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5.

Marie Sanders erhielt am vierzehnten März eine Postsendung aus Bonn, der ein liebenswürdiges Schreiben ihres Neffen, des Rechtsanwalts Doktor Feodor Merck beilag. Mit herzlichen Grüßen überschickte er ihr als wehmütig-schönes Andenken an Professor Lotichius die perlengestickte Brieftasche von damals ... Tante Marie wußte ja ... Und Feodor hoffte, daß es ihr einige Freude bereiten würde, aus dem Zustand der Brieftasche zu erkennen, wie sehr Professor Lotichius ihre Gabe in Ehren gehalten.

Marie Sanders zählte jetzt einundsechzig Jahre. Das reiche goldblonde Haar von einst war schneeweiß geworden, das mildvornehme Gesicht hatte noch eine entfernte Ähnlichkeit mit dem des zwanzigjährigen Mädchens; besonders um Stirne und Augen. In diesen freundlichen Zügen lag nichts Altjüngferliches, Verstimmtes oder Vergrämtes; nur ein Hauch herbstlicher Trauer, die schweigsame Elegie eines späten Oktobertages, wenn sich die Stürme beruhigt haben, und im aufsteigenden Abendnebel nur leise das dürre Laub raschelt. Marie Sanders hatte sogar im Ausdruck des wohlwollenden Mundes etwas Frauenhaftes und Mütterliches.

Als sie den Brief ihres Neffen gelesen, flog ein seltsames Zucken über ihr Antlitz. Was sie in jener fernen Zeit durchgemacht hatte – die Schmerzen ihres verwundeten Stolzes, das tiefe Leid über die unerwiderte Neigung – war längst vergessen. Nur das Liebe und Gute schien ihr treu im Gedächtnis zu haften. Jetzt war ihr zu Sinne, als kehre ihr mit dem Geschenk von damals ein lebendiges Stück ihrer begrabenen Jugend zurück. All die beglückenden Träume, die sie während der Zeit des Hoffens und Harrens bis zum Abschied des teuren Mannes gesponnen hatte, tauchten von neuem farbenprächtig in ihrer schauernden Seele auf, ohne den herben Beigeschmack der Enttäuschung. Die Morgenröte der ersten und einzigen Liebe warf einen warm verklärenden Strahl auf dieses längst schon abgeschlossene Frauendasein.

Mit zitternder Hand wickelte sie die Brieftasche aus der Umhüllung. Beim Anblick der unvergessenen Stickerei quollen ihr zwei funkelnde Tränen unter den Wimpern hervor. Sie drückte den Mund auf die hell schimmernden Perlen, wie der Gläubige auf ein Reliquienstück. Dann musterte sie noch einmal, in unsagbare Empfindungen versenkt, die blühenden Blumenständen mit der halb nur erkennbaren Landschaft dahinter, die ihr jetzt vollends verschwamm; denn sie weinte, ohne daß sie es wußte.

Endlich zog sie das Taschentuch, trocknete ihr beströmtes Antlitz und die brennenden Lider und seufzte aus tiefster Brust. Welch ein seltsames Geschöpf sie doch war! Als sie die Nachricht von seinem Tode erhielt, war sie verhältnismäßig so ruhig gewesen! Sie hatte ja kaum je wieder etwas von ihm gehört; denn Feodur vermied es ja absichtlich, ihn zu erwähnen, und sie selbst getraute sich nicht, nach ihm zu fragen. Der Tod hatte für sie überhaupt nichts Schreckhaftes. Ja, der Gedanke, daß er sein ruhmreiches Leben nun so plötzlich beschloß, ohne die Leiden und Gebrechlichkeiten des Greisenalters kennen zu lernen, flößte ihr eine gewisse Genugtuung ein. Sie war also rasch mit sich fertig geworden. Jetzt aber, da ihr die Brieftasche hier den Traum ihrer Jugend zurückführte, war sie kaum noch fähig, dem Ansturm dieser Erinnerungen standzuhalten.

Schamhaft zögernd fing sie jetzt an, in dem Notizheft, das mit dem hellroten Band in der Brieftasche befestigt war, langsam zu blättern. Auch sie war erstaunt, sämtliche Seiten vollständig unbenutzt zu finden. Das Herz bebte ihr wieder. So wenig also hatte er von ihr wissen wollen, daß er ihr schönes Geschenk nicht einmal in Gebrauch nahm! Die Auslegung, die Feodor sich gegeben, der gerade darin eine besondere Ehrung, eine Art heiliger Scheu erblickte, kam ihr nicht in den Sinn. Vollständig unbenutzt! Also einfach beiseite gelegt! Doch nein! Hier auf der letzten Seite stand ja wirklich eine blaßgraue Bleistiftnotiz...

Sie beugte sich vor, um zu lesen. Und wie sie las, ward ihr Gesicht totenblaß, und ihre Hände begannen zu schlottern, so daß sie ein paarmal aufhören mußte, wie um neue Kräfte zu sammeln. Die Bleistiftnotiz lautete:

»Diese Brieftasche empfing ich kurz vor Beendigung meines Aufenthaltes in Glaustädt als Vielliebchen von Fräulein Marie Sanders. Wehe mir, daß ich dies unvergleichliche Mädchen jemals kennen gelernt! Ich liebe sie bis zum Wahnsinn. Trotzdem werde ich es ehestens erleben müssen, daß sie das Weib eines anderen wird. Wie mochte ich törichter Mann auch nur minutenlang hoffen, sie, die Gefeierte, Glänzende, Herrliche werde sich jemals zu mir, dem unscheinbaren Gelehrten, herablassen können! Sie bekundet mir freundschaftliche Teilnahme, Mitleid vielleicht, aber sonst nichts. Mit diesem Geschenk begrabe ich all meine Hoffnungen. Ich halte es unter Verwahrung wie ein kostbares Kleinod. Nach meinem Tode erst soll Marie aus diesen Zeilen erfahren – wenn sie es überhaupt erfährt – was sie dem Trostlosen und Vereinsamten während der glücklichen Tage in Glaustädt gewesen ist. Edwin Lotichius.«

Die Brust des gealterten Fräuleins keuchte. Feodor hatte also doch tiefer geschaut als sie! Es war also dennoch kein Irrwahn gewesen! Aber wenn er sie wirklich geliebt hatte, wie war es dann möglich ...? Unwillkürlich griff ihre bebende Hand in die Falte, wo sie damals den Brief an Lotichius verborgen hatte. Eiskalt lief es ihr über den Rücken, und wie vernichtet sank sie in ihren Lehnstuhl.

Ihr Brief steckte da noch – unberührt und uneröffnet...

Der Schlag war zu furchtbar. Marie Sanders verlor das Bewußtsein. 6.

Als sie wieder erwachte, sah sie Feodor an ihrem Lager stehen. Aber es war nicht der Rechtsanwalt mit dem halb schon ergrauten Bart, sondern der blühende, jugendstrahlende Unterprimaner ... Und das war auch ihr hübsches, niedliches Mädchenzimmer im Hause der Schwester, nicht die einsame Stube des alten, weißhaarigen Fräuleins. Marie hatte das alles geträumt, alles, alles ... »Gott sei Dank!« wollte sie rufen. Aber da fiel ihr ein, daß die Hauptsache ja doch Wirklichkeit war. Lotichius hatte sich heute verabschiedet, morgen in aller Frühe wollte er seine Reise nach Bonn antreten. Keine Silbe hatte er auf ihren Brief erwidert. Ihr Leben war doch verloren ...

Und nun weinte sie wieder.

»Tante, sei doch vernünftig!« murmelte Feodor und ergriff ihre Hand. »In zwanzig Minuten geht es zu Tische. Was soll denn Mama denken?«

»Ach, Feodor, Feodor!« schluchzte sie laut. »Ich habe so gräßlich geträumt. Es liegt noch auf mir wie die Last einer furchtbaren Schuld ...«

Und hingerissen von dem Bedürfnis, ihr krankes Herz auszuschütten, erzählte sie alles bis ins kleinste.

Die Augen Feodors leuchteten.

»Das ist wie ein Finger des Schicksals! Ich bin fest überzeugt, du hast wahr geträumt – bis auf den Ausgang. Bisher wolltest du nicht, daß sich dein unkluger Neffe einmischte. Jetzt, bei allem, was heilig ist, lass' ich mir's nicht mehr verbieten!«

Somit rannte er weg. Um einen Vorwand brauchte er nicht verlegen zu sein. Bei dem Abschiedsbesuch des Professors war er, Feodor, leider nicht dagewesen. Und verabschieden mußte er sich ja doch von dem trefflichen Freund.

»Wie gefällt Ihnen die Brieftasche?« fragte er nach einer Weile. »Die von Tante Marie, mein' ich?«

»Ausgezeichnet!«

»Ich glaube, es liegt eine Widmung darin...«

»Ach? Eine Widmung? Da muß ich doch gleich einmal nachsehen...«

Also es war in der Tat, wie die Tante geträumt hatte! Der Brief Mariens steckte noch uneröffnet in der festschließenden Falte! Und daher das unendliche Weh der beiden in heißer Liebe entbrannten Herzen!

O, diese Gelehrten!

Feodor eilte jetzt schleunigst heim und überließ den Professor seinem glückseligen Schicksal.

Wenige Stunden danach aber kam ein flammender, leidenschaftlich beredter Brief ....

Und am Abend erschien der Professor selbst, ganz verwandelt in Miene und Haltung, ein Herzenseroberer, ein Stürmer, ein Triumphator!

Und zu Anfang Dezember fand in dem nämlichen Saale, wo Lotichius und Fräulein Marie das denkwürdige Vielliebchen miteinander gegessen hatten, die Feier der Hochzeit statt. Feodor Merck dichtete zu dieser Feier einen schwungvollen Hymenäus. Es kamen darin etliche Anspielungen auf Anselmo Colombi vor, die nur der junge Poet und die glückstrahlende Braut verstanden. Später dann, als sie mit ihrem Lotichius allein war, hat sie in herzklopfender Generalbeichte auch ihm das volle Verständnis dafür erschlossen. Da freute er sich, einen so hochberühmten Torheitsgenossen zu haben. Er hätte sich sonst zeitlebens für den schrecklichsten Esel Europas gehalten, und das ist doch schwer zu vereinigen mit der Amtswürde eines ordentlichen Professors der Archäologie zu Bonn am Rhein.


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