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Weiland hatte sich bald nach dem letzten Zusammentreffen mit Hans und Karl verheiratet. Um wenigstens äußerlich zu zeigen, welche geringe Bedeutung sie der bürgerlichen Eheform beilegten, waren das Brautpaar mit den beiden Zeugen, welche Freunde von Weiland waren, in Alltagskleidung zum Standesbeamten gegangen; da hatten sie in einem staubigen und leeren Vorzimmer gewartet und waren dann zu dem Beamten eingetreten, der hinter einem gelbpolierten Tisch saß und einen Federhalter im Mund hielt und in der rechten ein Lineal hatte. Der prüfte die Papiere der Zeugen, nahm die Aushangsbescheinigung zu seinen Akten, füllte das Formular in seinem dicken Buche aus, las dann seine Niederschrift laut vor und ließ die Anwesenden unterschreiben, indem er mit ärgerlichen Worten mahnte, daß sie keine Kleckse machen und nichts durchstreichen, auch ihre Vornamen nicht abkürzen sollten. Dann unterschrieb er selbst, und indem das Paar und die Zeugen noch in Erwartung weiterer Geschehnisse standen, winkte er ungeduldig mit der Hand, daß sie entlassen seien und gehen müßten. Im Vorzimmer wünschten die beiden Zeugen mit verlegenen Mienen Glück, und das Brautpaar lud sie der Verabredung gemäß zum Mittagessen ein. So gingen die vier mit leerem und verwirrtem Gemüt in eine Gastwirtschaft, da bestellte der junge Ehemann nach der Karte das Essen, und die üble Stimmung besserte sich ganz allmählich, indem alle zuerst die Speisen lobten und dann die Unfreundlichkeit des Standesbeamten tadelten, nur die junge Frau blieb fast stumm, und man sah, daß sie sich bezwang, um nicht zu stören. Nicht lange verharrte die Gesellschaft an dem unbehaglichen Ort, sondern nachdem sie gegessen hatten, standen sie auf und gingen, und auf der Straße verabschiedeten sich die Freunde mit Danksagungen und nochmaligem Glückwunsch, und dann faßten die Eheleute sich unter den Arm und gingen ihrem Heim zu, das sie sich schon vorher eingerichtet hatten.
Sie gingen durch die Haustür und über den Hof und sahen die neugierigen Gesichter der Mitbewohner an den Fenstern und erstiegen die schmalen Treppen und gingen an den verschlossenen und mit Namenschildern versehenen Türen der Wohnungen vorbei in die Höhe, und immer niedergedrückter wurden sie, wie sie so immer höher stiegen auf der schmutzigen und ungastlichen Treppe. Nur wie sie vor ihrer Tür ankamen, an der bereits das neue Namenschild befestigt war, hatten sie ein glücklicheres Gefühl, aber wie sie dann aufgeschlossen hatten und in dem engen und dunklen Korridor standen, fiel sie ihm um den Hals, schluchzte und weinte heiße Tränen aus dem tiefsten Herzen herauf, und die Erinnerung an die schmutzige Treppe, die sich eintönig an den gleichmäßigen Türen vorbei in die Höhe wand, bewirkte ihnen beiden eine heftige Vorstellung von dem einförmigen, freudeleeren und gedrückten Leben, das heute armen Leuten bevorsteht, wenn sie ihre Jugend verlassen und die Sorgen der Ehe auf sich nehmen. Und wiewohl sie ja jetzt noch jung waren und selbst die Sorgen noch nicht erlebt hatten, und ein fröhliches Stübchen hatten mit neuen Möbeln und frischen Gardinen, und die Sonne schien hier oben in ihre Fenster, so standen doch vor ihrem Sinn die vielen beladenen, mißmutigen, vergrämten und besorgten Menschen, die sie in ihrem Leben schon gesehen, und sie wußten, daß nicht lange mehr ihre Heiterkeit und roten Backen andauern würden.
Aber wie den armen Leuten gegeben ist, daß sie die Gegenwart zu genießen vermögen, so kamen auch die beiden bald über ihre Verstimmung hinweg, freuten sich ihres Stübchens und ihrer Küche, des neuen Sofas und des Salontisches, auf dem eine Visitenkartenschale stand, und des Vertiko; und wiewohl Sofa, Tisch und Schränkchen, neben dem Teppich und den Stühlen und allem anderen, ja neben den bunten Bildern von Marx und Lassalle an den Wänden, genau gleich waren tausend andern Sofas und Tischen, Schränkchen und Stühlen, die in tausend andern Wohnungen junger Leute standen, so schien ihnen ihr Stübchen doch etwas Besonderes und Schönes zu sein, das kein anderer Mensch hatte; und wenn sie zwar der festen Meinung lebten, daß die Zukunftsgesellschaft auch das häusliche Leben viel vernünftiger ordnen werde, wie es jetzt ist, so waren sie doch jetzt glücklich und zufrieden, wie sie ehrfurchtsvoll vor ihrem Salontisch saßen, auf dem die Visitenkartenschale aus bronziertem Zinkguß in der Sonne blitzte.
So führten sie ihre erste Zeit in harmloser Freude und genossen beide das Glück der jungen Ehe und die Vorstellung von einer besonderen Freiheit in ihr, die sie durch ihre Anschauungen und Gesinnungen hatten, daß nämlich die Frau nicht unterdrückt und ausgebeutet werde, und daß sie so in Wahrheit in freier Liebe lebten.
Derart hatten sie ausgemacht, daß sie des Morgens abwechselnd früher aufstehen wollten, denn beide mußten um sechs Uhr auf ihrer Arbeitsstelle sein, und nun sollte den einen Tag der Mann und den andern Tag die Frau zuerst das Bett verlassen, um für beide den Morgenkaffee herzurichten. Nach dieser Verabredung begann den ersten Tag die junge Frau, und mit sonderbarem Behagen erwachte der Mann von einem leisen Huschen auf den Dielen, da sah er durch die halboffene Tür, wie sie den neuen Petroleumapparat instand setzte und Wasser in das Blechgeschirr mit prasselndem Geräusch aus der Wasserleitung ließ, und während das heiß wurde, maß sie den Kaffee ab in die Mühle, nahm die zwischen die Kniee und begann zu mahlen. Dann wischte sie den sauberen Küchentisch noch einmal ab und rückte die Stühle davor, holte den Frühstücksbeutel herein und setzte den Topf mit der Milch zurecht. Und wiewohl das alles nur ganz einfache Dinge waren, die nun von jetzt an jeden Tag geschehen sollten, so kam ihm doch ein sonderbares Glücksgefühl ins Herz, indem er zufrieden in seinem Bette lag.
Am andern Tag war die Reihe an ihm, da stand er vorsichtig auf, um seine Frau nicht zu wecken, die indessen mit verbissenem Lachen sich nur so stellte, als schlafe sie noch, mit ungeschickten Händen brachte er die Kochmaschine in Ordnung, wie er es gestern gesehen, aber schon als er das Wasser in die Kasserolle ließ, war er irr, und wie er die Bohnen mahlen sollte, wußte er nicht, wie viel er nehmen durfte. Da mußte er zu ihr gehen und sie fragen, sie aber antwortete, daß er ganz ungeschickt sei und nie die Handgriffe lernen werde, und daß die Männer überhaupt solche Sachen nicht verstünden, und dann sprang sie geschwind aus dem Bett, nahm alles in ihre flinken Hände und besorgte mit Schnelligkeit das Frühstück, indessen der Mann gehorsam zuschaute.
In solcher Weise geschah es, daß nach einiger Zeit die rasche Frau doch alle frauenhafte Arbeit in ihre Hände nahm, indem sie freilich ihren Mann häufig ausschalt; dieser aber, der sich schnell zu großer Geduld entwickelt hatte, nahm solches Schelten nicht übel, da es ja nicht böse gemeint war und eigentlich eine Zärtlichkeit ausdrücken sollte.
Wenn am Abend die Arbeit beendet war und das Abendbrot verzehrt und das Geschirr aufgeräumt, so begann für die beiden der schönste Teil des Tages, denn der Mann nahm vom Büchergestell an der Wand ein aufklärendes Buch, etwa Bebels »Frau« oder Zimmermanns »Wunder der Urwelt«, las vor und erklärte; die Frau aber, die fleißig stopfte und flickte, hörte eifrig zu, fragte und widersprach, und recht oft kam zwischen beiden eine lehrreiche Diskussion zustande. In den meisten Fällen drehte sich der Streit darum, was die Arbeiter unter den gegenwärtigen Verhältnissen tun könnten, indem der Mann meinte, daß sie sich aufklären müßten und Bildung erwerben, die lebendige Frau aber schalt, daß die Männer träge und mutlos seien und zu Taten vorgehen müßten, und wenn sie selbst ein Mann wäre, so würde sie gewiß suchen, die Arbeiterklasse durch ein Attentat von einem besonders schlimmen Bedränger zu befreien, damit die andern Furcht kriegten. Hierauf erwiderte der Mann, daß sie durch solche Handlungen ja Ausnahmegesetze rechtfertigen würde und den ruhigen Fortgang der Entwicklung stören, von dem man alles erwarten müsse.
Indem die beiden dergestalt für sich lebten, geschah es ganz natürlich, daß sie weniger in Versammlungen gingen und der Mann auch geringeren Anteil nahm an der geheimen Tätigkeit seiner Freunde in Verbreitung von verbotenen Schriften oder im Sammeln von Geld; er sagte ihnen aber, daß er seinen Mann stehen werde, wenn es nötig sei; und wenn etwa die zunehmende Macht der Arbeiter die Regierung zu weiteren Unterdrückungsmaßregeln treibe und diese dann mit einer bewaffneten Erhebung antworteten, um die soziale Republik zu begründen, das etwa in zwei oder drei Jahren geschehen könne, so wolle er selbstverständlich sogleich mit in die Reihen der Kämpfenden treten.
Inzwischen zeigte es sich zu ihrer großen Freude, daß die Frau ein Kind erwartete, und nun machten sie neue Pläne und Hoffnungen, wie sie das nicht wollten taufen lassen und als ein freies Wesen auferziehen ohne den Glauben an alle die Erfindungen, welche die herrschenden Klassen benutzten, um das Volk niederzuhalten, und dazwischen erzählte die Frau von einem schönen Kinderwagen, auf den sie jetzt schon sparte, denn er sollte Gummiräder haben, und auch von Jäckchen und Mützchen sprach sie; diese Gedanken schienen zwar dem Mann töricht, allein er mochte doch nicht recht etwas gegen sie vorbringen, denn sie konnte viel schneller sprechen wie er und auch viel mehr. Er selber trug sich indessen mit noch andern Absichten; denn es war damals zuerst die Sitte aufgekommen, daß die Spekulanten ihre unbenutzten Grundstücke, die zu Bauplätzen bestimmt waren, in kleinen Abteilungen an Arbeiter verpachteten, die allerhand Gemüse und Blumen auf dem sandigen Boden zogen, und sich eine Laube bauten, und am Feierabend mit Weib und Kind sich hier in ländlicher Arbeit erfreuten. Einige Arbeitsgenossen von Weiland hatten sich zusammengetan zu einer solchen Ansiedelung, die sie »Klein-Kamerun« nannten; diesen dachte er sich anzuschließen, wenn er seine Frau von der Vortrefflichkeit des Planes überzeugte, und die Frau sollte das Abendbrot in der Laube zurichten, und da würden sie dann im Freien essen, und das Kind sollte auch im Wagen anwesend sein und die frische Luft mit genießen, und nach dem Essen wollte er dann immer graben, pflanzen und jäten. Derart lebten die beiden als zielbewußte und ganz umstürzlerisch gesinnte Arbeiter doch in allerhand Wünschen, wie sie wohl kleine Bürger haben mögen, und es zeigte sich auch an ihnen, daß die Gedanken der Menschen immer viel weiter greifen, wie ihr eigentliches Streben ist, das für einen Arbeiter in Wahrheit ja doch immer nur auf ein größeres Behagen gehen kann und auf die Art von Freiheit und Sittlichkeit, welche er versteht, nämlich des kleinen Bürgers, weil er den gerade über sich sieht.
So nahte sich die Zeit, wo die Frau entbunden werden sollte. Als eine fleißige und rische Person ging sie noch bis in die letzten Tage auf ihre Arbeit, und weil sie jung und gesund war, so geschah alles ohne besondere Unfälle und in richtiger Weise. Und nun war das Leben und das Glück, das sich jedesmal wiederholt, wo eine Familie wenigstens nicht mit allzu großem Leichtsinn gegründet ist, wenn das Erstgeborene kommt; zwar hatten sie nur ein Mädchen, aber doch war der Vater so stolz, daß er meinte, er sei fast allen seinen Arbeitsgenossen überlegen, und die Mutter dachte, ein so kräftiges, gesundes und kluges Kind sei doch eine sehr große Ausnahme; den Namen gaben sie ihm nach den drei von ihnen am meisten verehrten Männern, nämlich Marx, Lassalle und Bebel, als Karoline Ferdinande Auguste. Es stellte sich naturgemäß heraus, daß die Frau zunächst ihre Arbeit lassen mußte, und so hatten die Ehegatten jetzt wieder viele Gelegenheit, über die bessere Organisation solcher Dinge in der künftigen Gesellschaft zu reden, wo eine gelernte und geübte Pflegerin eine Menge Kinder versorgen kann, indes die Mütter ihrer Arbeit nachgehen, die wegen ihrer geringen Kenntnis und Übung, auch wegen des bekannten Nachteils jeden Kleinbetriebes, doch gewiß ungeeignetere Pflegerinnen wären wie jene, und meinte die Frau, sie würde sich sehr gern von der Gesellschaft an solche Stelle als Pflegerin setzen lassen, denn dabei hätte sie ihr Kind doch immer bei sich, das sie auch nicht bevorzugen wolle. Inzwischen erwies sich das Kind als kräftig wachsend und froher Gemütsart und bekam einen sehr schönen Wagen mit Gummirädern, um den vorher die Frau eines Amtsrichters vergeblich gefeilscht hatte, er war der aber zu teuer gewesen, und auch alle seine Wäsche war sehr schön.
Hans und Karl hatten die Freundschaft mit den beiden aufrecht gehalten, und obschon sie zwar kein rechtes Verständnis für kleine Kinder hatten, so freuten sie sich doch des Glückes der Eltern mit. Zuweilen kamen sie am Sonntagnachmittag in die kleine Wohnung mit den ängstlich geschonten Möbeln, brachten allerhand Zugebröte in Papier gewickelt, wie Wurst und Käse, und aßen dann mit der Familie unter fröhlichen Gesprächen zu Abend; und erzeugte die Annäherung der Klassen in dem Schuhmacher und den Studenten auf beiden Seiten ein besonderes Hochgefühl und eine gewollte Freude, als kämen sie alle in eine neue Freiheit, indem es ihnen freilich oft mit Schwere auffiel, daß es eigentlich wenig war, was sie einander sagen konnten, und daß sie fast sich gegenüberstanden wie Menschen verschiedener Sprachen, die durch einige allgemeinverständliche Laute und Zeichen einander ihre Freundschaft versichern.
Auch Jordan war oft zu Besuch bei den jungen Leuten, jener ruhige Mann, der damals in der Versammlung ihnen die Spuren der Ketten an seinen Knöcheln gezeigt hatte. Einmal, als er mit den beiden Studenten zusammen von dem Ehepaar wegging, war er in sehr trüber Stimmung und in jener Verfassung, die zu Klagen und Erzählungen treibt. So sprach er von seiner Heimat, wo er bei einem alten Meister gelernt, der ihn lieb gewonnen hatte, weil er Sonntags nicht zum Tanzen ging und zu Biere, sondern zu Hause blieb und Bücher las; der hatte ihm gesagt, wenn er seine Wanderschaft beendet habe, so solle er wiederkommen, dann sei er selbst so weit, daß er nicht mehr arbeiten könne, dann solle er seine Werkstätte übernehmen und seine Kundschaft bekommen. Nun hatte er aber gesehen, wie überall das Handwerk durch die Fabriken verdrängt wurde, und auch die Schuhmacher konnten sich nicht lange mehr halten, und wenn jetzt ein junger Mann sich in einem kleinen Ort als Meister niederließ, so mochte er ja wohl noch ein paar Jahre lang sein Auskommen haben, aber dann ging das Handwerk doch zugrunde, und da war es besser, gleich in jungen Jahren in die fabrikmäßige Produktion zu gehen, solange man sich noch gewöhnen konnte, und vielleicht bekam er eine bessere Stellung. Weshalb Jordan das erzählte, wurde nicht klar; aber der Grund war, daß er Heimweh hatte und sich aus dem großen Fabriksaal mit den schnurrenden Maschinen und der hastigen Arbeit wegsehnte in die kleine Schusterwerkstätte mit dem Schemel, dem Knieriemen und der Glaskugel vor dem Licht. Weiterhin erzählte er, daß er versprochen gewesen sei, kurz vor seiner Verhaftung, und das Mädchen habe er auch von Jugend auf gekannt, denn was man so in Berlin sehe von Mädchen, da wisse man bei keiner, was der schon alles passiert sei, und das sei ja wohl nicht richtig, wenn man als junger Kerl sein Herz an ein Mädchen hängt, denn man könne ja tausend haben für eine, aber weil er sie so lange gekannt und auch ihre Eltern, so sei er doch der Meinung gewesen, er habe etwas Gutes. Wie er aber wieder aus dem Gefängnis herausgekommen sei, da habe er sie mit einem andern verlobt gefunden, und sie habe ihm nur gesagt, die Jugend gehe schnell vorbei, und nachher kommen die Sorgen, darum sei man dumm, wenn man seine Jugend mit Warten hinbringen wolle. Damals sei er an allem verzweifelt, und wenn er nicht aus der Schrift von Engels gegen Dühring gelernt hätte, daß die Handlungen der Menschen durch die Verhältnisse bestimmt werden, so hätte er vielleicht dem Mädchen etwas angetan, nun aber sei das lange her, und er sehne sich nach Weib und Kind, und besonders wenn er bei Weiland gewesen sei, der zwar sehr leichtfertig gehandelt habe, daß er sich außer der Küche noch Stube und Schlafzimmer gemietet; wenn er sich jedoch die Mädchen ansehe, so habe er zu keiner Lust, daß er sie heiraten möchte, denn mit den Jahren werde man immer bedenklicher, wiewohl ja alles Überlegen doch nicht vor einem falschen Schritte bewahren könne, denn Heiraten sei immer ein Glücksspiel.
Aus diesen Reden ging hervor, daß der treuherzige Mann wohl schon seine Augen auf ein bestimmtes Mädchen gerichtet hatte, aber er scheute sich vor dem letzten Schritt aus Furcht, wie denn ja auch Personen seines Schlages, wenn sie nicht ein ganz besonderes Glück haben, übel anzulaufen pflegen in der Ehe.
Als die Weihnachtszeit heranrückte, beschlossen Hans und Karl, nicht nach Hause zu reisen, sondern sie wollten das Fest bei ihren Freunden verleben, die ihrer Meinung nach ihrem Herzen jetzt am nächsten standen. So besorgten sie in Fröhlichkeit die kleinen Geschenke, die sie füreinander und für die andern Freunde ausgesucht hatten, pilgerten hinaus zu der entfernten Straße und erstiegen die vielen Treppen der hohen Wohnung.
Hier zeigte es sich, daß die Frau den Baum herrichtete, und daß der Mann mit den Gästen in der Küche warten mußte, und war außer den beiden Studenten noch Jordan anwesend und jenes Mädchen, mit dem Karl sein Liebeserlebnis gehabt; über dieses unerwartete Wiedersehen schien Karl verlegener wie sie, denn sie reichte ihm unbefangen die Hand und schüttelte sie kräftig; Jordan lachte, wie er Karls linkische Gebärde sah, und die andern merkten wohl, daß zwischen ihr und Jordan Einvernehmen war. Da wurde die Tür geöffnet, und alle traten ins Zimmer, wo auf dem deckengeschützten Salontisch ein niedlicher Weihnachtsbaum brannte, und die Frau stand zur Seite und hatte das Kind auf den Armen, das zwar noch ziemlich teilnahmslos war, und hielt in einem Händchen seine Kinderklapper und sah mit etwas hängendem Kopf auf den Boden, ungeachtet aller Aufmunterung der Mutter, es sollte den Weihnachtsbaum betrachten. Die andern legten verstohlen die mitgebrachten Geschenke an die passenden Plätze und zeigten dann ihre Bewunderung der Anordnung durch Ausrufe und Lobpreisungen, welche die Frau mit bescheidenem Stolze annahm. Der kleine Weihnachtsbaum mit seinen Kerzen zeigte sich noch einmal im Spiegel, neben dem die Bilder von Marx und Lassalle friedlich herabsahen. Aus vielen Wohnungen des viereckigen Hofes glänzten durch das Fenster andre Bäume, und das Bewußtsein, daß hier überall sich Menschen freuten, machte noch froher und glücklicher. Da stimmte Weiland mit heller Stimme die Arbeitermarseillaise an:
Wohlan wer Recht und Wahrheit achtet,
Zu unsrer Fahne steht zuhauf.
Wenn auch die Lüg' uns noch umnachtet,
Bald steigt der Morgen hell herauf!
Ein schwerer Kampf ist's, den wir wagen,
Zahllos ist unsrer Feinde Schar,
Doch ob wie Flammen die Gefahr
Mög' über uns zusammenschlagen,
Nicht zählen wir den Feind, nicht die Gefahren all!
Der kühnen Bahn nur folgen wir,
Die uns geführt Lassall'.
Den Feind, den wir am tiefsten hassen,
Der uns umlagert schwarz und dicht,
Das ist der Unverstand der Massen,
Den nur des Geistes Schwert durchbricht.
Ist erst dies Bollwerk überstiegen,
Wer will uns dann noch widerstehn?
Dann werden bald auf allen Höhn
Der wahren Freiheit Banner fliegen!
Das freie Wahlrecht ist das Zeichen,
In dem wir siegen; nun wohlan!
Nicht predigen wir Haß den Reichen,
Nur gleiches Recht für jedermann.
Die Lieb' soll uns zusammenkitten,
Wir strecken aus die Bruderhand,
Aus geist'ger Schmach das Vaterland,
Das Volk vom Elend zu erretten.
Alle fielen ein, und die mächtigen und jubelnden Töne des Liedes erfüllten den engen Raum und klangen hinaus über den viereckigen Hof mit den gleichförmigen Lichterreihen der Fenster, und neue Stimmen aus den andern Wohnungen fielen ein, und am Ende sangen alle die armen Leute, die rings um diesen Hof in dürftigen und engen Stuben wohnten, und ihr Lied stieg in die Höhe aus der Stätte ihrer täglichen Hoffnungslosigkeit und Sorge zu dem klaren und sternenfunkelnden Himmel; und unser lieber Vater im Himmel hat es gewiß gern gehört, wenn es auch nicht fromm war und die großen Kinder nicht an ihn glauben wollten, und hat sich seines lieben deutschen Volkes gefreut, daß auch solche Leute, denen so wenig Gutes geschieht, doch so rechtlich und brav denken. Wie der Gesang beendet, waren alle tief ergriffen; das waren einfache Arbeiter, die täglich in ihre Fabrik gehen und Schuhe machen für den gemeinen Bedarf, die ganzen langen Stunden des Tages hindurch; und Studenten, die eben den ersten Schritt hinaus taten in die Freiheit des Geistes; die armen Leute, die an die knechtische Arbeit für die Notdurft gefesselt sind, stehen gewiß auf der tiefsten Staffel der Leiter, und diejenigen, die zu geistiger Freiheit zu dringen vermögen, auch wenn sie äußerlich nur bescheidene Stellen erringen, stehen doch gewiß auf der höchsten Staffel; aber wiewohl die größte Entfernung zwischen ihnen war, die unter Menschen möglich ist, so fühlten sie sich doch als wahre Brüder, die sich lieb hatten und sich nicht einer über den andern erhoben dachten; und wurde so wieder einmal lebendige Tat, was unsre Vorfahren meinten, wenn sie sagten, daß vor Gott alle gleich sind, welches Wort heute für die meisten eine sinnlose Rede ist. In dieser neuen und wunderlichen Stimmung erhielten die armen Geschenke, die sie einander machten, und ihre Gefühle, die sie hatten, einen ganz andern und ernsteren Sinn wie vorher, denn es war ihnen wie frommen Leuten in der Kirche, und nachdem erst ein Schweigen auf den Gesang erfolgt war, wagten sie eine kurze Weile nicht laut zu sprechen. Hier begann nun Jordan, ergriff die Hand des Mädchens und sagte, daß er sich diesen Abend ausgesucht, um ihnen als seinen Freunden mitzuteilen, daß sie beide sich verlobt hätten. »Zwar weiß ich,« fuhr er fort, und das Mädchen erglühte rot, »was vorher mit ihr geschehen ist, aber ich habe bedacht, daß ich selbst ja sogar mehrere Liebschaften früher gehabt habe, und deshalb wäre es ungerecht von mir, sie zu tadeln, vielmehr wollen wir doch alle, daß auch die Liebe frei und ohne Zwang sein soll; denn freilich wäre jede solche Verbindung unsittlich, die nicht frei wäre, und wahrscheinlich werden in der künftigen Gesellschaft, wo die Not und die Gewalt fehlen, die heute alles Böse erzeugen, die Menschen in Bälde so veredelt sein, daß sie gleich zuerst und ohne einen Irrtum erkennen, für welchen Gatten ein jeder bestimmt ist, dem sie dann angehören ohne Wanken, in Freiheit, aber in Treue.« Nach diesen Worten schwieg er; die andern aber freuten sich und wünschten ihnen beiden Glück, und als erster gab Karl der Braut die Hand mit frohem Gesicht.
Hierauf mußte zuerst die Kleine zu Bette gebracht werden, und die Braut, die aus Verschämtheit nicht in der Gesellschaft der Männer ausharren mochte, ging in die Küche, den Tisch für alle zu decken und das Mitgebrachte auszupacken, das jeder für das gemeinsame Abendbrot hier niedergelegt hatte. Und während sie das glänzende Tischtuch ausbreitete und in die Mitte die Lampe stellte, und das wenige Geschirr verteilte, das nicht ausreichte für so viel Gäste, besprachen die vier Männer unter dem brennenden Baum ernste Dinge des Parteilebens, denn bei einer Haussuchung war eine Abrechnung gefunden, aus der auf die Einzelheiten der Organisation geschlossen werden konnte, und gleichzeitig mutmaßte man, daß die Polizei einen Angeber getroffen hatte, der vieles wußte, weil sie in der letzten Zeit ganz sonderbares Glück gehabt bei ihren Verhaftungen. Das erfüllte alle mit banger Sorge, und es wurde viel geraten und gedacht, wo wohl der Verräter zu suchen sei, und Weiland sagte, er habe jetzt immer ein schlechtes Gewissen, daß er in solchen Zeiten der Gefahr sich vom Leben der Partei so fern halte, aber die andern hielten ihm vor, daß es doch besser sei, wenn die Unverheirateten sich den Gefahren aussetzen, weil diese durch Gefängnis und Ausweisung ja nicht in ihrer Lebenshaltung bedroht würden wie ein Familienvater, denn ein solcher könne vielleicht ganz zugrunde gehen durch eine Verfolgung.
Inzwischen hatte die Frau das Kind besorgt und war dann in die Küche gegangen, der andern zu helfen, und nun rief sie mit heiterem Gesicht die Männer in den engen und reinlichen Raum, wo durch die Küchenbank und den Holzstuhl und umgekehrte Kisten allerhand Sitzgelegenheiten geschaffen waren um den sauberen Tisch. Aber als sie eben sich unter allerhand Scherzen setzen wollten, ertönte plötzlich die Klingel im Flur; die Frau rief noch fröhlich aus, das seien ihre Eltern, die sie überraschen wollten, trotzdem sie erst für den Feiertag einen Besuch verabredet hätten, und sprang glücklich zur Tür; doch wie sie ungestüm öffnete und eben die Draußenstehenden umarmen wollte, prallte sie erstaunt zurück, denn ein feiner Herr im Zylinder, ein andrer Herr im gewöhnlichen Anzug, ein Polizeioffizier und zwei Schutzleute traten ein und gingen in die Stube, wo noch der Weihnachtsbaum brannte; die andern kamen ihnen aus der Küche entgegen, und so war der enge Raum plötzlich ganz mit Menschen angefüllt. Da gab sich der Herr mit dem Zylinder als der Staatsanwalt zu erkennen, der andre Herr war sein Sekretär. Er teilte Weiland mit, daß er genötigt sei, bei ihm eine Haussuchung vorzunehmen, und drückte sein Bedauern aus, daß er gerade am heutigen Abend kommen müsse; Weiland lachte über diese letzte Rede und deutete ihm an, er solle tun, was sein Amt verlange. Nun wurden zuerst die Anwesenden nach Namen, Wohnung und Grund ihres Hierseins befragt und ihre Antworten von dem Sekretär aufgeschrieben, dann begann das Nachsuchen, währenddessen die Schutzleute die Freunde genau beobachten mußten, wiewohl sie eine Art freundlichere Stimmung gegen die Überfallenen zu haben schienen, die freilich durch den Ernst der Amtspflicht verborgen wurde.
Mit umständlicher Gründlichkeit wurde erst das Schränkchen untersucht nach etwaigen Schriftstücken; zornbebend mußte die arme Frau zusehen, wie ihre geringe Wäsche von den Männern hin und her gewendet wurde, und mit Mühe hielt Jordan sie zurück, daß sie nicht schalt. Endlich fand der Polizeioffizier ein dünnes Paket Briefe auf, das er dem Staatsanwalt reichte, aber plötzlich stürzte sich die Frau auf ihn zu, entriß ihm das Paket und hielt es unter ihrer Schürze. Ein Lärmen und eine heftige Bewegung entstand, sie rief, das seien ihre Briefe, die sie ihrem Manne in der Verlobungszeit geschrieben; der Staatsanwalt suchte die Peinlichkeit durch Beschwichtigungen zu heben, die Freunde redeten ihr zu, daß sie nicht durch unnützen Widerstand noch etwas Schlimmes anrichten möge; da gab sie die Briefe zurück, das feurige Rot der Scham im Gesicht, warf die Schürze vor die Augen und setzte sich weinend in die Sofaecke, wo die Freundin sie mit unterdrückter Stimme zu trösten suchte. Unterdessen fuhren die andern mit ihren Nachforschungen fort in der wunderlichsten Weise, indem sie selbst die Bilder von der Wand nahmen und hinter ihnen versteckte Schriftstücke suchten, den Teppich aufhoben und sich an den Dielen bemühten. Mit einem Eifer und einer Ernsthaftigkeit verfuhren sie, als seien die wichtigsten Dinge hier aufzufinden, durch welche das Bestehen des Staates in Frage gestellt werde, und das glaubten sie auch wohl wirklich. Weiland hatte der Gesellschaft den Rücken gekehrt und sah schweigend durch die Fensterscheiben, weil er vermutete, daß er einen Ausweisungsbefehl bekommen werde, wenn auch die Haussuchung fruchtlos verlaufen mußte, und er wußte nicht, was dann mit seiner jungen Frau und dem Kinde werden sollte, bis er an anderm Ort wieder Arbeit gefunden hatte; denn durch die Natur seiner Arbeit war er auf die wenigen großen Städte angewiesen, wo es Fabriken gab, in denen er arbeiten konnte; die standen aber meistens unter dem Belagerungszustand. Und wenn er wirklich anderswo eine Stelle für sich ausfindig machte, wo er vor neuer Ausweisung sicher war, so dauerte es doch erst eine Weile, bis er wieder zu seinem gegenwärtigen Lohn kam, denn als ein tüchtiger und erprobter Arbeiter wurde er besonders gut bezahlt; und dann machte der Umzug noch große Kosten, die er gar nicht aufzubringen vermochte, weil sie beide ihre Ersparnisse für die Einrichtung ausgegeben hatten. In Gedanken sagte er halblaut zu sich: »Das ist doch unrecht, das ist doch unrecht.« Hans, der neben ihm stand, drückte ihm still in einem überquellenden Gefühl die Hand. Auf dem Tisch unter dem Weihnachtsbaum lag der erste Band des »Kapital« von Marx, als ein Geschenk von Hans. Der Sekretär schlug das Buch auf, wies dem Staatsanwalt eine Seite mit vielen Formeln, die sehr gelehrt und schwer verständlich schien, und zuckte als ein hochmütiger Subalterner die Schulter, indem er dabei doch die schuldige Demut gegen den Vorgesetzten zur Schau trug. Hierauf wurde sehr genau das kleine Bücherbrett durchsucht und die Bände einzeln herausgenommen und nach Schriftlichem durchblättert, und weil sich in der kleinen Sammlung mehrere Bücher und Hefte fanden, die verboten waren, so wurden die dem einen Schutzmann zum Mitnehmen übergeben. So gedrückt und unfrei allen zumute war, so mußte sich doch Hans fast des Lachens erwehren bei dem verängstigten Gesicht, das dieser machte, wie er die gefährlichen Drucksachen in seine braven, dicken Hände nahm. Wie die Nachforschungen im Schlafzimmer fortgesetzt wurden, erwachte die Kleine und begann jämmerlich zu schreien; die Mutter trocknete sich das Gesicht ab, ging zu dem Wagen und nahm das Kind heraus; aber die vielen Menschen und die ungewohnte Stunde mochten es wohl so erschreckt haben, daß es sich gar nicht beruhigen wollte. Der Schutzmann, dem die Bücher anvertraut waren, holte eine Uhr aus der Tasche und suchte die Kleine zufrieden zu stellen, indem er die vor ihr bewegte, und zuletzt wurde sie auch auf dieses Spielzeug abgelenkt, versuchte nach ihr zu greifen, fing endlich an zu lachen, und am Ende packte sie den Mann mit beiden Händen in seinen dichten, blonden Vollbart, und erst wie er mit ganz tiefer Stimme zu lachen begann, zog sie erstaunt die Händchen wieder zu sich. Dadurch aber war die Mutter so aufgeräumt geworden, daß sie gleichfalls lachte, zu erzählen begann und zu dem Kinde sprach. Plötzlich zwar hielt sie erschreckt inne, denn es kam ihr alles wieder zum Bewußtsein; aber es war doch, als sei eine leichtere Stimmung über alle gekommen. Wie als eine Entschuldigung sagte der Mann: »Wir müssen doch unsre Pflicht tun.«