in die Höhe; er gab ihnen bacchantische Bewegungen, er ließ Fahnenstangen, Schwertspitzen, abgeschlagene Gliedmaßen von Menschen und Tieren, Hufe und Schuhe durcheinanderwirbeln, und als man um keinen Preis mehr erkennen konnte, was auf dem Bilde eigentlich zu sehen war – stellte er es aus.
Das Publikum und die Kritik standen in seliger Verblüffung davor. »Eine Offenbarung,« hieß es, »das dionysische Wirrsal einer ganz neuen Kunst!« So massenhaft strömten die Leute herbei, daß der Meister, der sich einmal verkleidet in die Nähe seines Werkes stahl, Gefahr lief, erdrückt zu werden.
Lachend ging er zu dem einzigen Kunstkenner, an dessen Urteil ihm lag, und der bisher geschwiegen hatte.
»Und was sagst denn du?« fragte er ihn.
Der Kenner zuckte die Achseln und erwiderte wegwerfend: » Du darfst auch das.«
Da lachte der Künstler und ging seelenvergnügt seiner Wege. Ihm war nun ausgemacht, daß er einen Ruf besaß, den nichts erschüttern konnte.
Ein junger Künstler hatte den Gipfel des Ruhmes erreicht. Dort oben machte er sich's behaglich und schlief auf einem Lorbeerpfühle ein. Als er am nächsten Morgen erwachte, fand er sich mit Entsetzen ganz unten im Tale, am Fuße des Berges liegend, den er gestern erstiegen hatte. Auf dessen Gipfel aber machte sein ärgster Widersacher sich breit.
»Was ist das?« rief er aus. »Wie bin ich da so ahnungslos heruntergerutscht? Ist dieser Gipfel am Ende einer, den man täglich neu erklimmen muß?«
Ein äußerst bedachtsamer Gutsherr hatte nach langem Suchen und Überlegen einen Hausmeier aufgenommen. Kaum war das geschehen, als die andern Diener kamen und warnten:
»Schicke ihn wieder fort, er ist ein Dieb.«
»Habt ihr Beweise?«
»Das nicht.«
»Woher also wißt ihr, daß er ein Dieb ist?«
»Alle Leute sagen es.«
»Was verlangt ihr noch mehr?« sprach der Gutsherr erfreut; »ich behalte ihn.«
Zwei Ungläubige betraten eine Kirche, in der eben das Meßopfer abgehalten und zur Wandlung geläutet wurde. Der eine blieb aufrecht stehen, der andre kniete mit den Betenden nieder.
»Wie konntest du knien?« fragte ihn beim Fortgehen sein Gefährte, »du glaubst ja nicht.«
»Ich beugte mich vor dem Glauben der andern,« erhielt er zur Antwort.
Die Feder des Schreibenden spritzte, und unter kaum sichtbaren Pünktchen war eines, das sich spreizte und ausrief:
»Ich bin der Mittelpunkt!«
Alle richtigen Punkte, die stolz auf den ihnen angewiesenen Plätzen saßen, brachen in zorniges Gelächter aus:
»Da hätte viel eher einer von uns Anspruch darauf, ein Mittelpunkt zu sein!«
Die Kleinen widerbellten, und sofort entbrannte ein heftiger Streit.
Der Schreibende schlichtete ihn mit dem guten Rat:
»Es beziehe doch jeder einzelne von euch alles, was rings um ihn vorhanden ist und geschieht, auf sich selbst, dann wird auch jeder von euch ein Mittelpunkt sein.«
Ein zum Tode verurteilter Verbrecher entsprang seiner Haft kurz vor dem Tage, an dem er hingerichtet werden sollte, und gelangte auf der Flucht in ein wildes Bergland, dessen Geklüfte ihm Schutz vor den verfolgenden Häschern bot. Als der Hunger ihn zwang, seinen Schlupfwinkel zu verlassen und einen wirtlicheren Aufenthalt zu suchen, führte ihn sein Weg zu der Hütte eines alten Ziegenhirten, der dem halb Verschmachteten Gastfreundschaft gewährte. Der Alte wurde gesprächig und erzählte unter anderm von einem merkwürdigen Lande, in dem er viele Jahre seines Lebens zugebracht hatte. – In diesem Lande, sagte er, herrsche der Glaube an die Unfreiheit des menschlichen Willens. Dort maße sich keiner das Recht an, seinen Nächsten zur Verantwortung zu ziehen; niemand schreibe sich ein Verdienst zu; niemand zeihe sich einer Schuld. Den Begriff von gut und böse gebe es nicht; es gebe kein Tun, sondern nur ein Geschehen; die Handlungen der Menschen werden genau so betrachtet wie Naturereignisse, als die notwendigen Folgen unabsehbarer, von Ewigkeit her wirkender Ursachen.
»So gibt es in dem Lande weder Gesetz noch Richter?« fragte der Verbrecher.
»Weder Gesetz noch Richter,« antwortete der Hirt.
»Und Raub und Mord, wie werden sie beurteilt?«
»Nicht anders, als wie man Sturm und Wetterschlag beurteilt.«
Da hatte der Verbrecher eine große Freude und rief:
»Das ist ein Land für mich, in dem hätte ich geboren werden sollen. Dahin will ich gehen.«
Sofort erkundigte er sich nach dem Wege, den er einzuschlagen habe, trat die Wanderung an und erreichte nach vielen Abenteuern und Fährlichkeiten eines schönen Sommermorgens glücklich sein Ziel.
Er betrat ein blühendes, sorgfältig bebautes Land. In der Nähe eines freundlichen Dorfes waren viele Leute mit dem Mähen einer herrlichen Wiese beschäftigt. Die Männer führten die Sense, die Frauen den Rechen, alle arbeiteten eifrig und mit sichtbarem Vergnügen.
Wie merkwürdig! dachte der Verbrecher und fragte einen der Mäher: »Freund, warum plagst du dich?«
»Weil ich muß,« antwortete jener.
»So? und wer zwingt dich?«
»Wer? Du meinst wohl, was mich zwingt. Mich zwingt das angeerbte Bedürfnis des Fleißes, mich zwingt die Einsicht, daß ich arbeiten muß, da ich leben muß.«
»Habt ihr denn hierzulande keine reichen Leute, denen ihr wegnehmen könntet, was ihr braucht, um zu leben, und noch etwas darüber?«
»Da würden wir,« erhielt er zur Antwort, »dem Toren gleichen, der seiner goldene Eier legenden Henne den Hals abschnitt. So unvernünftig müssen nur Halbwilde handeln; wir sind ein uraltes Kulturvolk und müssen das Vernünftige tun.«
Kaum waren diese Worte gesprochen, als sich plötzlich ein Geschrei erhob, das durchaus nichts Kultiviertes hatte. Eine kleine hübsche Frau war mit ihrem Manne in Streit geraten und drosch mit den Fäusten, so stark und so schnell sie konnte, auf ihn los. Er wehrte sich nicht.
»Alle Wetter,« sagte der Verbrecher, »diese Frau hagelt ja.«
»Zuzeiten. Die Motive, von denen sie veranlaßt wurde, als immerwährender Sonnenschein an unserm Ehehimmel zu prangen, wirken leider noch nicht permanent,« entschuldigte der Geprügelte und machte ein sehr trauriges Gesicht, als jetzt ein hochgewachsenes Weib auf die kleine Frau zutrat, ihr trotz ihres Sträubens die Hände auf den Rücken band und sie wegführte.
Der Verbrecher allein hatte diesem Vorgang mit Neugier und Schadenfreude zugesehen; alle übrigen schenkten ihm nur geringe und unlustige Aufmerksamkeit.
Die Raststunde war gekommen; die Mäher ließen sich ins Gras nieder und begannen das Mittagessen, das Frauen und Kinder aus dem Dorfe herbeigebracht hatten, gemeinsam zu verzehren. Der Verbrecher setzte sich zu dem betrübten Ehemann, der nicht aufhören konnte, von seiner Gattin zu sprechen.
»Sie hat ihre Mutter früh verloren,« erzählte er, »und ist vom Vater aus schwer belastet mit ererbtem moralischen Siechtum. Der Einfluß unsrer Schule, dieses herrlichen Gartens, in dem junge Menschenblumen unter der Leitung großer Künstler und Denker zur Entfaltung des schönsten Müssens herangebildet werden, hat sich als unzureichend zur Besiegung des Übels meiner armen kleinen Frau erwiesen.«
»Deine männliche Oberherrlichkeit desgleichen«, spottete der Verbrecher. »O, du Starker, du Langmütiger! wie geduldig hast du dich mißhandeln lassen von einem schwachen Weiblein! Welchen Lohn gibt es bei euch für solche Tugend?«
»Lohn? Tugend?« erwiderte man ihm; »haben die Bewohner deines Landes nichts gelernt in der Flucht der Jahrtausende? Klebt man bei euch noch an so kindischen Begriffen? Wir sind ein uraltes Kulturvolk und wissen von ihnen längst nichts mehr.«
Diese Entgegnung ergötzte den Verbrecher, und er sprach nun den Wunsch aus, zu erfahren, wohin die kleine Frau, die so hübsch hageln konnte, geführt, und wer diejenige gewesen, von der sie abgeholt worden sei.
»Eine Krankenwärterin,« antwortete der Mann, »und sie hat meine Frau ins Spital bringen müssen.«
»Ist sie denn krank?«
»Gewiß. Hast du nicht gesehen, daß sie eine Krankheit hat, durch die sie gezwungen wird, mich zu schlagen?«
»Krankheit nennt ihr das?« rief der Verbrecher; »nun, wenn sie eine Krankheit hat, die sie zwingt, zu schlagen, habe ich eine Gesundheit, die mich zwingt zu essen. So nehme ich denn ungeladen am Mahle teil.«
Damit langte er in die Schüsseln, langte nach den Gläsern und aß und trank für zehn.
Die Mußmenschen schienen erstaunt, ließen ihn jedoch gewähren. Als die Raststunde zu Ende war, gaben sie ihm eine Sense in die Hand und sagten: »Du hast gegessen, jetzt arbeite!«
Aber davon wollte er nichts hören. Er behauptete, sich fortwährend ausruhen zu müssen, bis zu dem Augenblick, in dem eine ihm zusagende Tätigkeit sich ihm eröffne.
Die Arbeiter gingen wieder an ihre Beschäftigung, er blieb bei den Mädchen und Frauen zurück, die das Ordnen des Eßzeuges besorgten, fing an, mit ihnen zu schäkern, machte einem jungen Weibe Liebesanträge und wollte, als dieselben abgewiesen wurden, sofort Gewalt brauchen.
Die Frauen riefen nach Hilfe; einige Männer stürzten herbei und entrissen dem Verbrecher sein Opfer. Da geriet er in Wut, zog sein Messer und konnte erst nach heftigem Kampfe niedergeworfen und gebändigt werden.
Je wilder er gerast hatte, desto schonender war man mit ihm umgegangen. Alle bedauerten ihn: »Glücklich, die eines heilsamen Müssens sind,« sprachen sie. »Du bist es nicht; dein Benehmen ist gemeinschädlich und macht dich reif für das große Spital.«
Und wirklich wurde er nicht in das kleine Dorfspital, sondern nach dem Hauptspital in die Stadt gebracht.
Dort übernahm ihn ein Krankenwärter und führte ihn eine breite Treppe empor durch einen langen Gang, auf den viele Türen mündeten. An jeder Tür hing ein Rähmchen, und in jedem Rähmchen stak ein Rezept. Hinter den Türen hörte man jämmerlich klagen und stöhnen. Dem Verbrecher wurde unheimlich zumute, und kleinlaut erkundigte er sich, was denn da geschehe.
»Es werden Erinnerungszeichen gepflanzt, lies nur die Rezepte.«
Und er las: »Dreimal täglich fünf Rutenstreiche. – Allabendlich zwölf Stockprügel. – Vierzehn Tage bei Wasser und Brot« … usw.
»Wie nennt ihr das?« rief er, »Erinnerungszeichen pflanzen? … Hol euch der Teufel!«
»Ich kenne die Wurzel nicht, aus der ihm ein zureichender Grund dazu erwüchse,« versetzte der Wärter. »Die Erinnerungszeichen, die hier gepflanzt werden, verfehlen ihre Wirkung selten. Sie treiben so zwingende, gesunde Motive, daß diese fast regelmäßig genügen, die ungesunden, die etwa in dem Rekonvaleszenten wieder auftauchen möchten, zu überwinden.«
»Wenn sie aber nicht genügen?«
»Dann wird die Kur wiederholt, so oft wiederholt, bis der Eintritt der gesunden Motive das Selbstverständliche wird und die ungesunden, immer weiter zurückgedrängt, sich endlich gar nicht mehr melden.«
»Wenn sie sich aber durchaus nicht zurückdrängen lassen?«
»Dann geht der Kranke den Weg der Unheilbaren.«
»Was ist das für ein Weg?«
»Das ist der Weg zum Richtplatz.«
»Pfui!« sagte der Verbrecher, »pfui! Einen Richtplatz habt ihr auch?« Er sprach seinen Abscheu gegen dieses letzte Mittel und gegen die ganze Motiv treibende Behandlung aus; der Wärter jedoch zuckte die Achseln und versetzte:
»Was ist zu tun? Wir Menschen sind einmal angewiesen, in Gesellschaft zu leben, und da wir es sind, müssen wir suchen, dieses Zusammenleben möglichst gedeihlich zu gestalten. Nun hat die Erfahrung uns gelehrt, das geschähe am besten, wenn Frieden, gegenseitige Rücksicht und Hilfbereitschaft unter uns herrschen. So haben wir denn die ganze Kraft unseres Müssens auf die Erfüllung jener Bedingung der allgemeinen Wohlfahrt gestellt. Gibt sich bei einzelnen ein ihr widerstrebendes Müssen kund, können wir es nur als ein krankhaftes ansehen, und müssen suchen, es zu kurieren.«
»Durch Prügel und Fasten?« rief der Verbrecher.
Der Wärter bemühte sich, ihn zu beruhigen. »Wir befinden uns in der Abteilung der Schwerkranken,« sprach er. »So scharfe Mittel wie hier werden nur ausnahmsweise angewandt. Bei unsrer weit vorgeschrittenen Kultur genügt meistens eine leichte Behandlung zum Aufpflanzen eines dauernden Erinnerungszeichens und zur Heilung eines ungesunden Müssens.«
»Ach, sprächst du wahr!« fiel ihm ein Mann ins Wort, der sich genähert und den letzten Satz seiner Rede mit angehört hatte. »An mir ist eure Kunst gescheitert. Ihr habt mich vor einem Jahr als von meiner Hochmutskrankheit geheilt entlassen, und heute schon habe ich in einem Zeitungsartikel mein eigenes philosophisches System auf Kosten aller bisher aufgestellten gelobt und jene schmählich heruntergemacht. Gebt mir mein Geld zurück oder nehmt mich von neuem in die Kur.«
Der Wärter lud ihn ein, ihm ins Ordinationszimmer zu folgen, wohin er eben einen Fremden, der sehr krank sei, führen müsse. – Da brach der Verbrecher jedoch in helle Empörung aus. »Geht ohne mich!« schrie er, »ich habe des Spaßes genug.« Er wandte sich und wollte entfliehen. Der Wärter lief ihm nach, hielt ihn fest; ein furchtbares Ringen entstand, und ehe die aus allen Zellen heraneilenden Kranken es hindern konnten, hatte der Verbrecher den Wärter erdrosselt.
Das war die letzte seiner Taten.
Nachdem die Spittler ihr wärmstes Mitleid mit seinem hochgefährlichen Zustande geäußert hatten, überwältigten sie ihn und schleppten ihn vor die Doktoren.
Einen Augenblick war dem Verbrecher seine Frechheit abhanden gekommen; angesichts der Sanftmut und Ruhe, mit der die Ärzte sich gegen ihn benahmen, kehrte sie wieder zurück, und er beantwortete voll Hohn die an ihn gestellten Fragen.
Die Doktoren erklärten seinen Fall für einen unerhört schweren und diktierten eine allerdings schreckliche Behandlung. Er ließ sie ausreden und schlug dann ein tolles Gelächter auf.
»Ihr habt euch umsonst bemüht,« spottete er; »ich lasse mir eure Behandlung nicht gefallen, weil ich euren Anordnungen nicht unterstehe, weil ich ein freier Mensch bin.«
Die Doktoren sahen einander erstaunt an: »Ein freier Mensch? was heißt das?« fragten sie.
»Das heißt, ihr Automaten, daß ihr eure Traktierungen an mir nicht versuchen dürft, weil ich kein Mußmensch bin. Was ich getan habe, habe ich tun wollen und hätte auch ganz anders handeln können.«
Bei diesen Worten bemächtigte sich der Versammlung ein maßloses Entsetzen.
»Weh über dich!« riefen die Doktoren, »du hättest das Ungesunde und Gemeinschädliche nicht tun müssen und hast es dennoch getan? Ungeheuer! scheußliche Ausnahme des allweisen, allherrschenden Gesetzes! … Für dich haben wir keine Behandlung, du mußt den Weg der Unheilbaren gehen.«
Der Verbrecher geriet außer sich, als dieses Verdikt über ihn gefällt wurde. »Da bin ich schön angekommen«, sprach er. »Vermaledeites Mußpack! Tut man bei euch, was man muß, wird man geprügelt; tut man, was man will, wird man gerichtet.«
Noch vor dem Blocke schimpfte er fort.
»Hochmütige Kulturaffen, seid ihr ebenso dumm, wie bei uns die Leute sind? Euer Müssen und unser Wollen, eure Rezeptschreiber und unsre Richter, es kommt auf eins heraus.«
»Ja,« erwiderte der Henker, »es kommt eigentlich auf eins heraus,« und waltete seines Amtes.
Der Meister gehört nicht zu den vom Glück Begünstigten, von Ruhm Umschmeichelten. Sein Atelier am Lungo Tevere gibt ein beredtes Zeugnis davon. Es erhält sein Licht durch ein breites Fenster über der einem Scheunentor ähnlichen Tür, und man tritt unmittelbar von der Straße in den kahlen, mäßig großen Raum. Sein ganzer Schmuck besteht aus einigen Gipsmodellen und einigen verstaubten Reliefs an den getünchten Wänden.
In klarer Schönheit aber stehen vor uns die zwei letzten Arbeiten des Künstlers.
Die eine, schon in Marmor ausgeführt, ist die Statue einer Verstorbenen. Ein paar Photographien von ihr und die Angaben ihrer Kinder waren alle Behelfe, die man ihm bieten konnte. Aber ein guter Stern waltete über dem Werke. Der Meister gab dem Steine nicht nur die feinen und noblen Züge, die edle Gestalt und Haltung der teuren Frau, er hauchte ihm auch ihren ernsten Geist, die milde und stille Hoheit ihres Wesens ein. Auf sehende Augen wirkte seine Schöpfung mit der Wärme des Lebens.
Eine zweite Arbeit ging ihrer Beendigung entgegen; ein Denkmal für die Ruhestätte des Leiters einer katholischen Schule in Kanada.
Sie war ebenso weit entfernt von »fabriksmäßigem Denkmalsbetrieb« wie von den Erzeugnissen impressionistischer Plastik. Die zwei dargestellten Personen bildeten eine Gruppe.
Der Lehrer, ein ehrwürdiger Priester, im langen, faltenreichen Talar, hielt mit der linken Hand einem etwa achtjährigen Knaben ein aufgeschlagenes Buch vor und bezeichnete mit dem Zeigefinger der Rechten eine Stelle darin.
Der Schüler war eitel Aufmerksamkeit. Ein köstliches Geschöpf dieser kleine Römer, in seinem tiefen Versunkensein; bezaubernd der Ausdruck des Gesichtes mit den noch ganz kindlichen und doch schon fein ausgeprägten Zügen. Der Kopf, der zarte Nacken, den der Kragen des Matrosenkleides weich und lose umschloß, waren etwas geneigt, aber die Arme kreuzten sich energisch über der Brust, und das Knäblein stand da, kräftig und schlank und gesund wie eine junge Edeltanne.
»Sie haben sich ja als Modell zu Ihrem amerikanischen Seminaristen ein prachtvolles römisches Kind ausgesucht, lieber Meister,« sagte ich.
Er lächelte stolz und beseligt: »Es ist mein Ältester.« Und angeregt durch mein Interesse und durch meine Fragen, sprach er von diesem »Ältesten«, sprach in seiner sanften und bescheidenen Weise, mit dem wehmütigen Selbstbewußtsein derer, die, des reichsten Glückes würdig, keines erfahren haben. Er blieb äußerst zurückhaltend im Lobe seines Kindes, aber jeder Laut seiner Stimme verriet die unsägliche Liebe, der es entquoll, und je bemühter er war, keine parteiische Eingenommenheit zu verraten, um so geneigter fühlte man sich, dem Knäblein alles Beste zuzutrauen.
Daß ich dem kleinen Wundermann noch nie begegnet war, daran trug nur der Zufall schuld. Er kam oft ins Atelier, um seine Aufgaben zu machen, hatte sein Tischchen da stehen, an dem er schrieb und arbeitete.
Eines Tages begleitete ich eine Bekannte, die die Statue unsrer Verstorbenen sehen wollte, in die Werkstätte, und gleich beim Eintreten fiel mir etwas Neues, eine mit feuchten Tüchern umwickelte Büste auf.
»Eine Bestellung?« fragte ich hocherfreut.
»Nein, das nicht.«
»Und was denn?«
Eine Arbeit, die er zu seinem Vergnügen unternommen, sagte er, und erwiderte, als ich bat, ihre Bekanntschaft machen zu dürfen, es sei noch etwas früh, aber – wenn ich es wünsche ….
Die Verhüllung wurde entfernt, und ich hatte das Mißvergnügen, meinem Ebenbilde ins Gesicht zu sehen.
Es war nur ein Entwurf, doch konnte ich mich des Ausrufs nicht erwehren: »Ich bin's, und schon zum Entsetzen ähnlich!«
»Das dürfen Sie nicht sagen,« sprach er, »um Ihretwillen nicht und um meinetwillen nicht, denn Sie erinnern mich sehr an meine entschlafene Mutter.«
Ich hatte ihn verletzt, bereute meinen unwillkürlichen Schreckensruf und suchte mich bei dem Künstler zu entschuldigen. Es verdroß ihn nun sehr, daß er mir seine Arbeit im Anfang des Anfangs, im noch ganz rohen Zustand gezeigt.
Aber er hatte eben gehofft, daß ich ihm meine Hilfe gewähren und ihm einige Sitzungen geben würde. Und nun begannen wir einander gegenseitig anzuflehen. Er bat mich, ihm zu sitzen, und ich bat ihn, mich nicht darum zu bitten. Zuletzt blieb ich Siegerin mit meinen guten Gründen. Erstens, weil Porträts von mir nie besser gelingen, als wenn ich bei ihrer Herstellung nicht anwesend bin; zweitens, weil die Zeit meiner Abreise heranrückt, und ich mit jeder Minute geize, die ich noch auf meinem Forum, meinem Palatin, in stiller Verehrung meiner gemalten und gemeißelten Abgötter in den Galerien und Museen zubringen kann. Übrigens würde ich noch einigemal ins Atelier kommen, um mich des Gelingens einiger Retuschen, die er an unsrer Statue noch vornehmen sollte, zu überzeugen; da habe er Gelegenheit genug, neue Eingebungen für sein Gedächtniswerk zu sammeln.
Bei meinem nächsten Besuch lernte ich endlich seinen kleinen Sohn kennen. Gefährliche Bekanntschaft für eine Kinderfreundin! Der konnte mich in Versuchung bringen, das Forum und den Palatin und meine Abgötter aus Leinwand und Farben, aus Marmor und aus Erz da liegen und stehen zu lassen, wo sie lagen und standen, und mit ihm Ball zu spielen, einen Kreisel tanzen zu lassen oder zuzusehen, wenn er, wie jetzt, mit seinem festen, braunen Händchen große, kühne Buchstaben in sein Schreibheft malte.
Du lieber Junge! Alles Gute, das sein Vater von ihm gesagt hatte, bestätigte mir mein erster Blick in diese glanzvollen, vertrauensseligen Augen. Aus ihrem Dunkel brach das hellste Lebensmorgenlicht hervor, bezaubernd, ein konzentrierter Frühling. Frühlingshaft auch war der unschuldige Frohsinn, der aus ihnen strahlte, und vielleicht das Schönste an diesem schönen Kindergesicht der Mund mit den zarten, vollen Lippen von der Farbe einer eben aufgesproßten Granatblüte.
Wir waren bald geschworene Freunde. Mit etwas gönnerhafter Miene erzählte er von seinen Brüdern. Schutzbefohlene, kein Umgang, viel zu klein für ihn. Man mußte beständig auf sie acht geben, der Drei- und der Vierjährige wissen ja noch nicht, was sie tun. Gestern haben sie ihr Bilderbuch zerrissen, erst in große, dann in immer kleinere Stücke, und dann bitterlich geweint, weil sie kein Bilderbuch mehr fanden, als sie es am Abend suchten. Der Fünfjährige, der Rico, der will Versagliere werden und hat schon einen Säbel, aber noch keinen Hut.
»Und was willst denn du werden?« fragte ich.
»Nun, doch Bildhauer, wie der Vater,« antwortete er, ganz erstaunt, daß mir die Sache nicht ausgemacht sei. Der Vater brachte ihm manches Stückchen Ton mit nach Hause, daraus modellierte er Tiere und Menschen, am liebsten aber Madonnen mit dem Jesukinde. Er hatte einige Proben seiner Kunst in der Tasche und zog sie hervor. Aber – o weh! … Dieser Aufenthalt war ihnen nicht zuträglich gewesen, sie hatten jedes charakteristische Merkmal eingebüßt, und traurig betrachtete Paolo die kleinen Mißgestalten.
»Weißt du was?« sagte ich, »heut über acht Tage komme ich wieder, da bringst du mir, sauber in ein Schächtelchen gebettet, eine neue Madonna, und ich bringe dir einen kleinen Beutel; in dem findest du, was du brauchst, um deinen Brüdern ein neues Bilderbuch und dem Rico überdies einen Bersaglierihut und dir selbst etwas zu kaufen, was dir eine rechte Freude macht. Willst du?«
Ob er wollte! In seinen schwarzen Augen gingen zwei Sonnen auf.
Ja, ja, ja! ich bekam eine Madonna, und ganz herrlich sollte sie sein, eine versilberte Krone sollte sie haben und das Christuskind eine vergoldete.
»Wirklich? Eine vergoldete?«
Ja, ja, ja! Und glänzen sollte sie.
Glänzen sogar? Das konnte ich mir kaum vorstellen und war im voraus schon geblendet von dieser Pracht.
Wie freuten wir uns beide!
Vater und Sohn begleiteten mich zu meiner einspännigen Karosse, und lange winkte Paolo mir nach, und aus der Ferne noch vernahm ich sein helles Jauchzen. Tag und Stunde unsres Stelldicheins kamen, ich war zur Ausfahrt angekleidet und im Begriff, aus dem Zimmer zu treten, als heftig an der Hausglocke gerissen wurde.
»Niemand vorlassen! Niemand!« rief ich der Dienerin zu, die sich, ärgerlich über dieses stürmische Anläuten, ins Vorzimmer begab.
Gleich darauf erschollen von dort in höchster Aufregung ausgestoßene Laute einer fremden Stimme, und ganz bestürzt kam das Mädchen zurück und meldete, die Frau des Bildhauers schicke ihre Schwester, etwas Furchtbares habe sich ereignet.
Ich eilte der unerwarteten Besucherin entgegen. Sie zitterte am ganzen Leibe, ihr Gesicht, ihre Augen waren vom Weinen geschwollen.
»Signora, Signora – das Ärgste … denken Sie – denken Sie, Signora« …
Der Atem versagte ihr. Ich ergriff ihre Hand und mußte sie zwingen, in einem Lehnstuhl Platz zu nehmen. Sie war ein junges, energisches Geschöpf.
»Einen Augenblick nur … Ich muß nur den Auftrag meiner Schwester bestellen … Sie läßt Ihnen sagen, Signora, daß Sie nicht ins Atelier kommen sollen … Paolo ist tot, Signora, und sein Vater rast umher wie verrückt.«
Sie brachte ihren schauerlichen Bericht abgebrochen, unter heftigem Schluchzen, hervor.
Paolo spielte auf der Terrasse, auf die die Wohnungstür sich öffnet. Im fünften Stock des Hauses wohnen sie. Immer spielen die Kinder auf der Terrasse – es ist nie etwas geschehen … Heute – Unglückstag … Vor ihren Augen … Eine Musikbande kommt vorbei. Paolo singt, tanzt, prallt im Tanz ans Geländer … Es gibt nach – er stürzt in die Tiefe.
»Signora, o Signora!« Schrill und schneidend rangen sich die Worte aus ihrer Kehle. »Denken Sie – meine Schwester … Das Kind tot, der Mann dem Wahnsinn nahe, flucht und tobt und gibt uns allen schuld … Sie würden ihn nicht wiedererkennen, den guten, sanften Menschen!«
Ich konnte das Entsetzliche erst gar nicht fassen, schauderte beim Gedanken an die unglückseligen Eltern, hätte zu ihnen eilen mögen, sah ein, daß es nicht anging, einen Anteil zu verlangen an ihrem unantastbaren Schmerz, bat zuletzt um Erlaubnis, Tag um Tag Nachricht von ihnen einholen zu lassen. –
Die letzte Zeit meines Aufenthalts in der ewigen Stadt war mir vergällt. Ich sah meinen kleinen, rasch gewonnenen und plötzlich verlorenen Freund in jedem schönen römischen Kinde, und der Gedanke an den unglücklichen Vater Paolos verließ mich keinen Augenblick.
Wieder verging eine Woche; alles, was ich von dem schwer Heimgesuchten erfuhr, lautete immer gleich trostlos. Endlich brachte seine Schwägerin mir die Botschaft, er sei zum ersten Male wieder ins Atelier gegangen, und seine Frau lasse mich inständig bitten, ihn dort aufzusuchen.
Am Nachmittag fuhr ich hin, fand die Tür unversperrt und trat ein.
Der Künstler stand vor dem Ebenbilde seines Sohnes und betrachtete es unverwandt, so weltentrückt und versunken, daß er mein Kommen nicht bemerkte. Ich rief ihn an, er sah auf, stöhnte leise, breitete mir seine Arme entgegen und schloß mich an sein Herz. Ich konnte nicht sprechen, ich hielt nur seine Hand fest mit meinen beiden Händen.
»Verzeihung,« sagte er. »Als Sie so plötzlich dastanden, war mir, als sei meine Mutter zu mir gekommen, um mich zu trösten. Aber das könnte auch sie nicht … Mit mir ist's vorbei, es ist aus, alles, alles aus! …«
Er rang die verschränkten Hände: »Gott – mein Gott … rennt ein Mann daher, sagt: ›Sie sollen kommen – Ihrem kleinen Buben ist ein Unfall zugestoßen, man hat ihn zu uns ins Spital gebracht‹ … Ich erschrecke. ›Ein Unfall – einem meiner Kleinen?‹ – ›Ja.‹ – ›Was denn? Was denn?‹ ›Ich weiß nicht,‹ sagt er.– Nun, ich, voll Angst, folge ihm. Und im Spital sehen sie mich so merkwürdig an und führen mich – und schlagen die Decke zurück – und wie sie die Decke zurückschlagen, seh ich – mein Ältester ist es … Er – er – Und wie ich ihn sehe, stoße ich einen Schrei aus« – Drohend hob er die Rechte empor:
»Den haben sie dort oben gehört!«
Er rang nach Luft, schritt ein paarmal auf und ab und sprach: »Die Mütter haben ihre Kinder gleich lieb, sie können das – sie haben jedes mit den selben Schmerzen geboren … Mir war mein Ältester über alle lieb …«
Der sonst so Stille und Wortkarge sprach und sprach, übersprudelte sich in seiner Rede, so daß ich Mühe hatte, ihm zu folgen.
Auf die Zeit kam er zurück, in der er um seine Frau geworben: »Als sie erfuhr, daß ich ein Bildhauer sei, wie war sie stolz! Ein Künstler hatte sie erwählt! Arme Frau – was sie bei mir erfuhr und mutig mit mir teilte, das waren Enttäuschungen, das war gar oft die Sorge um das trockene Brot. Ich bin keiner, der sich durchsetzt, ich habe keine eisernen Fäuste und keine spitzigen Ellbogen – ich werde zur Seite geschoben von solchen, die weniger können als ich … Aber als er da war, als er heranwuchs, mein Sohn, hat mir nichts mehr weh getan. Ich säe, er wird ernten, ich bin klein geblieben, er wird groß werden … Wie in ein Bereich voll Blumen, Früchten, voll Sonnenschein, blickte ich in seine Zukunft … Er liebte alle, auch die Nichtguten – er konnte nicht anders, und alle die Guten und Nichtguten liebten ihn … Auf Händen hätten sie ihn durchs Leben getragen … Nie anders als groß, berühmt, geehrt sah ich ihn – und – – Herrgott! Herrgott! im Spital – als sie die Decke wegzogen – – was lag da vor mir! … Am Morgen noch ein Kind, um das die Menschen mich beneideten und an dem die Engel im Himmel ihre Freude hatten, und – was lag da!«
Seine Stimme erstarb in einem Wimmern, er brach am Tischchen Paolos in die Knie, und auf die Platte gestützt, vergrub er sein Gesicht in seine Hände.
Nach einer Weile trat ich zu ihm und berührte seine zuckende Schulter.
»Stehen Sie auf, lieber Meister, ich bitte Sie, stehen Sie auf.« Keine Antwort, doch erhob er sich und war nun ruhig – ruhig, wie völlig Abgespannte sind. »Und noch eine Bitte: nehmen Sie das Tuch weg von der Büste dort.«
Er näherte sich seinem begonnenen Werke und tat, wie ich ihn gebeten hatte, mechanisch, wie etwas rein Äußerliches, das ihn gar nicht anging.
Ich setzte mich der Büste gegenüber: »Wo sind die Modellierstäbe? An die Arbeit, lieber Freund!«
Plötzlich kam wieder Leben in sein Gesicht. »Arbeit? Wissen Sie, was ich mir jetzt noch aus der Arbeit mache?« fragte er herb und verächtlich, riß die Steckel von dem Schemel, auf dem sie lagen, und ging mit starken Schritten und erhobener Hand auf das arme Tongebilde zu.
Ich aber dachte: Nun beginnt ein Zerstörungswerk.
Doch kam es anders.
Die erhobene Hand holte nicht zum Schlage aus, sie senkte sich. Regungslos blieb der Bildhauer vor seinem Modell stehen, mit verhaltenem Atem, wie festgebannt, wie einer Stimme lauschend, die ihm daraus entgegen klang …
Ein Gebet des nach Dasein verlangenden Geschöpfes zu seinem Schöpfer: »Vollende mich.« Und was noch keiner sah, es schwebte ihm vor Augen – das Gewordene im Werdenden, das zu lebendigem Dasein erweckte Gedankenbild.
Ein langer, banger Augenblick – ein Starren, Sinnen, ein leises Flüstern: »Madre!« und zärtlich und schmeichelnd glitt der Modellierstab über die Stirn des alten, unschönen Gesichtes, glättete, vertiefte, deutete an. Dann wieder ruhte sein Blick lange, forschend, vergleichend auf mir, wandte sich zur Arbeit zurück, und in den eben noch so finstern Augen leuchtete der Widerschein der innerlich lodernden Flamme eines gottbegnadeten Könnens.
Was ich empfand, da es mir gegönnt war, diesen Übergang von lähmender Verzweiflung zur Ausübung einer Künstlerschaft, die alle Lebenskräfte anspannt, mitzuerleben, das war reines Glück, die höchste Dankbarkeit.
Die Sitzungen wiederholten sich, das Werk gedieh, und in dieser Zeit errang mein lieber Freund seinen ersten Sieg.
Ein Staatspreis war ausgeschrieben worden für ein Hautrelief, eine Apotheose des verstorbenen Königs. Als das Kuvert geöffnet wurde, das den Namen dessen enthielt, der alle Mitbewerber überflügelt hatte, sahen die Richter erstaunt, daß es ein ihnen völlig Unbekannter war.
»Der Ihre!« triumphierte ich, als er mir die gute Nachricht mitteilte. »Der Ihre, und wird nicht lange mehr unbekannt bleiben.«
Er lächelte in seiner alten, stolz resignierten Weise: » Chi lo sà? Es gibt so viele Bildhauer!«
Ein Reiseerlebnis.
Auf meiner Schweizer Reise habe ich ein merkwürdiges Ehepaar getroffen. Sobald der Mann den Mund auftat, sprach die Frau: »Du willst sagen, daß ….« Und jetzt kam immer etwas Gescheites zutage. Vor einem schönen Landschaftsbilde, vor einem Kunstwerke hatte er geistvolle Gedanken, die seine Frau in Worte kleidete. Er nickte nur tiefsinnig und sagte: »Ganz recht.«
Eines Tages war sie unwohl, und er kam allein zur Table d'hote. Er hatte seine gewohnte, nobel herablassende Art, die gewisse Gebebewegung mit der seine linke Hand – eine schöne Hand – sich geschmeidig im Knöchel drehte. Doch bewahrte er dabei ein fast schüchternes Schweigen. Wenn jemand etwas erzählte, nahm er eine wohlwollende, sehr teilnehmende Miene an, zog die Augenbrauen in die Höhe und ließ mehrere Male nacheinander ein angeregtes »So so!« vernehmen. Das war alles, schmeichelte aber dem Erzähler ungemein.
Mich hatte der Zufall die selbe Reiseroute wählen lassen, die das Ehepaar nahm, und in den Eisenbahnwaggons, bei Bergbesteigungen, in den Hotels trafen wir täglich zusammen. Aber auch ein Vierter schloß sich unserm absichtslos geknüpften Bunde an, und dieser, wie mir schien, durchaus nicht absichtslos. Die schöne deutsche Frau hatte es dem Gallier angetan. Er bewunderte ihre Art, sich zu kleiden, ihre lieblich stolze Haltung und ganz besonders –ihren Gang: kein Trippeln, kein Schweben, – ein Schreiten, ein harmonisches Vorwärtskommen in gelassener Leichtigkeit, geradeaus, nicht bei jedem Schritt ein bißchen Kraft nach links und ein bißchen Kraft nach rechts von sich schleudernd, wie es bei vielen Frauen üblich ist. Nicht genug staunen konnte er darüber, daß sie, so groß, so majestätisch, doch voll Anmut war … herrlich, ganz einfach – herrlich! »Und«, sagte er und sah mich pfiffig an, »welch ein Anempfindungsvermögen, welch ein Verständnis für den Geist ihres Mannes! Erstaunlich, nicht wahr?« – »Gewiß!« und wir lachten beide.
Er war klug, er tat sein Mögliches, um sich zuerst die gute Meinung des Ehemannes zu erwerben, gewann sie auch. Der Geheime Herr Kommerzienrat lächelte ihm gnädig zu, wenn er ihn von weitem schon ehrerbietig grüßte; auch über die lustigen Geschichten, die der Franzose zu erzählen wußte, lächelte er. Lachen konnte er so wenig wie eine Katze. Wenn aber wir beide über eine der kommerzienrätlichen Anekdoten, denen seine Gattin meistens die Pointe aufgesetzt hatte, aus Gefälligkeit schallend lachten, ging in seinem Gesicht die Sonne auf. Da blickte ihn seine Frau mit zärtlichem Triumphe an, und ihre ernsten, sanften Augen leuchteten in stillem Glück.
Ich war der Vertraute des jungen Bewerbers um ihre Gunst geworden. Er klagte und grollte: »Sie liebt ihn! liebt den Hohlkopf! Begreifen Sie das?«
»Es schien auch mir ein Rätsel; doch glaube ich es gelöst zu haben. Sie liebt ihn mit dreifacher Liebe. Als geborene Herrscherin, die sie ist, den treuen Vasallen; als Kinderlose mit aller in ihr aufgespeicherten Mütterlichkeit … und wie läßt er sich die gefallen! Andern gegenüber – gönnerhaft, götzenhaft, vor ihr – auf beiden Knien. Das hat so etwas … das ist nicht unedel … in solcher Weise verwöhnt werden und den Verwöhnenden anbeten – kommt selten vor. Die dritte Liebe, nun – die stärkste, die zärtlichste: die Liebe des Künstlers zu seinem Werk. Er ist das ihre. Sie gibt in ihm ihre Gedanken heraus und – gestehen Sie – in einem Prachtexemplar.«
»Prachtexemplar,« gab er zu. »Der Herr Kommerzienrat mit den rosigen Wangen und den blonden Haaren ist das Bild eines Hermann der Cherusker, wie euer krankhaft ausgearteter Chauvinismus ihn malt.«
Ich konnte ihm diesen Ausfall, der überdies gar nicht zur Sache gehörte, nicht ungestraft hingehen lassen und sagte: »Und sie ist das Urbild einer Thusnelda unsrer Träume, die, wenigstens äußerlich, besser zu ihm paßt als zu dem geistreichsten, nettesten Varus,« und dabei klopfte ich dem feinen jungen Mann auf die Schulter.
Nach jedem Zornesausbruch übte er seine Verführungskünste mit mehr Geschmeidigkeit und Liebenswürdigkeit aus und machte Fortschritte in der Gunst der schönen Frau. Sie begegnete ihm mit großer Freundlichkeit, zeichnete ihn vor allen – es waren ihrer viele, die ihr huldigten – aus.
Da geschah's, daß er in einer Wallung der Ungeduld sein wochenlang mit so viel Verschlagenheit und Selbstüberwindung ausgerichtetes Verführungswerk zerstörte. Der Unselige wiederholte ein besonders patzig vorgebrachtes: »Ganz recht!« des Gatten mit boshaftem Hohn und fügte hinzu: »Nicht wahr, Herr Kommerzienrat, und sicherlich Ihr eigener Gedanke!«
Verblüfft und hilflos wendete der Gatte seine Augen rettungsuchend der Gemahlin zu, und Thusnelda vereiste im selben Moment. Der Liebende erlangte nicht mehr einen gnädigen Blick. Es war vorbei. Jedes leichte Neigen des Hauptes, mit dem sie seine flehenden Begrüßungen erwiderte, sprach: Halten Sie sich fern!
In Interlaken erfuhren wir, daß »Kommerzienrats« am Nachmittag ihre Heimreise antreten würden. Ich fand mich zum Abschied auf dem Bahnhof ein. Sie hatten schon ihren Waggon bestiegen, kamen ans Fenster, und wir tauschten eben höfliche Redensarten, als neben mir ein prachtvolles Rosenbukett auftauchte. Ein armer Sünder wollte seine letzte Huldigung darbringen.
Aber »sie« sah ihn nicht. Sie hatte sich plötzlich auf die andre Seite des Wagens begeben, wo ein Zug, der auf dem Nebengleise stand, ihre gespannte Aufmerksamkeit zu erregen schien.
»Nein, zu liebenswürdig – nein wirklich –« sagte der Kommerzienrat. Der Strauß wurde ihm nolens volens hinaufgereicht, und mit Wohlgefallen nahm er ihn in Empfang.
Die Lokomotive pustete, die Räder drehten sich – »Adieu!« Aus einem Fenster des dahinbrausenden Trains streckte sich eine schöne Hand und winkte uns noch eine Weile zu. Aber leider war's – eine Männerhand.
* * *
Nach Jahren traf ich den ehemaligen Reisebekannten wieder, und wieder in der Schweiz. Er nannte sich mir, ich hätte ihn nicht erkannt. Der blühende, von Gesundheit strotzende Herr Kommerzienrat hatte sich zu sehr verändert. Gealtert, gebeugt trat er mir entgegen. In der gebrochenen Gestalt lag etwas Fremdes, etwas Starres, das mir seltsam erschien – fast unheimlich.
Er war allein. Ich fragte nach seiner Frau.
»Voran,« erwiderte er, bemerkte meine Verwunderung über diese Antwort und erklärte: »Vorangegangen, mir voran, wie von jeher in allem. Gestorben wird es auch genannt.«
Einige Worte aufrichtigen Mitgefühls drängten sich mir auf die Lippen. Er lehnte ab mit einer leisen, ruhigen Gebärde: »Zu einem höheren Leben geboren, sollte es genannt werden.«
»Sie hat an eine zweite Geburt nicht geglaubt,« wandte ich zagend und im Ton einer Frage ein.
»Sie nicht. Ihr war der Tod das Ende, und die kleinen Begriffe Lohn, Strafe belächelte sie. Sie lebte wie eine Heilige aus innerster Seelennotwendigkeit – es war so ihre Natur. Nun ist sie fort, und ob sie an ein ewiges Geschiedensein dachte oder nicht – sie ist da. Nach dem Worte der Schrift: ›Die Liebe höret nimmer auf‹, ist sie da, umgibt mich, ich erlebe stündlich das Wunder. Als sie sterbend vor mir lag, offenbarte es sich mir zum erstenmal. Ihre Augen waren gebrochen, ihr schönes Gesicht war verzerrt von dem entsetzlichen sardonischen Lachen. Da beugte ich mich und drückte einen langen Kuß auf ihren Mund. Und als ich sie wieder ansah, lag auf diesem lieben Mund ein sanftes, seliges Lächeln. Das selbe Lächeln, das ihn einst so bezaubernd umkoste, als ich – ein schüchterner Bräutigam – sie zum erstenmal geküßt hatte … Und als sie im Sarge lag und ich sie betrachtete – andachtsvoll, um mir ihre teuren Züge unauslöschlich einzuprägen – da belebten sie sich … Ich sah es – ich werde es immer sehen … Ein warmer Lebenshauch flog über das starre, marmorblasse Angesicht.«
Wir schritten eine Weile schweigend des Weges weiter; es war der selbe, auf dem vor Jahren meine erste Begegnung mit ihm und seiner Frau stattgefunden hatte.
Plötzlich, wie erwachend aus dämmerigen Träumen, begann er wieder: »Getrennt – zeitlich getrennt, aber nur scheinbar. In Wahrheit noch enger vereint, weil eine durch Körperlichkeit gebildete Schranke nicht mehr besteht. Sie ist in mir und ist außer mir – ein voranschwebender Geist. Ich folge, von ihr geführt; zu der lichten Sphäre, an der sie, noch im Irdischen befangen, zweifelte, hebt sie mich empor – und ich strebe ihr nach – – bin noch am Fuße des Berges, aber jeder Tag bringt mich einen Schritt aufwärts – ihr näher!«
Er blieb stehen, breitete die Arme aus und blickte in stiller Verzückung vor sich hin. Und mir fiel etwas Merkwürdiges auf. Ich hatte immer eine gewisse Ähnlichkeit gefunden zwischen den echt germanischen Gesichtern der beiden Eheleute. Nun war das seine schmaler geworden, es erschien feiner, und die Ähnlichkeit mit der Verstorbenen hatte sich verstärkt. Aber mehr noch als eine äußerliche trat eine geistige Ähnlichkeit hervor – eine so überraschende, so überwältigende Ähnlichkeit mit der Vorangegangenen, daß mir war, als spräche ihre Seele aus seinen Augen.
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