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Flavia saß an dem Fenster des Krankenzimmers und blickte nachdenklich in den Garten hinaus. Götz schien zu schlafen, er lag regungslos, und ein schmaler Lichtstreif fiel durch die Jalousien und zitterte über seine so schön geformte Hand, dieselbe, welche ehemals so nervös und ungeduldig die Orangeblüten auf der Tafel zerpflückt hatte. Wie lebendig war die Vergangenheit wieder in Flavia geworden!
Sie gedachte klopfenden Herzens jenes Diners, jener schweren, traurigen Stunde, welche sie danach im Arbeitszimmer des Präsidenten verlebte, und an die darauf folgenden Tage, welche sie in so bange Aufregung versetzten.
Welch eine Sensation, als es bekannt ward, daß Graf Götz plötzlich den Abschied genommen und sich auf Reisen begeben habe!
Wieviel munkelte und flüsterte man, umsomehr, als die schöne Zirkusreiterin von Sontini gleicherzeit mit ihm verschwunden war.
Ach und die bitterböse Laune der Gräfin Heinau, ihre maßlos gehässigen Beschuldigungen und Schmähungen gegen den jungen Offizier.
Das war eine graue, trostlose Zeit, und Flavia hatte hoch aufgeatmet, als sie eine Einladung von der Schwester ihres verstorbenen Vaters, der verwitweten Geheimrätin Borgius erhielt, sie während einer Reise zu begleiten.
Gräfin Heinau hatte das junge Mädchen mehr wie gern ziehen lassen und Flavia atmete auf wie erlöst, als sie Abschied genommen.
Die Geheimrätin war eine herzensgute, sensibele Frau, stets bereit, ein paar Tränen der Rührung zu vergießen, etwas schwärmerisch und schnell begeistert, mit Vorliebe auf Reisen lebend.
Sie hatte die Nichte stets besonders geliebt, dieselbe aber nicht zu sich nehmen können, solange Flavia der Schulbildung bedurfte, weil sie jahrelang krank war und in Kliniken lebte; nur einmal hatte Fräulein von Husby sie längere Zeit in München in der Anstalt des Professors X. besucht, und aus diesen Tagen datierte die Freundschaft zwischen dem jungen Mädchen und dem berühmten Arzt, eine Freundschaft, welche jetzt so herrliche Früchte trug.
Flavia und Tante Borgius waren bald vertraute Freundinnen und da erstere seit der Unterredung mit dem Präsidenten eine leidenschaftliche Sehnsucht, dem alten Mann in seinem tiefen Gram Hilfe und Trost zu bringen, empfand, so weihte sie Tante Geheimrätin in das tragische Geschick des jungen Abensberg ein und erregte damit das wärmste und lebhafteste Interesse der alten Dame.
Was Gräfin Heinau ehemals als kluge Intrigantin in Flavias Ohr geflüstert, war nicht verklungen. Als das junge Mädchen das Bild des »verlorenen Sohnes« und darauf ihn persönlich geschaut, war es ihr selber wie eine Offenbarung gekommen, daß Gott der Herr ihr die Mission erteilt, über diese gefährdete Seele zu wachen.
Götz hatte einen tiefen, unerklärlichen Eindruck auf sie gemacht und mit der ganzen schwärmerischen Innigkeit ihres Wesens gab sie sich der schweren Aufgabe hin, welche fortan ihr Leben ausfüllen sollte.
Aus dem ehedem so schüchternen Kinde war ein energisches, handelndes Weib geworden, und Tante Borgius lebte sich ebenfalls begeistert in diesen interessanten Roman ein und unterstützte die Nichte in jeder Weise.
Flavia verfügte über bedeutende Mittel, und die Geheimrätin riet ihr, einen Detektiv zu beauftragen, die Spur des jungen Grafen zu verfolgen.
Das geschah, und da die alte Dame nicht an einen bestimmten Reiseplan gebunden war, folgten sie dem jungen Grafen nach London und verblieben daselbst, angeblich, um englische Sprachstudien zu treiben.
Sie beobachteten Götz, sie erfuhren, wie heldenhaft und entsagungsvoll er den schweren Kampf mit dem Schicksal führte, wie standhaft er jedwede Unterstützung der Kunstreiterin ablehnte.
Immer größer, immer lebhafter ward das Interesse der Damen für den wundersamen Reiter. Der Detektiv meldete seine Abreise nach München, und sie folgten ihm auch dorthin, Zeugen seines ersten Auftretens zu sein.
Was Flavia in jenen Tagen bitterster Enttäuschung mit Götz gefühlt und gelitten, ist unbeschreiblich und doch hob sie die tränenfeuchten Augen zum Himmel und dankte Gott für diesen schweren Weg, welchen er dem Verirrten zu seiner eigenen Rettung bereitet.
Tante Borgius hatte ein paarmal den sehnsüchtigen Wunsch geäußert, das immer heißer werdende München mit einem Aufenthalt im Hochgebirge zu vertauschen, aber Flavia flehte und bat sie, zu bleiben, eine bange Ahnung sagte ihr, daß sie gerade jetzt am notwendigsten an die Seite des Verlassenen gehöre.
Sie hatte sich nicht getäuscht.
Wie eine glückselige Begeisterung, eine heilig fromme Verklärung war es über sie gekommen, als sie Götz den rettenden Händen des Professors übergeben und selber zu seiner Pflege an seinem Lager weilen konnte.
Die Geheimrätin war – auch auf Zureden des Arztes – nach Berchtesgaden abgereist, verlangte aber von Flavia, durch sehr ausführliche Briefe von dem Ergehen ihres » poor boy« unterrichtet zu werden.
Und nun blickte die junge Samariterin träumend in die Blütenpracht des Gartens hinaus und über ihr liebliches Antlitz zog ein Lächeln unendlichen Glücks.
Sie fühlte und empfand es, daß Götz ihre Nähe liebte, daß sich seine Gedanken noch viel und gern – wenn auch mit der entsagungsvollen Andacht eines ewig Fernstehenden – mit der Unbekannten aus der Zirkusloge beschäftigten.
»Schwester Maria!«
Sie zuckte empor und trat schnell an seine Seite.
»Sind Sie bei mir?« fragte er leise und tastete nach ihrer Hand. »Lassen Sie uns plaudern – ich sehne mich nach Glockenläuten!«
»Es wird bald erklingen, – zum Ave Maria.«
»Warum warten? Ihre Stimme ist mein Glockenklang geworden! Erzählen Sie mir – von Ihrer Heimat – Ihrer Kindheit. Sie waren ja auch so einsam wie ich!«
»Sie sind verwaist, Mister Dougal?«
Er schloß herb die Lippen. »Wie Sie es nehmen wollen. Ich habe einen Vater – und besaß ihn doch nie – ich bekam eine Stiefmutter – und lernte niemals ihre Liebe kennen!«
»O – man vernachlässigte Sie?«
Götz zögerte abermals. »Wohl nicht in Ihrem Sinne. Meine Mutter sorgte sehr gewissenhaft für mein leibliches Wohl, aber Herz und Seele gingen darüber zugrunde. Wer selber keine Liebe und Weichheit kennt, kann sie auch nicht an andere abgeben!«
Wie bitter und scharf klangen seine Worte!
Flavia legte sanft ihre Hand auf die seine.
»Also eine jener armen, unverstandenen Frauen, welche so schweren Lebensweg gehen müssen! Ich lernte einst eine ähnlich beanlagte Dame kennen. Sie galt allgemein für sehr korrekt und pflichttreu, aber für kaltherzig, unnahbar und gefühllos. Man verurteilte sie so scharf, ihre eigenen Kinder erzeigten ihr keine Liebe, sondern kränkten sie durch Undank, ja, durch Gehässigkeit bis in das tiefste Herzblut hinein und doch hatte sie es so gut gemeint und alles für sie getan, was in ihren Kräften stand. Nach langen Jahren erst ward das Schicksal dieser Frau ihren eigenen Kindern bekannt. Sie hatte geliebt in ihrer Jugend, geliebt mit aller Innigkeit, allem Vertrauen und Glauben ihres Herzens, und sie war belogen und betrogen worden. Da krampfte sich ihr Herz zusammen und erstarrte in namenlosem Weh, und die Todeswunde blutete heimlich fort, ihr Lebenlang, ob sie auch das Weib eines anderen werden mußte. Glücklich war sie nie – und die bitterste Qual für sie waren die Dornenruten, mit welchen der Sohn ihr das wehe, zuckende Herz blutig schlug!«
»Schwester Maria!« wie ein leiser, zorniger Aufschrei klang es. »Das war eine Ausnahme von der Regel herzloser Weiber! Ein Unikum! Glauben Sie, meine Mutter wäre jemals, selbst in ihrer Jugend, einer zärtlichen Regung fähig gewesen? Wenn sie einen Funken von Sympathie und Teilnahme für mich gehabt hätte, würde sie mir das Leben nicht derart zur Hölle gemacht, würde sie mich nicht gezwungen haben, mein Vaterhaus zu verlassen.«
»Sie wurden nicht freiwillig Artist?«
Seine schlanke Hand bewegte sich aufgeregt auf der Decke – er wollte anscheinend nicht über seine Verhältnisse reden und dennoch tat es ihm so wohl, sich einer Menschenseele offenbaren zu können.
»Ich hatte seit jeher viel Sympathien für den Zirkus!« sagte er, »jene hohe, ideale Meinung, welche der Laie sich so oft von jenem glänzenden Künstlerdasein bildet. Von Kindheit auf sehnte ich mich nach einem Empfinden vollster, seligster Befriedigung, ich wußte es mir nicht klar zu deuten, ich wähnte, es sei die Freiheit, die Freiheit, wie sie als Phantom in den Köpfen ganz junger Menschen spukte! – Ich hatte niemand, dem ich mich anvertrauen, der mich belehren konnte.«
Er atmete tief auf und fuhr dann ruhiger fort: »Ich war wohl nie so schlecht und leichtsinnig, wie meine Stiefmutter mich ausgab – ich hatte nur Ideale, unverstandene und unmögliche Ideale. – Der Zirkus schien mir ein Paradies auf Erden, die Artisten herrliche, vollkommene Menschen. Sie waren durch ihren Beruf prädestiniert, Helden der Vollkommenheit zu sein.«
»Artisten?!«
Er lächelte. »Jetzt begreife ich Ihre überraschte Frage, damals nicht. Ein Artist mußte meiner Ansicht nach ein Urbild herkulischer Kraft, Kühnheit und Gesundheit sein. Das stete Spiel mit der Gefahr mußte seinen Körper stählen, seine Geistesgegenwart aufs äußerste vervollkommnen. Nur die strengste leibliche Zucht, ein beinahe asketisches Leben kann ihn gegen die Todfeinde wappnen, welche ihn stündlich umgeben. Ein Glas Wein zu viel – zu falscher Zeit, kann ihn zum Krüppel, zum stillen Mann machen. Die häßliche Leidenschaft, die Laster, die Sünde, stehen einem Menschen fern, welcher täglich sein Totenhemd trägt, welcher jeden Augenblick bereit sein muß, vor dem höchsten Richter abzurechnen, das Milieu der Manege ist frei von kleinlichen Vorurteilen, frei von all den tausend lächerlichen Unterschieden, welche das bürgerliche Leben macht und verlangt. Der vagierende Künstler ist ein Gott der Freiheit, ein Priester der Kraft, des stählernen Muts, und die Artistin die dornenlose Rose, die Königin der Geschmeidigkeit und Todesverachtung! Der Verkehr glückselig, genußfreudig, frei und ungezwungen wie bei spielenden Kindern! Der Lorbeer, welchen der eine erntet, schmückt alle, Lust und Leid sein Gemeingut.«
Götz unterbrach sich und atmete schwer auf, wieder zuckte es wie physischer Schmerz um seine Lippen.
»So wähnten Sie damals?«
»Damals! – Als ich noch blinder war wie jetzt und nach Glück und Freiheit suchte. Stets auf falschem Wege. Halten Sie mich nicht für einen Tugendhelden, ich folgte der gleißenden Truggestalt überallhin, auch da, wo Abgründe gähnten. Ich kannte keine Frauen, die mir den Unterschied zwischen böse und gut hätten klarmachen können. Meine Stiefmutter war mir verhaßt, fremd, ihre Art verabscheute ich schon aus Opposition, und die Damen, welche bei ihr verkehrten, langweilten und ärgerten mich, weil sie eine so große Verehrung für meine Mutter zur Schau trugen. Eine aufgezwungene Geselligkeit ist stets von Übel und meine Mutter verleidete sie mir, weil sie mich zwang, daran teilzunehmen. Da ward mein Herz so übervoll von Groll und Bitterkeit. – Da mußte die schwere, furchtbare Stunde kommen, welche mich für ewige Zeit von meiner Heimat schied! Sie haben schon so viel Elend kennengelernt, Schwester Maria, – sahen Sie auch schon einen verlorenen Sohn am Wege sterben?« er faßte ihre Hand mit krampfhaftem Druck, »ich habe nicht geglaubt, daß es so schwer sein würde!«
»Der verlorene Sohn!« flüsterte sie und legte die Rechte leise und lind auf sein Haupt. »Haben Sie vergessen, Mister Dougal, wie das Gleichnis von dem verlorenen Sohn endigt? Nicht mit dem Sterben und Verderben eines Verfemten und Verstoßenen am Wege! Nicht mit Dunkel und Nacht eines ewig unversöhnten Scheidens! ›Da dachte er bei sich: ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen!‹ – Mister Dougal, wenn Gott der Herr Sie wieder von diesem Schmerzenslager aufstehen läßt – o, denken Sie auch, wie jener Sohn aus der Schrift, machen Sie sich auch auf, und kehren Sie zurück in Ihr Elternhaus! Trocknen Sie die Tränen Ihres Vaters – fassen Sie die Hand der Mutter und seien Sie gewiß ...«
Götz machte eine jähe, beinahe wilde Bewegung und rang die bebende Hand frei, um sie voll Ungestüm in das Haar zu wühlen.
Ein hartes, beinahe verzweifeltes Auflachen.
»Ich soll heimkehren – zu ihr – zu jenem Weib, welches mir Vater und Geschwister entfremdete, welche mich in das Elend hinausgetrieben? Daß sie vor mir stünde – mich mit den kalten, starren Augen musterte, höhnisch, selbstzufrieden, mitleidig, wie man einem Bettler ein Almosen zuwirft – und dann hebt sie an mit der herzlosen, harten Stimme – eine jener Moralpredigten – nein, Schwester Maria! Tausendmal nein! Lieber verhungern – lieber hinab in die dunklen Wasser, wenn es zu Pulver und Blei nicht mehr reicht, als wie diese Hefe in dem bittersten aller Kelche noch zu leeren! Nie, Schwester Maria, nie! – Jenen verlorenen Sohn aus der Bibel empfing keine Stiefmutter wie die meine daheim! – Möglich, daß ich ihr Unrecht tue – ich kann nicht anders. Ich sah nie eine Tat der Liebe, hörte nie ein gutes Wort von ihr, wie soll ich da noch an ihre Liebe glauben!«
»Sie wird Ihnen dieselbe erzeigen, indem sie den Wiederheimkehrenden voll herzlicher Freude in die Arme schließt!«
Wieder das kurze, schier verzweifelte Lachen.
»In die Arme schließen? Sie kennen jene Frau nicht. Daß sie mich nicht direkt vor die Tür jagt, glaube ich selber, denn es ist ja ihr Stolz und rechthaberischer Sinn, welcher durch die Heimkehr des reuigen Sünders Triumphe feiert. Und diesen Triumph, mich klein und erbärmlich gemacht zu haben, soll sie nie erleben!«
»Sie wollen in die Manege zurück?«
Er schwieg einen Augenblick und atmete schwer.
»Das steht bei Gott. Ich habe ja Zeit, jetzt über meine Zukunft nachzudenken. Wenn ich nicht erblinde und meine Knochenbrüche derart heilen, daß ich noch reiten kann, wäre es ja ein Glück, wenn ich wiederum ein Engagement fände. Ich muß freilich vollständig umsatteln.«
»Umsatteln?«
»Mit der Schulreiterei bringe ich es zu nichts. Das besorgen in der Regel die Direktoren selbst, wie ich leider zu spät erfahren. ›Wieviel Nummern machen Sie‹, fragte mich der Agent. ›Jahez? – Jongleur-Akt? – Klischnipp? Etwas Drahtseil? Springen?‹ – Und als ich nichts von dem allen konnte, rang er die Hände und fragte nur bescheiden an: ›Mensch, sind Sie verrückt?‹«
»Und nun wollen Sie das alles noch lernen, Mister Dougal?«
»Alles nicht, aber das Jahezreiten, so sehr es mir auch widerstrebt. Meine Illusionen sind gemordet; wenn ich wieder zum Zirkus zurückkehre, ist es aus Not.«
»Und einen anderen Beruf möchten Sie nicht erwählen?«
»Ich habe keine Wünsche und kein Wollen mehr. Das Maturium habe ich absolviert, aber zum Studieren gehört Geld, – wie das Geld bei allem in der Welt die Hauptbedingung ist.«
»Und wäre solches Geld nicht zu beschaffen? Der Professor...«
Er hob jäh die Hand. »Nie! – Ich habe weder die moralische Kraft noch den Mut in mir, Geld zu leihen, ohne eine Garantie bieten zu können, es jemals wieder zurückzuzahlen. Ich habe den Glauben an mich selbst verloren. Wenn ein Kind in Lumpen aufwächst, das Entbehren, Darben, die bitteren Enttäuschungen gewohnt ist, hat es in der Regel als Mann die Elastizität, sich durch ein elendes Dasein hindurchzukämpfen, denn bei ihm leidet nur der Körper, nicht die Seele. – Bei einem Menschen besserer Herkunft ist das anders. Wir gehen nicht an dem Hunger, sondern an dem physischen Entbehren zugrunde. Auch mir sind die Würfel gefallen. Jener Sturz mit dem Pferd hat mich tiefer geschmettert, als Sie ahnen, Schwester Maria, und jener scharfe Schnitt in den Sattelgurt hat mich losgelöst von allem, was sonst einen Menschen in dem Glauben an die Menschheit noch hochhält.«
Flavia legte abermals ihre Hand wie beruhigend auf sein Haupt, sie sah sehr blaß aus, aber in ihren Augen leuchtete es abermals so wundersam und zuversichtlich, wie in jener Stunde, wo der Präsident zu ihr gesagt: »Wie kann eine weiße Taube dem jungen Aar in Sturm und Wetter hinaus folgen, den Flügellahmen heimzuholen?«
»Sie sind entmutigt und verbittert, Mister Dougal!« sagte sie weich und herzlich, mit dem ganzen Wohllaut ihrer Stimme, welche den Kranken so tief ergriff. »Und solch eine Nervendepression ist nur natürlich. Sowie Sie erst wieder von Ihrem Schmerzenslager aufstehen und Gottes schöne, herrliche Welt aufs neue mit Augen schauen, kommt die Lebensfreudigkeit und der frische alte Wagemut ganz von selber wieder!«
»Schwester Maria! – Glauben Sie wahrlich, daß ich wieder sehen werde?«
»Ich glaube es nicht nur, ich weiß es bestimmt!«
»Herr Gott des Himmels, – welche Himmelsboten sind Ihre lieben Worte!«
»Der Professor hat ja gestern schon verschiedene Versuche mit Ihnen angestellt; er ist voll fester Zuversicht und hält es kaum für nötig, daß Sie noch eine Augenklinik aufsuchen. Aber vorsichtig, sehr vorsichtig will er sein, es steht so viel auf dem Spiel. Noch wenige Tage ... dann kann die Binde wohl schon abgenommen werden, im verdunkelten Zimmer werden Sie wieder anfangen zu sehen, und dann kommt eine dunkle Brille ... Sie werden aufstehen ... es wird alles wieder anders, besser ... hell und freundlich um Sie werden!«
»O, Schwester Maria!«
»Und das Leben wird Sie für all das erlittene Ungemach doppelt reich entschädigen! Wissen Sie nicht, daß uns die Sonne nie goldener und strahlender deucht, als wie nach dunkler Wetternacht? Wie mancher hat sein Kreuz und Leid nachträglich gesegnet, wenn es ihm klar ward, welch segensreiche Fügung es war, und wie gnädig und barmherzig Gott der Herr selbst dann ist, wenn wir seine Wege nicht verstehen! – Also Mut! Verzagen und verzweifeln Sie nicht, Sie Armer! Je größer das Leid, desto näher der Himmel! Glauben Sie es nur!«
»Ja, der Himmel ist mir nahe ... in diesen Stunden, wohl näher wie je im Leben!« flüsterte er, und er faßte ihre Hand und drückte sie an die Lippen.
Wie still ward es in ihm, wie friedlich und licht.
So wie sie hatte noch nie eine Stimme zu ihm gesprochen, so traut und sanft, wie man ein Kind tröstet. – Ach, daß ihm solch eine Stimme doch schon früher im Leben erklungen wäre, es würde wohl manches ganz anders gekommen sein.
Wie mit süßem Zauber tut es ihm Schwester Marias friedliches Walten an.
Er fühlt und empfindet ihre Nähe wie eine Wohltat und wenn er sie sich im Geiste vorstellt, so wird es ihm schwer, an eine alte Frau zu glauben.
Ganz unwillkürlich hat er ihr Antlitz mit den Zügen derjenigen ausgestattet, welche sein Denken und Träumen jetzt noch erfüllt, mit jener Fremden aus der Zirkusloge.
Sein Geschmack hat sich so völlig geändert.
Wie hätte ihn ehemals solch ein lichtes Bild der Gnade fesseln können!
Da war sein Leben viel zu sonnengrell durchleuchtet, als daß er solch ein Bild gewahrte, erst jetzt, wo sein Himmel sich so dunkel und schwarz bezogen, da trat es klar und deutlich dagegen hervor, da hob es sich ab wie eine Engelsgestalt, welche fern, fern her an dem Gesunkenen vorüberschwebt.
Die Tage vergingen schnell.
Götz ward lebhafter, gesprächiger.
Er suchte jede Gelegenheit, mit seiner Pflegerin zu plaudern, und er kam dabei selber so gern auf das Thema zurück, welches er wie stets mit derselben Schroffheit behandelte, und dennoch voll beinahe krankhafter Hartnäckigkeit wieder und wieder erörterte.
Da fiel gar manches Wort von ihr als Samenkörnlein in sein Herz, und der junge Graf lag während der einsamen, dunklen Stunden und dachte darüber nach.
Seltsam, Schwester Maria sagte ihm so manche rücksichtslose Wahrheit, und doch bäumte sich sein Stolz und Trotz nicht dagegen auf, wie ehemals, wenn ein Mensch es wagte, anderer Ansicht zu sein, als er.
Diese Glockenstimme konnte nicht verletzen, nicht zum Zorn reizen.
Es war alles ein treues, inniges Aussprechen dessen, was ein frommes Herz bewegte.
Davor beugte sich sein starrer Nacken und er hatte nur das Empfinden, endlich, endlich eine Menschenseele gefunden zu haben, welche es treu und redlich mit ihm meinte.
Ohne daß es die beiden jungen Leute selbst bemerkten, ward ihr Verkehr ein immer herzlicherer, der Austausch ihrer Gedanken ein immer vertrauterer.
Wie eine leidenschaftliche Sehnsucht überkam es Götz, ihr Antlitz zu schauen, und doch flößte ihm der Gedanke, eine alte Frau in ihr kennenzulernen, ein unerklärliches Unbehagen ein.
Näher und näher rückte der Tag, an welchem die Binde von seinen Augen fallen sollte.
Eine vorsichtige Prüfung hatte ergeben, daß Götz die Umrisse einiger Gegenstände unterscheiden konnte und das volle Empfinden für Licht und Dunkel hatte.
»Nun sind wir aller Sorge enthoben!« hatte der Professor aufs freudigste erregt ausgerufen. »Gott sei Lob und Dank, der Sehnerv ist vollkommen intakt und in kurzer Zeit werden Sie vollständig hergestellt sein!« und als er und der Wärter gegangen, flüsterte Götz nur leise, mit tief ergriffener Stimme: »Schwester Maria!«
Da fühlte er, wie sich ein Antlitz auf seine Hand neigte, wie heiße Tränen haltlos über sie hintauten.
Seine Hand zuckte auf, tastete nach ihrem Köpfchen, über das seidenweiche, wellige Haar, welches sich so voll und üppig lockte – und wie ein leiser Jubellaut klang es über seine Lippen: »Schwester Maria – Sie weinen – Sie freuen sich so sehr, daß ich sehen werde?«
Sie nickte, richtete sich jählings empor und bezwang erschrocken ihr übermächtiges Empfinden.
»Ja, ich freue mich, Mister Dougal – und lobe und preise Gott dafür! – Nun kann ich Sie doch ohne Angst und Sorge für ein paar Tage verlassen!«
»Mich – mich verlassen?«
»Es ist zur Zeit großer Mangel an Diakonissinnen, ich muß zu einer alten, kranken Dame zurückkehren ...«
»Schwester Maria – Sie wollen mich verlassen?!« Wie ein Schmerzensschrei klang es.
»Ich kehre ja zurück. – Sie dürfen sich deswegen nicht aufregen. – Sie müssen bedenken, wie unbedingt notwendig ich bei der einsamen, hilflosen Frau bin ...«
»Wer weiß, ob so notwendig wie bei mir!« murmelte er. »Bei jener gilt es doch nur den Körper zu pflegen ...«
»Und bei Ihnen, Mister Dougal?«
Da faßte er ihre Hand mit krampfhaftem Druck.
»O, Schwester Maria, welch eine Samariterin waren Sie meinem wunden Herzen, meiner kranken, so schwerkranken Seele! ...«
»Beide sind gesund geworden ...«
»Wahrlich? – Und wenn Sie gegangen, wenn ich wieder allein bin mit meinen irren, wirren Gedanken?«
Sie zwang sich und lachte leise und melodisch.
»In kurzer Zeit werden Sie, so Gott will, als genesen aus der Klinik entlassen werden, unsere Wege hätten sich alsdann doch getrennt, aber ich denke, unsere Gedanken finden sich noch oft, auch über Berg und Tal, aller Ferne zum Trotz!«
»Scheiden von Ihnen! Dieser Gedanke ist furchtbar! Warum kann ich nicht in Ihrer Nähe bleiben?«
»Soll ich Sie als Sohn adoptieren oder wollen Sie mich als alte Frau noch mit in die Manege nehmen?« – scherzte sie. »Nein, Mister Dougal, wir wollen jetzt freudig und getrost Abschied nehmen, aber wir wollen hoffen, daß wir uns doch noch einmal im Leben wiedersehen!«
Bei ihren Worten war es wie bleiche Schatten über sein Antlitz geweht, er seufzte tief auf, er dachte daran, daß das weiche, duftige Haar unter seinen Fingern wohl schon ergraut war ...
»Ja, ich werde Sie wiedersehen, Schwester Maria, ich will Ihr liebes Bild wie einen Talisman mit in das stürmische, kalte, dunkle Leben hinausnehmen.«
Schwester Maria war abgereist, hatte ihm zum letztenmal die Hände gedrückt und ihm liebe, unvergeßlich herzliche Worte gesagt.
Götz aber blieb einsam zurück, ein unbegreifliches Sehnen, ein banges, qualvolles Weh im Herzen.
Der Wärter nahm die Stelle der Geschiedenen ein, Götz durfte zum erstenmal für Stunden das Bett verlassen und im verdunkelten Zimmer ohne die Augenbinde sein.
Welche Langeweile! Welche bleierne Einsamkeit!
Sein Herz schrie auf in heißem Verlangen nach Schwester Maria.
Es gereicht ihm zum Trost, wenigstens von ihr zu sprechen.
»Wie alt war sie eigentlich?« fragte er den Wärter.
»Das Fräulein, welches Sie pflegte? Na, höchstens zwanzig Jahre! – Ach, und was für ein liebes, holdseliges Geschöpf war sie! So eine täte uns hier einmal not!«
»Zwanzig Jahre?!« Götz wiederholte es atemlos, starr vor Überraschung: «Zwanzig Jahre?!«
»Wenn so viel! Eigentlich sollte ich es ja nicht sagen, aber das Fräulein war keine Diakonissin, sondern half nur aus Gefälligkeit bei uns aus! Zuerst hörten wir, es sei eine Verwandte von Ihnen, weil sie es doch war, welche Sie damals hierher zu uns brachte! Schade, schade, daß sie fort ist! So einen Engel haben wir lange nicht im Hause gehabt!«
Götz antwortete nicht, er sank schwer auf einen Stuhl und stützte das Haupt mit beiden Händen.