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Ein Künstler des »Charivari«.


Wir befinden uns im Departement der Hautes-Pyrénées, auf dem Landgute eines patriarchalisch gesinnten Edelmanns. Das Diner ist vorüber. Die Gesellschaft hat sich in dem geräumigen Salon vor dem Kamin versammelt. Lustig prasseln die mächtigen Eichenscheite; lustig blitzen die dunkeln Augen der beiden Schloßfräulein, die plaudernd und lachend in einem illustrirten Modejournal blättern. Hinter ihnen steht ein junger, schmächtiger Mensch, dessen bescheidener Anzug mit der Eleganz seiner Umgebung zu contrastiren scheint. Doch verräth seine Haltung jenes angeborene Sicherheitsgefühl, wie es lebhafte und begabte Naturen selbst in ungewohnten Verhältnissen kennzeichnet. Weiter abseits lehnt der Herr des Hauses behaglich in einem Schaukelsessel und conversirt mit einem stattlichen, vollgewachsenen Manne, den er » Monsieur le directeur« anredet. Die Mutter des blühenden Mädchenpaares und der Geistliche des Dorfes vollenden die gemüthliche Gruppe.

Der Herr, mit welchem der Besitzer des Schlosses über die Leiden und Freuden einer kürzlich stattgehabten Fuchsjagd plaudert, ist der Director des Catasteramtes. Er verweilt seit einiger Zeit zum Behuf geometrischer Aufnahmen in der zurückgezogenen Stille des Pyrenäen-Dörfchens, und verbringt allabendlich ein paar Stunden im Schooße der gastfreien Adelsfamilie, die ihrerseits froh ist, wenigstens ein paar Wochen lang nicht ausschließlich auf Monsieur le curé angewiesen zu sein.

Der zarte, schmächtige Jüngling ist Guillaume Sulpice Chevalier, des Directors Gehilfe.

»Nun, Monsieur Guillaume,« beginnt die eine der beiden Schloßprinzessinnen, »Sie sind ja heute so schweigsam. Was fehlt Ihnen?«

Der junge Mann lächelt.

»Ich denke eben darüber nach,« versetzt er in einem Tone, dessen sarkastischer Anflug ihm vortrefflich zu Gesicht steht, »wie Sie in diesem Costüm da sich ausnehmen würden ...«

Er deutet auf ein Kupfer in dem Modejournal, das die Mädchen auf den Knieen halten.

»Ah, die Zeitungen mißfallen Ihnen?« fragt die andere ... »Sie gehen doch stets kritisch zu Werke! Aber Tadeln ist leicht ...«

»Und Bessermachen schwer, wollen Sie sagen! Im Allgemeinen ja – aber im vorliegendem Falle ...«

»Wie, Sie machen sich anheischig ...?«

»Ich bitte Sie, mein Fräulein, vermag denn diese ewige Monotonie Ihren Geschmack zu befriedigen? Der Carneval ist die Zeit der Ausgelassenheit, der Keckheit, der Originalität und doch serviren uns die Costümkünstler stets dieselben abgedroschenen Masken, nur ein wenig variirt ... Der Pierrot, der Polichinel ... Es ist immer die alte Leier! Ich dächte, es gehörte wenig Erfindungsgabe dazu, um etwas Besseres und Interessanteres zu liefern!«

»So zeichnen Sie uns was Neues!« sagte die erste der beiden Jungfrauen.

»Mit Vergnügen. Morgen Nachmittag habe ich eine freie Stunde ...«

»Warum nicht gleich?«

»Nun, ich muß doch ein wenig überlegen.«

»Nicht doch! Wer ein so vernichtendes Urtheil wagt, wie Sie, Monsieur Guillaume, der muß zu jeder Zeit schlagfertig sein! Wir wollen Sie einmal ordentlich in die Klemme bringen ...«

»Sie sind grausam,« versetzte der junge Mann mit überlegenem Lächeln.

»Hier – nehmen Sie Platz,« fuhr das Mädchen fort, »ich werde Papier und einen Bleistift holen ... Nun?«

»Ich sitze ja schon.«

»Gut! Sie sollen sehn, wir verstehn es, die Leute beim Wort zu nehmen!«

Sie verschwand im Nebenzimmer und kehrte nach wenigen Secunden mit den erforderlichen Utensilien zurück. Der junge Geometer ergriff den Stift, legte ein weißes Blatt auf die geschmähte Toilettenzeitung und begann mit unglaublicher Schnelligkeit eine menschliche Gestalt zu entwerfen.

Er hatte die späterhin so weltberühmte Figur des Debardeurs erfunden!

Die Damen überhäuften ihn mit Lobsprüchen. Josephine, die ältere, erbat sich die Erlaubniß, die reizende Skizze an die Redaction des Modejournals einsenden zu dürfen.

»Meinetwegen,« sagte Guillaume, indem er aufstand. »Man kann nie zu früh in die Oeffentlichkeit treten, und debutirte man selbst mit einer Stegreif-Kritzelei ...«

»Zeichnen Sie uns ein Gegenstück!« rief Eugenie, die jüngere. »Es ist besser, wir schicken dem Redacteur zwei Skizzen; dann hat er die Auswahl!«

»Gut!« entgegnete Guillaume – setzte sich und entwarf eine zweite Zeichnung.

Er hatte die unsterbliche Figur des Titi geschaffen ...

»So, und nun schreiben Sie Ihren Namen bei!« sagte Josephine in die Hände klatschend.

»Wozu?« fragte Guillaume.

»Nun, ich dächte, das wäre bei den Künstlern so Sitte ...«

Guillaume lachte.

»Wenn Sie meinen ... Aber warten Sie! Die Künstler lieben es, ihren Familiennamen mit einem volltönenderen zu vertauschen. Der berühmte Maler der Hochzeit von Canaan nannte sich, nach seiner Vaterstadt, Veronese ...«

»So nennen Sie sich Guillaume Chevalier le Parisien oder einfach Le Parisien!«

»Aus Paris sind so viele Leute, gnädiges Fräulein; das wäre nicht originell.«

»Aber was wollen Sie sonst wählen? Sie sind doch nun einmal ein geborener Pariser!«

»Allerdings. Meine Eltern siedelten sich ein Jahr vor meiner Geburt in der Metropole an. Ich bin mit Seine-Wasser getauft!«

»Ergo!«

»Daraus folgt nicht das Geringste! Nein, mein Fräulein! Ich weiß sehr wohl, was sich schickt! Ich werde die Skizzen mit dem Namen des Dörfchens schmücken, in dessen Weichbild ich die Ehre hatte, Sie kennen zu lernen!«

Sprach's und zeichnete die beiden Blätter mit dem Namen des Dörfchens: Gavarni.

Die drei melodischen Silben waren bis dahin völlig unbekannt; der junge Geometer sollte ihren Klang bis weit über die Grenzen Frankreichs hinaus berühmt machen! Er hat den Namen behalten, ja, das gebildete Europa kennt ihn nur unter diesem Pseudonym.

Die jungen Mädchen steckten die Skizzen in ein Couvert, verfaßten ein zierliches Begleitschreiben und schickten das Ganze recommandirt und franco an Herrn Lamessangère, Director des mehrfach genannten Wochenblatts.

In einer der nächsten Nummern wurden die Bildchen veröffentlicht. Der Erfolg war ein ungeheuerer. Als Gavarni nach einem mehrwöchentlichen Ausflug ins nordspanische Hochland nach Paris zurückkehrte, bestürmte man ihn von allen Seiten um Skizzen, Skizzen und Skizzen. Er gab die Geometrie auf und verlegte sich mit einem enthusiastischen Feuereifer auf's Zeichnen. Man honorirte ihn glänzend. Im Gegensatze zu vielen anderen Talenten ersten Rangs hatte Gavarni durchaus keine Kämpfe durchzumachen. Er producirte mit einer so unerhörten Leichtigkeit und war so unerschöpflich an neuen Ideen, witzigen Einfällen, geistvollen Gesichtspunkten und kühnen Streiflichtern, daß er, trotz seiner mangelhaften ökonomischen Grundsätze, über die achtungswerthesten Capitalien verfügte. Die Mode- und Theaterzeitungen brachen sich um seine Beiträge fast die Hälse. Drei, vier Jahre lang konnte neben Gavarni absolut Niemand aufkommen; er versorgte die illustrirte Presse so reichlich, daß jeder deus minorum gentium überflüssig wurde – ein Umstand, der ihm viele heimliche Feinde machte. Nur das Charivari, das humoristische Blatt par excellence, war bis zur Stunde außer dem Bereiche seines Wirkungskreises geblieben ... Mit Einem Worte, Gavarni's eigentliches Genre schlief noch im Schooße der Zukunft.

Da sitzt der junge Künstler eines Nachmittags im Kaffeehause und schlürft, heiter beobachtend, seinen petit noir. Caboche, der Director des genannten Witzblattes, tritt ein, wandelt nachdenklich an den besetzten Tischen vorüber und stolpert über das vorgestreckte Bein des Croquiszeichners. Mit vieler Wucht und wenig Grazie fällt er dem überraschten Künstler in den Schooß, die umgeworfene Tasse überstrudelt beide mit ihrem zuckergesättigten Inhalt, die Cigarrette Gavarni's erzeugt auf der Wange des Directors eine Brandblase, und des Directors Ellbogen zerreißt Gavarni's Uhrkette. Kurz, die Situation war mehr pittoresk als gemüthlich, und die Schreckensrufe der herzueilenden Kellner trugen nicht dazu bei, das klägliche Intermezzo zu vertuschen.

Caboche war eine leidenschaftliche Natur; die Brandwunde that weh, und der Fluch des ridicule lastet bekanntlich jedem Franzosen wie Blei auf der Seele.

»Herr!« donnerte er, als das körperliche Gleichgewicht wieder hergestellt war, »Sie sind ...«

In diesem Augenblick erkannte er in dem Gegenstand seines Zornes den geistvollen Verfasser der Mode- und Theaterskizzen.

Er unterbrach sich und schlug sich heftig wider die Stirne.

»Das ist ein Wink des Schicksals!« murmelte er vor sich hin. »Der Zufall stößt mich im buchstäblichen Sinne des Wortes mit der Nase darauf.«

Er verneigte sich.

»Sie sind Herr Gavarni?«

»Zu dienen! Was Sie betrifft, Monsieur, so scheinen Sie mir ...«

– Er wollte eine Verbalinjurie ausstoßen, aber der Andere nahm ihm das Wort vom Munde, und es entspann sich ein geordnetes, ruhiges Gespräch.

»Ich bin François Caboche, vom Charivari,« sagte der Director. »Wir bringen Pariser Carricaturen, satirische Actualitäten – Sie kennen uns ja! Wollten Sie nicht unser Mitarbeiter werden?«

»Pah,« entgegnete Gavarni, »ich habe mich auf dem Gebiet der Carricatur noch nicht versucht!«

»Das schadet nichts ...«

»Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, das Genre ist meine Sache nicht. Sie speculiren falsch.«

»Mein Gott, so zeichnen Sie mir, was Sie wollen. Ich lasse Ihnen freie Hand und genehmige Alles im Voraus.«

»Nun, wenn Sie meinen ... Mir soll's recht sein. Ich habe Sie gewarnt!« –

Wenige Tage erschien im Charivari die erste Nummer der famosen Skizzen-Serie »La Boîte aux Lettres«. Zunächst lieferte Gavarni nur die Zeichnungen und überließ den epigrammatischen Text einem der literarischen Mitarbeiter des Blattes. Bald jedoch entwickelten sich zwischen ihm und dem Collegen von der Feder unerquickliche Streitigkeiten, die ihn bewogen, auch das Wort – die »légende«, wie der Franzose sagt – zu übernehmen. Er bewies auch auf diesem Felde eine unnachahmliche Meisterschaft.

In der Regel entwarf er die Skizze, ohne an den Text zu denken. Wenn die Zeichnung fertig war, betrachtete er sie einen Augenblick und fragte sich, was die Figuren wol mit einander reden könnten ...? Zwei Minuten später war das Zwiegespräch gefunden! Er verstand es wunderbar, die unbedeutendste Phrase mit Esprit zu sättigen ... Mirécourt hat einen glücklichen Moment gehabt, als er den Künstler mit der Wendung charakterisirte: »C'est l'esprit français au bout d'un crayon!« Das Motto gilt in gleicher Weise »von seinen Linien wie von seinen Silben!«

Von diesem Zeitpunkte an datirt Gavarni's eigentliche schöpferische Thätigkeit. Seine Productionskraft, seine Vielseitigkeit übersteigt Alles, was jemals und irgendwo dagewesen. Gustav Doré, Paul de Kock und Friedrich Gerstäcker rangiren doch auch unter den fruchtbarsten Geistern aller Zeiten und Völker: aber sie haben zusammengenommen nicht annähernd so viel hervorgebracht als Gavarni. Seine Zeichnungen nehmen die unerhörte Zahl von fünfhundert dickleibigen Quartbänden ein. Man hat ausgerechnet, daß die zur lithographischen Vervielfältigung dieser Skizzen erforderlichen Steine ausreichen würden, um die Seine an ihrer breitesten Stelle mit zwei massiven Brücken zu versehen!

Trotz der phänomenalen Ergiebigkeit seines Talentes ist Gavarni selten platt oder geschmacklos. Seine Beobachtungsgabe grenzt an's Märchenhafte. Es entgeht ihm kein Zug, keine Miene, keine auch noch so schwach accentuirte Bewegung. Während seiner Glanzperiode verbrachte er den größten Theil des Tags auf der Straße. Das Schauen war ihm die wichtigere und ernstere Hälfte seiner Arbeit: Das Entwerfen der empfangenen Eindrücke spielte eine weit untergeordnetere Rolle und nahm kaum den dritten Theil der Zeit in Anspruch, die er auf seine peripatetischen Studien verwendete.

Gavarni hat das ganz moderne Frankreich wie in einem Zauberspiegel aufgefangen. Wenn alle geschichtlichen und culturhistorischen Documente des 19. Jahrhunderts verloren gingen, man könnte die Pariser Civilisation aus den Werken Gavarni's bis in die feinsten Details zurück construiren. Da seine Arbeiten, wie gesagt, nicht lediglich aus »Linien«, sondern auch aus »Worten« bestehen, so lohnt es sich, eine oder die andere seiner berühmtesten Sammlungen an dieser Stelle zu durchmustern.

Blättern wir aufs Gerathewohl!

... Auf der Straße. Ein Titi verfolgt eine Dame, die er jedenfalls für hinreißend schön hält. Vorläufig hat er sie nur von der Rückseite gesehen – aber er versteht sich darauf! So elastisch wandeln nur zwanzig Jahre ... Plötzlich sieht er sich am Arme gefaßt. Er erkennt Zidore, seinen Freund, Kameraden und Nachbar.

Zidore (mit Pathos): »Halt, Unglücklicher ... Es ist meine Tante!«

Die Physiognomie des enttäuschten Amoroso ist bezaubernd.

... Monolog eines Studenten, der mit untergeschlagenen Armen im Zimmer auf und ab geht:

» Voyons! mein Papa behauptet immer, ich sei ein energieloser Bonvivant! »Eugène, du arbeitest nicht!« – Voyons! Ich habe in diesem Semester fünf Meerschaumköpfe angeraucht und sieben Polizisten geprügelt – ungerechnet die eingeworfenen Fensterscheiben! Das will auch gelernt sein!«

 ... Feines Boudoir in der rue Notre Dame de Lorette. Die »Dame« des Hauses und Gaston ...

»A propos, Nichette, Dein Portier ist abscheulich ...«

»Das finde ich auch.«

»Grob, ungeschliffen, ein rechter Bauernlümmel, und dabei kaum zu verstehen mit seinem unausstehlichen Auvergnatendialekt.«

»Ja, ja, Du hast Recht.«

»Ich hätte ihn längst zum Teufel gejagt, wenn ich Du wäre.«

»Hm, daran habe ich auch schon gedacht – aber es geht nicht ...«

»Warum nicht?«

»Er ist – mein Vater!«

In diesem kurzen Zwiegespräch liegt ein ernstes Stück französischer Sittengeschichte.

... Um das Leben und Treiben im Schuldgefängnisse von Clichy zu studiren, ließ sich Gavarni eines Tages durch Vermittlung seines Schneiders in Haft bringen. Mehr als drei Wochen saß er hier unter den Duldern und Sündern, und zeichnete mit einer Emsigkeit, die selbst seine Freunde vom Charivari überraschte.

Man erzählt aus dieser Clichy-Epoche eine reizende Anecdote. Die Gefangenen beklagten sich, daß Gavarni sie stets als fidele, sorglose Gesellen darstelle. Diese Methode sei nicht geeignet, das öffentliche Mitleid zu erregen.

»Zeichnen Sie etwas Ernsteres,« sagte ein alter, graubärtiger Herr. »Es gibt hier Leute, denen es durchaus nicht heiter zu Muthe ist.«

Gavarni erkannte seinen Mißgriff und beeilte sich, ihn nach Kräften wieder gut zu machen. Er skizzirte einen armen Handwerker, der im Kerker von seiner jungen Gattin besucht wird. Die Züge des Gefangenen tragen den Stempel des Grams und der Sorge. Das junge Weib führt ein dreijähriges Kind an der Hand. Sie legt ein Buch, eine Pfeife und verschiedene andere Kleinigkeiten auf den Tisch und sagt:

»Da, mein Lieber, da bringe ich dir deine Mütze, deine Pfeife und deinen Montaigne.«

Die Skizze ward alsbald nach dem Redactionsbureau geschickt. Wenige Stunden später kam folgende Botschaft:

»Monsieur T ... (einer der Redacteure) findet die Skizze reizend, aber er meint, es sei eine bizarre Idee von Ihnen, den kleinen Knaben »Montaigne« zu nennen. Er hat sich erlaubt, diesen ungewöhnlichen Namen mit »August« zu vertauschen.«

Die Anecdote beweist, daß man in Frankreich ein großes Blatt redigiren kann, ohne etwas von Montaigne, dem berühmten Schriftsteller und Moralphilosophen, zu wissen!

Monsieur T. wurde später Abgeordneter und noch später Theaterdirector. Es muß nett gewesen sein, unter seiner Direction dramatische Arbeiten einzureichen! –

Gavarni war begreiflicherweise ein leidenschaftlicher Freund der Geselligkeit. Er versäumte keinen Opernball, kein Maskenfest. »Ich gehe in die Bibliothek,« pflegte er dann zu sagen. In der That, die Menschen waren seine Bücher und Papyrusrollen. Er schöpfte seine Weisheit unmittelbar aus dem Borne des Lebens; er bedurfte keines Mediums, um die geheimsten Tiefen der Natur zu ergründen.

Seine Wohnung, rue de la Fontaine St. Georges Nr. 1, war der Sammelplatz einer ganzen Colonie von Künstlern, Schriftstellern, Dichtern und Schauspielern. Zweimal in der Woche vereinigte man sich hier zu zwangloser Unterhaltung. Alle vierzehn Tage gab es eine »tolle Soirée«, die sich bedenklich dem näherte, was man anderwärts Orgie nennt. Gavarni war ein Kind seiner Zeit.

Im Salon der Madame Waldor lernte unser Künstler drei oder vier Blaustrümpfe kennen, die er in seinen Skizzen mit vielem Humor verwerthete. Madame Waldor zürnte ihm anfänglich ob dieser Indiskretion, aber die Bêtisen des Meisters waren zu köstlich, um ihm dauernd grollen zu können.

Eine dieser Zeichnungen stellt eine Dichterin dar, die nicht wohlhabend genug ist, um sich eine Köchin zu halten ... Sie verwaltet dieses Amt daher selbst. Seufzend legt sie die Feder weg, bindet die Schürze vor und tritt zum Herde. Die »légende« lautet:

»Ach die Hymne, die Apollo
In die Seele ihr geflötet,
Läßt sie unvollendet liegen:
Nied're Sorgen, qualmumnebelt,
Heischen jetzo ihren Eifer ...
Anadyomenens Vögel
Brät' sie sanft mit frischen Erbsen,
Und die Leyer wird zum Roste!«

Im Jahre 1846 trat Gavarni in den Stand der heiligen Ehe. Wenn jemals ein Künstler für die Bande Hymens zu flott und zu unbeständig war, so gilt dies von dem Zeichner der »Gens de Paris«. Gleichwol behandelte er seine Gattin liebevoll und zuvorkommend. Wenn er sie zeitweilig, ohne Abschied zu nehmen, zwei, drei Monate lang allein ließ, so war das die Folge seiner rastlosen, extravaganten Natur.

Gavarni hatte zwei Söhne. Um seinen Künstlernamen fortzupflanzen, ließ er Beide »Gavarni« taufen. Der Beamte auf der Mairie machte Einwände.

»Monsieur Chevalier,« sagte er, »man tauft seine Kinder regelrecht und gesetzmäßig. Man wählt einen Namen ... einen Namen, wie er eben vorzukommen pflegt ... einen Namen aus der alten oder aus der neuen Geschichte ...«

»Ganz recht,« entgegnete Gavarni, »ich habe einen Namen aus der Kunstgeschichte der Gegenwart gewählt.« –

Der Beamte war auf den Mund geschlagen.

Einige Jahre später trat unser Freund eine längere Reise nach England an. Mehr als ein halbes Lustrum verbrachte er unter den philosophischen Briten, eifrig ihre Eigenthümlichkeiten, Sitten, Einrichtungen und Anschauungen studirend. Der Aufenthalt jenseit des Kanals scheint ihn ein wenig anglisirt zu haben – nota bene so weit dies bei einem so prononcirt französischen Talente möglich ist. Seine späteren Arbeiten tragen den Stempel einer originell-populären Weltweisheit. Die »Propos de Thomas Vireloque« könnten der Seele eines in England ansässigen Diogenes entflossen sein. Vireloque ist ein denkender Proletarier, der über alle Erscheinungen des Lebens seine trocknen, schlagenden, halb ernsten, halb cynisch-humoristischen Bemerkungen macht.

Zum Beispiel:

Er sitzt nachdenklich auf einem Steine und verzehrt eine Artischocke.

Monolog: Der Mensch ist der Herr der Schöpfung! ... Wer hat das gesagt? – Der Mensch!

Ein anderesmal zieht er beim Anblick einer prachtvollen Kuh den schäbigen Hut und bricht in die Worte aus:

»Ein herrliches Geschöpf! Und sie trägt kein Corset ...!«

Er sieht zwei Knaben, die eine Ratte quälen. »Nicht doch!« ruft er. »Was macht ihr da? Man muß das Zeug nicht malträtiren! Das sind Thierchen wie wir! Sie fressen sich unter einander auf!«

Zwei Gymnasiasten plaudern mit ihm über die Geheimnisse der Weltgeschichte. Er belehrt sie, wie Mephisto den Schüler:

»Der ganze Witz, meine Jungens, ist der: die alte Geschichte heißt Fresser und Gefressene; – Schwindler und Beschwindelte, das ist die neue!« ...

Gavarni verbrachte den Rest seines Lebens in seiner reizenden Villa, unweit des Bois de Boulogne. Seltsamer Weise begann er hier zu dichten. Er hielt sich für einen großen Poeten, während er seinem Crayon nicht den geringsten Werth beilegte. Als Ricourt die Zeitschrift »L'Artiste« gründete, bat er den Meister um einen Beitrag. Natürlich erwartete er eine Zeichnung, und war nicht wenig überrascht, als Gavarni ihm eine »Ode an den Frühling« schickte! In ähnlicher Weise hat sich bekanntlich Goethe viel auf sein Kupferstechen und Zeichnen zu Gute gethan. War der Altmeister doch eine Zeit lang unschlüssig, ob er sich nicht lieber auf die Kunst Raphael's und Leonardo's werfen und die Poesie nur so nebenbei treiben solle. Amüsant ist die Thatsache, daß Ricourt sich gleichzeitig an Victor Hugo wandte, und von dem Dichter der »Chants du Crepuscule« eine sehr sorgfältig ausgearbeitete Kreidezeichnung erhielt!

»Man ist auf eingebildete Vorzüge stets eitler, als auf wirkliche,« sagt Madame de Sévigné ...

Kurz vor seinem Tod hatte Gavarni die fixe Idee, er sei zur Umgestaltung des Luftballonwesens berufen. Jedem, der es hören wollte, entwickelte er in weitschweifiger Rede, wie er eine Entdeckung gemacht habe, vermöge deren es kinderleicht sei, die Ballons nach Willkür zu lenken. Er war gegen etwaige Zweifel an der Ausführbarkeit seines Projectes in hohem Grade empfindlich. Mit einem ungeheueren Aufwand von algebraischen Gleichungen bewies er, daß seine Idee unfehlbar sei. Nur erheischte ihre Inscenirung einige Millionen, über die er, trotz seiner glänzenden Einnahmen, niemals verfügte.

Fünfundsechszig Jahre alt, starb er eines plötzlichen Todes – vermuthlich am Schlagfluß.

So lange es eine französische Sittengeschichte gibt, wird der Name Gavarni unvergessen bleiben!


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