Ebner-Eschenbach
Die schönsten Erzählungen
Ebner-Eschenbach

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Der Muff

Die Generalin kam aus einer Nachmittagsgesellschaft, an der mehrere ausgezeichnete Persönlichkeiten teilgenommen hatten. Sie befand sich in gehobener Stimmung. Man war sehr freundlich gegen sie gewesen, sehr, hatte sie dringend aufgefordert, eine ihrer kleinen Novellen, wenn auch nur die kleinste, vorzulesen.

Für ihr Leben gern wäre sie der Einladung gefolgt, trug jedoch gerade an dem Nachmittag nicht das geringste Manuskriptlein bei sich, und so hatten die Gäste mit liebenswürdiger Resignation auf den Genuß verzichtet. Aber schon die Berücksichtigung, die dem bisher wenig aufgemunterten Talent der Generalin geschenkt worden, tat ihr unendlich wohl.

Man lasse mich mit frühen Triumphen ungeschoren, sie sind nicht selten die Vorboten späterer Niederlagen, dachte sie. Wer vermag sich von der im raschen, glücklichen Schwung der Jugend erreichten Höhe noch höher emporzuschnellen? Meistens bleibt es bei dem glorreichen Anfang, und was nachkommt, ist ein Sinken, wenn's nicht gar ein Stürzen ist. Da lob ich mir mein bescheidenes Streben, das mich allerdings nicht auf die Höhe, aber doch auf eine Anhöhe geführt hat.

Von den heitersten Vorstellungen umgaukelt, schreitet die große, schmächtige Dame rasch und rüstig dahin; das Gehen wird ihr heute so leicht, als ob die Trottoirs mit Kautschuk gepflastert wären.

Herrliches Wetter! ein kernig kalter Märztag. Merklich früher steht schon die Sonne auf und geht merklich später schlafen. O wie gern sieht der die Tage wachsen, dessen eigener Lebenstag sich bereits zur Neige gewendet hat!

Die Generalin verschränkt behaglich die Hände in ihrem großen Muff – ein wenn auch nicht mehr modernes, doch sehr kostbares und gediegenes Garderobestück – und wandert wohlgemut dahin. Sie hat noch eine gute Strecke Weges vor sich, eilt aber nicht, schlendert vielmehr gemächlich weiter, sieht sich die Vorübergehenden an, möchte jedem bis auf den Grund der Seele schauen, und den Armen, besonders solchen, die nicht betteln, schenkt sie etwas. Sie tut es trotz der Gewissensbisse, die sie dabei empfindet. Geld verschenken auf der Straße ist ein Unsinn und nationalökonomisch ein Verbrechen. Das ist der Generalin hundertmal und unwiderleglich bewiesen worden, sie hat das Bewußtsein ihres Unrechts und – begeht es dennoch. Das Mitleid, diese, wie in neuester Zeit festgestellt worden, verwerflichste Form des Egoismus, ist zu mächtig in ihr; es überwältigt sie immer wieder von neuem.

Mit dem unvernünftigen Almosenspenden ist es aber auch eine so eigene Sache! Unendlich schwer wird diese üble Gewohnheit ablegen, der einmal ihre ganze Süßigkeit gekostet hat. Du gehst durch die Straßen der großen Stadt, und wenn deine Augen nur offen sind, siehst du in kurzer Zeit das Elend in jeder denkbaren Gestalt; von dem geistigen und moralischen Elend an, das hinter äußerem Glanz verborgen vorbeistolziert, bis herab zu dem Elend des hungernden, vom Tode schon gezeichneten Lasters. Und wenn es dich nun da plötzlich mitten heraus aus der rettungslosen Verkommenheit ansieht mit Augen, die von einer noch unschuldigen Seele erzählen oder von einer im schwersten Kampf geläuterten, oder von einer noch hoffenden, noch ringenden, und du antwortest ihrer scheuen Bitte und greifst in deinen Säckel, greifst ziemlich tief und reichst eine Gabe dar, welche den Armen auf das äußerste überrascht – o des wunderbaren Eindrucks! o der stummen seligen Frage: Das schenkst du mir? Du ganz fremder Mensch schenkst mir so viel? Und ein unvergeßlicher Blick trifft den Wundertäter, der dem Kinde der Not für ganze Tage die Sorge aus dem Leben nimmt.

Nun, dieses Staunen mit anzusehen, die Freude aufblitzen zu sehen auf dem Antlitz des Kummers, das ist Glück; und wer es einige Male genossen hat, und auf den Geschmack gekommen ist und sich's trotzdem aus Überzeugung und aus Tugend versagt, den nenn ich – so schloß die Generalin ihre Betrachtung – einen Cato vom Standpunkt der Nationalökonomie!

Sie selbst hat nicht das Zeug zu solcher Größe, überhaupt nicht, am wenigsten aber dann, wenn sie sich durch und durch zufrieden fühlt und im Grunde jeden anderen bemitleidet, weil er schwerlich so gut dran sein kann wie sie, der arme andere.

Widerstandslos läßt sie ihrer Torheit den Zügel schießen, bis ihr eine natürliche Grenze gesetzt wird und das Portemonnaie nichts mehr enthält als eine Visitenkarte.

Nachgerade ist es auch Zeit geworden, einen rascheren Schritt einzuschlagen, denn plötzlich hat der Wind sich scharf erhoben und jagt große Schneeflocken durch die Luft. Die gelblichen Flämmchen, die man in den Straßenlaternen wahrzunehmen beginnt, machen darauf aufmerksam, daß die Dunkelheit demnächst einbrechen wird und daß es ihnen nicht einfällt, sie daran zu hindern. Unter solchen Umständen hat die Nebenstraße des Wiener Grabens, in welche die Generalin eben einlenkt, etwas entschieden Unheimliches, und die Dame wäre gar nicht böse gewesen, wieder draußen zu sein.

So eilte sie denn, ohne sich aufzuhalten, an einer Bettlerin vorüber, die auf der steinernen Stufe vor einem geschlossenen Kaufladen saß und sich frierend in den Winkel der Mauer drückte. Der Schnee umwirbelte sie und zerrann auf ihrem tiefgebeugten Haupt, das von einem durchlöcherten Tuch bedeckt war. Ihre Knie hatte sie bis zur Brust heraufgezogen, der dünne Rock reichte kaum bis zu den Knöcheln, die Füße waren mit Fetzen umwickelt und ruhten, fest aneinandergepreßt, auf einem bißchen Stroh. Ein Ding, das früher ein Muff aus Hasenfell gewesen, jetzt aber nur noch eine zerfetzte Röhre aus Hasenhaut war, sollte den Händen zum Schutze dienen, versah sein Amt aber schlecht; denn diese alten Hände kamen an manchen Stellen vor Kälte zitternd zum Vorschein, und man sah es ihnen wohl an, wie hart sie gearbeitet, bevor sie zu unerwünschter und unerquicklicher Ruhe in den Schoß gelegt wurden.

Die Generalin war schon ein Stück Weges weitergegangen, als ihr die ganze Kläglichkeit des im raschen Vorüberschreiten empfangenen Eindrucks vor die Seele trat. Sie kehrte zu der Alten zurück, blieb eine Weile vor ihr stehen, verfolgte mit immer trauriger werdenden Blicken die seltsam zuckenden Bewegungen des zusammengekrümmten Körpers und sagte endlich: »Es ist spät, liebe Frau, gehen Sie doch nach Hause.«

Das Weib blickte empor und erwiderte, sie müsse auf ihre Tochter warten, die erst in einer Stunde von der Arbeit kommen und sie abholen werde.

In einer Stunde! dachte die Generalin – und die Alte macht jetzt schon so verdächtig schläfrige Augen; die ist imstande und erfriert bei drei Grad Wärme. Was anfangen? was anfangen, du lieber Gott! Ein Wachmann, den man rufen und bitten könnte, auf die Arme achtzugeben, ist nicht in der Nähe, und wäre er's, die Generalin würde sich genieren, ihn darum anzusprechen. Die Leute schauen einen bei derartigen Zumutungen meistens so kurios an. Und noch länger dastehen und die Bettlerin betrachten, hat auch keinen Sinn. Überdies beginnt die Alte, beunruhigt zu werden, und fragt sich mit Angst, was denn diese Person will, die sich da vor ihr aufgepflanzt hat und ihr nichts schenkt.

»Geh'ns weg!« sagt sie, »geh'ns weiter!« und die Bangigkeit, das Mißtrauen, die sich dabei in ihren Mienen kundgeben, versetzen die Generalin in eine große Verwirrung. Es kommt ihr auch vor, als ob die Vorübergehenden in sonderbarer Weise nach ihr schielten. Die Situation wird immer peinlicher, und in der Verlegenheit, in der Ratlosigkeit, in dem dringenden Wunsch, sich einen anständigen Rückzug zu sichern, legt die Dame plötzlich ihren Muff der Alten auf die Knie. »Ich hab kein Geld, aber nehmen Sie das und wärmen Sie sich«, sagt sie.

»O Jesus! Jesus!« . . . Das Weib bringt anfangs nur diese Worte heraus; aber als sie aus der ersten Verzückung zu sich kommt, läßt sie auch eine Beredsamkeit los, die mit lautem Geschrei einen Platzregen von Segnungen und Wonnen vom Himmel herunter auf das Haupt der edlen Spenderin beschwört.

Die Generalin entflieht, so schnell sie kann, dem Wortschwall und den Lobpreisungen, die ihr noch von weitem nachgerufen werden, und langt kurze Zeit später glücklich daheim an.

So ganz wohl zumute ist ihr nicht; sie besinnt sich, daß sie ihr Portemonnaie in dem verschenkten Muff gelassen hat, und ärgert sich auch im voraus über das Verhör, dem sie der beiden Dinge wegen von der Kammerfrau unterzogen werden wird.

Die Kammerfrau ist es auch, die auf ihr Schellen öffnet und sie mit der Nachricht begrüßt: »Der Herr General sind schon lange zu Hause.«

»Da geh ich gleich zu ihm hinüber«, antwortete die Gebieterin, gibt rasch Hut und Mantel ab und tritt in das Zimmer ihres Mannes.

Der alte Herr erhebt sich beim Erscheinen der alten Frau. Er ist um ein weniges kleiner als sie, hat aber etwas ungemein Energisches; Gang und Haltung verraten den ehemaligen Kavalleristen.

»Kommst du endlich!« ruft er der Eintretenden entgegen, »hat heute wieder schön lange gedauert, die Urschlerei.« Mit diesem Namen pflegt der General die Gesellschaften zu bezeichnen, die lediglich aus Damen bestehen.

»Es waren auch Herren da«, entgegnet die Generalin.

»Beneide sie nicht«, murmelte der Gatte und zieht den Tisch, auf dem eine Patience aufgelegt ist, zurück, damit seine Frau auf dem Sofa Platz nehmen könne. Er setzt sich ihr gegenüber, stemmt die linke Faust auf den Schenkel und die rechte auf den Tisch und betrachtet die Karten mit scharfen Feldherrnblicken.

»Ist wieder boshaft!« brummt er, »ist ein rechter Bosnickel, nein, was das für ein Bosnickel ist!«

Auch die Generalin vertieft sich in die Betrachtung der Karten und sagt nach längerem Nachsinnen: »Der Sechser geht.«

»Wo ist der Sechser?« fragt der General.

»Rechts, in der zweiten Reihe.«

»Der? ja der! ja den – den leg ich nicht aus.«

»Warum denn nicht?«

»Will nicht.«

»Schöner Grund!«

»Warte auf einen schwarzen Fünfer.«

»Deine schreckliche Methode! Auf die Art kann die Patience nie ausgehen, nie!«

»Liebes Kind«, entgegnet der General mit männlichem Ernst, »nimm mir's nicht übel, du hast unrecht. Hier handelt es sich nicht um das einzelne, sondern um das Ganze.«

»Wenn aber das einzelne den Knotenpunkt des Ganzen bildet?«

»Knotenpunkt! Wie du doch bist! wie du doch kindisch bist! Liebe, ich habe allen Respekt vor deiner Schriftstellerei, aber von Knotenpunkten verstehst du nichts.«

»Wer weiß, vielleicht doch . . . warum sollt ich nicht im Grunde . . .?«

Die Generalin sprach unsicher und zerstreut, ihre Wangen röteten sich leicht. Zu ihrem Schrecken war die Kammerfrau hereingetreten, durchforschte das Zimmer mit spähenden Blicken und nahm von dem eifrigen Abwinken ihrer Herrin keine Notiz.

»Laß es gut sein, Adele, laß es nur gut sein«, sagte diese endlich in einem Tone, in dem die dringende Bitte wie ein kühler Befehl klingen sollte.

Und der General, der längst überlebten Mode huldigend, in Gegenwart der Dienstleute ein ihm nicht ganz geläufiges Idiom zu gebrauchen, fragte:

»Qu'est-ce que veut-elle donc?«

»Ich suche den Muff«, sprach Adele, »die gnädige Frau haben den Muff nicht mitgebracht, und hier ist er auch nicht.«

»Nun, wenn ich ihn nicht mitgebracht habe, kann er auch nicht hier sein«, versetzte die Generalin. »Gehen Sie nur, Adele.«

Der treuen Dienerin war diese wiederholte Abweisung ein Stich ins Herz, und ihre tiefe Verletztheit äußerte sich in der Miene, mit der sie hervorstieß:

»Aber der Muff ist weg!«

Der General wendete rasch den Kopf und fragte kurz: »Was Muff? wer ist Muff?«

»Der große, der schwarze, der schöne Muff«, entgegnete Adele, und die Generalin bemerkte krampfhaft lächelnd:

»Groß und schwarz allerdings, aber schön . . . daß er schön war, hat ihm wirklich schon lange niemand mehr nachsagen können.«

»Mag er nun sein, wie er will«, erklärte der Mann, »da muß er sein!«

»Man muß ihn halt wieder abholen«, sprach Adele, »die gnädige Frau haben ihn halt liegenlassen in der Gesellschaft, wo Sie gewesen sind.«

»Ich habe ihn dort nicht liegenlassen.«

»Euer Gnaden haben das neulich auch gesagt, wie Euer Gnaden aus dem Theater gekommen sind, und wie ich gesagt habe, das Taschentuch ist nicht da. Und am andern Tage hat's der Logenmeister gebracht.«

»So? hat er's gebracht? . . . Aber, Adele, warum verschweigen Sie mir das?«

»Dergleichen haben Sie sogleich zu melden«, rief der General, und Adele jammerte:

»Wie soll ich's denn melden? Wann denn? Man darf ja nichts reden, weil ja die gnädige Frau immer dichtet beim Ankleiden.«

Die Generalin biß sich auf die Lippen; es war ihr stets beschämend, wenn ihre Dienerin ihr die Schriftstellerei vorwarf. Der General runzelte die Stirn, richtete sich steif auf und sagte zu seiner Frau: »Voyez-vous?«, zur Kammerfrau jedoch: »Besorgen Sie jetzt den Tee.«

Adele entfernte sich mit dem Schritt einer gefangenen Königin vor dem Wagen eines römischen Triumphators. Der General kreuzte die Arme, beugte sich, blickte seiner Frau in die Augen und fragte: »Klotilde, was ist's mit dem Muff?«

Sie senkte den Kopf und nach einem um Vergebung bittenden Blick auch die Augen und sprach:

»Fritz – ich habe ihn verschenkt!«

Er fuhr heftig zusammen, sein Gesicht drückte Gram aus. »Verschenkt! . . . Hast du vergessen, daß er von meiner verstorbenen Tante herstammt?«

»Fritz – ja! in dem Augenblick, in dem ich ihn verschenkte, habe ich das vergessen.«

»Dann«, versetzte der General wehmütig, »wäre es zwecklos, dich jetzt daran zu erinnern. Aber sagen will ich dir doch, Klotilde: Ich habe im stillen seit langer Zeit auf den Muff spekuliert. Ich hätte mir gern einen Fußsack für meinen Jagdschlitten daraus machen lassen; ich habe es dir aber verschwiegen aus Delikatesse . . . Das habe ich getan, du aber . . .«

Die Generalin fiel ihm ins Wort: »Mach mir keine Vorwürfe, Bester; ich bin genug gestraft.«

Sie war's; er sah es deutlich ausgesprochen auf ihrem Antlitz, in dem er seit vierzig Jahren zu lesen gewohnt war, und so erfüllte er denn großmütig ihre Bitte und fragte nur mild:

»Ich möchte aber wissen, an wen du ihn verschenkt hast.«

»An eine Greisin, lieber Fritz, eine unglückliche, hilflose, die vielleicht erfroren wäre ohne ihn . . .«

»Papperlapapp!«

»Und für die der alte Muff eine Wohltat ist, die vorhalten wird bis ans Ende ihrer Tage, ein wahres Lebensgut. So verzeih denn, bester Mann, und wenn du mir noch etwas zuliebe tun willst . . .« Klotilde ging aus ihrer elegischen Weise in eine muntere über, griff nach der Hand ihres Mannes, zog sie rasch an sich und drückte, bevor er's wehren konnte, einen Kuß darauf, »so lege den Sechser aus.«

Seufzend fügte sich der General dem Wunsche seiner Frau; aber es geschah zum Unheil, denn, wie die scharfsinnigen Kombinationen, die er später anstellte, erwiesen, konnte die Patience vom Moment an, in dem die verhängnisvolle Karte ausgelegt worden war, nicht mehr gelingen. Den Mann verstimmte das ein wenig, für die Frau gab es an dem Tage nichts, das imstande gewesen wäre, ihre Heiterkeit zu stören. Und als sie zur Ruhe gegangen war und die Augen schloß, da schwebte das Bild eines welken Greisengesichts, von heller Freude verklärt, vor ihr empor, und sie schlief ein, gewiegt von Empfindungen, um die die Landgräfin Elisabeth von Thüringen Ursache gehabt hätte, sie zu beneiden.

Am nächsten Morgen würde die Generalin ihres gestrigen kleinen Abenteuers nicht mehr gedacht haben ohne die schroffe Einsilbigkeit, die Adele der Herrin gegenüber beobachtete. – Das wird nicht gut, dachte diese, wird nicht gut, bevor ein umfassendes Geständnis abgelegt ist. Und ich bin es ihr ja schuldig; habe ich doch eigenmächtig über einen Gegenstand verfügt, auf den sie sich durch die treue Hut, in der sie ihn mehr als ein Menschenalter hindurch gehalten, einigermaßen Rechte erworben hat.

Die Generalin war eben im Begriff, ihre Beichte zu beginnen, als die Hausglocke, mit unerhörter Heftigkeit in Bewegung gesetzt, ertönte. Man hörte die Tür öffnen und zuschlagen, und aus dem Vorzimmer herüber gellte Weibergeschrei, kreischend, durchdringend; der Generalin war die Stimme, wie ihr schien, nicht ganz fremd. Dazwischen donnerte ein ihr unbekannter kräftiger Baß.

Einige bange Sekunden, dann sagte die Gebieterin: »Sehen Sie doch nach, was es gibt, Adele.« Aber bevor Adele, bei der sich zugleich mit akuter Stummheit auch immer Schwerhörigkeit einstellte, dem Wunsche nachgekommen war, trat der General ein, in aller Gottesfrühe schon sorgfältig gekleidet, stramm, militärisch. Seine Brauen waren zusammengezogen, sein Adlergesicht hatte einen drohenden Ausdruck.

»Voyez dans l'antichambre!« sprach er zu seiner Frau, und sie, mit versagendem Atem, von unbestimmten, aber schrecklichen Ahnungen erfüllt, ging ins Vorzimmer.

Da stand das Unheil in zweifacher Gestalt: in lärmender – der der Bettlerin von gestern; in würdevoll stummer – der eines ungeheuer langen, pfahlgeraden Wachmannes, der den Muff und das Portemonnaie der Generalin in seinen Händen hielt.

Der Diener, die Dienerin, das Stubenmädchen waren auch zur Stelle, ohne Zweifel einem unbewußten künstlerischen Triebe gehorchend, um das Tableau durch Ausfüllung des Hintergrundes zu vervollständigen.

Sobald die Generalin sich zeigte, wurde sie von dem alten Weibe mit ohrenzerreißendem Siegesgeschrei begrüßt.

»Da is sie! da is sie ja – jetzt können Sie's selber fragen!« rief die Bettlerin dem Wachmann zu, stürzte der Generalin entgegen und faßte sie beim Arm: »Und Sie, Sie sagen ihm's jetzt gleich auf der Stell: bin i a Diebin? Hab i gestohl'n? Hab'n Sie mir die verdammte Grenadiermützen g'schenkt oder nit?«

»Geschenkt«, sagte die Generalin, »jawohl, ganz gewiß. Ich habe der armen Frau diesen Muff geschenkt.«

»Haben Euer Exzellenz ihr auch dieses Portemonnaie geschenkt?« fragte der Wachmann und hob das vermeinte corpus delicti in die Höhe.

»Eigentlich – nein . . . eigentlich habe ich vergessen, es aus dem Muff zu nehmen«, lautete die Antwort, die der Diener der Gerechtigkeit mit dem frohlockenden Ausruf begrüßte:

»Und sie – hat's ausgeleert!«

Die Alte stieß ein Hohngelächter hervor, und die Generalin rief:

»Nein, nein! es war schon leer.«

»Leer? das Portemonnaie Eurer Exzellenz leer?« versetzte der Wachmann mit leisem und ehrerbietigem Zweifel.

»Bis auf eine Visitenkarte – ja.«

Der Wachmann ist betroffen, und die Bettlerin bricht in eine leidenschaftlich wilde Anklage gegen ihn aus. Aber auch die Generalin bleibt nicht verschont:

»I hab nix g'stohl'n«, wettert die Alte ihr zu, »aber mir kann was g'stohl'n wer'n – Ihnere Wohltaten! Auf d' Polizei haben mi Ihnere Wohltaten g'führt: Fünfunsechzig bin i alt, aber dös is mir noch nit g'schegn, daß i a ganze Nacht auf der Polizei hätt übernachten missen mit allerhand G'sindel, und wenn der Herr Kommissar mi nit kennt hätt, weil i amol Kohlen bei ihm trogen hob, i sitzet no und könnt sitzen, bis die gnädige Frau ihre Vorladung kriegt.«

»Meine Vorladung?« stammelte die Generalin mit trockenen Lippen.

»Ganz natirli, zur Konfrottierung. Nur weil er mi kennt und der gnädigen Frau ihren Herrn a, hat er mi herg'lassen mit'n Wachmann. Aber was nutzt dös all's? G'sessen bin i doch. Und was mei Tochter wird g'sagt hab'n, wie's kommen is gestern und mi nit g'funden hat auf mei'm Platzl – was die sich wird denkt hab'n, dös z' hören steht mir noch aus.« Sie wurde weich, ein Tränenstrom rann über ihre Wangen.

»Ach ja, Ihre Tochter!« sagte die Generalin. »Ihre Tochter müssen Sie mir jedenfalls bringen, damit ich mich bei ihr entschuldigen kann.«

»Entschuldigen war schon recht«, sagte die Alte schluchzend, wenn auch schon etwas besänftigt, »aber mit'n Entschuldingen alleinich wird's es nit tun. Da wer mer um a bissei an Nachguß bitten, um a bissei a Schmerzensgeld für die ausg'standenen Wohltaten, mei Tochter und i.«

Die Generalin freute sich, die Bekanntschaft der Tochter zu machen, und entließ unter Assistenz des Generals, der sich von dem Stand der Verhandlungen zu überzeugen kam, den Wachmann und die Bettlerin – nicht unbeschenkt, wie sich von selbst versteht.

Das Weib nahm dankbar alle gespendeten Gaben an, nur den Muff wollte sie sich nicht aufnötigen lassen. »Den schwarzen Bären«, erklärte sie, »können's wen andern anhängen – ich hab genug von ihm.«

»Nun, Liebe?« sagte eine Stunde darauf der General zu seiner Frau, die er in ihrem Zimmer aufsuchte und recht traurig fand.

Sie nickte ihm zu. »Was, lieber Fritz?«

»Ich werde von nun an ein schärferes Auge auf dich haben, Gattin, sonst kommst du mir einmal noch mit einem entzweigeschnittenen Mantel nach Hause, wie der heilige Martin.«

»Martin? Sei ruhig, den nehm ich mir nicht zum Muster.«

»Gott sei Lob und Dank. Ich brauche also nicht zu fürchten, daß du ihm die Mantelteilung nachmachst?«

»Gewiß nicht.«

Die Generalin schüttelte ernst und mißbilligend den Kopf: »Diese Tat war mir immer rätselhaft. Ich hoffe nur, der Heilige hatte vorher schon sein Wams verschenkt, sonst schiene es mir unbegreiflich, daß er einem armen Unglücklichen nicht einmal einen ganzen Mantel gegönnt haben sollte.«

»Du bist unverbesserlich, Gattin«, rief der General, streckte ihr aber plötzlich die Hand entgegen und setzte freundlich hinzu: »Gottlob!«



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