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Ich will es lieber gleich sagen, da es sich ja doch im Laufe der Geschichte herausstellt: Frau Borges war ein Drache. Keiner von den Drachen, die einen Goldschatz oder eine Jungfrau bewachen und die dadurch immerhin noch etwas Sympathisches haben, – nein, sie war ein Drache ohne jede höhere Mission, ein Drache, dessen einziger Lebenszweck darin bestand, ihrem Gatten das Dasein zu versauern.
Ihr habt gewiß schon den Drachen Fafner auf der Bühne gesehen? O was ist das für ein gemütlicher Drache! Er bewegt sich ein bissel auf der Drehscheibe, schlägt ein bißchen mit dem Schwanz um sich und speit ein bißchen Feuer. Er kann an Frau Borges nicht tippen. Die fährt herum wie auf hundert Drehscheiben, schlägt um sich wie mit hundert Schwänzen, und mit ihrer Zunge versengt sie mehr gute Rufe als der Dilettant Fafner Gräser und Kräuter.
Obendrein wird der Fafner, gottlob, von Siegfried erschlagen. Er stirbt bekanntlich an den Stabreimen, mit denen Siegfried ihn mißhandelt, und von denen der berühmteste lautet: »Eine zierliche Fresse zeigst Du mir da!«
Das hätte einmal Herr Borges zu seinem Drachen sagen sollen! So viel Drachenschwänze gibt es gar nicht! Und Herr Borges war überdies alles andere eher als ein Siegfried. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, im Walde wilde Bären zu fangen (was ihm im Offenbacher Stadtwald auch schwerlich gelungen wäre), er schlug keine Ambosse entzwei, schmiedete kein Notung, und das Fürchten brauchte ihm nicht erst von einer Brünhilde gelehrt zu werden. Das Einzige, was Adolf aus dem Geschlechte Borges mit Siegfried aus dem Geschlechte Wälsungen gemein hatte, waren die treuherzigen blauen Augen.
Er sah mit diesen Augen so kindlich unschuldig in die Welt, daß sich jede Mücke sagte: »Der kann Dir nichts zu leid tun!«, und sich auf seine Nase setzte.
Er war einer von den Gerechten, die viel zu leiden haben, denn ein gutes Herz ist wie ein rosiger Apfel, der in stiller Pracht am Baume hängt, – und nach dem deshalb alle bösen Buben mit Steinen werfen.
Die Statistik, die der Erzengel Gabriel im Auftrag des lieben Gottes führt, hat nachgewiesen, daß es auf Erden bedeutend mehr böse Buben gibt als gute. Und ich kann deshalb meinen Mitmenschen nur den wohlgemeinten Rat geben: »Wenn Du ein gutes Herz hast, so halte es geheim wie einen Leberfleck, denn sonst prasselt es von allen Seiten Steine auf Dich!«
Auf das Heiligsein steht noch immer die Todesstrafe, und die Gutherzigen werden noch immer mit Pfeilen beschossen wie Sebastian, gesteinigt wie Stephanus oder geröstet wie Laurentius.
Das hatte auch Adolf Borges in den fünfzig Jahren seines Lebens reichlich erfahren müssen. Fast dreißig Jahre war er Ausgeher in dem großen Konfektionsgeschäft von Feldmann und Schröder in der Schloßstraße. Er hatte das Wachsen des Hauses miterlebt, – die Firma war emporgeblüht, und er selbst war dabei verwelkt.
Nur seine treuherzigen blauen Augen blühten noch immer aus seinem welken Gesichtchen hervor wie zwei große Glockenblumen, beschattet von dem Gesträuch der Kommis und den mächtigen beiden Stämmen der Geschäftsinhaber.
Adolf erinnerte sich noch genau, wie das alte Haus umgebaut worden war, um Raum zu schaffen für die zwei großen Schaufenster. Damals waren die alten Holzpuppen, die bisher als Modellständer gedient hatten, durch pausbäckige Wachsfiguren ersetzt worden. Die Holzpuppen hatte er auf den Speicher tragen müssen, und er fühlte dabei eine wehmütige Verwandtschaft mit diesen leblosen Dingern.
»Was bistde mehr wie so e Holzbubb?« sagte er zu sich. »Genau so, wie ich jedz Euch enufftrag uff de Speicher, so wern se aach mich eines Dags enaustrage uff de große Menschespeicher, unn es werd kaa Hahn nach merr krähe unn kaa Hund nach merr belle! Unn an mei Schdell werd aach so ebbes Neues, Pausbäckiges komme, unn die Welt dreht sich weider unn werd regiert von der ahle Drehkrankheit, unn wann emal erjend e ahler Geschäftsfreund frägt: ›Herr Feldmann, hawwe Se net emal so en klaane Auslaufer gehabbt, de Adolf?‹, werd der Herr Feldmann antworte: ›De Adolf Borges? Der is schonn längst dod! No, es is net besonnersch viel an em verlore!‹«
Und er erinnerte sich daran, wie die Petroleumlampen waren durch Gaslüster ersetzt worden, und später die Gaslüster durch große Bogenlampen.
Immer heller war es um ihn geworden, immer herrlicher und größer, und er selber kam sich immer kleiner vor.
Er erinnerte sich auch der vielen Angestellten, die im Laufe der Jahre in das Geschäft eingetreten und wieder ausgetreten waren, teils freiwillig, teils unfreiwillig.
Da war der Herr Bernheim gewesen, der ihm immer nachmittags eines von seinen Butterbrötern zur Vesper geschenkt hatte: »Adolf, hastde Hunger? Komm her unn freß!« Und er hatte ihm eines Tags zur großen Heiterkeit des ganzen Personals erwidert: »Herr Bernheim, ich dank Ihne aach schee! Basse Se uff: wann Se emal in de Himmel komme, dann steht der Petrus drowwe unn hat de Mond als Pannekuche in der rechte Hand unn säggt: ›Bernheim, du warst e guder Mensch, – komm her unn freß!‹«
Und er hatte nicht verstanden, was es da zu lachen gab.
Da war ferner der Herr Meier gewesen, dem er jeden Abend beim Geschäftsschluß den Rock hatte ausbürsten und die Stiefel blankreiben müssen; denn der Herr Meier hielt sich für sehr schön und lächelte auf der Straße den Mädchen zu, und wenn ihn ein Kollege fragte: »Herr Meier, wo waren Sie gestern abend?«, dann grinste er, daß die abstehenden Ohren wackelten, und flüsterte: »Geschäftsgeheimnis! Aber schön war's!«
Des Herrn Meier Spezialität war das Bedienen der jungen Mütter gewesen, die ihren Buben Schulanzüge kauften; auf die stürzte er zu und schwänzelte um sie herum und gebrauchte fünfzehnmal in einem Satz die Anrede »Gnädige Frau« und schwatzte ihnen die ältesten Anzüge auf. Und wenn sie wieder aus dem Geschäft draußen waren, sagte er stolz: »Adolf, haben Sie den Blick gesehen? Den Blick? Adolf, ich sag' Ihnen, wenn ich wollt', – aber ich will net!«
Und der alte Adolf Borges dachte sich, indem er den verkauften Ladenhüter einwickelte: »Merr sollt em aach als emal de Schnawwel mit erer Berscht abreiwe! Awwer mit erer Drahtberscht!«
Man sieht aus diesen Randglossen, daß Adolf Borges keineswegs ein Dummkopf war. O nein, er war ein kluges Männlein, aber seine Klugheit war schüchtern wie ein Tanzstundenjüngling; sie getraute sich nicht, die schöne Dame Lebensfreude zu engagieren, aus lauter Angst, ihr auf den Fuß zu treten, und so kam es, daß die schöne Dame Lebensfreude auch ihn nie engagierte, wenn die guten Feen gerade Damenwahl hatten.
Adolf Borges brachte es zu nichts auf der Welt und blieb Auslaufer bei Feldmann & Schröder in der Schloßstraße zu Offenbach am Main. Er schnürte Pakete und besorgte Gänge, er staubte die Pulte ab und reinigte die Tintenfässer. Und jedesmal, wenn er dem ekligen Kassierer das Tintenfaß auffüllte, machte er drei Kreuze darüber und bei jedem Kreuz murmelte er: »Hunnert Rechefehler solle drin sei, in dere schwarz Brieh!«
Denn ein ganz kleines bißchen boshaft konnte er auch sein, – trotz seiner Glockenblumenaugen.
Eigentlich war es wunderlich, daß er, der Gatte Katharinas, nicht mehr Bosheit besaß. Ein besseres Vorbild konnte es doch unmöglich geben. Oh, wie ungerecht ist das Schicksal! Katharina, – das wäre so die richtige Gattin für einen Franz Moor gewesen! Auch Richard der Dritte hätte sie getrost freien können, stammte sie doch aus dem uralten Adelsgeschlecht der Xantippen. Und nun mußte gerade der arme, kleine Adolf an sie geraten!
Wahrlich, das Schicksal ist der gemeingefährlichste Geisteskranke, der unentmündigt herumläuft, und schon längst gehörte es unter Kuratel gestellt. Wäre das Schicksal nicht rettungslos blind, niemals hätte es die Glockenblumen in Adolfs Augen und die Disteln in Katharinas Augen kreuzen können.
Katharina, – ich habe sie bereits mit Fafner verglichen. Aber wirft Fafner mit Suppentellern? Steht er mit dem Kehrbesen oder dem Schürhaken hinter der Türe, wenn Alberich abends nach Hause kommt? Schreit Fafner den Siegfried an: »Du hast iwwerhaapt nix zu sage!!« Öffnete Fafner Briefe, die ihn nichts angingen? Sang er ewig die Litanei: »O Gott, o Gott, wie konnt ich nor so dumm sei', Dich zu heierate!! Prinze unn Korferschte hätt' ich hawwe könne!! Unn so en Schlappschwanz muß ich nemme! O Gott, ich unglücklich Fraa!«
Man sehe in der Partitur nach, Siegfried, 2. Akt, ob Fafner so etwas singt. Nein, er tut es nicht. In der Urzeit waren die Drachen offenbar noch harmloseren Gemüts, und wenn der Drache, den der heilige Georg erlegte, nicht mehr Ähnlichkeit mit Katharina hatte als Fafner, dann sollte man wirklich nicht so viel Aufhebens von der ganzen Affäre machen.
Der alte Plato weiß in seinem »Gastmahl« zu berichten, daß Mann und Weib ursprünglich ein einziges zusammengewachsenes Wesen gewesen seien, das durch irgendeine Macht halbiert wurde, und daß sich die beiden Hälften nun ewig in Sehnsucht wieder zu vereinigen suchen. Beruht diese Fabel auf Wahrheit, dann wollen wir Gott danken, daß die andere Hälfte Katharinas offenbar verloren gegangen ist!
Nun, da sie mit Adolf Borges zusammengewachsen war, glich diese Ehe einem jener lustigen Tierbilder, auf denen übermütige Zeichner einen Elefanten mit Entenfüßen ausstatten oder einem Storch einen Nashornkopf aufsetzen.
Es gibt Ehen, die gleichen einem geruhigen Biedermeierpostwagen; hübsch langsam gleiten sie dahin, lassen sich Zeit, alle Schönheiten ringsum zu bewundern, auf dem Bock sitzt der Ehemann neben der Gattin und bläst Trara, und die ganze Postkutsche ist voll Kinderchen.
Er bläst nicht immer ganz harmonisch, der Herr Ehemann, manchmal giekst das Posthorn schauerlich, – macht nichts, die verzückte Gattin behauptet dennoch: »Männe, so wie Du bläst keiner!«
Andere, »modernere« Ehen gleichen einem D-Zug; der Ehemann steht als abgehetzter, unermüdlicher Führer auf der Lokomotive, hat keine Muße, sich die Schönheit ringsum zu betrachten, denn die Räder rattern unaufhörlich den einförmigen Rhythmus »Pflicht – Pflicht – Pflicht!« In einem Abteil erster Klasse sitzt derweil die Gattin, raucht eine Zigarette nach der andern, betrachtet sich zwischendurch in einem Handspiegelchen und seufzt: »Gott, ist die Fahrt langweilig!« Und der abgehetzte Lokomotivführer kann mitunter von Glück sagen, wenn er den ehelichen D-Zug glücklich an die irdische Endstation gebracht hat, ohne daß unterwegs irgendein eleganter Herr in das Abteil erster Klasse eingestiegen ist, um die Fahrt unterhaltsamer zu machen.
Andere Ehen wiederum ließen sich mit einer elektrischen Straßenbahn vergleichen, in der man vor lauter Klingeln und Hasten sein eigenes Wort nicht versteht, und wo Wagenführer und Schaffnerin nach schwerer Tagesarbeit nur den einen Wunsch haben: sich einigermaßen gut satt zu essen und gesund auszuschlafen.
So lassen sich die verschieden gearteten Ehen mit den verschieden gearteten Fahrzeugen vergleichen, und wer Lust hat, mag die Bilderreihe zu Tode hetzen.
Adolfs Ehe glich einem Schubkarren. Im Schweiße seines Angesichtes drückte er ihn seine steinige, staubige Lebensstraße, und oben auf dem Schubkarren saß Frau Katharina, eine derbe Peitsche in der Hand, und wenn der arme Adolf einmal eine Schnaufpause machen wollte, pfiff ihm die Geißel um die Ohren, und er hörte eine kreischende Stimme: »Prinze unn Korferschte hätt' ich heierate könne! O Gott, ich unglicklich Fraa!!«
Das war eine der zahlreichen Übertreibungen, derer sich Katharina in den durchaus einseitigen Aussprachen mit ihrem Ehemann zu bedienen pflegte. Selbst dem entthrontesten Prinzen wäre es niemals eingefallen, um die Hand der Drechslermeisterstochter Katharina Bindegerst anzuhalten.
Aber wir wollen gerecht sein und ihr diese Übertreibung nicht zu dick ankreiden. Übertreiben ist seit der Urzeit ein Reservatrecht der Frauen, der holden wie der unholden. Als Eva gerade eine Minute lang erschaffen war, und Adam aus seinem verhängnisvollen Schlafe erwachte, war Evas erstes irdisches Wort: »Nun warte ich schon eine Ewigkeit!«
Und als sich Adam nun erhob, um das Naturwunder näher zu begucken, und als er es vorsichtig betastete, da fuhr Eva auf: »Habe ich Dir nicht schon hundertmal gesagt, Du sollst mich nicht anrühren?!«
Damals bekam Adam einen Heidenschreck.
Und dieser Schreck hat sich vererbt von Generation zu Generation. Jeder junge Ehemann kriegt ihn von Neuem, an jenem Tage, an dem seine Gattin zum ersten Male mit ihm zankt, ohne daß er weiß, warum.
Und jeder Ehemann benimmt sich alsdann genau so paradiesisch töricht und nachgiebig wie unser Urahn Adam und heftet somit selbst den letzten Stich an dem Riesenpantoffel, von dem in der Schöpfungsgeschichte nichts steht, und der sich gleichfalls von Generation zu Generation vererbt, – und zwar in der weiblichen Linie.
Adolf Borges machte es um kein Haar besser. Er war ja schon von Natur stets gar schüchtern gegen das weibliche Geschlecht gewesen.
»E Fraa is sicher was Scheenes,« sagte er sich als junger Mann, »awwer ich will's gar net so schee hawwe! Die Fraue sin wie Heckeröscher, wunnerliebliche Blümercher, die sich um de Mann ranke unn en schmicke unn verscheenern, – awwer ich habb kaa Talent zum Blummestänner! Wann sich so e Heckerösche um mich rankt, dann komme doch bloß die Wespe unn die Biene unn die Hummele unn steche mich, – naa, ich bleib liewer leddig!«
Man hat das weibliche Geschlecht nicht mit Unrecht die Sonne dieses Daseins genannt. Aber Adolf Borges hatte von jung auf eine unüberwindliche Angst vor dem Sonnenstich. Wenn er nur von ferne so eine liebliche Sonne aufgehen sah, spannte er sogleich abwehrend seinen aus Sophismen gewobenen Sonnenschirm auf.
»Gehstde mit danze, Adolf?« frugen ihn Sonntags seine Bekannten und Kollegen.
»Ich hipp net, ich bin kaa Laubfrosch!« erwiderte Adolf, denn jeder Tanzboden dünkte ihn mehr oder weniger ein Blocksberg.
Seine Freunde fuhren gröberes Geschütz auf.
»Adolf, die dick' Anna, die Köchin von Schmidts in der Krummgaß, hat sich nach Derr erkunnigt! Ob De net nächste Sonndag nach der Goedheeruh kämst? Se hätt Derr was zu sage! – No??«
»En scheene Gruß an die dick Anna, unn ich wär net neugierig! Unn se soll merr mit ihrer Goedheeruh mei Borgesruh lasse!« sagte er und blieb des Sonntags zu Hause.
Oder er bummelte allein im Stadtwald und am Mainufer umher, sah die schweren Mainkähne und Flöße ziehen, sah die leichten Amseln schwirren und die drolligen Eidechsen huschen. Und empfing dabei mancherlei Schönes, was der liebe Gott nur an einsame Spaziergänger zu verschenken pflegt.
Einmal fand er ein Vogelnest mit vier Eierchen.
Nachdenklich stand er davor, wiegte den Kopf und sann: »Vier Kinner uff aamol, – naa, ich bleib leddig!«
Ein andermal setzte er sich im Walde ermüdet nieder, legte den Kopf auf einen kleinen Hügel, der sich alsbald als Ameisenhaufen entpuppte.
»So is des ganze Lewe!« sprach er und erhob sich betrübt. »E Ameisehaufe! Unn da soll merr seine Eltern noch dankbar sei', daß se ein in so was eneisetze!«
Und er griff sich melancholisch in den Kragen, um die hurtigen Tierchen, die seinen Hals als Tanzplatz benutzten, zu entfernen.
Selten leistete er sich den Genuß, des Abends in einer Kneipe zu einem Glas Bier oder einem Schoppen Apfelwein einzukehren. Friedlich schichtete er daheim in der Waschtischschublade die kleinen Ersparnisse aus seinem bescheidenen Lohn und aus den Trinkgeldern, die er hie und da bei Besorgungen erhielt, zu einem Berg. Es war kein Himalaja, es war gleichfalls nur ein Ameisenhäufchen, aber er hoffte, ihn mit der Zeit zu einem kleinen Hügel anschwellen zu sehen, von dem aus er in den Zeiten des Alters und der Gebrechlichkeit die Welt mit genügsamem Lächeln zu betrachten gedachte.
Und das wäre ihm vielleicht auch gelungen, hätte das Schicksal nicht mit ihm einen grausamen Scherz vorgehabt und ihn als Untermieter in die Wohnung des Drechslermeisters Bindegerst geführt.
Er war damals zweiundvierzig Jahre alt, und sein Herz zählte somit bereits zu jenen Zielscheiben, denen gegenüber es sich der kleine Gott Cupido erst dreimal überlegt, ehe er noch einen Pfeil daran wagt. Entschließt er sich aber dann doch dazu, so nimmt er keinen von den kleinen goldenen Pfeilen, die so süß schmerzen, sondern er schnitzt sich einen großen, plumpen Kloben zurecht, mit scharfen Widerhaken, und versieht dieses vermaledeite Geschoß, damit es auch recht zielsicher schwirre, noch eigens mit einem Propeller aus riesigen Eselsohren.
An jenem ersten März, als Adolf Borges mit seinem Handköfferchen die Stiege emporschlenderte, um bei dem Drechslermeister das vermietbare Dachzimmerchen zu besichtigen, spielte gerade ein Orgelmann im Hof den populären Rheinländer:
»Katharinchen mit dem Selleriekopp,
Allez hopphopphopp!
Allez hopphopphopp!«
Diesen Drehorgler hatte der hohe Schutzgeist der Junggesellen eigens in den Hof gestellt, um Adolf eine letzte Warnung zukommen zu lassen.
Da aber Adolf niemals einen Tanzboden besucht hatte und daher diesen Rheinländer nicht kannte, und da er andrerseits nicht wissen konnte, daß der Drechslermeister eine Tochter Katharina besaß, fruchtete die Warnung leider nichts.
»Gu'n Nachmiddag!« empfing ihn der alte Bindegerst freundlich. »Neun Mark dhät des Zimmerche koste! Mit Kaffee zeh' fuffzig! Es is e ruhig Zimmerche! Nor dhun als bei Nacht die Katze so kreische! No, da misse Se halt mit'm Bandoffel danach schmeiße! Des könne se net verdrage! – Was hawwe Se dann for en Beruf?«
»Auslaufer bei Feldmann & Schröder in der Schloßstraß!«
»E foi Haus!« bekräftigte Vater Bindegerst. »E erstklassig Firma! Ich bin aach schonn emal bei're ereigefalle mit eme Aaazug! Wie lang sin Se dann schonn bei dene Leut?«
»Zweiunzwanzig Jahr!« seufzte Adolf.
»Des is e Embfehlung!« schmunzelte Bindegerst. »Des is e Embfehlung, wann's e Aagestellter so lang mit'm Brinzibal aushält! – Sin Sie eigentlich e Offebächer odder e Frankforder?«
»E Frankforder wär' ich!«
»Ich aach! Unn da sin Se nach Offebach ausgewannert?«
»Ja, ich bin ausgewannert. Amerika war merr zu weit, da bin ich nach Offebach.«
»Ich aach. No, steihe merr emal enuff in des Zimmerche! Se misse Ihne am Stiegegelänner festhalte, die Trepp is e bissi wackelig!«
Adolf sah sich das Zimmer an und behielt es. Er war ja so bescheiden in seinen Ansprüchen, die Gabe des Widerspruchs war ihm versagt, und wenn der letzte Teil der Treppe sogar völlig gefehlt hätte, und Herr Bindegerst hätte gesagt: »Se misse, um in Ihr Zimmerche zu komme, jedesmal en Rieseaufschwung mache!«, er hätte auch in diesem Falle nicht die Energie gefunden, nein zu sagen.
Und überhaupt war es Adolf ziemlich gleichgültig, wie er wohnte. »Was kimmt's dadruff aa?« sagte er sich. »Ich habb schonn Säu geguckt, die hawwe in Ställ gewohnt mit Borzellankachele, – no, am Schluß sin se doch geschlacht' worn! Unn wann der Herr Feldmann unn der dick Herr Schröder ihr Haus noch e dutzendmal umbaue lasse unn dhun so viel Bogelampe enei wie in de Frankforder Haaptbahnhof, deshalb bleiwe se doch zwaa Rindviecher!«
Und er fühlte sich zunächst ganz wohl im neuen Heim. Wenn auch das Zimmerchen nichts enthielt als ein einigermaßen erträgliches Bett, einen morschen Spiegelschrank, in dem ein falscher Schlüssel steckte, eine arg baufällige Waschkommode – (»Se kriehe evenduell emal e annerne«, hatte Herr Bindegerst gegen seine eigene Überzeugung behauptet) – einen durchgesessenen Stuhl und einen Tisch, der, sobald man sich auf ihn stützte, von selbst Rheinländer zu tanzen anfing, es war doch so lauschig still des Abends da droben, und wenn man den Kopf zum Dachfenster hinausstreckte, sah man unten die Menschen wie kleine Käfer umherkrabbeln.
Und das erschien Adolf sehr possierlich.
»Wie klaa misse se erscht dem liewe Gott vom Himmel aus vorkomme!« meinte er. »Da kann er freilich kaan Brinzibal vom Auslaufer unnerscheide, unn kaan Rothschild von eme Schnorrer! Ich glaab werklich, es is gar net so schwer, die Mensche gerecht zu beorteile, – merr muß nor weit genuch eweck sei!«
Und des Nachts schien der Mond in das Zimmerchen, der so viel demokratischer ist als die Sonne. Denn, wenn dich die Sonne ansieht, so mußt du ehrfurchtsvoll, geblendet die Augen schließen; den Mond aber kannst du ohne Zwinkern fröhlich und freundlich begrüßen wie deinesgleichen.
Man hat nur noch kein genügend großes Fernrohr gebaut, sonst könnte man deutlich sehen, wie der Mann im Mond jeden Gruß erwidert; jedesmal unterbricht er die Arbeit des Holzhackens und zieht seine Mütze, denn er hackt ja das Holz nicht für eigene Rechnung, und deshalb eilt es ihm nicht so.
Freilich, wie die Sonne ihren Sonnenstich austeilt, so gibt es auch den Mondstich. Aber den kriegen nur die lyrischen Dichter. Und dann hält sich der Mann im Mond mit beiden Händen die Ohren zu.
In solchen mondhellen Nächten erhuben auch die von Vater Bindegerst bereits angekündigten Katzen ihre Stimmen. Ganze Sinfonie-Konzerte führten sie auf. Adolf hätte ein ganzes Schuhwarenlager nach ihnen werfen können, es hätte sie nicht gestört. Im Gegenteil: kam ein Pantoffel geflogen, so faßten sie das als Beifallsbezeugung, als eine Art ledernen Lorbeerkranz auf und gaben noch ein mindestens fünfteiliges Tongemälde zu.
»Herr Bindegerst, des soll der Deiwel aushalte, des Katzekonzert!« beklagte sich Adolf einmal, als er die ganze Nacht kein Auge hatte schließen können. »Was hawwe die Viecher dann bloß?«
»Die Lieb'!« erklärte der Drechslermeister als weltweiser Mann. »Glaawe Se, die Mensche gewwe scheenere Tön' von sich, wann se verlibbt sin? Die Lieb is halt so musikalisch!«
Adolf, der ja die Liebe nicht aus eigener Erfahrung kennen gelernt hatte, gab sich mit dieser Erklärung zufrieden.
Aber schon wurden die Saiten gestimmt, um auch ihn musikalisch zu machen. Und das Instrument, nach dem er tanzen lernen sollte, hieß Katharina.
Allmorgendlich um halb sieben Uhr brachte sie ihm den Kaffee hinauf. Sie stand zu diesem Zweck schon um sechs Uhr auf, wusch sich, indem sie mit dem feuchten Waschlappen ein paarmal das spitze Vorgebirge ihrer Nase umsegelte, kämmte ihr Haar, wobei man nicht an die Loreley zu denken braucht, und legte es sich in Strähnen um den Hinterkopf.
Dann schlüpften ihre dürren Glieder in einen oft geflickten Unterrock, ihre behenden knochigen Arme fuhren heftig in eine Flanellbluse wie der Teufel in die Sauherde, der Oberrock wurde über das Haupt gestülpt, und dann begann der Bauchtanz, den die Frauen aufführen müssen, bis endlich sämtliche Rückenknöpfe geschlossen sind. Zuletzt schlupfte sie in die Strümpfe und in die Schlappen.
Begehrenswert war Katharina nicht; das fanden alle, die sie kannten, mit einer einzigen Ausnahme. Und die hieß Katharina Bindegerst. Lichtenberg hat unrecht, wenn er behauptet: wenn ein Affe in den Spiegel sieht, kann kein Apostel herausschauen. Man frage nur den Affen!
»Gu'n Morsche, Herr Borges!« lächelte Katharina so zauberhaft, als es ihr möglich war.
»Gu'n Gugurruru-Morsche, Fräulein Binde-schtschtssgstgerst!« entgegnete Adolf, der gerade beim Gurgeln und Zähneputzen war.
»Ach Gott, Ihne fehlt ja hinne 'n Knopp!« schrie Katharina auf.
Das hatte Adolf noch nicht bemerkt. Und er hatte es nicht bemerken können, da in Wirklichkeit an seiner Hose nicht der geringste Knopf fehlte. Aber darauf kam es der Offenbächer Circe auch gar nicht an; schon hatte sie Nadel und Faden gezückt und markierte auf Adolfs Kehrseite das Annähen eines Knopfes.
Und obwohl er in dieser Situation unmöglich ihr Gesicht sehen konnte, lächelte sie dabei unausgesetzt verführerisch.
Ob sie ihn liebte? – Nein. Sie war überhaupt keiner Liebe fähig.
Daß ein altes Holz Blüten treibt, das kommt nur im »Tannhäuser« vor, und auch da ganz am Schluß des letzten Aktes, so daß man nicht nachprüfen kann, wie lange die Blüte vorhält.
Wohl hatte auch Katharina, wie alle Mädchen, eine Zeit gehabt, in der sie von jener naturwidrigen Art Ehe träumte, die zu neunzig Prozent aus Liebkosungen besteht, und in der man von Küssen und Anschmachten satt wird. Aber längst hatte die Flut der Jahre dieses glückhafte Schifflein verschlungen.
Nun war sie praktisch geworden, praktisch wie ein Sklavenhändler, und sah im Manne nur eine Versorgungsanstalt. Eine Rentenversicherung, der keine Kontrolle erlaubt ist und die obendrein bei der Auszahlung jedes Betrages einen Kniefall zu machen hat.
Ein pensionsberechtigter Zwerg Nase wäre ihr als Gatte sympathischer gewesen als der Apoll von Belvedere, von dem es ungewiß ist, ob er eine Frau ernähren konnte.
Ach, die so nüchternen, trockenen Eheparagraphen des Bürgerlichen Gesetzbuches erscheinen wie ein Hohelied auf die Liebe, verglichen mit den Eheanschauungen eines Mädchens, das erst einmal angefangen hat, »praktisch« zu denken!
»Danke schee!« sagte Adolf Borges, als Katharina mit dem Festnähen des ohnehin bereits festgenähten Knopfes fertig war.
»Haww ich Ihne aach net gestoche?« flötete Katharina und warf ihm einen Blick zu, bei dessen Empfang der früher erwähnte Herr Meier stolz gefragt hätte: »Adolf, haben Sie den Blick gesehen? Den Blick? Ich sag Ihnen, Adolf, wenn ich wollt' – aber ich will net!«
Adolf war kein Meier. Er bemerkte den Blick überhaupt nicht.
Noch stimmten die Saiten, nach deren Klang er das Tanzen lernen sollte, nicht genau, aber nur noch um kleine Schwankungen waren die Quinten unrein, und schon probierte Katharina leise, pizzikato, ob sie das Spiel wohl beginnen könne.
Sie hatte das Tablett mit dem Kaffee auf den Tisch gestellt, doch nun fand sie, daß es nicht gut stünde. Während ihr Dachzimmerherr den Schlips umband und die Jacke anzog, rückte sie an dem Tablett herum und stellte die inzwischen kalt gewordene Tasse Kaffee und das Butterbrötchen recht handlich hin.
Dabei schwänzelte sie geziert um den Tisch und ließ durch ein paar kokette Drehungen ihren gewitterfarbenen Rock ein wenig blähen, so daß der Regenbogen ihres oftgeflickten Unterrocks sichtbar ward.
Aber auch an dieser Naturerscheinung ging Adolf achtlos vorüber.
Da ließ sie ihn denn allein, stieg die Treppe hinunter und seufzte: »Merr hat's net leicht!«
Adolf schlürfte den kalten Kaffee, griff, noch mit beiden Backen kauend, nach seiner Mütze, machte sich auf den Weg zu Herrn Feldmann, um die Geschäftsschlüssel zu holen, begab sich in die Schloßstraße, öffnete, zog die Rolläden hoch und begann die eintönige Arbeit des Aufwischens und Abstaubens.
Und seufzte: »Der liewe Gott hätt' aach gescheider die Welt in aam Dag erschaffe unn dann sechs Däg geruht, schdatt umgekehrt! Dann hätte merr sechs Sonndäg in der Woch!«
Er war noch mitten in den Aufräumungsarbeiten, da kamen schon die ersten, pünktlichsten Angestellten, und der Briefträger kam und gab die Post ab, und die Kommis suchten schnell die Privatbriefe und jene Briefe heraus, die wegen falscher Adresse zurückgekommen waren, und zuletzt kam der Herr Feldmann, und kaum war er da, da fing er auch schon an zu schimpfen und einem Kommis zu versichern: »Zum Schlafe haww ich Se net angaschiert! Schlafe kann ich selwer for mei Geld!«
Und das ganze Personal dachte: »Dhät er's nor!«
Und ganz zuletzt kamen die Herren Lehrlinge und behaupteten, ihre Uhren gingen nach.
Und Adolf Borges spielte das einförmige Rondo seiner Tagesarbeit, ein gar langweiliges Rondo, in dem die beiden Themen »Pakete schnüren« und »Gänge besorgen« ewig wiederkehrten; nur die Begleitstimmen zu diesen beiden Melodien boten ein wenig Abwechslung, denn wenn er beim Paketschnüren war, schrie der nervöse Herr Feldmann: »E halb Jahrhunnert sin Se jetz bei merr unn hawwe's immer noch net gelernt!«, und wenn er von einem Besorgungsgang zurückkam, spöttelte der gemütlicher veranlagte, dicke Herr Schröder: »Es is nor liewenswerdig von Ihne, daß Se iwwerhaapts noch zurickkomme! An Ihrer Stell wär' ich iwwer Nacht gebliwwe!«
Und Adolf dachte sich: »Grad wie nachts die Katze kreische se! Schad, daß merr kaan Bandoffel nach 'ne werfe derf!«
– Ich muß noch einmal auf den Drachen Fafner zu sprechen kommen. Der Leser wird bereits bemerkt haben, daß ich eine Schwäche für dieses Vieh besitze. In der Tat, ich habe ihn in mein Herz geschlossen und ich bedaure nur, daß man ihn nicht herausklatschen darf wie eine italienische Opernprimadonna, auf daß er da capo singe. Er ist der bestdisziplinierte Drache, den ich kenne. Geduldig liegt er in seiner Höhle und wartet auf sein Opfer. Wer ihn nicht aufsucht, den frißt er nicht.
Ganz anders Katharina. Sie hatte sich ihr Opfer ausgesucht, aus der reichhaltigen männlichen Speisekarte hatte sie gerade das Gericht Adolf Borges gewählt, sie hatte ihn sich bei dem Oberkellner Zukunft bestellt, und sie bestand mit aller Hartnäckigkeit darauf, ihn vorgesetzt zu bekommen.
Eines Abends klopfte es plötzlich an die Türe des Dachzimmerchens.
»Erei'!« rief Adolf verwundert.
Und herein trat Katharina und sprach mit einem Lächeln, das sie für sehr liebreich hielt: »Der Vadder läßt Ihne sage, ob Se net uff e Gläsi Bier bei en erunnerkomme dhäte?«
Sie hatte eine frischgewaschene weiße Bluse angezogen, die sie mit Parfüm von dem Friseur gegenüber besprengt hatte. Es war das erste mal in ihrem Leben, daß sie Parfüm gekauft hatte, und der Figaro von nebenan, der blondgelockte Herr Hippenstiel, der wie alle seine Fachgenossen ein Schlaukopf war, hatte gleich etwas geahnt und diskret gefragt: »Derf merr graduliere?«
Worauf Katharina feuerrot wurde und hauchte: »Sie könne aan werklich in Verlegeheit bringe, Herr Hippestiel!«
Zwei Tropfen solle sie nehmen, das genüge vollauf, hatte Herr Hippenstiel sie belehrt. Aber Katharina machte es wie die Patientinnen, denen der Arzt fünf Tropfen einer Medizin verordnet hat, und die sich sagen: »Wenn schon fünf Tropfen gut tun, wie müssen da erst zehn Tropfen helfen!«
Sie hatte sich gleich das halbe Fläschchen der öligen Flüssigkeit auf die Bluse geschüttet und sie fand, daß sie nun sehr gut roch.
Auch Adolf fand das, denn er sagte: »Fräulein Bindegerst, Se rieche wie e Gewächshaus!«
Eigentlich hatte er wenig Lust, der Biereinladung Folge zu leisten. Allein seine Schüchternheit sagte ihm, es sei doch zu unhöflich, abzulehnen, und so meinte er: »Ich mach merr zwar Awends nix aus Bier, aber no, ich wer' net gleich draa sterwe!«
Und Katharina flüsterte holdselig: »Sie sin iwwerhaapts so solid, Herr Borges! So'n solide Mann haww ich noch kaan kenne gelernt! Ach, Herr Borges!«
Und dabei seufzte sie so tief, daß das ganze Gewächshaus sich zu heben und senken anfing.
– »Des is recht, Herr Borges, daß Se uff'n Schluck Lagerbier komme!« begrüßte Vater Bindegerst ihn und lud ihn zum Sitzen ein. »Ich habb merrsch schonn oft gedenkt: was dhut der Mensch eigentlich so allaans da drowwe in sei'm Leuchttorm? Es is net gut, daß der Mensch allaans sei, haaßt's in der Biwel. Ich habb lang net mehr drin gelese, ich les liewer Detektivgeschichte, awwer es is e wahr Wort. Wisse Se, wenn ich kaa Gesellschaft habb, dann komm ich ins Denke, unn wann ich erscht emal ins Denke komm, dann kimmt nix Gescheides dabei eraus! No, Prost, Herr Borges!«
Adolf hob seinen Krug und stieß mit dem Drechslermeister an. Katharina hatte ihm das Bier eingeschenkt, in den schönsten Krug des kleinen Haushalts. Es war ein recht schmucker Krug, die selige Frau Bindegerst hatte ihn vor vielen Jahren ihrem Eheherrn geschenkt, erstens weil er Geburtstag gehabt hatte, und zweitens weil gerade in dem Porzellangeschäft Ausverkauf gewesen war. Eine alte Ritterburg war auf den Krug gemalt, an deren Portal ein Ritter Trompete blies. Man hätte ihn unbedingt für den Trompeter von Säckingen halten müssen, hätte nicht in goldenen Buchstaben darunter gestanden: Stolzenfels am Rhein.
Auch Katharina stieß mit an, und sie hauchte dabei: »Prost!«
Es klang wie das Piepsen eines Kanarienvogels, denn sie war, wie alle Frauen, eine Verwandlungskünstlerin. Noch hatte sie auf das Grammophon ihres Antlitzes die schmachtende Platte »O könnt ich noch einmal so lieben« aufgelegt, – aber die Radauplatte »Tararabumdieh!« lag schon bereit.
Vater Bindegerst saß auf dem Sofa, ihm gegenüber saß Adolf auf einem Stuhl, und auf dem Nachbarstuhl blühte das Gewächshaus Katharina. Zunächst war noch ein halber Meter Distanz zwischen ihnen, aber der Zwischenraum verringerte sich im Laufe des Abends, obwohl Adolf kein Millimeterchen von seinem Platz rückte.
Zunächst schickte sie ihre linke Fußspitze als Patrouille aus. Die Fußspitze sondierte das Gelände, fand es »vom Feinde frei«, und rückte vorsichtig weiter vor, bis sie ihr Ziel, die Borgessche Fußspitze, erreicht hatte.
»Entschuldige Se, Fräulein Katherina!« sagte Adolf und zog seinen Fuß zurück.
Katharina errötete, aber innerlich hatte sie sich vorgenommen: »Wenn ich ihm erst die kleine Zehe reiche, muß er das ganze Bein nehmen!«
»Des ganze menschliche Lewe is e Gemeinheit!« philosophierte Vater Bindegerst, der ins Denken zu kommen schien, denn er redete viel Unsinn. Und er fing an zu politisieren und auseinanderzusetzen, wie ungerecht es auf der Welt im allgemeinen, und in Offenbach im besonderen zuginge. Es war eine lange Rede, die er hielt, es ging ihm weder der Atem noch das Lagerbier aus, und er schloß mit der überzeugenden Wendung: »Unn woher kimmt des alls? – Weil des ganze Lewe e Gemeinheit is!«
»Entschuldige Se, Fräulein Katherina!« sagte Adolf und zog sein Knie zurück, denn Katharina war mit ihrem Knie an das seine gekommen. Nachdem die Patrouille Fußspitze zum Truppenteil zurückgekehrt war, hatte Katharina nämlich beschlossen, eine stärkere Patrouille auszuschicken. Auch diese Patrouille wurde zurückgezogen, und die ganze Kompagnie begann nun zu manövrieren, indem sie mit ihrem Stuhl zu rutschen anfing.
Vater Bindegerst trug die Hauptkosten der Unterhaltung. Diese Kosten trägt man ja gerne, denn sie sind billig. Es fiel ihm durchaus nicht auf, daß sein Gast nur hie und da eine kurze verlegene Zwischenbemerkung machte, denn der Drechslermeister gab sich die meisten Antworten selbst und fand daher diese Antworten sehr treffend.
Sein Zimmerherr ward ihm von Viertelstunde zu Viertelstunde sympathischer, er beschloß, ihn öfters einzuladen. Gibt es doch für geschwätzige Menschen nichts Angenehmeres als ein Zwiegespräch, bei dem nur einer redet.
Er erzählte nun von seinem Geschäft und lobte dabei, wie landesüblich, die gute, alte Zeit.
»Ja, frieher«, sagte er, »frieher, da war des Geschäftslewe noch reell! Hier die Waar, hier 's Geld! Awwer heut! Heut sollstde Kredit gewwe, bis De schwarz werst, heut nemme Derr die Leut de halwe Lade mit unn sage: Schicke Se merr die Rechnung! Unn wannsde se mahnst, sin se net dahaam! Merkwerdig: wannsde ihne die Waar' schickst, da sin se all dahaam, awwer wannsde Dei Geld hawwe willst, dann mache se grad en Besuch odder se sin in die Sommerfrisch odder se hawwe'n Trauerfall unn die ganz Familie erbt ebbes, – bloß Du kriehst nix!«
»Entschuldige Se, Fräulein Katherina!« sagte Adolf, denn sie lehnte ihren Arm an den seinen.
Sie saß jetzt ganz dicht neben ihm, und ihm war, als säße er mitten in einem Gewächshaus. Es war recht schwül in dem Gewächshaus, die Luft fing an, ihn leise zu benebeln.
Er zog seinen Arm nicht zurück; es tat ihm wohl, sich von den Zweigen dieses Gewächshauses fast unmerklich streicheln zu lassen.
Das war so sanft und weich, daß er gar nicht merkte, daß hier Disteln statt Rosen wuchsen.
Er hob jetzt seine Augen und besah sich die Botanik näher, und das Pflanzenreich gefiel ihm nicht so übel. Machte doch die falsche Katharina ihre schönsten Vergißmeinnichtaugen und zog ihr süßestes Lilienmäulchen, so daß man wirklich nicht mehr sehen konnte, was für eine Pflanze sie in Wirklichkeit war. Er fühlte sich im Palmengarten und merkte nicht, daß er im Zoologischen war.
»Kättche, hol de Quetschekuche von heut Middag!« befahl der Vater. »Der Herr Borges werd Abbeditt hawwe!«
Ach nein, der Herr Borges hatte jetzt gar keinen Appetit. Der Magen erschien ihm jetzt als der prosaischste Körperteil, den Gott geschaffen hat. Er hatte ein ganz unbestimmbares Gefühl, so ein Mittelding zwischen Lachen und Weinen, Wonne und Schmerz, und wenn ihn jetzt ein Kassenarzt gefragt hätte: »Herr Borges, wo tut's Ihnen weh?« – er hätte es beim besten Willen nicht sagen können.
Er empfand nur, als Katharina hinausgegangen war, um den Zwetschenkuchenrest zu holen, plötzlich eine tiefe Leere neben sich, und es kam ihm so vor, als sei die Temperatur im Zimmer plötzlich um zehn Grad gesunken.
So ungefähr war ihm zu Mute wie damals, als er den Kopf in den Ameisenhaufen gelegt hatte. Die Ameisen kribbelten und bissen, aber als Katharina wieder ins Zimmer trat, da verwandelten sich die Ameisen in lauter kleine, goldige Leuchtkäferchen und huschten im Zimmer umher und schwirrten ihm um die Nase, und es ward so hell, daß er fast ausgerufen hätte: »Gott, was e Pracht! Die Sonn is uffgange!«
»E guter Quetschekuche is des, Herr Borges!« versicherte der Gastgeber. »Da könne Se weit laafe, bis Se so aan finne! Des Rezept schdammt noch von maaner selig Fraa! Unn von der hat's Kättche die Kochkunst geerbt. Koche kann des Mädche wie e junger Gott! Die macht Ihne aus Dreck de scheenste Pudding! No, fresse Se, – unn Se wern merr Recht gewwe!«
Ein gewöhnlicher Sterblicher hätte bei diesen Worten beide Ohren gespitzt. Denn die Liebe des Mannes geht durch den Magen, und ich bin überzeugt, Zeus wäre der solideste Ehemann gewesen, hätte ihm Hera nicht immer Nektar und Ambrosia vorgesetzt.
Wer Adolf Borges war kein gewöhnlicher Sterblicher. Dieser kleine Konfektionsgeschäftsauslaufer war ein Gefühlsmensch, und diese Menschengattung ist unter den Sterblichen in der verschwindenden Minderheit. Wenn sie einen hohlen Zahn haben, ja, dann sind sie alle Gefühlsmenschen, aber viel weiter reicht ihr Gefühl nicht.
Der Kauf des Parfüms lohnte sich für Katharina. Der Schwerenöter Hippenstiel hatte sie nicht betrogen. Adolf atmete den süßen Duft mit unbewußtem Wohlbehagen und hätte es unter keinen Umständen geglaubt, daß er selbst für zwei Mark fünfzig hätte ganz genau so gut riechen können.
Ach, die Liebe verleiht dem Menschen Schwingen, die ihn emportragen über alles Alltagsungemach, die Erde entschwindet dem Blick, der König vergißt seinen Palast, der Bettler seine Hütte, der Feinschmecker seinen Quetschekuche; im reinen Äther schwimmt er und atmet die wonnigen Düfte, die es bei keinem Hippenstiel zu kaufen gibt.
Schon fühlte Adolf die Flügel auf seinem Rücken knospen. Er spürte das Bedürfnis, sich den Buckel zu kratzen, aber »des schickt sich doch net!«
»Fresse Se, Herr Borges!« ermunterte Meister Bindegerst.
Und auch Katharina lud ein: »Fresse Se, Herr Borges, – odder derf ich Herr Adolf zu Ihne sage?«
Und um jede Antwort abzuschneiden, schob sie ihm ein großes Stück Kuchen in den Mund. Und hätten statt der süßen blauen Zwetschen dicke Rhizinuspillen auf dem Hefenteig gelegen, Adolf hätte dennoch die Gabe mit allen Zeichen des Entzückens geschluckt.
In dieser Nacht schlief der arme Adolf sehr unruhig.
Er träumte von einem Gewächshaus, darin dufteten die herrlichsten Blüten und zwitscherten die wunderlichsten Vögel. Adler sangen wie Nachtigallen, und auf einem Rosenzweig schaukelte sich eine Gans und flötete kwiwitt, kwiwitt. Und mitten in dem Gewächshaus wuchs ein großer Baum, das war der Quetschekuchebaum, und wie im Aschenbrödel ließ dieser Baum mit sich reden, und Herr Bindegerst stand davor und sang:
»Bäumche, rüttel Dich unn schüttel Dich,
Werf Quetschekuche iwwer mich!«
Und es erschien ihm der Trompeter aus Stolzenfels am Rhein, mit einer Pfauenfeder am Hut und frischgeputzten Stulpenstiefeln, und blies auf seinem Horn ein herzerweichendes Solo, bis sich das Burgfenster öffnete und Katharina heraussah und mit einem Putzlumpen winkte und fragte: »Herr Trompeter, derf ich zu Ihne Herr Adolf sage?«
Da blies der Trompeter ein so begeistertes Fortissimo, daß Adolf erschrocken aus dem Bett hochfuhr. Er hörte noch im Wachwerden das schmelzende Lied, – nur war es kein Trompetensolo, sondern es waren die verfluchten »Katzeviecher«, die gerade wieder einmal Sinfoniekonzert hatten.
Der Mann im Mond aber schüttelte den Kopf und meinte: »Schon wieder einer! Immer das Gleiche! Hoffentlich kommt mir keine Mondfinsternis dazwischen, damit ich sehn kann, wie die Geschichte ausgeht!«
Und nun begann für Adolf jener Lebensabschnitt, den Schiller als der ersten Liebe goldene Zeit bezeichnet, wobei er freilich schwerlich an einen Zweiundvierzigjährigen Offenbacher Auslaufer gedacht haben wird. Adolfs welkes Herz erblühte, und er geriet somit in jenen seltsamen Zustand, dem gegenüber selbst die erfahrensten Ärzte ratlos sind, und den nur die großen Menschheitsärzte beschreiben können: nämlich die Dichter.
Die Liebe ist jener märchenhafte Fortunatussäckel, aus dem man unendlich schöpfen kann, ohne ihn je zu leeren. In einer Märchenwelt taumelt der Verliebte, und in dieser Märchenwelt war Adolf Borges der verwunschene Prinz, den eine böse Hexe dazu verdammt hatte, unter Mißachtung seiner hohen Abkunft bei Feldmann & Schröder Pulte abzustauben und Pakete zu schnüren.
Woher sollten es die Herren Feldmann und Schröder wissen, daß sie einen leibhaftigen Prinzen beschäftigten?
»Adolf, Se sin e Kamel!« sagte Herr Feldmann. Und Adolf dachte sich: »Wann des Kamel nor glicklich is!«
»Adolf, Se sin e Rindviech!« versicherte der dicke Herr Schröder. Und Adolf lächelte: »O selig, o selig, ein Rindviech zu sein!«
Wie alle Verliebten fing auch er an, kindisch zu werden und selige Närrischkeiten zu treiben, und so erwischten ihn die Putzfrauen der Firma eines Morgens dabei, wie er vor einer Modellfigur auf den Knieen lag und indem er sie mit dem Federbesen abstaubte, verzückt flüsterte: »Bistde kitzlich, mei Zuckerschnutche? Ach, Kättche, was bistde for e sieß Oos!«
Und weil die Putzfrauen ebensowenig wie die Chefs wußten, daß sie es mit einem verzauberten Prinzen zu tun hatten, hielten sie sich die Bäuche vor Lachen, und – klatsch – hatte Adolf einen nassen Putzlumpen auf dem Buckel.
Abends, nach acht Uhr, aber, wenn er von der Post zurückgekommen war und die Rolläden herabgelassen hatte, wich der schlimme Zauber von ihm, er war nicht mehr das »scheppe Adolfche«, wie ihn der eklige Kassierer nannte, sondern Prinz Adolf der Liebeglühende von Träumershausen, und Seine Durchlaucht geruhten nach dero Märchenschloß zu wandeln, welchselbiges dicht unter dem Dach lag.
Der alte wackelige Stuhl war der Thronsessel, der Schrank mit dem kaputenen Schlüssel, die Schatzkammer, in der als funkelndes Geschmeide seine Sonntagshose hing. Und vom Dachfenster aus hatte der Prinz die herrlichste Aussicht auf sein Reich; da wimmelten seine Untertanen, und jeden, den er mit einem Liebchen am Arme spazieren sah, ernannte er zu seinem Pagen.
Hörte er aber jemanden das schöne Lied »Du bist verrückt, mein Kind« singen, so sagte er mit gutmütiger Selbstironie: »Des is mei Nationalhymne!«
Oh, S. Durchlaucht Prinz Adolf hatten einen großen Hofstaat! Der Kassierer, der ihm allmonatlich seinen Gehalt auszahlte, war sein Finanzminister, der Herr Schröder war sein Zeremonienmeister, der Schutzmann unten an der Ecke seine Leibgarde, der Lehrling sein Hofnarr und die Aufwaschweiber seine Hofdamen.
Ein Stockwerk unter ihm aber, da war das Allerköstlichste: da residierte Prinzessin Katharina, die Märchenfee, die er zu erlösen hatte. Es ist im Märchenreich üblich, daß ein Prinz, ehe er die Hand der Holdseligsten erringt, erst einige Drachen ins bessere Jenseits befördert, – in diesem Märchen begab es sich leider, daß der kurzsichtige Held nicht die Prinzessin, sondern den Drachen selbst freite.
Oft des Abends sahen nun die Mainnixen den kleinen Adolf mit Katharina am Ufer auf und ab wandeln, sie kicherten zwischen den großen Kähnen hervor und zählten die Küsse nach. Es gingen dort viele verliebte Pärchen spazieren, aber auf unser Duo hatten es die Nixenfrechdächse ganz besonders abgesehen. Denn in der Maingegend haben auch die Elementargeister Sinn für Humor. Und wie oft wisperten sich im Offenbacher Stadtwald die Sträucher und Büsche verschmitzte Randbemerkungen zu, bis eine uralte Tanne sie zurechtwies: »Still, klaa Gezäppel! Is ja doch bloß der griene Neid von Euch!« Denn in der Offenbacher Gegend sprechen auch die Vegetabilien Dialekt.
Katharina war bei diesen Abendwanderungen viel zu folgsam, schweigsam und nachgiebig, als daß diese Tugenden hätten echt sein können. Wenn der kleine Adolf zu schwärmen anfing: »Kättche, lieb Kättche, guck nor de Mond! Is es net, als ob er extra als Latern hiegehenkt wär, damit ich Dei sieß Schnutt besser find?«, dann entgegnete sie zärtlich: »Ach ja, Adolfche, der Mond!!« Und dachte sich heimlich: »Also mondsüchtig is er aach! No wart nor, ich wer' Derr die Posse schonn ausdreiwe!«
Und wenn er im dunklen Stadtwald fantasierte: »Kättche, wann jedz e Räuwer käm, verteidige dhät ich Dich bis zum letzte Blutsdroppe!«, dann schmiegte sie sich dicht an ihn und hauchte: »Ich waaß es, Adolf!«
Und dachte bei sich: »Ich möcht net gucke, wiesde laafe dhätst!«
Von diesen Gedanken Katharinas ahnte der harmlose Verliebte nichts. Wohl war er in seiner Liebe ein Prinz, ja sogar ein König, – aber nur ein König auf dem Schachbrett, und Katharina war die Königin, die ihn matt setzen sollte. Die Küsse, mit denen sie die seinen erwiderte, waren zäher Leim, und an diesem Leim blieb das harmlose Vögelchen Borges hängen.
Vater Bindegerst sah die Entwicklung der Dinge mit stillem Vergnügen. Adolf war ihm lieb und wert, aber noch lieber war ihm der Gedanke, seine zänkische, bösartige Tochter auf gute Art los zu werden. Er, der seit dem Tode seiner Frau unter Katharinas derbem Pantoffel stand, träumte in Gedanken von einer neuen Junggesellenzeit, in der er viel Versäumtes nachzuholen gedachte.
Er redete Adolf nicht zu, aber er warnte ihn auch nicht, zumal ihm die Erfahrung hinreichend bewiesen hatte, daß man leichter einem Nilpferd das Ballettanzen beibringt, als einem Verliebten die Wahrheit über seine Angebetete.
Es bestand zwischen Vater und Tochter ein stillschweigendes Übereinkommen, dieser Angelegenheit ungehemmten Lauf zu lassen. Drohte, wie so oft, ein lärmender Streit zwischen Vater und Tochter auszubrechen, und fing Katharina nach ihrer Gewohnheit in den höchsten Fisteltönen zu keifen und zu schreien an, dann hob Papa Bindegerst nur mahnend seinen Finger und deutete nach oben und flüsterte: »Pst! Er könnt's hörn!« und sofort ging Katharina zum zartesten Pianissimo über.
Wobei ihr Talent anerkannt werden muß, auch im leisesten Tonfall die haarsträubendsten Bosheiten und Beschimpfungen von sich zu geben.
Und so kam denn der große Tag, an dem Adolf in aller Form um seiner Erwählten Hand anhielt.
Er warf sich zu diesem Zweck in den schwarzen Sonntagsanzug, ergriff den Zylinder, und es ging ihm einen Augenblick durch den Kopf: »Es is doch merkwerdig, daß der Mensch zor Brautschau genau deselwe Aazug aazieht, wie wann er zor'rer Beerdigung geht!«
Und setzte tiefsinnig hinzu: »Besonnersch, wann er nor aan Aazug hat!«
Auch Vater Bindegerst hatte sich in sein Feiertagsgewand gehüllt, und Katharina prangte wieder in ihrer weißen Bluse.
Die Bluse war nicht mehr ganz so blütenweiß wie damals, als sie den ersten Angriff unternommen hatte: in der Taillengegend zeigte sie deutliche Fingerabdrücke von Adolfs Händen.
Und nun saßen sich die beiden Männer gegenüber, während Katharina im Nebenzimmer auf des Vaters Ruf wartete, wie die Kinder bei der Weihnachtsbescherung auf das Klingelzeichen, und Adolf drehte verlegen seinen Zylinder in der Hand und wußte nicht, wie beginnen.
Und dachte: »Genau so sitzt der liewe Gott uff seim Thronsessel unn dhut die Erd' zwische seine Händ drehe, unn iwwerall, wo er se mit seine Fingerspitze beriehrt, werd's Friehling unn die Blumme sprosse! Unn manchmal werft er die Erd' wie e Gummiball in die Luft unn fängt se widder uff, unn wann er se emal falle läßt, dann krieht die ganz Erdeherrlichkeit die Kränk, unn all die Häuser borzele zusamme, unn dene Herrn Feldmann unn Schröder ihr Geschäftshaus aach, unn der dick Herr Schröder werd in de Trimmer erumfuhrwerke unn werd kreische: »Adolf, was schdehn Se da unn halte Maulaffe feil? Nemme Se die Schipp unn de Besem unn kehrn Se de Dreck eweck!«
Und endlich hatte Adolf den Zylinder genug in der Hand gedreht, er raffte sich auf und stotterte: »Herr Bindegerst, ich waaß net, ob Se vielleicht bemerkt hawwe …«
Und Vater Bindegerst unterbrach würdevoll: »Jawohl, Herr Borges, ich habb bemerkt!«
Da wurde es ihm schon bedeutend leichter ums Herz, und er fuhr fort: »Se hawwe neemlich e Dochter, Herr Bindegerst …«
»Jawohl, ich habb e Dochter!« bestätigte Herr Bindegerst.
»Unn Ihne Ihr Dochter … se is nämlich so e gut Mädche, unn so e Engelche …«
»Jawohl, se is e Engelche!« bekräftigte Herr Bindegerst. Und dachte: Wen die Götter verderwe wolle, den strafe se mit Blindheit.
»Unn Ihne Ihr Fräulein Dochter unn ich … indem ich'r nämlich in der ledzte Zeit nahgetrete bin …«
»Oho!« sagte Vater Bindegerst. »Was muß ich heern? Wie nah sin Se err getrete?«
Da kam die Weihe des Augenblicks über den kleinen Schwärmer Adolf und er rief: »So nah, daß ich ihr Herz deutlich habb schlage heern, unn des goldig Herzche hat als gebumbert: »Adolfche! Mei Adolfche!« hat's gebumbert, unn mei Herz hat mitgebumbert: »Kättche, mei Silwerkättche«, unn wege dere Bumberei bin ich heut da, unn sag Ihne: Lasse Se dere Bumberei de kerchliche Sege gewwe! Ich bin kaa Milljonär, ich kann Ihne Ihrer Dochter kaa Audomobil kaafe, awwer Trambahn fahrn lasse kann ich se, unn satt zu esse werd se hawwe, unn gucke Se sich emal mei Händ aa: uff dene Händ wer' ich se drage. Es sin solide, kräftige Händ, unn Ihne Ihr Dochter werd gut druff sitze! Herr Bindegerst, Se könne zwaa Mensche glicklich mache, – sage Se ›Ja!‹«
Vater Bindegerst war ganz paff über die Beredsamkeit seines Schwiegersohnes und er dachte sich: »Des werstde Derr aach noch abgewöhne!« laut aber sagte er:
»Se wisse net, was Se verlange! Awwer, wann's Kättche nix dagege hat, mein Sege hawwe Se! Nor aans sag ich Ihne: Se misse aus'm Haus ziehe! Ich kann kaa jung Liewespärche um mich brauche!«
Und er rief: »Kättche, komm emal erei! Der Herr Borges is da unn muß so needig emal heierate!«
Und wenige Sekunden später lag Katharina in seinen Armen und Adolf glaubte, die ganze Welt erobert zu haben.
Drunten im Hof aber spielte wieder der Orgelmann:
»Katharinchen mit dem Selleriekopp,
Allez hopphopphopp!
Allez hopphopphopp!«
In dieser Nacht gab es in dem Hause in drei verschiedenen Zimmern drei glückliche Menschen:
In seiner Dachkammer saß Adolf und jauchzte: »Ich habb se! Ich habb se! Unn wann der Herr Feldmann hunnertmal Recht hätt unn ich wär e Kamel, so gescheit war ich doch, daß ich merr des scheenste Kamelweibche geholt habb, was es iwwerhaapts uff dere Welt gibbt!«
Und in ihrem Bett lag Katharina und schmunzelte mit funkelnden Augen: »Ich habb'n! Fest haww ich'n! No, wart nor!«
Und vor dem Krug mit dem Trompeter von Stolzenfels am Rhein saß der alte Bindegerst und rieb sich die Hände und lachte in sich hinein: »Se hawwe sich! Ich bin se los!«
Und nach einer Weile: »Ich hätt's net glaabt, daß se noch aan krieht!«
Und wieder nach einer Weile: »Arm Adolfche! Du werst Aage mache!« …
Acht Tage später trat Adolf vor Herrn Schröder, an den sich die Angestellten mit ihren Bitten lieber wandten als an Herrn Feldmann, und sagte: »Herr Schröder, ich dhät um acht Däg Urlaub bitte, ich möcht uff die Hochzeitsreis'!«
Und der dicke Herr Schröder sah ihn erschrocken an: »Sin Se meschugge?«
Aber als er Adolfs glückstrahlende Augen sah, dämpfte er die Stimme und meinte väterlich: »Es is zwar net schee von Ihne, daß Se grad mitte in der Saison ans Heierate denke, awwer, no, wern Se glicklich! Se könne aach zeh' Dag bleiwe! Unn was des Hochzeitsgeschenk betrifft, – ich wer' mit meim Kompanjon redde!«
Und im ganzen Geschäft steckten sie die Köpfe zusammen, und die männlichen Angestellten sagten: »Merr wolle zusammelege unn em 'n Wecker kaafe, sonst schlaft er in der Hochzeitsnacht ei'!«
Und die Damen sagten: »Wie muß die ausgucke, die den genomme hat!«
Denn der Mensch ist ein edles Wesen und freut sich darüber, wenn sein Nächster glücklich ist.
Und dann kam die Trauung und eines Montags Morgen geleitete Vater Bindegerst das frischgebackene Ehepaar zum Bahnhof, um es zwecks Hochzeitsreise der Eisenbahn anzuvertrauen.
Der schöne Odenwald war das Reiseziel, und der glückliche Adolf stand in Gedanken bereits auf dem Gipfel des Melibokus und zeigte seiner zarten Gattin die Welt und sagte: »Guck, Kättche, des alles geheert uns! Wann's aach net unser Eigedum is, merr hawwe doch e Hypothek druff, e Herzenshypothek! Unn die Wälder misse uns ihrn Duft unn ihr Anemone als Hypothekezinse gewwe, unn die Quelle ihr Rausche unn ihrn silwerige Glanz, unn die Vögelcher ihrn Gesang. Guck, lieb Kättche, des Alles, was de guckst, haww ich Derr mit in die Eh' gebracht! Die Nadur, die is e groß' Sparkass', viel greeßer wie die Offebächer Städtisch' Sparkass', unn noch dausendmal sicherer. Und wann merr emal in Not komme dhäte, in Seelennot maan ich, dann gehn merr eifach enaus in die Nadur unn hewe in dere Sparkass' en Poste Erquickung unn Trost ab, – unn wann merr aach noch so viel abhewe, des Guthawe nemmt kaa End!«
Solche Träumereien pflegten dem kleinen Adolf schon von Kindsbeinen an nicht gut zu bekommen, und auch diesmal führten sie einen unerwünschten Zwischenfall herbei. Er stolperte nämlich beim Besteigen des Kupees, und das Köfferchen polterte auf den Bahnsteig zurück.
»Kannstde net achtbasse, dappischer Olwel?!« fuhr ihn Katharina heftig an. »Net emal e Handtasch' kann der dumm Mensch drage!«
Tieferschrocken sah Adolf sie an. Und blickte in zwei Katzenaugen, die höhnisch und unheilkündend funkelten.
Da senkte er den Kopf.
Der alte Bindegerst aber dachte: »Es geht schonn los! Se fängt schonn aa! – No, viel Vergniege!!«
Während Adolf das Köfferchen, das aufgegangen und seinen Inhalt auf den Bahnsteig verstreut hatte, zusammenraffte, machte sich Katharina im Innern des Abteils zu schaffen. Sie nahm den Herrenhut, mit dem der eine Ecksitz belegt war, und warf ihn mit energischer Geste ins Gepäcknetz. Dann setzte sie sich selbst auf den Platz.
Und als kurz vor der Abfahrt des Zuges ein älterer Herr einstieg und verwundert bemerkte: »Diesen Platz hatte ich mit meinem Hut belegt!«, erhielt er mit bösartiger Betonung die Antwort: »Dann hätte Se Ihrn Deckel uff den Blatz, unn net da owwe hie lege solle!«
Adolf hielt es für seine Pflicht, seiner Frau beizuspringen, und betonte, der Platz sei allerdings unbelegt gewesen. Es war ihm nicht wohl bei dieser Lüge.
Aber Katharina hatte keinen Sinn für solche ritterliche Beihilfe. »Halt Dei Maul!« herrschte sie ihn gereizt an. »Ich wer' mit dem Herrche da schonn allaans fertich! Da bin ich schonn mit ganz annern Leut fertich worn!«
Der Herr lächelte und schwieg.
Und auch Adolf schwieg. Aber er lächelte nicht dabei. In seinen Kinderaugen standen zwei große Tränen.
Und dann pfiff die Lokomotive, und der Zug fuhr ab.
Vater Bindegerst winkte noch einmal kurz mit der Hand, dann drehte er sich um und ging heim. Das Gewissen schlug ihm, er verfiel in Selbstvorwürfe und indem er die Bahnsteigkarte abgab, murmelte er, zum Erstaunen des Schaffners: »Ich hätt's doch net dhun solle!«
Katharina schmiegte sich trotzig in den Eckplatz, starrte die Decke an und schmollte. Denn dies ist die Universalwaffe aller Frauen, die im Unrecht sind.
Mit diesem Zug fuhr Adolf Borges direkt in die Hölle.
Vater Bindegerst saß einsam in seiner Werkstatt und drechselte an einem Spazierstock. Es sollte ein kleines Kunstwerk werden: den Griff bildete ein Affenkopf mit fletschenden Zähnen, und gerade war Meister Bindegerst dabei, in diesen Kopf die braungelben Glasaugen einzusetzen.
Unser Meister fühlte sich mehr als Künstler denn als Zoologe, und so ist es begreiflich, daß man den Affenkopf auch recht gut für einen Kaninchenschädel oder eine Bulldogge halten konnte; ja, der geschmackvolle Käufer dieses Spazierstockes äußerte sogar, als er ihn erstand: »Schad, daß der Rehbock kaa Geweih hat!«
Vier Tage schon war Bindegerst nun Junggeselle. Das junge Paar hatte noch nichts von sich hören lassen, und er war darüber keineswegs erstaunt. Kannte er doch sein holdes Töchterlein viel zu gut, als daß er hätte befürchten können, sie werde die Verschwendung einer Ansichtspostkarte an ihn dulden.
Katharina war geizig. Noch viel geiziger, als es die Natur bei der Verteilung weiblicher Reize gegen sie gewesen war.
Der liebe Gott und der Teufel sind scharfe Konkurrenten, und hat der liebe Gott den Adam nach seinem Ebenbilde geschaffen, so ließ es sich der Teufel nicht nehmen, manche Eva nach dem seinigen zu bilden. In der Person Katharinas war ihm ein Prachtexemplar gelungen, und alle in der Hölle schmorenden Kunstkritiker (und das waren nicht wenige) stimmten darin überein, er habe zu Katharina seine eigene Großmutter als Modell genommen.
Bindegerst nutzte die Abwesenheit seiner Tochter nach Kräften aus. Er ließ an dem Glaslüster seiner Werkstatt sämtliche Flammen brennen, denn nun war ja niemand da, der sie ihm bis auf eine vor der Nase ausschraubte und dabei keifte: »Du findst wohl Dei Geld uff der Gass'? Odder bistde vielleicht an dere Gasgesellschaft bedeiligt?! Ei, ich dhät merr an Deiner Stell noch e Petroliumlamp uff de Hinnern binde, daß die Illumination fertich is!«
Gott sei Dank, jetzt war niemand da, der so etwas sagte.
Und er konnte jetzt auch, wie Hans Sachs in den »Meistersingern«, zu seiner Arbeit sein Lieblingslied singen, ohne daß sich plötzlich ein bissiger Kopf in der Türe zeigte und ihn anschrie: »Hör uff mit dem Gegröhl! Sonst laaft die Milch zusamme!«
Und Meister Bindegerst sang doch so schön! Nur konnte man bei seinem Lied, wie bei dem Affenkopf des Spazierstocks, nicht recht unterscheiden, was es eigentlich vorstellen sollte! Dafür aber sang er stets fortissimo. Denn was ein richtiger Musiker ist, der ist nicht zimperlich.
Vor allem aber konnte sich der unbeaufsichtigte Herr Papa jetzt einmal gründlich seiner heimlichen Geliebten widmen.
Ja, Vater Bindegerst hatte eine stille Liebe. Nicht etwa, wie schlechte Menschen vermuten werden, ein weibliches Wesen, – o nein, seine Geliebte war keines der Geschöpfe, die unsere Liebe so oft mit Undank lohnen, die einen Herkules an den Spinnrocken demütigen, einem Simson die Haare schneiden und als Honorar für ein bißchen Schleiertanz einen Heiligenkopf fordern, nein, seine Geliebte war jenes Wesen, das noch keinen Anbeter unerhört gelassen hat und dem dennoch jeder Liebhaber dauernd treu bleibt: seine Geliebte war der Alkohol.
Was für eine musterhafte Geliebte ist doch Schnaps! Sie beansprucht keine neuen Röckchen, Blusen und Spitzenhemdchen, sie ist jahrein, jahraus mit dem schlichten Gewande einer alten Glasflasche zufrieden. Sie beansprucht nicht, ins Theater, Kino und Kabarett geführt zu werden, sie begnügt sich mit dem dunklen Plätzchen unter einer Drechslerbank. Sie sucht sich keine modernen Hüte aus und läßt dir die schreckenerregende Rechnung schicken, nein, sie trägt im Frühling, Sommer, Herbst und Winter denselben abgebrochenen Korkstopfen.
Und überkommt dich die Stunde der Zärtlichkeit und du kneifst sie zur Einleitung in die Wangen, so murrt sie niemals: »Laß mich! Ich bin jetzt nicht aufgelegt!«, sondern sie lächelt dich, verführerisch wie immer, an: »Trinke merr noch e Tröppche!«
Herr Drechslermeister Bindegerst war nicht der Joseph, einer solchen Verführungskunst zu widerstehen. Alle Viertelstunde hörte er es unter der Drechslerbank hervorkichern, und galant und ritterlich faßte er alsdann die Geliebte um die glatte Taille, hob sie ans Tageslicht oder ans Gaslicht, drückte auf ihren Hals seine trockenen Lippen, wischte sich nach einem langen, langen Kuß mit dem Handrücken den Schnabel und stellte fest: »Es schmeckt scheußlich, awwer 's is nahrhaft! Der Mensch is e Maschin unn muß von Zeit zu Zeit geölt wern! No, öle merr noch e Tröppche!« …
Seine Hoffnung, das neue Ehepaar dauernd ausquartieren zu können und Alleinherrscher im Hause zu werden, hatte sich freilich nicht erfüllt. Wohl hatte Adolf, der Nachgiebige, dem Vorschlag beigestimmt, aber Katharina hatte höhnisch erklärt: »Nix do! Die Wohnung nemme mir! Unn du ziehst enuff ins Dachstibbche!«
Und mit gewohnter Tatkraft hatte sie sogleich mit dem Umräumen begonnen. Sie brauchte dazu keinen Dienstmann, ihre robusten Arme bewältigten die schwersten Kisten und Kästen mühelos.
Adolfs Habseligkeiten wanderten treppabwärts in die kleine Dreizimmerwohnung, und des Vaters kleine Schätze stiegen hinauf in den Giebel.
Bei dieser günstigen Gelegenheit unterzog sie das Eigentum ihres Papas einer gründlichen Musterung, und sie machte dabei allerhand überraschende Entdeckungen. Nicht nur stieß sie zu ihrer Wut in einer Westentasche auf zwei Kinobillets, die für den gleichen Tag gültig waren und auf zwei nebeneinander gelegene Plätze lauteten, sondern sie fand auch die kleine Bibliothek, die sich der verschwenderische »alte Esel« zugelegt hatte.
Um ihn nicht in falschen Verdacht zu bringen, sei festgestellt, daß diese Bücherei nur aus drei Werken bestand, nämlich: »Der bayrische Hiasl«, »Das Geschlechtsleben des Menschen« und »Was muß der Jüngling vor der Ehe wissen?«
Und noch etwas anderes fand sie: einen Mahnbrief der Firma, die ihm das Holz für seine Drechslerarbeiten lieferte. Wann sie endlich ihr Geld bekommen werde, frug sie an und drohte in unerquicklichen Wendungen mit einer Klage.
Im ersten Augenblick dachte Katharina, die niemals sprachlose, daran, ihrem Vater eine Szene zu machen, eine jener Szenen, die sich bei ihr zu einem fünfaktigen Monolog auszuwachsen pflegten und beim geringsten Widerspruch sogar zu einer Trilogie anschwollen.
Aber sie befürchtete eine Trübung ihres Brautstandes, denn die weibliche Zungenfertigkeit ist etwas, was der Jüngling nicht vor der Ehe zu wissen braucht.
Sie begnügte sich daher damit, in großen Bleistiftzügen unter den Brief zu schreiben: »Gelesen. Katharina.«
Dann legte sie ihn wieder in die Schublade, in der sie ihn gefunden hatte. Das genügte. Nun würde der Vater schon merken, daß sie eine neue Waffe gegen ihn besaß, und sein Verhalten danach einrichten.
Hierin täuschte sie sich allerdings. Der alte Sünder empfand keineswegs das Bedürfnis, den Mahnbrief wiederholt zu lesen, und ließ ihn ruhig in der Schublade schlummern, bis ihn die Mäuse fraßen.
So war es gekommen, daß Vater Bindegerst sein eigener Zimmerherr wurde. Er hatte damals, als er Adolf die Dachhöhle anpries, viel Gutes von der Behausung da droben zu erzählen gewußt und sie »e schee Zimmerche« genannt, – nun, da er selbst darin wohnen mußte, fand er, daß sie ein Saustall ersten Ranges sei.
Ihm mangelte die edle Selbstbescheidung seines Schwiegersohnes, er verspürte nicht die geringste Lust, seinen Kopf zum Dachfenster hinauszustrecken und an den Anblick der kleinen Menschlein da unten philosophierende, lächelnde Betrachtungen zu knüpfen. Er benutzte das Fenster lediglich dazu, manchmal höchst unbekümmert hinauszuspucken. Für den Mondschein hatte er gar nichts übrig, und den musikalischen Katzen konnte ein so hervorragender Sänger wie er, schon aus künstlerischem Grundsatz nicht wohlgesinnt sein.
»Wann nor der Blitz die ganz Bud' zusammehaage wollt'!« dachte er, wenn er in dem wackeligen Bett lag. »Nächstens quardiert mich mei liewenswerdig Dochter noch in eme Luftballon ei'! Odder se zieht merr e Schnor dorch die Nos unn läßt mich als Drache steie! Die Kränk soll se kriehe! Awwer gleich!!«
Nun, Gott sei Dank, jetzt hatte er vorerst seine Ruhe vor dem vermaledeiten Familienglück!
Gerade hatte Bindegerst in seiner festlich beleuchteten Werkstatt wieder traute Zwiesprache mit seiner heimlichen Geliebten gehalten und wischte sich den Schnabel ab, um seiner schnapsologischen Ernährungstheorie Ausdruck zu geben, als es leise an die Türe klopfte.
»Erei, wer drauße is!« rief er.
Und herein schlich die klägliche Gestalt seines Schwiegersohns.
Quer über der Stirne prangte eine breite Kratzwunde und sein rechtes Auge war merkwürdig verschwollen.
Mit gesenktem Kopf blieb er in der Türe stehen.
Erstaunt sah Bindegerst von seiner Arbeit auf und gab heimlich mit dem Fuß seiner stillen Liebe einen Tritt, damit sie tiefer unter die Drechslerbank schlupfe.
»Ich bin widder da!« seufzte Adolf tonlos.
»Ich guck's!« bestätigte der Alte, und ein boshaftes Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Er bedurfte keiner Erläuterung, er erriet alles. Nicht ohne Spott frug er: »Unn wo is dann 's Kättche?«
Hilflos zuckte Adolf die Achseln.
Ein Engel ging durchs Zimmer, – eine in dieser Behausung höchst ungewohnte Erscheinung. Bindegerst wartete, ob sein Schwiegersohn nicht anfangen würde, die Geschichte seiner unterbrochenen Hochzeitsreise zu erzählen.
Aber Adolf schien völlig geistesabwesend. Er empfand nicht einmal das Beschämende seiner tragikomischen Lage; nur traurig war ihm zu Mute, traurig wie einem Kind, dem ein böser Hund die Lieblingspuppe entrissen hat und in Fetzen beißt.
Beinahe leid tat er seinem Schwiegervater.
»No, komm nor her!« sagte Bindegerst schließlich. »Vor mir braachstde kaa Angst zu hawwe: ich kratz net! Unn scheniern braachstde Dich aach net: die Handschrift is aach schon« uff mei'm Kopp zu lese gewese! Wann aach net mit so große Aafangsbuchstawe! – Wie is'n des komme?«
Adolf machte eine müde, abwehrende Handbewegung.
Er wollte nicht darüber sprechen. Er hätte auch gar nicht so genau sagen können, wie sich die Unglücksszene entwickelt hatte. Mit einem ganz unbedeutenden Wortwechsel war es angegangen, er hatte die Unvorsichtigkeit besessen, in einer nebensächlichen Angelegenheit anderer Ansicht zu sein als das ihm angetraute Turteltäubchen, und plötzlich sah er sich einer tobenden Furie gegenüber und hörte zum ersten Mal den Aufschrei: »Prinze unn Korferschte hätt' ich heierate könne, unn Dich Schlappschwanz muß ich nemme!!« Und ehe er noch dazu kam, einzulenken, die grundlos Erregte zu beruhigen, und alles, was er gar nicht gesagt hatte, zurückzunehmen und um Verzeihung zu bitten, spürte er schon zehn Fingernägel im Gesicht.
Als er die Augen, seine erschrockenen blauen Kinderaugen, wieder öffnete, war Katharina verschwunden.
Da war er traurig zum Bahnhof gewankt und hatte sich eine Fahrkarte nach Offenbach gelöst.
Mit dem Wirt hatte er nicht erst abzurechnen brauchen, denn die Kasse führte Katharina.
Während der ganzen Eisenbahnfahrt hatte er zum Fenster hinausgestarrt, aber er hatte nichts gesehen von den Dörfern, Städten, Wiesen, Wäldern und Bergen, die vorbeihuschten.
Wie ein Fiebernder das Buch, das aufgeschlagen auf seiner Bettdecke liegt, liest, ohne daß die gedruckten Buchstaben sich seinem wirren Geiste zu Worten und Sätzen verbinden, so starrte er in das weitaufgeschlagene Bilderbuch der Natur und ward sich keines Schauens bewußt.
Ein Riesenspielzeug war die weite Landschaft, aufgestellt von der täppischen Hand eines Gigantenjungen, und ein hämischer Kobold blies nun das schöne Spielzeug mit dicken Backen um, so daß es in tollem Wirbel an dem Eisenbahnzug vorbeisauste.
Ein Traumwandler, ging Adolf durch die Straßen Offenbachs, instinktiv den Weg nach Hause findend, und nur einmal, in der Nähe der Schloßstraße, war er zu dem erschreckten Gedanken erwacht: »Wann Dich nor niemand aus'm Geschäft guckt! Was dhäte die sonst denke!«
Und schnell war er in eine Seitengasse eingebogen.
Und nun stand er in seiner Wohnung, die ihm mit einem Mal so fremd vorkam, und wurde von einer unbeschreiblichen Sehnsucht zerrissen, sich an eine mitfühlende Brust zu werfen, um sich den Schmerz von der Seele zu weinen.
Aber der alte Bindegerst mit seiner heimlichen Geliebten war dazu nicht die geeignete Persönlichkeit. Das empfand der arme Adolf nur allzu deutlich. Und so harrte er in der Türe, mit den Tränen kämpfend, und ihm war, eine eherne Faust würge ihm die Gurgel.
»Mach wenigstens die Dhür zu!« forderte ihn Bindegerst auf und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Zugluft is net gut for so'n Schwerverwundete!«
Mechanisch gehorchte Adolf Borges und trat neben ihn an die Drechslerbank, stumpf seinem Beginnen zuschauend.
Vater Bindegerst war mit dem Einsetzen der Glasaugen fertig, er gab jetzt seinem Meisterwerk den letzten Glanz, indem er den Affenkopf mit Sandpapier abrieb. Er ließ sich Zeit dazu, und als er die Arbeit für vollendet hielt, hob er stolz den Spazierstock seinem Schwiegersohn unter die Nase und frug selbstbewußt: »No, for was for e Viech hältstde des?«
Dabei fiel sein Blick in Adolfs Augen und entrüstet fuhr er fort: »Bistde iwwergeschnappt? Ich glaab gar, Du willst flenne? Bistde e Mannsbild odder bistde e Schulbub, dem der Vadder 's Loch versohlt hat? Waastde, was ich an deiner Stell dhät?«
Adolf wußte es nicht.
Und deshalb belehrte ihn der alte Bindegerst, der sich dank der Abwesenheit seiner Tochter und durch den eingehenden Umgang mit seiner stillen Geliebten in sehr heldenhafter Stimmung befand, weiter: »Soll ich Derrsch sage? – Baß emal uff!«
Und er ließ den Spazierstock mit dem Affen-Kaninchen-Bulldoggen-Rehbockkopf sausend durch die Luft pfeifen.
»Verschdehstde 's? Bedappelstde 's? So mußtde 's mache! Mobilisier Dich, Adolf! Des is die aanzig vernimftig Nadurheilmethod! Haag se, daß die Lappe fliehe! Mein Sege hastde derrzu! Gebb'r die Prichel zurück, net mit fimf Prozent, net mit zeh Prozent, sonnern verdreifach'r des Kapital! Verklopp se, bis ihr Buckel schillert wie e Regeboge! Sonst kriehstde Dei Lebtag in Deiner Eh' kaan Sonneschei!«
Und er begann eine Schimpfrede auf seine Tochter, eine Racherede, wie sie selbst der selige Cato senior in seinen besten Stunden nicht gegen Karthago zusammengebracht hat, er ließ kein gutes Haar an Katharina, nicht einmal ihren Quetschekuche ließ er mehr gelten, und er schloß seine Predigt mit der, durch einen Faustschlag auf die Drechslerbank unterstrichenen Pointe: »Hättstde liewer dem Deiwel sei Großmudder geheierat' statt dem Satansweib! Ihr ganz Mudder is se! Die war grad so aane! Gott, was ich mit der Fraa ausgestanne habb! No, der Deiwel habb se selig!«
Adolf Borges verstand von diesem ganzen Vortrag kein Wort.
Seine feuchten Kinderaugen starrten unverwandt auf den Fußboden, als erwarte er, daß jeden Augenblick aus einer Ritze des Fußbodens ein Zwerg hervorschlüpfen müsse, ein weißbärtiger, greiser Märchenzwerg mit einem goldenen Krönlein auf dem Kopf, um zu sprechen: »Adolf, das alles ist gar nicht Wirklichkeit! Hokuspokus tickeltackel, geh hinauf ins Schlafzimmer, dort wirst Du Dein liebes Weibchen im Bett finden, die schon lange auf Dich wartet, um Dich abzuküssen!«
Aber kein Zwerglein kam hervorgekrochen, und als Adolf endlich in das Schlafzimmer ging, da war es leer, und ach, so still.
Ein einziges Mal regte sich etwas, aber das war nicht im Schlafzimmer, sondern ein Stockwerk tiefer: Vater Bindegerst hatte im Schwips seine Schnapsflasche fallen lassen und war gegen die Drechslerbank getaumelt.
Am nächsten Vormittag traf Katharina ein.
Sie tat, als sei gar nichts vorgefallen, stellte das Handköfferchen auf den Vorplatzschrank, legte Hut und Mantel ab, schlüpfte in einen alten Rock und begann in der Küche zu wirtschaften.
Adolf war schon frühzeitig aufgestanden, er saß zerknirscht im Wohnzimmer, nachdenkend darüber, mit welchem Kitt er seine in die Brüche gegangene Ehe wieder zusammenheften könne.
»Ach Gott«, sagte er sich bekümmert, »was hilft des jedz alls? Unn wann ich se mit der zähste Zärtlichkeit zusammebabb, se hat doch en Sprung unn bleibt invalid! Ich habb merr die Eh' vorgestellt wie en wunnerscheene Borzellandeller, von dem ich mit meim Kättche nix wie lauder Sießigkeite fresse wollt', – unn jedz is der Deller kapores, unn e Eck is abgestumbt, unn merr derf'n vor fremde Leut gar net mehr gucke lasse! Unn die Sießigkeite, – ach, ich glaab als, 's werd nix wie Handkäs, unn Handkäs eß ich gar net gern …«
Plötzlich war es ihm, als höre er in der Küche Jemanden hantieren. Ein freudiger Schreck elektrisierte ihn, er sprang auf und eilte hinaus.
Da stand Katharina am Herd und rührte einen brodelnden Kochtopf.
»Kättche!« frohlockte er, glückselig, sie wieder zu sehen, »mei lieb Kättche, wannstde wißt, was ich for Angst um Dich gehabbt habb! Bistde dann gut gefahrn? Willstde Dich net e bissi umlege? Du werst mied sei'!«
Aber Katharina würdigte ihren Gatten keiner Antwort. Mit einem verächtlichen Seitenblick auf ihn rührte sie weiter den Kochtopf.
»Willstde merr net wenigstens Gu'n Morsche sage?« bat Adolf.
»Gu'n Morsche, Hansworscht!« sagte Katharina. Aber nicht scherzhaft, sondern bissig und gehässig, in einem Tonfall, der keine Fortsetzung des Gesprächs zuließ.
Da schlich Adolf geknickt wieder ins Wohnzimmer.
»Was habb ich'r nor gedhaa?« jammerte er vor sich hin. »Ich habb'r doch kaa aanzig bees Wörtche gewwe! – No ja, ich bin kaa Kavalier, ich kann kaa so scheene Sprüch mache wie die nowle Leut, ich kann kaa Affedänz uffiehrn unn erumhippe wie die Judde ums goldene Kalb, – awwer des hat se doch vorher gewißt!
Unn daß ich se lieb habb, des muß se doch spiern! Ich habb's doch aach gespiert, wie se merr uff de Kopp gehaage hat!
Unn die Lieb is doch, waaß Gott, e dausendmal stärker Instrument als wie e Faust! Unn ich maan als, so e werklich Lieb als wie die meinigt, die muß se doch merke!
Wann merr in so e Menscheherz ereiruft: »Ich lieb Dich!«, dann kann doch des Echo net zurickrufe: »Steih merr de Buckel enuff!« Des wär doch gege die ganz Nadurgeschicht!
Awwer vielleicht habb ich se doch beleidigt, unn waaß es gar net? Vielleicht is merr doch erjend so e Wörtche erausgerutscht, was ich besser erunnergeschluckt hätt, unn was err weh gedhaa hat? Der Mensch babbelt ja soviel dumm Zeug, unn aach der Keenig Salomo hat gewiß in seim Lewe 'n ganze Haufe Stuß geredt, – es steht bloß net in der Biwel drin. Awwer was kann ich'r bloß Verkehrtes gesacht hawwe?«
Er sann und sann und kam zu keinem Ergebnis. Er trat vor den Spiegel und betrachtete wehmütig seine Kratzwunde an der Stirn und das verschwollene Auge und flüsterte: »Schee guck ich aus! Wunnerschee! Wann des so weitergeht, laß ich mich bei meiner silwerne Hochzeit in Spiritus setze!«
Und da Katharina nicht zu ihm hereinkam, tappte er die Treppe hinunter in die Werkstatt seines Schwiegervaters und meldete: »Gu'n Morsche, Vadder! Unn se wär' widder da!«
»E Erdbewe wär merr liewer!« sagte Bindegerst.
Aber Adolf wunderte sich schon nicht mehr über diese liebenswürdige väterliche Äußerung. Er hockte sich auf einen Schemel, stützte den Kopf in die Hände und frug erschöpft: »Is se immer so?«
»Immer!« bestätigte der Alte. »Immer! Nor manchmal net! Manchmal is se noch schlimmer. Bis jedz hastde se nor Schottisch danze sehe, awwer baß emal uff, wann se erseht Galopp danzt! Da kannstde Dei blau Wunner erlewe! Des Rezept zu dem Danz hat se von ihrer selig Mudder geerbt, grad wie des Rezept zum Quetschekuche! Ich sag Derrsch, Adolf, des Lewe is e Gemeinheit! E groß Gemeinheit! Zeit wärsch, daß e neue Sintflut komme dhät, awwer ohne Arche Noah! Vier Woche sollt's nix als wie Schnaps regne, daß merr all drin versaufe, – des wär wenigstens e scheener Dod!«
Es entstand eine Pause, die Bindegerst dazu benutzte, seiner stillen Geliebten zuzusprechen. Er genierte sich jetzt gar nicht mehr vor seinem Schwiegersohn.
»Warum hastde merr dann des net frieher gesacht?« stöhnte Adolf.
Bindegerst lachte dröhnend. »Warum ich Derr des net frieher gesacht habb? – Guck Derr emal den ahle Schrank in der Eck aa! Des Schloß is kabutt, unn in der Rickwand is e Mordsriß, ich habb'n bloß e bissi zugebabbt. Wann jedz e Kundschaft käm unn wollt den Bawel kaafe, maanstde, ich wer' sage: »Lasse Se die Finger dervoo! Der Schrank is de Transbort net wert!« Maanstde, ich bin so meschugge? Naa, mei Liewer! Aapreise wer' ich'm de Schrank unn hunnert Jahr Garandie geww ich'm, dem Olwel! Unn so mach ich's mit alle Möwel, – aach mit de lewennige! Braach ich mit fremde Aage zu gucke? Ich guck mit meine eigne nix!«
Da fühlte Adolf Borges, daß er auch von seinem Schwiegervater verlassen war.
Das Herz krampfte sich ihm zusammen und er hatte ein bitteres Wort auf der Zunge.
Aber noch ehe er es aussprechen konnte, kreischte eine Stimme von oben: »Macht, daß'r enuffkimmt! Der Kaffee is fertich!«
Es war Katharina, deren Ahnungsvermögen ihr gesagt hatte, daß sie es nicht zu einem Bündnis der beiden Männer kommen lassen dürfe, und daß es unklug sei, sie zu lange allein beisammen zu lassen.
Ein schweigsames Frühstück war es. Keines wollte ein Wort sprechen. Nur der alte Bindegerst bemerkte einmal zwischen zwei Schlucken Kaffee: »Im Odewald soll's frieher Hexe gewwe hawwe!«
Da warf ihm Katharina einen bitterbösen Blick zu. Erst kaute sie den Bissen fertig, den sie im Mund hatte, dann erwiderte sie: »Unn in Offebach, da gibbts sogar heut noch Rindviecher!«
Jede dieser Bosheiten Katharinas, auch wenn sie nicht gegen ihn selbst gerichtet war, verwundete Adolf wie ein Schlangenbiß. Er konnte es begreifen, daß ein Mensch in plötzlicher Erregung sich vergaß, schrie und tobte, wie das zuweilen der dicke Herr Schröder tat, wenn er seinen nervösen Tag hatte, aber unfaßbar war ihm diese sich ewig gleichbleibende, kaltblütige Bosheit.
Wie konnte ein Mensch so bis zum Rande vollgeladen sein mit Tücke und Streitsucht? Und gar ein weibliches Wesen?
Die wenigen Frauen, die er, der Frauenfremde, bisher hatte beobachten können, waren alle ganz anders gewesen.
Da waren die Geschäftsfräuleins, kleine Kücken, die sorglos-heiter herumpiepsten und in dem großen Hof des Lebens nach Liebschaften pickten; da waren die Gattinnen seiner Chefs, solide gutgenudelte Hennen, die würdevoll gackerten und herablassend mit dem Kopf zu nicken verstanden; da waren die Damen der Kundschaft, Federvieh von allen Sorten, jeden Alters und jeder Rasse, – aber so ein giftgeschwollener Truthahn wie Katharina war ihm noch nie unter die Augen gekommen.
Als das Frühstück abgeräumt war und er wieder allein im Zimmer saß, grübelte er von neuem über sein Schicksal nach. Und mit der kindlichen Gutmütigkeit, die ihn für jede menschliche Schlechtigkeit eine Entschuldigung suchen ließ, redete er sich ein: »Vielleicht kann se gar nix dafor, daß se so is? Ihr Mudder soll ja e bees Reibeise' gewese sei', unn iwwer ihrn Vadder geht merr aach allmählich e Petroliumlamp uff! Wie hätt des arm Mädche da annerschter wern könne? In eme Eisschrank kann kaa Veilche gedeihe. Wer waaß, wie se mei Kättche mit Schmiß unn Schenne uffgezoge hawwe! Unn jetz hält se die ganz Welt for e Generalversammlung von Verbrecher und Bösewichter. Ich muß recht lieb zu err sei unn recht gut, dann werd se sich gewiß ännern. Geduld muß ich hawwe, daß se Vertraue zu merr krieht! Unn wann se erscht merkt, ich maan's werklich gut mit err, ich will se net ausnitze, dann werd zuerscht e Wandlung mit ihrm Herzche vor sich gehe, unn dann, so Gott will, aach e Wandlung mit ihr'm Schnawwel!«
Und er begann sogleich, einen Versuch auf diesem Wege zu machen; leise schlich er in die Küche hinaus, trippelte auf den Zehenspitzen von hinten an Katharina heran und drückte blitzschnell einen Kuß auf ihren Nacken.
Ein heftiger Ellbogenstoß in die Magengegend war die Antwort. »Du bist wohl net bei Trost? Was soll dann des haaße? Scher dich zum Deiwel, Faulenzer!«
Dieses Wort verletzte Adolf Borges tief. Faulenzer hatte ihn noch niemand genannt. Daß ihn Herr Feldmann und der eklige Kassierer mit allerhand Kosenamen aus Brehms Tierleben belegten, war er gewohnt, aber Faulheit, – nein, dieses Laster hatte ihm noch niemand vorgeworfen.
Hatte er nicht sein Leben lang geschafft wie ein Packesel? Und jetzt sagte seine eigene Frau …
»Ja, glotz mich nor aa!« schrie Katharina. »Du hast mich wohl noch net richtich beguckt? Soll ich Derr e Fodografie schenke? – Jawohl, e Fauldier bistde! Was gehstde net in Dei Geschäft?«
»Awwer Kättche«, verteidigte sich Adolf, »awwer Kättche, ich habb doch noch fünf Däg Urlaub! Was solle se dann von merr denke, wann ich mitte in meiner Hochzeitsreis zurickkomm!«
»Die wern schonn sowieso wisse, was se von Derr zu denke hawwe! Bildste Derr vielleicht ei', ich will Dich die fimf Däg hier erumlungern hawwe? Zum Nixdhun haww ich Dich net geheierat!«
Und plötzlich im Ton umschlagend fing sie an zu jammern: »O Gott, ich unglicklich Fraa! Prinze unn Korferschte hätt ich hawwe könne, unn so en Schlappschwanz, so'n draurige, muß ich nemme!«
Adolf wartete nicht, bis der Ton zum zweiten Mal umschlug und wieder die keifende Roheit zum Vorschein kam. Er ging hinaus, setzte seine Mütze auf und lief ins Geschäft.
Und als er vor dem Geschäftshaus stand und in die großen Schaufenster blickte, in denen die Modellpuppen standen, die er so oft abgestaubt hatte, da war ihm, als sei dieses Haus seine eigentliche Heimat, als sei hier seine Familie, und sein Heim bei Katharina sei nur eine Schlafstätte, in der er aus Mitleid geduldet wurde.
Er ward beinahe gutgelaunt, als er vor den erstaunten Herrn Schröder hintrat, um sich zurück zu melden. Er freute sich auf die erlösende Arbeit.
Und es ging ihm durch den Kopf: »Die Arweit is doch des wahre Baradies! Unn die ganz Geschicht mit dem Ebbelbaam, die glaaw ich iwwerhaapts net! Die Sach werd ganz annerschter gewese sei'. Der Adamselig hat sich aafach gelangweilt in dem baradiesische Palmegarte unn hat zum liewe Gott gesacht: »Mensch«, hat'r zum liewe Gott gesacht, »Mensch, ich komm um vor Langweil! Schmeiß mich enaus aus dein Garte, odder ich vertrampel Derr 's Gras!« Unn weil der liewe Gott e gescheider Mann is, hat er erwiddert: »Adamche, ich will Derr e Uniwersalmedizin ersinne gege die Langweil unn gege jeddes Unbehage unn jedde Unzufriddenheit!« Unn er hat die Arweit erfunne. Unn da war die Schöpfung erscht richtich fertich!«
»No??« sagte Herr Schröder. »No, schonn widder zurick? Was is dann?«
»Ach, wisse Se«, meinte Adolf verlegen, »es war so schleecht Wetter, da bin ich liewer widder haam!«
»Hm!« machte Herr Schröder bedenklich. »Hm … ich habb immer gemaant, bei Regewetter liebt sich's am scheenste!«
Aber weil der dicke Herr Schröder mit Recht fand, Adolfs Privatangelegenheiten gingen ihn eigentlich nichts an, forschte er nicht weiter.
Weniger zartfühlend waren die Angestellten der Firma. Sie kicherten, als sie das »scheppe Adolfche« wieder auftauchen sahen, sie machten Witze, daß die Damen rot wurden, und der erste Reisende stichelte, mit einer Anspielung auf Adolfs Stirnwunde: »Merr sollt dem Odewald widder emal die Fingernägel schneide! Maane Se net aach?«
Der eklige Kassierer aber grinste: »E schee Aussicht misse Se gehabbt hawwe vom Melibokus! Ihr Aag is jedz noch ganz geschwolle!«
An diesen schmerzhaften Stichelreden beteiligte sich nur ein einziges Mitglied der Firma nicht, der zweite Buchhalter Heinrich Baldrian. Das war überhaupt ein eigentümliches Männlein, eines von den Menschenkindern, denen das Leben so ziemlich alles schuldig geblieben ist, und die dennoch mit einer Miene herumlaufen, als seien sie selbst jedermann etwas schuldig. Dieses alte Buchhalterchen war ein unglückseliges Geschöpf, ein Kunstenthusiast, dessen Talent zu seinem großen Schmerz nicht ausreichte, selbstschöpferisch zu sein. Er hatte in seinen jungen Jahren dicke Hefte voll Gedichte geschrieben, ja sogar Dramen verfaßt, und hatte wohl auch eine Zeitlang, ermuntert durch den Beifall kritikloser Freunde, an sich geglaubt wie der Schneider von Ulm an seine Flügel.
Bis ihm mit zunehmendem Alter die Erkenntnis dämmerte, daß er in den Gärten der Poesie auf geliehenen Stelzen herumstolperte. Da hatte er seine sämtlichen Werke verbrannt. Aber seine große Sehnsucht hatte er nicht mitverbrennen können.
Heinrich Baldrian war ein einsamer Mensch geworden; stolz und unglücklich zugleich in seiner Einsamkeit. Das Wissen, das er sich durch fieberhaftes Lesen angeeignet hatte, die stille Würde, die die Beschäftigung mit ewiger Kunst dem Jünger verleiht, ließen ihn die Beteiligung an den billigen Späßen der übrigen Angestellten verschmähen; Adolf Borges war einer der wenigen Menschen, in denen er verwandte Anlagen zu ahnen glaubte. Von dem aber trennte ihn die tiefe Kluft des Bildungsunterschiedes. Er mußte sich damit begnügen, dem »scheppe Adolfche« stets ein freundliches Benehmen zu zeigen und im unvermeidlichen geschäftlichen Umgang ihm jene kleinen Höflichkeiten des Herzens zu beweisen, die so wohl tun.
Adolf kümmerte sich nicht um die Spötteleien, die ihn empfingen. Mit einer wahren Wollust stürzte er sich in seine Arbeit. Noch nie war ihm das Paketschnüren so köstlich erschienen.
Ihm war zumute wie einem verlaufenen Hund, der wieder heimgefunden hat.
Und als er bei der Arbeit in einem der hohen Wandspiegel zufällig seine Kratzwunde erblickte, lächelte er vor sich hin: »Guck emal: e Kron haww ich aach! Mit zwaa Zinke! Der aa Zinke is schonn fast verheilt! Wie weit's der Mensch doch bringe kann!«
Und als ihn Herr Feldmann zum ersten Male wieder ein Kamel nannte, da war ihm wie einem aus der Fremde Heimgekehrten, der zum ersten Mal die Muttersprache wieder hört.
»Alles uff der Welt is Gewohnheit!« sagte er sich. »Unn ich wer' mich schonn aach am Kättche sei Grobheite geweehne! Ich habb mich ja aach an des Gekrisch von dene Katze geweehnt! Unn wer waaß: vielleicht is es beim Kättche gradso wie bei de Katze, unn se kreischt bloß aus Lieb so? – Gewohnheit is alles, unn ich bin iwwerzeigt: wann der Mensch mit Zahnweh uff die Welt käm', dhät 'r se gar net spiern, sonnern er käm' sich krank vor, wann er emal kaa Zahnweh hätt'!«
Einige Tage später erlebte Adolf Borges eine neue eheliche Überraschung.
Als er abends aus dem Geschäft heimkam, empfing ihn Katharina mit der kurzen, aber vielsagenden Frage: »No??«
»Was is, lieb Kättche?« fragte Adolf.
»Wannsde noch emal »Lieb Kättche« sagst, haag ich Derr 'n Kochlöffel uff die Schnut!« gab Katharina diese Zärtlichkeit zurück. »Des dumm Gebabbel mecht mich ganz nervös! Nächsdens kimmstde noch mit Glacehandschuh unn Frack in die Kich! Des misse ja schee iwwerspannte Weiwer gewese sei', mit dene Du Dich frieher erumgedriwwe hast!«
»Awwer Kättche, ich schwör Derrsch: Du bist des erscht weiblich Wese, des wo –
»Halt's Maul! Heut is doch Gehaltsdag gewese? Wo is 's Geld?«
»Awwer Kättche, –«
»Gebb's Geld eraus! Maanstde vielleicht, ich kann von der Luft wertschafte? Mach kaa lange Umschdänd, des kann ich net verdrage!«
Adolf sah ein, daß sie nicht von der Luft wirtschaften könne. Widerspruchslos zog er seine Geldbörse hervor und zählte den Inhalt auf den Tisch.
»Is des alles?«
»Ja! Mehr haww ich net!«
»For so en schäwige Gehalt dhät ich dene was peife! S' is zum Haar-Ausroppe! Prinze unn Korferschte hätt' ich heierate könne! – Da sin fimf Mark, des muß lange! Merk Derrsch!«
So ähnlich muß es den Kaufleuten im 16. Jahrhundert zu Mute gewesen sein, wenn Herr Götz von Berlichingen oder ein anderer Raubritter sie auf der Landstraße ausplünderte.
Aber lange hielt die Bitterkeit bei Adolf Borges nicht an. Er war ja eine der harmlosen Seelen, die sogar zu einem Raubritter gesagt hätten: »Von Ihr'm Standpunkt hawwe Se recht! Entschuldige Se nor, daß ich net mehr bei merr habb! Könnte Se merr vielleicht sage, Herr Raubridder, wie ich am schnellste widder haamkomm?«
»Des Kättche hat vielleicht ganz recht«, dachte er. »Sparsamkeit is e Dugend. Vielleicht is des Geld bei ihr besser uffgehowwe wie bei mir. Es is ja aach als Mann mei Plicht unn Schuldigkeit, daß ich se ernähr. Dadafor soll ich aach ihr Herr sei'!«
Aber unbehaglich war es doch, nicht mehr frei über seine Einnahmen verfügen zu können und über jeden Pfennig Rechenschaft ablegen zu müssen. Fünf Mark, – das reichte ja kaum, das Fläschchen Bier zum Frühstück und zur Vesper zu bezahlen. Fünf Mark, damit konnte er doch unmöglich seine kleinen Ausgaben bestreiten. Wie würde das werden, wenn er einmal eine neue Mütze brauchte oder einen neuen Hosenträger? Sollte er dann Katharina um Geld bitten? Um das Geld, das er selbst verdient hatte?
Er nahm sich vor, nur einen Teil der Trinkgelder, die er hie und da bekam, an Katharina abzuliefern und den Rest für sich zu behalten. Die ganzen Beträge seinem kleinen Geheimfond einzuverleiben, hätte ihm sein Gewissen nie erlaubt. Wie eine Unterschlagung wäre ihm das erschienen.
Und dann hatte er ja auf der Sparkasse noch etwas über viertausend Mark stehen. Katharina wußte wohl darum, aber es wurde nie davon gesprochen, so wenig, wie je von einer Mitgift die Rede gewesen war.
Und doch kam im dritten Jahre seiner Schmerzensehe die Rede auf diese Ersparnisse: der alte Bindegerst war es, der sich plötzlich lebhaft für das Sparkassenguthaben Adolfs interessierte.
Ihm bekam die Ehe seines Schwiegersohnes ausgezeichnet. Einen besseren Blitzableiter für die häuslichen Gewitter hatte er sich gar nicht wünschen können. Mit einer gewissen inneren Befriedigung sah er mit an, wie sich alle die Donnerwetter und Hagelschläge, denen bisher er selbst preisgegeben gewesen war, auf Adolfs Haupt entluden, während er im Trockenen saß. Er machte sich sogar das Vergnügen, heimlich ein bißchen zu hetzen, indem er einerseits Katharinas Ansprüche aufstachelte, andrerseits seinem Schwiegersohn soufflierte: »Laß Derr nix gefalle! Mach en Stormaagriff! Soll ich merr e Trombet' kaafe unn zor Attack blose? Mensch, du blamierst unser ganz Geschlecht!«
Da Katharina nicht viel Zeit und Lust fand, sich um den Alten zu kümmern, wurde er geradezu übermütig. Eines Tages heftete er an die Treppentüre seiner Werkstatt ein Plakat: »Weibern ist der Eintritt strengstens verboten!«
Und amüsierte sich königlich, als Katharina diesen, auf sie gemünzten Zettel wütend in tausend Fetzen riß.
Aber wenn er der Knechtschaft seiner Tochter entronnen war, so war er dafür um so schimpflicher unter eine andere Tyrannei geraten: unter die Knute seiner stillen Geliebten. Er trank nicht mehr, er soff.
Er feierte an seiner Drechslerbank und oben im Dachstübchen stille Gelage, trank dem Mann im Monde und den Katzen zu und hielt mit sich selbst Volksversammlungen ab, in denen er das Thema: »Das Leben ist eine Gemeinheit!« von allen Seiten beleuchtete.
Überkam ihn der Weltschmerz, so sang er mit den Katzen Duette, die erst ein Ende nahmen, wenn zwei Fäuste an die Türe donnerten und die bissigste Katze des Hauses schrie: »Willstde Dei Maul halte, ahl Volleul! Schämstde Dich net vor der Nachbarschaft?«
Dann versicherte Bindegerst, die Nachbarschaft könne ihn sonst etwas. Aber er stellte seinen Meistersang ein.
»Ich glaab, Du riechst nach Schnaps?« sagte einmal Adolf seinem Schwiegervater.
»Hastde gedenkt, ich wer' nach Veilcher rieche?« erwiderte Bindegerst. »Wann Derr mei Duft net baßt, hättstde halt in e Bodanisierbüchs heierate solle, statt in unser Familje! Steck Dei Nos net in mein Privatgeruch, des bitt ich merr aus!«
Und Adolf hatte, wie immer, geschwiegen.
Bindegersts Hände waren jetzt öfters unter als über der Drechslerbank. Und die Affenköpfe seiner Spazierstöcke nahmen immer seltsamere Formen an. Die Glasaugen saßen jetzt mitunter an Stellen, an denen ein Naturforscher weit eher die Ohren vermutet hätte, und sein letztes Meisterwerk besaß sogar wie weiland Polyphem nur ein einziges Auge mitten auf der Stirn.
Für solche Mißgeburten von Spazierstöcken fanden sich begreiflicherweise wenig Käufer, und dies war der Grund, weshalb sich Bindegerst plötzlich für Adolfs Sparkassenbuch zu interessieren begann.
Schon beim Abendessen hatte Bindegerst mit Adolf zu fußeln angefangen. Nicht zärtlich und kosend, sondern mit Offenbächer Derbheit. Er trat ihm wider das Schienbein, daß sein Schwiegersohn sämtliche Engel im Himmel und sämtliche Teufel in der Hölle gleichzeitig fortissimo singen hörte.
Und als Katharina einen Augenblick hinausgegangen war, um eine neue Schüssel Kartoffeln zu holen, flüsterte er geschwind: »Adolf, komm nachher emal enuff in die Dachstubb, ich habb mit Derr zu redde!«
Während Katharina das Geschirr abspülte, schlich Adolf hinauf.
»Was is dann, Vadder?«
»Hock dich emal uffs Bett! Da sitzstde weich unn fällst net so leicht um!«
Es wurde Adolf unbehaglich. Was konnte sein Schwiegervater von ihm wollen? Bindegerst machte ein so feierliches Gesicht. Sicherlich hatte er keine erfreuliche Mitteilung in Bereitschaft.
»Wannstde Dich vielleicht erst emal stärke willst?« frug der Alte und hielt ihm die Schnapsflasche hin.
»Ich sauf kaan Schnaps, Vadder!«
»Weilsde net waaßt, was gut is! Schnaps is gut for die Cholera, secht e ahl Sprichwort. Ich will net draa schuld sei', wann e neu Epidemie ausbricht!«
Er hob die Flasche und labte sich. Wischte sich den Mund und zog aus der rechten Hosentasche ein zerknittertes Papier.
»Hockstde gut? – Dann les emal!«
Adolf entfaltete den Wisch, strich ihn glatt und las.
Es war eine gerichtliche Vorladung. Gast & Co. gegen Konrad Bindegerst wegen Forderung.
»E Gemeinheit!« erwiderte Bindegerst Adolfs fragenden Blick. »Des ganz menschlich Lewe is e Gemeinheit! Wege lumbige dreidausendfimfhunnert Mark verklagt aan die Lumbegesellschaft! Da gibbts Barone, die hawwe e Milljon Schulde unn kaa Mensch verklagt se! Awwer der Middelstand, der muß ja immer draa glaawe! Uff uns solide Berjersleut, da reit' ja der Staat erum wie e dressierter Aff uff'me Kamel!«
Und er hielt eine lange Entrüstungsrede über die unerhörten Zustände, die nach seiner Ansicht in Mitteleuropa, und zwar nur in Mitteleuropa herrschten.
»Ja, Vadder, bistde dann des viele Geld schuldig?«
» Nadierlich bin ich's schuldig! Maanstde, die verklage mich aus Jux? Merr hawwe doch kaa Fastnacht! Freilich bin ich's ihne schuldig, dere Saubagasch! For Holzlieferunge!«
»Dann mußtde's aach zahle!« entschied Adolf.
Bindegerst beguckte ihn spöttisch. »Merr könnt glaawe, Du hättst studiert! Du reddst wie e Amtsrichter! Awwer zahl emal, wannsde kaa Geld hast! Kann ich hexe? Hokuspokus, da is e Milljard? Kann ich merr Goldsticker aus der Nos ziehe, odder Dausendmarkschei aus 'me ahle Zylinner? – Ich habb 'n Dalles, den könnt merr for Geld gucke lasse! Pleite bin ich! Unn da verklagt mich die Saubande uff so en Haufe Geld! Kaum zwaa Jahr bin ich'r des bissi Geld schuldig, kaum siwwe Mal hawwe se mich gemahnt, unn gleich wern se so ricksichtslos!«
Adolf dachte nach. Das war ja eine schöne Überraschung. Er hatte seinen Schwiegervater nie reich geschätzt, er hatte nie auf eine Erbschaft spekuliert, aber er hatte es als Selbstverständlichkeit betrachtet, daß die Drechslerei gut ging und ihren Mann ernährte. Nie hatte er wahrgenommen, daß seinen Schwiegervater Schulden bedrückten, – und nun plötzlich diese Eröffnung.
»Ja, wie is dann des nor meeglich?« stotterte er.
»Bei Gott is kaa Ding unmeeglich!« gab Bindegerst mit Würde zurück. »Schuldemache is e ganz aafach Sach: du braachst bloß nix zu bezahle! Des anner kimmt dann ganz von selwer!«
Es entstand eine Pause.
Der Alte beobachtete seinen Schwiegersohn mit verschmitzten, lauernden Augen. »Wart nor,« dachte er, »wart nor, ich krieh Dich schonn draa!«
»Waaß es des Kättche?« frug Adolf nach einer Weile.
»Kaan Dunst! Dhät se sonst so ruhig des Gescherr spüle? En Schlagaafall dhät se kriehe, – des haaßt: sie krieht de Aafall, unn mir kriehe die Schläg! Nix waaß se, unn se derf aach nix wisse!«
»Naa, se derf nix wisse!« echote Adolf. Er hatte es sich zur Pflicht gemacht, alle Unannehmlichkeiten, alle Aufregungen von Käthchen fernzuhalten.
Bindegerst schmunzelte. Das Gespräch nahm ganz die Wendung, die er ihm zu geben beabsichtigt hatte.
Oh, er war ein Schlaufuchs, und Adolf ein gutmütiger Narr!
Er nahm ein bekümmertes Gesicht an und klagte: »Awwer se werd's halt doch erfahrn! Wann erscht der Gerichtsvollzieher kimmt unn fängt aa, unser Möwel als Briefmarke-Album zu benitze, dann merkt se's!«
Er seufzte und beobachtete listig die Wirkung seiner Worte.
»Wann se nor net krank werd von dem Schrecke!« fügte er hinzu.
»Se derf nix erfahrn!« sagte Adolf geknickt. »Unner kaane Umständ derf se ebbes erfahrn!«
»Ja, des sag ich ja aach! Awwer wie soll ich's verhinnern, Herr Rechtsgelehrter? – Guck, Adolf, ich steh ja gar net so schlecht, – mei Geschäft is unner Brieder immer noch en Batze wert, – no, unn mei Häusi hat aach noch sein Wert, wann merr die Hipotheke abzieht, – ich bräucht halt nor en Mensch, der merr uff die Sicherheit hie so momendan vierdausend Mark bumbe dhät!«
Er machte wieder eine Effektpause.
Ganz dicht stand er nun vor seinem Schwiegersohn und sah ihm scharf in die Augen, während er sagte: »Dhätst Du merr kaan wisse, der wo merr so vierdausend Emmcher leihe könnt?«
Adolf erhob sich vom Bett und begann im Zimmer auf und ab zu wandeln.
Viertausend Mark, dachte er. So viel hatte er gerade auf der Sparkasse … Und schließlich war es doch sein Schwiegervater … Den konnte er doch nicht in der Patsche sitzen lassen … Und das Entsetzen, das er Katharina ersparte … Wenn der Gerichtsvollzieher ins Haus käme! … Und eine Sicherheit bot ja das Geschäft schließlich auch …
Er dachte in diesem Augenblick nicht daran, wie mühsam er seine Ersparnisse gemacht hatte, wieviel Jahre seines armen Lebens er dafür gefrohnt hatte, wie er sich jedes Vergnügen versagt hatte, um nur pünktlich den programmäßigen kleinen Betrag am Sparkassenschalter abliefern zu können.
Er dachte nicht daran, daß er auch jetzt noch sich nicht die kleinste Extraausgabe leistete, während Bindegerst in schnapsfröhlichem Faulenzertum dahindöste.
Er sah nur, daß er hier helfen konnte, und je mehr er darüber nachdachte, desto klarer erschien es ihm eine ganz einfache Pflicht, dem Alten seine Ersparnisse anzubieten.
Bindegerst ließ ihm Zeit. Er sagte sich, daß er jetzt die Gedankengänge Adolfs nicht stören durfte.
»Da laaft er hie unn her,« kicherte er in sich hinein, »unn bildt sich ei', er dhät sich de Fall iwwerlege! Dabei laaft er nor in dem Käfig erum, den ich 'm mit meim Gebabbel gebaut habb! Unn was'r sich in seim dumme Kopp zusammereimt, des is all grad so, als ob ich's em in die Fedder diktiert hätt! Adolf, was bistde e Olwel!«
Ach ja, Adolf war ein Olwel. Denn alle guten Menschen sind Olwel. Ein gutes Herz ist eine klare, reine Quelle, – aber aus einer Quelle trinken nicht nur die fröhlichen Wanderer, nicht nur die lieben Singvöglein, sondern auch die raublüsternen Marder sättigen sich darin, und jedes vorbeitrampelnde Schwein steckt seinen Rüssel hinein. Es ist nicht wahr, daß man durch Schaden klug wird. Durch Schaden wird man höchstens schlecht. Und es gibt so gutmütige »Olwels«, daß sie durch Schaden immer dummer statt klüger werden, weil sie nie auf Dank gerechnet haben, sondern in dem Bewußtsein, etwas Gutes zu tun, eine Belohnung empfinden, die kein Schaden mindern kann.
Und so ein Olwel war auch Adolf Borges.
»Ich waaß aan', der wo Derr des Geld bumbe kann!« sagte er und freute sich seines Entschlusses. »Adolf Borges haaßt er, unn morje gehn merr zusamme uff die Sparkaß!«
»Awwer naa!« sagte Bindegerst. »Des kann ich doch net verlange! Des kann ich gar net aanemme!«
»Warum dann net?« sagte Adolf und war beinahe beleidigt. »Es bleibt doch in der Familje! Erbt halt emal der Vadder vom Sohn, statt umgekehrt!«
»Awwer des mußtde merr wenigstens zugewwe: ich habb Dich net drum gebete«, sagte Bindegerst.
» Nadierlich hastde mich net drum gebete!« lächelte Adolf herzlich. »Ich dhu's aus merr selwer! Unn ich dhu's gern!«
Und der alte Bindegerst dachte: »Der is noch viel dümmer, wie ich geglaubt habb! Schad, daß er net achtdausend hat!«
Er streckte ihm die Hand hin: »Adolf, des vergeß ich Derr net! Adolf, wannsde emal en Mensch braachst, der for Dich dorchs Feuer geht, dann braachstde merr nor zu telefoniere!«
Und Adolf war ganz gerührt.
»Jedz muß ich awwer widder erunner bei's Kättche!«
»Unn gell, Dei Fraa braucht nix davoo zu wisse!«
»Naa, se erfeehrt nix! – Wann se mich awwer freegt, was merr so lang da owwe gebabbelt hawwe?«
»Dann sagstde eifach … dann sagstde halt … ach was, es werd Derr schonn e Ausredd eifalle! Du bist ja verheierat'!«
Adolf bedurfte keiner Ausrede. Als er herunterkam, lag Katharina schon schlafend im Bett. Sie sah in ihrer knochigen Dürre, mit dem unfrisierten Haar, mit dem schnarchend halbgeöffneten Mund und den gelbbraunen Zähnen abstoßend häßlich aus. Aber Adolf betrachtete sie mit gerührter Zärtlichkeit.
»Wie e Engelche leiht se da!« murmelte er. »So friedlich! Vielleicht fliegt se jedz grad im Draum im Himmel erum odder se bäckt for die Heilige Quetschekuche! Se is doch e gudes Weib. Heut hat se mich nor zwaamal en Saukerl genennt. Se bessert sich schonn. Langsam, awwer sicher.«
Und er zog sich behutsam aus, um sie nicht zu wecken, und schlief in dem Bewußtsein einer guten Tat zufrieden ein.
Das Engelchen Katharina aber entwickelte sich immer offenkundiger zum Fafner. Sie hätte auf jedem Drachenwettbewerb den ersten Preis ergattert.
Ich mag es meiner Schreibmaschine gar nicht zumuten, all die Schikanen, die Katharina ersann, aufzuzeichnen. Es genügt zu sagen: gegen sie war Edison als Erfinder ein Waisenknabe.
An einem Samstag Mittag wandte sich Heinrich Baldrian, der Buchhalter, an Adolf mit der Frage: »Adolf, wollen Se morgen ins Theater?«
»Wieso, Herr Baldrian?«
»Weil ich zwei Billette hab. Aber es is mir was dazwischen gekommen. Vielleicht gehn Sie mit Ihrer Frau hin?«
»Ei, mit Vergniege! Ich dank Ihne aach schee, Herr Baldrian!«
»Bitte, bitte!«
– Auf dem Nachhauseweg malte sich Adolf aus, wie Käthchen sich freuen werde.
»Vielleicht geht se mit'm Vadder 'rei?« dachte er. »Ich dhät's zwar gern selwer gucke, awwer dem ahle Bindegerst mecht's sicher noch viel mehr Spaß wie mir! – Dheader, – Gott, wie lang bin ich in kaam Dheader mehr gewese! Ich kann doch'm Kättche werklich gar nix biete! Annern Madamme, die hocke jed' Woch e baar Mal im Dheader unn kenne die Sänger unn Schauspieler schonn von weitem an der Nos. Ja, 's is doch was Scheenes um die Bildung! – Ich freu mich uff'm Kättche sei Gesicht!«
Aber diese Freude war verfrüht.
»Ich geh in kaa Dheader!« fauchte Katharina. »Ich habb dahaam Dheader genuch! Mich indressiert der Stuß net!«
So benutzten denn Adolf und Bindegerst die Karten.
Bindegerst machte sich hochfein. Er schien sich den König David zum Vorbild genommen zu haben, von dem zweimal geschrieben steht »und sie salbten ihm das Haupt«, er ließ sich von Herrn Hippenstiel eine geradezu feudale Frisur zurechtkleben, zog den schwarzen Gehrock an und tanzte reichlich eine halbe Stunde vor dem Spiegel, ehe er mit sich zufrieden war.
»Der Widerspenstigen Zähmung« wurde gegeben.
»Des muß in Amerika spiele,« sagte Bindegerst beim Lesen des Theaterzettels. »Nor in Amerika hawwe die Leut so verrickte Name'! Vincentio, Lucentio, Petruchio, – so haaßt in ganz Offebach kaa Mensch!«
Plötzlich fing er an zu lachen. »Da, les emal: Katharina, die Widerspenstige, Baptistas Tochter. Gut, daß merr's Kättche dahaam gelasse hawwe! Die hätt sich am End' noch bedroffe gefiehlt! – Du, ich bin neugierig, ob die mit unserm Kättche konkurriern kann?«
»Adolf, des is sicher e lehrreich Stick! Adolf, da haaßt's die Ohrn spitze! Des hat sicher e Verheierater geschriwwe!«
Sie hatten zwei gute Plätze im ersten Rang, inmitten vornehmer Leute. Bindegerst fühlte sich infolgedessen als Aristokrat, dem kleinen Adolf aber war in dieser noblen Umgebung nicht sonderlich wohl. Er hätte lieber auf der Galerie gesessen, unter seinesgleichen.
»Ich komm merr vor, wie e Köchin, die ihrer Gnädige ihr Schleppekleid aagezoge hat. Da schwebt se drin erum unn dänzelt wie e Wackelpudding, awwer wann se de Schnawwel uffmecht, schmeckt's wie Kardoffelschale.«
Doch bald ließ ihn das Stück das Publikum vergessen.
Das Käthchen auf der Bühne war ein schlimmes Frauenzimmer, das sah er gleich. Aber ihr Vater war wenigstens so ehrlich, es den Freiern im voraus zu sagen. Der pries seine böse Tochter nicht als Quetschenkuchenvirtuosin an, wie Bindegerst. Er warnte Heiratslustige. Und dennoch hielt Petruchio um ihre Hand an.
Herrgott, gibt's mutige Menschen!
Eines freute Adolf: es wuchsen also auch in den vornehmen, reichen Kreisen weibliche Teufel! Nicht nur unter den Proletariern. Das Schicksal ist doch nicht so ungerecht, wie man ihm nachsagt. Die höhere Töchterbildung tut's also doch nicht!
Er schmunzelte.
Bindegerst stieß ihn wiederholt mit dem Ellbogen an. Jedes Mal, wenn die Bühnen-Katharina eine bösartige Antwort gab, oder von ihrer Störrigkeit die Rede war, versetzte er dem Schwiegersohn einen Rippenstoß und flüsterte: »Wie dahaam!«
Am lieblichsten zeigte sich Katharina im zweiten Akt. Gleich in der ersten Szene prügelte sie, ohne Ursache, ihre sanfte Schwester Bianka.
»Wie dahaam!« zischelte Bindegerst und schlug sich vor Freude aufs Knie.
Drei Minuten später haute sie dem Musiklehrer die Laute am Kopf entzwei.
»Die is großartig!« jauchzte Bindegerst. »Ganz wie dahaam! So e Kanallje!«
»Psssst!« machten die Umsitzenden.
Adolf kümmerte sich wenig um Katharinas Böswilligkeiten, ihn interessierte weit mehr Petruchios Stellungnahme. Mit beifälligem Kopfnicken vernahm er dessen Rezept:
»Schmält sie, so sag' ich ihr ins Angesicht,
Sie singe lieblich, gleich der Nachtigall.
Blickt sie mit Wut, sag' ich, sie schaut so klar
Wie Morgenrosen, frisch vom Tau gewaschen.«
Ja, das war auch seine Ansicht: nur mit Güte ist etwas zu erreichen. So wollte auch er es halten.
Aber – o weh! – schon beim nächsten Zusammentreffen erntete Petruchio eine Backpfeife, die aus dem Vorrat des Offenbacher Käthchens hätte stammen können.
»Ganz wie dahaam!« jubelte der Drechslermeister. »In des Stick muß 's Kättche erei! Unn wann's hunnert Dhaler kost'!«
Trotz der Ohrfeige erklärte Petruchio die Widerspenstige für seine Verlobte.
Im dritten Akt aber begann er die Pferdekur.
Bindegerst geriet außer sich vor Entzücken, als Petruchio absichtlich zu spät und zerlumpt zur Trauung erschien, in der Kirche wie ein Roßknecht fluchte, dem Priester auf die Frage, ob er Katharina heiraten wollte, mit einem gebrüllten »Zum Donnerwetter, ja!« antwortete, dem Küster den Weinbecher ins Gesicht warf, seine Braut in der Kirche laut abschmatzte, kurz die Widerspenstige auf jede erdenkliche Weise demütigte.
»So mußtde's mache!« rief der Drechslermeister. »Des is mei Mann! Der krieht se klaa! Baß uff, er krieht se klaa, des Oos!«
Die Logenbesucher begannen, sich über den Begeisterten zu belustigen. Aber Bindegerst ließ sich nicht stören.
»Des mißt' merr bei jedder Hochzeit gewwe, des Stick!« schwärmte er in der Pause. »Des is mehr wert wie die scheenst Preddigt! Des is aus'm Lewe gegriffe! Wann's aach in Amerika spielt!«
Er zog im Foyer die Schnapsflasche aus dem Gehrock und labte sich.
»Nemm Derr e Beispiel«, hetzte er. »Adolf, mach's wie der Amerikaner! Ich garandier Derr for de Erfolg! Ich habb Derrsch schonn emal gesacht: haag se, daß die Lappe fliehe!«
Und als im vierten Akte Petruchio sein Käthchen durch Hunger und Grobheit vollends zähmte, als sie in ihm ihren Meister erkannte, sich aufs Bitten verlegte und zuletzt so mäuschenklein ward, daß sie auf Petruchios Befehl die Sonne für den Mond, einen Mann für ein Weib erklärte, da kannte Bindegersts Wonne keine Grenzen mehr.
»Adolf, wannsde kaa Hansworscht bist, mechstde's gradso! Adolf, ich guck Dich net mehr aa, wannsde's net gradso mechst!«
Adolf war durch das Theaterstück nachdenklich gestimmt worden.
Hatte Petruchio Recht? Mußte der Dichter mit dem seltsamen Namen die Frauen nicht besser kennen als er?
Sollte er dem Rat Bindegersts, der unablässig auf dem Heimweg in ihn hineinredete, folgen?
Ja, er wollte es versuchen.
Auch wenn es bitter weh tat.
Er beschloß, Petruchios Vorbild nachzuahmen.
An einer Straßenecke verabschiedete sich sein Schwiegervater.
»Ich geh noch e Schöppche drinke! Unn morje früh geht die Dressur los! Adolf, sei e Mann!«
Er verschwand in einer Seitengasse, die sich nicht des besten Rufes erfreute.
… Adolf Borges schloß in dieser Nacht kein Auge.
Grob sein sollte er, wie ein Wüterich auftreten, – wie schwer das sein mußte!
Schreien sollte er, – er, der Sanftmütige.
Und gar schlagen.
Ach Gott! Ach Gott!
Am liebsten wäre er mitten in der Nacht zu dem Schauspieler gelaufen und hätte sich Unterricht geben lassen.
Wie würde Käthchen erschrecken! Von dieser Seite kannte sie ihn doch gar nicht!
Weinen würde sie, gerade wie die Widerspenstige in dem Theaterstück, – und er konnte doch Niemanden weinen sehen!
Oh, welch furchtbare Aufgabe!
Aber es mußte sein. Er konnte sich doch nicht vor Bindegerst lächerlich machen und seinen Vorsatz wieder aufgeben? Und vielleicht half die bittere Medizin tatsächlich?
Am nächsten Morgen erschien Bindegerst ungewohnt pünktlich zum Kaffee. Während Katharina das braune Getränk aus der Küche holte, zwinkerte er dem Schwiegersohn vielsagend zu.
»Sei stark!« bedeutete dieser Blick. »Adolf, jetzt gilt's!«
Und Adolf bemühte sich, stark zu sein.
Kaum hatte er einen Schluck getrunken, so setzte er die Tasse energisch ab und behauptete: »Des soll Kaffee sei'? E Gesöff is des!«
Bindegerst sekundierte: »E Drecksbrieh' is es, awwer kaa Kaffee!«
Katharina war erstaunt.
»Sieh mal an!« dachte sie.
Und laut sagte sie: »Ei, laßt's doch stehn, wann's Euch net schmeckt! Mir is des schnubbe!«
»Awwer mir is es net schnubbe!« begehrte Adolf auf und wunderte sich über sich selbst. »Ich verlang 'n ordentliche Kaffee!«
»Unn ich verlang aach en ornliche Kaffee!« echote Bindegerst. »Zum Donnerwedder noch emal!«
Käthchens Erstaunen wuchs.
»Ihr seid wohl verrickt, Ihr Zwaa? Ihr seid scheint's im Dheater iwwergeschnappt?«
»Mir sin noch lang net so meschugge wie Du!« trumpfte Adolf, der allmählich in Schwung kam.
»Noch lang net!« bestätigte Bindegerst.
»Unn so e Gesöff kimmt merr net mehr uff'n Disch!« erklärte Adolf.
Und wie er es bei Petruchio gesehen hatte, packte er die Tasse und feuerte sie in die Zimmerecke, daß die Scherben flogen.
Er hatte erwartet, daß Käthchen nun in Tränen ausbrechen, daß sie um das schöne Geschirr jammern werde.
Aber es kam ganz, ganz anders.
»Da is noch mehr Platz!« sagte Katharina seelenruhig und schmiß Kaffeekanne, Milchkanne, Zuckerdose und ihre eigene Tasse gegen die Wand.
Dann ging sie hinaus, kam mit einem Arm voll Tellern wieder. »So, des könne merr zum Iwwrige lege!« Und knax, holterdipolter, prasselten die Teller auf den Boden.
Dann kamen die Gläser an die Reihe.
Und zuletzt hauchte der Ritter von Stolzenfels am Rhein sein Dasein aus.
»Seid'r jedz zufride?« frug Katharina.
Adolf und Bindegerst sahen sich an.
»Ich wer' an mei Arweit gehe!« sagte Bindegerst kleinlaut.
»Unn ich muß ins Geschäft!« fügte Adolf hinzu.
»Unn mir könnt'r de Buckel erunnerrutsche!« schloß Katharina das Frühstück.
Mittags wartete Adolf vergebens aufs Essen.
Halb zwei Uhr war es schon geworden, um zwei mußte er im Geschäft sein, und noch immer hatte Käthchen nicht angerichtet.
Er schlich in die Küche. »Kriehe merr dann heut nix zu esse?«
»Wodruff? Hastde Deller mitgebracht? Ich habb kaa, die sin all' kabutt.«
Adolf kratzte sich hinter'm Ohr.
»Da haww ich ganz draa vergesse,« stotterte er. »Heut Awend bring ich welche mit!«
»Awwer vorher fegstde die Scherwe uff!« befahl Katharina.
Sie band ihm die Küchenschürze um, drückte ihm Besen und Schaufel in die Hand.
»Marsch, erei, unn uffgekehrt!«
Und der kleine Adolf kehrte demütig die Scherben zusammen.
Bindegerst sah ihm zu und sprach: »Adolf, Du hast Dei Sach' gut gemacht, awwer gege höchere Mächte kann der Mensch nix mache!«
»Sei widder gut, Kättche!« bat Adolf abends. »Ich waaß selwer net, was ich heut morje gehabbt habb. Gebb merr en Kuß!«
Aber Käthchen drehte ihm den Rücken. »Merr sin noch lang net fertich miteinanner, mei Liewer! Ich guck, daß Samftmut bei Dir nix nitzt, – gut, ich kann aach annerschter sei'!«
Und sie war fortan so annerschter, daß Adolf auf die Frage des Herrn Baldrian, wie ihm das Stück gefallen habe, antwortete: »Gespielt hawwe se's ganz schee, – awwer des Stick daugt nix! Ganz unwahrscheinlich, Herr Baldrian! E echt amerikanischer Schwindel!«
Gar viele Liebespärchen, solche mit und solche ohne standesamtliche Ambitionen, hatte der Mann im Mond beobachtet, seit er den scheppen Adolf hatte in die Falle gehen sehen, in der ein so magerer Köder hing. Nun hatte er ihn längst aus den Augen verloren. An einem Winterabend aber, als die Luft klar war wie geschliffenes Glas, fielen die Blicke des himmlischen Holzarbeiters wieder einmal in das Dachfensterchen und blieben erstaunt an dem Bilde haften, das sich bot:
Vater Bindegerst hatte das Ohr an die Türe gelegt und lauschte grinsend dem Lärm, der aus dem unteren Stockwerk scholl.
»Se kloppt em de Aazug, ohne daß er'n ausgezoge hat!« schmunzelte er. »Jeder Schlag en Treffer! Ich kann de Adolf net verstehe! So e Eh' hätt ich schonn hunnertmal gekinnigt. Awwer so is des Lewe: e Gemeinheit von hinne bis vorne! Von owwe bis unne. – Ui, schonn widder! Adolf, Adolf, ich ließ merr de Buckel vernickele an Deiner Stell! …«
Er zog den Kopf schnell zurück, denn er hatte unten die Türe gehen hören, setzte sich an den Tisch und zündete behaglich eine Pfeife an.
Schlürfende Schritte kamen die Treppe herauf. Adolf trat ein.
»Hat se widder ihrn elektrische Dag?« erkundigte sich Bindegerst und schnitt ein teilnehmendes Gesicht.
Adolf ließ sich aufs Bett fallen.
»Ich halt's net mehr aus, Vadder!« stöhnte er. »Kaa friddlich Minut haww ich mehr!«
»Der Sultan hält's mit vierhunnert Weiwer aus,« sprach sein Schwiegervater großartig, »unn Du willst net emal die aa aushalte?? – Mach Derr nix draus, Adolf, du waaßt doch, wie se is!«
Aber diesmal war Adolfs Seele zu tief verwundet, als daß sich der Schmerz hätte durch solch schwache Narkotika besänftigen lassen.
»Ich wollt', ich wär dod!« sagte er. »Vier Schuh unner der Erd', – ich glaab, da is's Lewe am scheenste! Da is so still, die Werm unn die Maulwerf sin kaa bissi nervös, unn was vier Schuh iwwer merr bassiert, davoo heer unn seh ich nix mehr … Bloß die Sterncher, die leuchte dorch die Erd' dorch, unn dorch de Sargdeckel, unn ich guck se trotz meine geschlossene Aage, unn ihr Schei' mecht merr warm wie die best Zentralheizung. An en Dodedanz, nachts von zwelf bis um aans, waaßtde Vadder, dadraa glaaw ich net. Die Hopserei dhät mich aach nix nitze. Ich kann ja gar net danze. Awwer daß alsemal so e Zwerg, so e Gnom kimmt, glaaw ich, unn hebt de Sargdeckel uff unn guckt neugierig erei, – awwer ich stell mich, als ob ich nix merke dhät, dann ich habb kaa Lust zu babbele. Ich habb im Lewe genuch dumm Zeug geheert. – Gell, Vadder, Du dhust merrsch verspreche, daß De merr Watt in die Ohrn stobbst, wann ich dod bin?«
Bindegerst sah ihn erstaunt an.
Was sein Schwiegersohn für komische Gedankenspaziergänge unternahm! Er selbst hatte ja auch manchmal Halluzinationen, nämlich wenn er seiner Geliebten zu eifrig zugesprochen hatte, aber so verrücktes Zeug kam ihm nicht in den Sinn. Ihm erschien höchstens ein Riese und trommelte ihm mit einer Keule auf den Schädel, und wenn er sich dann aufrichtete, sah er, daß er im Suff mit dem Kopf wider die Drechslerbank geschlagen war, und so lösten seine Visionen sich stets natürlich und logisch.
Aber was sein Schwiegersohn in der letzten Zeit mitunter phantasierte, das grenzte ja an helle Verrücktheit.
»Es schlägt sich bei em uffs Gehirn!« dachte er und beschloß, dem Gespräch wieder eine reale Wendung zu geben. »Was war dann los? Was hat se dann gehabbt?«
»Was se jedz immer hat! Se hat doch jedz die fix Idee: ich mißt mehr verdiene! Da leiht se merr derrmit in de Ohrn, des is ihr Leibtrompetestick, wo se merr von frieh bis in die Nacht enei vorbläst! Des geht wie e Uhrwerk –
»Unn wannsde widersprichst, dann fängt die Uhr aa zu schlage!« ergänzte Bindegerst.
Adolf wischte sich mit der Hand über die Augen. »Wann ich nor wisse dhät, ob se mich iwwerhaapts noch lieb hat? Guckstde, Vadder, des frißt an merr unn läßt merr kaa Ruh! Ich dhät merr ja gern alles gefalle lasse, – was zwische meine vier Wänd vorgeht, des guckt ja Niemand –. Maantswege kratzt se merr die Aage aus, awwer aus Lieb muß se kratze! Ach Vadder, manchmal, da is merrsch grad, als ob se mich hasse dhät, als ob se mich net ausstehn könnt, als ob ich'r zuwidder wär wie Rizinusöl, unn des mecht mich noch ganz krank!«
Er schwieg verzweifelt. Der Alte legte die Pfeife weg, nahm die Flasche unter dem Tisch hervor und stärkte sich durch einen langen Schluck zu der Beruhigungsrede, die er jetzt angemessen hielt.
»Du nemmst's zu schwer!« tröstete er. »Iwwer die Weiwer soll merr iwwerhaapts net so viel nachdenke! Wie se sin, so sin se, – ich habb se net geschaffe, ich wasch mei Pote in Unschuld. Unn's Kättche, no, wo se doch jedz in dem Zustand is …«
»Was for e Zustand?« frag Adolf Borges mißtrauisch.
Bindegerst feixte verschmitzt. »Awwer verstell Dich doch net, Adolf! Des mußtde doch längst gemerkt hawwe!«
»Ich habb nix gemerkt.«
» Des hastde net gemerkt? Ei, in annerne Zuständ is se doch …«
Adolf war erregt aufgesprungen und ergriff seines Schwiegervaters Hand. »Was hastde da gesacht?!«
»No, bring mich nor net um!! Ich kann doch nix dafor! An mir braachstde doch Dein Ärjer net auszulasse!«
»Ärjer?? Ärjer, Du Rindvieh?« jubelte Adolf und lachte vor Glück. »Is es sicher? Hastde Dich aach net verguckt? Vadder, wann's nor wahr is!!«
»No, heer emal, ich bin doch net farweblind! Se geht doch schonn uff wie Hefeteig! – Unn des merkt der Schlemihl gar net!«
»In annerne Zuständ!« jauchzte Adolf und fing an, in der Stube herumzutanzen.
Er war, nach seinem eigenen Geständnis, in der Kunst Terpsichores ein vollkommener Nichtskönner und doch: selbst die Schwestern Wiesenthal und die Clotilde Derp haben niemals die Freude so überwältigend getanzt wie in diesem Augenblick das scheppe Adolfchen.
»In annerne Zuständ!! Was e Glick, was e Glick! In annerne Zuständ! Vadder, ich wer' meschugge! Ich muß Derr en Kuß gewwe! Odder naa, – ich muß doch erscht emal nachgucke, ob's aach werklich so is! In annerne Zuständ!!«
Und er tanzte zur Türe hinaus.
Kopfschüttelnd sah Bindegerst ihm nach. »Jetz wer' ich bald e Gummizell reserwiern lasse misse!« dachte er. »Hastde schonn so ebbes erlebt! Ich glaab, der schreit noch Hurrah, wann's Drilling wern!«
Adolf Borges sprang die Treppe hinunter, mit jedem Sprung drei Stufen, mit den Händen gestikulierend und immer wieder jauchzend: »In annerne Zuständ! In annerne Zuständ!«
Als er aber vor der Schlafzimmertüre stand und gerade die Klinke herunterdrücken wollte, da fiel ihm ein, daß sein Käthchen jetzt nicht in der Laune war, Begeisterungsausbrüche in Empfang zu nehmen, er wandte sich zum Kleiderständer, nahm Hut und Mantel und lief davon.
Der Mann im Mond konnte ihn nun nicht mehr beobachten, denn die Erde hatte den dichten Schleier eines Schneegestöbers vor ihr Antlitz gezogen. Die dicken Flocken flatterten Adolf ins Gesicht, schmolzen auf Nase und Wangen, besäten seinen Mantel mit Sternchen, als wollte der Himmel den kleinen Mann mit unzähligen weißen Orden auszeichnen für das Verdienst der Vaterschaft.
Wie alle Leute, die nicht wissen, wohin sie eigentlich wollen, hatte Adolf es sehr eilig. Er stürmte durch die Straßen, als gelte es, eine Wette zu gewinnen, bis er sich auf der Landstraße nach Frankfurt fand. Da mäßigte er das Tempo und ergab sich, langsameren Schrittes, seinen stillen Betrachtungen.
»Wie schee is doch die Nadur eigericht': merr denkt an nix beeses, unn uff aamal is e Kind da! Grad als ob's von selwer komme dhät, so wie die Blumme unn die Bäum! Es gibbt Leut, die lasse sich die deuerste Beete in ihr Gärte eneiplanze unn lasse de Gärtner dadraa erumkorkse, Gott waaß wie lang! Awwer se könne sich uff de Kopp stelle: so e schee Zusammestellung, wie se drauße uff de Wiese ganz von selwer werd, bringe se net eraus. Unn wie mit de Blumme, werd's aach mit de Kinner sei'. Die so unverhofft komme, ohne daß merr sich vorher die Bää drum ausreißt, des wern die beste! – Naa, ich mach merr gar kaa Gedanke drum, ob's blond odder schwarz werd, ob's helle oder dunkle Aage hat, ob's e Bub is odder e Mädche. Der Storch is doch kaa Gemiesfraa, daß merr mit'm hannelt! Awwer blond wär merr schonn am liebste, unn wisse dhät ich halt gern, ob's helle Aage hat, – ach so, ich wollt merr ja kaa Gedanke driwwer mache!«
Er lächelte in sich hinein und blieb unwillkürlich stehen. Er hörte das feine, silberige Geräusch der fallenden Flocken und dachte: »Der liewe Gott streichelt die Erd'. Unn er hat waaße Glacehandschuh derrzu aagezoge. Unn er fährt mit der Hand iwwer die Schneedeck, wie e Mudder iwwer des Wiegedeckche von ihrem Kindche, unn summt »Schlaf, Erdche, schlaf! …«
Wieder lächelte er.
»Ich möcht nor wisse, was ich heut habb, daß ich heut immer an Kinner denk! – Ach so, ich soll ja selwer aans kriehe! Ich krieh ja Kinner!«
Und er rief gegen den Sachsenhäuser Berg: »Heerstde's, ahler Berg, ich krieh Kinner! Ei, Du Spinat unn gehle Riewe unn Quetschebäum unn was sonst da drowwe wachse dhut: Kinner kriehe merr! So dhut doch lache, Ihr verrickte Planze, schlagt doch Borzelbäum: Kinner gibbt's!«
Und er fing laut an zu lachen und schnappte im Übermut mit dem Mund nach den Schneeflocken wie en Fisch nach einem Brotbrocken.
Und die Telegraphendrähte summten: »Annerne Zuständ«, »Annerne Zuständ«, als würde dieses Ereignis in der ganzen Welt herumdepeschiert.
Eine Kirchturmuhr im nahen Oberrad schlug die zehnte Stunde. Der dumpfe Klang weckte Adolf Borges aus seinen fröhlichen Träumereien.
»Wann ich so weider laaf, bin ich morje frieh in Afrika!« sagte er sich und machte kehrt.
Mit dem Erwachen aus seiner Seligkeit kam ihm auch die nächtliche Kälte zum Bewußtsein. Er fühlte, daß er nasse Füße hatte, und er rieb sich die roten Ohren. Eine Weile trabte er nun still und gesittet auf der Landstraße dahin, gewissermaßen schon umstrahlt von Vaterwürde.
Dann kam die Freude wieder zum Ausbruch. Er bückte sich, knetete Schneeballen und eröffnete ein Bombardement auf Telegraphenpfosten und Bäume.
»Wann ich treff,« sagte er sich beim ersten Schneeballwurf, »dann werd's e Bub! Geht's danewe, werd's e Mädche!«
Und beim zweiten Wurf probte er aus, ob die Haare blond oder schwarz, beim dritten, ob die Äuglein hell oder dunkel werden würden.
Einen blonden Buben mit blauen Augen verhieß ihm dieses Orakel, und er war damit sehr zufrieden.
Schneebedeckt und durchnäßt kam er nach Hause. Er schüttelte Mantel und Hut vor der Haustüre aus und trampelte sich den Schnee von den Stiefeln, um nicht Käthchens Zorn zu erregen.
Recht zärtlich wollte er seine Frau begrüßen und sie gleich befragen, ob Vater Bindegersts Behauptung denn auch wirklich wahr sei?
Aber dazu kam er gar nicht, denn sobald er das Schlafzimmer betreten hatte, schrie ihn Katharina erbost an, wo er jetzt herkäme, und was das für eine neue Mode sei, mitten in der Nacht heimlich aus dem Haus zu laufen?
Einen ganz fürchterlichen Krach machte sie, während dessen sich Adolf bekümmert auszog und niedergeschmettert ins Bett kroch. Katharina drehte ihm den Rücken zu, blies das Licht aus und schlief ein, ohne seinen zaghaften Gute-Nacht-Wunsch zu erwidern.
Ein gehöriger Schnupfen war das erste väterliche Opfer Adolfs.
Am nächsten Morgen beim Kaffee hielt er's nicht mehr aus, er mußte Gewißheit haben. Er hatte seine Frau genau beim Ankleiden beobachtet, aber er, der Unerfahrene, hatte sich kein Urteil bilden können. So blickte er denn, als sie am Frühstückstisch saßen, sein Weibchen recht innig an, beugte sich zu ihr hinüber und wisperte lächelnd: »Is es so weit, lieb Kättche?«
»Mit was?« schrillte es grob zurück. »Kannstde Dich net so ausdricke, daß Dich e vernimftiger Mensch versteht?!«
»Ich maan, lieb Kättche, … es kimmt merr so vor, als ob … als wie wann ebbes Klaanes unnerwegs wär!«
»Unn was weider?«
»Also is es so?« strahlte Adolf. »Is es so?«
Da stand Katharina ärgerlich auf. »Ich habb Derrsch doch schonn gesacht! Frag net so dumm! Was is'n weider dabei!«
Und sie ging in die Küche und schien sehr zornig zu sein.
Im ersten Augenblick war Adolf verblüfft. Dann sagte er sich: »Es kimmt von ihr'm Zustand. Ich wär wahrscheinlich aach net annerschter, wann ich so weit wär!«
Und dies mußte er sich fortan oft sagen. Denn Katharina ward immer unleidlicher und reizbarer. Kein Tag verging ohne Lärmszene. Aber Adolf beklagte sich nicht mehr bei seinem Schwiegervater, er ertrug die geistigen und körperlichen Mißhandlungen mit noch geduldigerer Sanftmut als je. Jede Launenhaftigkeit Katharinas war ihm nur ein neuer Beweis des Glückes, das er zu erwarten hatte. Denn jetzt wußte er den Zustand seiner Frau und dessen Begleiterscheinungen sachverständiger zu beurteilen: hatte ihm doch Bindegerst aus seiner dreibändigen Bücherei »Das Geschlechtsleben des Menschen« zu lesen gegeben.
Daraus erfuhr Adolf mancherlei, was ihm bisher unbekannt gewesen. Die wichtigsten Stellen fielen ihm leicht ins Auge, denn die hatte Bindegerst mit Bleistift angestrichen. Und auch einige Randbemerkungen von Bindegersts Hand fanden sich in dem Buch, die bewiesen, daß der Alte in Bezug auf das Geschlechtsleben des Menschen höchst menschlich dachte.
Bindegerst ließ für einige Zeit das Schnitzen von Affenköpfen sein, er zimmerte ein Kinderbettchen. Den Ausmaßen nach schien es für ein Riesenkind bestimmt zu sein.
Es wurde Adolfs Lieblingsbeschäftigung, dem Schwiegervater beim Bau dieser kleinen Arche Noah zuzuschauen, und schon sah er im Geiste seinen Stammhalter in dem Bretterkasten zappeln. Er gewöhnte sich an, schon jetzt den alten Bindegerst mit »Großvadder« anzureden, und dieser zeigte sich seinerseits durch die Anrede »Herr Babba« erkenntlich.
»Großvadder, maanstde net, merr könnt bei dem Bettche noch so vier Engelsköppcher an die Ecke mache?«
»Unn vielleicht aach noch e Oferohr in die Mitt, Herr Babba?« spöttelte der Meister. Ihn belustigten Adolfs ewige Anregungen zu Verschönerungen des Bettes, und er gefiel sich deshalb darin, ihm die unmöglichsten Verzierungen vorzuschlagen.
»Ich maan als, Herr Babba, merr sollt an dem Bettche en Kleiderhake mit eme Zylinnerhut aabringe! Daß der Bub aach grieße kann, wann der Dokter zum Impfe kimmt!«
»Maanstde net, Herr Babba, merr sollt en Aschebecher draamache? Odder werd's e Nichtraacher?«
Katharina rümpfte verächtlich die Nase, wenn sie Brocken solcher Gespräche aufschnappte. Sie schien sich nicht im mindesten auf das Kind zu freuen, sie nahm ihre Schwangerschaft wie eine etwas lästige Selbstverständlichkeit hin, über die Worte zu verlieren nicht lohnt.
Manchmal mußte sie sich, wenn sie das Essen auftrug, plötzlich mit leisem Stöhnen setzen. Neigte sich dann Adolf besorgt über sie, so knurrte sie böse: »Laß mich! Ich kann des dumm Gedhu net verdrage!«
»Kättche, merr wolle in der Kich' esse, dann braachstde des Esse net ereizudrage!«
»Unsinn! Ich bin net krank!«
»Kättche, willstde dich net e bissi umlege?«
»Mei Ruh will ich hawwe! Ich bin net so zimberlich unn faul wie gewisse annern Leut!«
Fühlte sie Adolfs zärtliche Blicke auf sich ruhen, so drehte sie ihm in spöttischer Verachtung den Rücken. Und einmal sagte sie wütend: »Jedz haww ich genuch von dem alwerne Erum-Gescherwenzel! Des is des erste unn letzte Kind, was ich krieh! Dadafor wer' ich schonn sorje!«
Adolf hatte eine Heidenangst vor der Entbindung. Immer wieder las er »Das Geschlechtsleben des Menschen«, er erkundigte sich eingehend bei Bindegerst, wie es denn seinerzeit zugegangen sei, als Katharina auf die Welt kam.
Aber der konnte ihm nur die Auskunft geben: »Ich waaß es net, ich bin solang spaziere gange!«
Am fünften Mai wurde Adolf vormittags gegen zehn Uhr in das Privatkontor seiner Chefs gerufen.
»Adolf,« sagte der dicke Herr Schröder, »es hat nach Ihne delefoniert, Se solle aageblicklich haamkomme!«
Da wußte Adolf gleich, was los war.
»Herr Schröder,« stammelte er erregt, »Herr Schröder, merr kriehe Kinner!«
» Merr??« meinte Herr Schröder. »Merr? – Net, daß ich wißt'!«
Adolf Borges stürmte davon. Er rannte unterwegs eine alte Dame um, aber er hatte keine Zeit, sie um Entschuldigung zu bitten, sondern er fauchte nur im Weitersausen: »Ahl Schachtel, kannstde net Blatz mache!«
Als er zu Hause ankam, war schon alles vorbei. Katharina lag erschöpft und bleich im Bett, mit zusammengekniffenen Lippen. Er stürzte auf sie zu, sie zu umarmen und zu küssen, aber sie runzelte die Stirn und zog den Kopf zurück.
Großvater Bindegerst saß am Bett und sagte: »Ich gradulier! Gut is gange! Awwer 's nächste Mal geh' ich widder spaziere!«
Adolf suchte das Kind. In dem kunstvoll gezimmerten Bettchen lag ein kleines Etwas, das einem gelblichen Affen nicht unähnlich sah. Er wollte es an sich reißen, da sagte eine fremde, dicke Frau: »Nix da! Se hawwe jedz hier gar nix zu suche! Se könne sich den Bub später noch genuch betrachte!«
»Den Bub?« jubelte Adolf. »E Bub is es! Kättche, was e Glick!«
Er wollte wieder zu Katharinas Bett eilen, niederknien, sie küssen; er stieß dabei eine kleine Badewanne um, die am Boden stand, und verursachte eine Überschwemmung.
»Rindviech!« hauchte Katharina.
Die fremde Frau, die sich offenbar hier als Herrscherin fühlte, packte ihn am Ärmel und befahl: »Jedz mache Se awwer, daß Se 'nauskomme! Merr brauche jedz Ruh!«
Da stieg er hinauf in das Dachzimmerchen, über die Stufen stolpernd, vor deren Unzuverlässigkeit ihn Bindegerst schon beim Mieten des Zimmers gewarnt hatte. Er hatte sich die Nase gehörig aufgeschlagen, aber er spürte keinen Schmerz.
Er streckte den Kopf zum Dachfensterchen hinaus und brüllte: »Ich habb 'n Sohn! 'n Sohn haww ich!«
Aber die Stadt Offenbach nahm keine Notiz von diesem großen Ereignis.
Und plötzlich kniete er vor dem Schrank mit dem kaputenen Schlüssel nieder, betete ein Gebet, über dessen Verwirrtheit alle Engel im Himmel hellauf lachten, schüttete die ganze Frömmigkeit, die in seinem harmlosen Herzen schlummerte, aus.
»Ich dank Derr schee, liewer Gott, daß es so gut voriwwergange is! Ich wer' mich schonn revanschiern! Ich will so e guder Mensch sei', wie's iwwerhaapt noch kaan gewwe hat! Du werst's schonn gucke! Unn laß merr nor des Kättche unn de Bub gesund bleiwe, laß liewer mich die Cholera kriehe! Was e scheener Bub, liewer Gott! Unn ich bin der Vadder! Gell, da guckstde? Laß en nor was Gescheides wern, liewer Gott, es braacht ja net gleich Brofesser zu sei', awwer so recht e aastänniger Mensch! Unn Geld soll er aach verdiene, denn ohne Moses unn die Prophete, da schweige alle Fleete! Unn sei net bees, liewer Gott, daß ich so 'n Stuß zusammebet', awwer ich bin ja ganz meschugge vor Freud! Amen.«
Im Geschäft wurde die Nachricht vom Familienzuwachs des scheppen Adolfchens mit großer Heiterkeit aufgenommen. Und wieder machten die männlichen Angestellten solche Witze, daß die Damen rot wurden. Aber das wurden sie gern.
Und der eklige Kassierer sagte: »Bloß aans? No, gewwe Se de Mut net uff, des nächste Mal wern's schonn Zwilling wern! Ibung mecht de Meister.«
Und der gute Herr Heinrich Baldrian drückte ihm die Hand und sprach in seiner besonnenen Art: »Ich gratuliere Ihnen. Aber es ist eine große Verantwortung, so ein Menschenkind in diese miserable Welt zu setzen. Ich sag's Ihnen offen: ich hätte nicht das Gewissen dazu.«
Und der Herr Schröder sagte: »E Bub? Mei' Hochachtung! Dichtige Leut hawwe merr im Geschäft! No, Se wern jetz allerlei Ausgawe hawwe, – vom nächste Erschte ab kriehe Se fuffzeh Mark mehr!«
Und bald ging Alles wieder seinen gewohnten Gang.
Katharina war schon nach wenigen Tagen wieder aufgestanden. Ihr Wesen blieb zänkisch und bösartig, ihre Streitsucht nahm eher zu als ab. Sie bewies dem Kinde keine Zärtlichkeit, sie betrachtete seine Anwesenheit einfach als eine Vermehrung ihres Arbeitspensums, das sie mit mürrischer Selbstverständlichkeit erledigte. Sie vernachlässigte das kleine Gustavchen ebensowenig wie sie je ihren Haushalt vernachlässigt hatte, sie erfüllte ihre Pflicht, – aber wer auf dieser Welt nur seine Pflicht tut, tut zu wenig.
Pflicht ist ein häßliches Wort, ein Wort des Zwanges, und erst wenn dieser Begriff aus dem Denkvermögen der Menschen geschwunden sein wird und dennoch jedermann »seine Pflicht tut«, werden wir uns rühmen dürfen, Kultur zu besitzen.
Adolf empfand tiefschmerzlich die Lieblosigkeit der Mutter. Für alle seine glücklich-neckenden Fragen, ob der Kleine ihm oder ihr ähnlicher sähe, ob er diesen und jenen Zug von den Borges oder von den Bindegersts geerbt habe, hatte sie nur ein frostiges Achselzucken. Er aber war hemmungslos vernarrt in den Säugling, der nur das Mäulchen zu einem Lachen zu verziehen brauchte, um seinen Vater in einen Taumel des Entzückens zu versetzen.
Täglich entdeckte er neue Eigenschaften an ihm, ausnahmslos Tugenden und Anzeichen ungewöhnlicher Gescheitheit, über die er zu seinem Kummer nur mit dem Großvater plaudern konnte, denn Katharina hatte sich ein für allemal dieses »dumme Geschwätz« verbeten.
Den Großvater aber konnte der kleine Gustav nicht leiden. Näherte er sich nur dem Bettchen, so fing er an zu schreien, als stünde die schlimmste Mißhandlung bevor. Weder Adolf noch Bindegerst konnten sich dieses seltsame Verhalten erklären, und doch war die Lösung des Rätsels so naheliegend: das Büblein konnte einfach den Schnapsgeruch des Alten nicht ertragen.
Schrie der Kleine des Nachts, so geriet Adolf in die höchste Aufregung. Er verstand nicht, daß Katharina das Plärren Gustavchens kaum beachtete, und er zweifelte in solchen Augenblicken ernstlich daran, daß Katharina überhaupt Gefühl besäße.
»Heerstde's net?« bat er eines Nachts. »Mach doch 's Licht aa unn gebb 'm die Brust!«
»Gebb Du se'm!« brummte Käthchen.
Die Strenge der Mutter trug übrigens gute Früchte, der kleine Schreihals gewöhnte sich bald das nächtliche Konzertieren ab.
Auch im Geschäft erzählte Adolf von seinem Wunderkind. Er sah nicht die ironischen Blicke, die die Angestellten bei seinen begeisterten Schilderungen austauschten, er hörte aus den scheinbar teilnehmenden Fragen nach Einzelheiten nicht den losen Spott heraus. Er hielt es für aufrichtiges Interesse, wenn sie ihn ausforschten, wieviel das Gustavchen an Gewicht zugenommen habe, wieviel es getrunken habe, und wie es mit seinem Stuhlgang stünde.
Mitten in seiner Arbeit überfielen ihn Zärtlichkeitsanfälle, heftigere noch als damals in seiner Bräutigamszeit. Hatten ihn damals die Putzfrauen dabei erwischt, wie er vor einer Modellfigur niederkniete, so erwischte ihn jetzt der eklige Kassierer dabei, wie er ein frischgeschnürtes Paket gleich einem Wickelkinde in den Armen wiegte und so tat, als kitzle er's unter dem Kinn: »Du-du-du, – wie lacht das tleine Dustavchen?«
Das war dem Gestrengen doch zu bunt, er ging zu Herrn Schröder, sich zu beschweren. »Herr Schröder, des geht net mehr so weider mit'm Adolf! Der werd ja ganz verrickt!«
Aber der dicke Herr Schröder gab Denunziationen grundsätzlich kein Gehör. »Werd er for Ihr Geld meschugge, odder for meins? – No also!« fertigte er den Angeber ab.
Da Adolf sich in seinen Gedanken unausgesetzt mit seinem Kinde beschäftigte und im Geiste mit ihm die lieblichsten Gespräche führte, passierte es ihm, daß er, als ihn Herr Feldmann rief, antwortete: »Tleich tomm ich, Herr Feldmann! Tleich!«
Da wollte der Chef ernstlich böse werden, aber sein dicker Teilhaber besänftigte ihn: »Lass'n, Hermann! Merr muß Geduld mit'm hawwe: er hat noch e bissi 's Wochebettfiewer!«
Adolf erhoffte von dem Kinde eine glücklichere Gestaltung seines Ehelebens, er glaubte fest, dieses Kinderherz müsse der paradiesische Boden sein, auf dem sich die Eltern nach so langem Mißverstehen finden müßten.
Ach, und gerade durch das Kind erhielt ihr Zusammenleben den tiefsten, unheilbaren Riß.
Ungefähr ein halbes Jahr war Gustavchen alt, als Katharina Sonntags, nach dem Mittagessen, anordnete: »Vadder, geh enuff, Dei Middagsschläfche mache, ich habb mit'm Adolf zu redde!«
Es wurde Adolf unbehaglich bei dieser Ankündigung. Was konnte ihm seine Frau in Abwesenheit des Großvaters zu sagen haben?
»Heer' emal,« sagte Katharina, als sie allein waren, »'s werd Zeit, daß merr uns emal iwwer's Gustavche klar wern!«
Gott sei Dank: um das Gustavchen handelte es sich also! Nun, er würde sich gewiß gegen nichts sträuben, was dem Kinde von Nutzen sein konnte.
Katharina trat dicht vor ihn und frug betont: »Du hast doch vierdausend Mark uff der Sparkass?«
»Ja, Kättche!« antwortete Adolf unsicher und verlegen. »Was is damit?«
»Ich habb mich bisher nie drum gekimmert, awwer des Geld muß uff'm Gustav sein Name geschriwwe wern! Merr sin all nor Mensche unn merr kann net wisse, was bassiert. – Bistde eiverstanne?«
Adolf wußte nicht mehr, was er antworten sollte. Das Geld, ach, das hatte er ja gar nicht mehr. Damit hatte ja Bindegerst seinen Holzlieferanten bezahlt.
Aber nun mußte das Geld unter allen Umständen wieder herbeigeschafft werden. Es mußte. Noch heute würde er mit Bindegerst reden …
»Ich habb gefragt, obsde eiverstanne bist?«
»Nadierlich bin ich's, Kättche.«
Sein Blick irrte ratlos im Zimmer umher, er konnte Katharina nicht in die Augen sehen. Ein schrecklicher Gedanke durchrieselte ihn: wenn Bindegerst das Geld nicht mehr beschaffen konnte? Der Großvater hatte zwar versprochen gehabt, ihm Haus und Geschäft zu verschreiben, aber Adolf war viel zu anständig gewesen, ihn jemals an diese Verschreibung zu mahnen.
»Also dann gebb merr des Buch!«
Adolf Borges wurde kreidebleich. Nun half nichts mehr, jetzt galt es Rede stehen.
»Kättche, des is … des is so e Sach!« stammelte er und zitterte am ganzen Körper. »Des Buch … des haww ich nämlich … des haww ich nämlich net mehr.«
»Wa–as?!«
»Des Buch, des haww ich nämlich … 'm Großvadder gewwe … weil er doch Schulde gehabbt hat … unn da …«
Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er starrte mit großen, ängstlichen Augen sein Weib an.
Katharina stand einen Augenblick mit offenem Mund da. Dann brach sie los:
»Du Lump! Du Schuft! Dadafor haww ich mich abgerackert wie e Dier! Dadafor haww ich jeden Fennich zusammegekratzt unn merr nix, nix, nix gegönnt! Du Schwein, Du! Kinner in die Welt setze unn net sorje dafor! Des baßt Derr! Aas!«
»Awwer Kättche … 's is doch Dei Vadder … ich konnt doch den ahle Mann unmöglich sitze lasse …«
»Den Säufer? Des Schwein, des verdammte? Des sich bei uns dorchfrißt unn kaan Fennich dafor bezählt?« Sie lachte schrill auf. »Zu mir hätt' er komme solle! Ich hätt'm was annerscht gebumbt! Unn Du Rindviech gibbst unser schee Geld her! Unn frägst mich net! Saukerl! …«
Sie schlug die Hände vors Gesicht und heulte. In langgezogenen, kreischenden Tönen.
Schuldbewußt stand Adolf neben ihr.
Ja, sie hatte recht, er hatte seinen Sohn um das Geld gebracht. Aber damals, als er sich von Bindegerst beschwatzen ließ, hatte er ja noch gar keinen Sohn! Freilich, er hätte dennoch an die Möglichkeit denken sollen …
Katharinas hysterisches Weinen ließ ihm das Herzblut gerinnen. Wie gerne, ach wie gerne hätte er sie durch Liebkosungen beruhigt, hätte er ihr Haar gestreichelt! Wer er traute sich nicht, sie zu berühren. Er wollte ja seinen Leichtsinn wieder gut machen, er wollte den Verlust nach und nach wieder ersetzen: keinen Tropfen Bier würde er sich mehr gönnen, keinen Pfennig Trinkgeld mehr für sich behalten. Und nichts, nichts mehr tun, ohne seine Frau zu befragen.
»Flenn doch net, Kättche! Des dhut merr ja so weh! … Guck, lieb Kättche, der Großvadder hat merr ja des Haus dafor verschriwwe, unn's Geschäft …«
Da schüttelte sie die Wut von neuem. »Des Haus? Des Geschäft? Wo kaan rote Batze wert sin? Wo kaa Backstei' mehr davoo ihm geheert? Du dreckiger Hund, Du Vieh …!«
Sie wußte nicht mehr, was sie schrie. Sie riß das Kind aus dem Bettchen, hob es hoch, rüttelte es wild in der Luft: »Da, guck Derr Dein Vadder aa! Guck Derr'n aa! Dei Geld hat'r zum Fenster nausgeschmisse, der Lump! Hätt er Dich doch gleich hinnerher geschmisse! Des wär des Gescheitste!«
Das Kind brüllte unter den krallenden Griffen Katharinas jämmerlich. Mit einer instinktiven Angstgebärde entriß Adolf es ihr, wollte es zurück legen ins Bettchen, aber Katharina stürzte auf ihn zu, schlug sinnlos auf ihn ein, – und er ließ den Hagel von Faustschlägen stumpf über sich ergehen, das kreischende Kind dicht an sich pressend, um es vor den wahllos niederprasselnden Hieben zu schützen.
Schließlich hörte er die Türe knallend zuschlagen, er hob verstört den Kopf, – er war allein.
Da küßte er das Gustavchen, legte es ins Bettchen, blieb bei ihm sitzen.
»Sei still, Gustavche,« flüsterte er, »danz brav sei', Dustavche! Danz brav is'm Babba sei Liebling!«
Und mitten in diesen zärtlichen Einlullungsversuchen legte er plötzlich sein Haupt auf den Rand des Kinderbettes und weinte lange.
Als das Kind endlich schlief, stieg Adolf hinauf in das Dachzimmer, das seine Zufluchtsstätte in allen Leiden geworden zu sein schien, und sprach zu seinem Schwiegervater: »Nemm Dei Sach, Großvadder, unn zieh erunner! Von heut ab wohn ich widder hier owwe!«
Und da Bindegerst ihn fragend ansah, fügte er hinzu: »Ich will nix weider driwwer redde, awwer 's is besser so!«
Und Bindegerst fügte sich. Aber er dachte in seinem Innern: »Des is der Anfang vom End'!«
Von dem Sparkassenbuch wurde nicht mehr gesprochen. Katharina fand sich mit dem Verlust als einer gegebenen Tatsache kurz und energisch ab.
Aber sie wußte sich zu rächen. Sie legte sich eine neue, kränkende Redensart bei, sie gewöhnte sich neben der Behauptung, sie habe »Prinze unn Korferschte heierate« können, den höhnischen Ausruf an: »Merr könne's uns ja leiste! Merr hawwe ja's Geld zum Nauswerfe!«
Hatte sie früher jede Münze dreimal in der Hand gedreht, ehe sie sich zum Ausgeben entschloß, so schien sie jetzt das Sparen für die größte Torheit zu halten. Sie kaufte sich allerhand nichtigen Tand, holte sich bei dem blondgelockten Herrn Hippenstiel Parfüms und Haarpfeiler, fuhr bei ihren Wirtschaftsbesorgungen die kleinsten Strecken mit der Elektrischen und rieb alle diese kleinen Verschwendereien Adolf mit dem Hinweis unter die Nase: »Merr hawwe's ja! Leut wie mir!«
Jeden Sonntag, nach dem Mittagessen, begann sie zu sticheln: »Fahr doch e bissi in die Umgegend, Adolf! Ich bin froh, wann ich Dich net guck. Unn die Koste spiele doch kaa Roll bei uns! Merr hawwe's doch! Leut, die's Geld gleich dausendmarkweis verschenke!«
Adolf ertrug alle diese Niederträchtigkeiten widerspruchslos. Nur manchmal seufzte er tief, strich sich mit der Hand durch die Haare und starrte vor sich hin, aber keine Klage kam über seine Lippen.
Noch immer gab er den Versuch nicht auf, seine Frau durch unerschütterliche Geduld zu zähmen. Nicht aus Trotz war er in das Dachzimmerchen gezogen, sondern weil er zu der schmerzlichen Einsicht gelangt war, daß sein Anblick auf Katharina aufreizend wirkte.
»Wann se mich weniger guckt,« sagte er sich, »wern sich ihr Nerve beruhige! Es leiht ja bloß an de Nerve, – 's Herz is net schlecht. Sie kann ja doch schließlich nix dafor, daß ich zu arm bin, um se in e Nervebad zu schicke, wie's die reiche Leut mit ihre beese Weiwer mache. Unn älder werd se ja aach mit der Zeit, unn des Alter, des is die best Massag' for nerwöse Leut. Mit'm erschte Schnorrbarthäärche werd der Jingling meschugge, unn mit'm erschte graue Häärche wern die Weiwer vernimftig. Wann merr älder werd, da kimmt aam so vieles ganz wurscht vor, wo merr sich frieher driwwer uffgeregt hat, merr werd viel stiller unn verdräglicher, es is, als ob uff'm Weg zum Dod unnerwegs uff beide Seite Ruhebänkcher uffgestellt wär'n: »Da, ruh Dich e bissi ab unn geweehn' Dich langsam an de ewige Dauerschlaf!«
Tückischer als die neue Redensart war das zweite Mittel Katharinas, ihre Rache zu kühlen: sie hielt geflissentlich das Kind von seinem Vater fern. Sie tat so, als habe er überhaupt keinen Anspruch auf das Kind, sie erstattete ihm nie Bericht, was das Kind während seiner Abwesenheit getan hatte, sie lobte es nicht und tadelte es nicht.
Selbst die Ankunft des ersten Zähnchens, die doch in allen Familien als festliches Ereignis betrachtet wird, überging sie mit Stillschweigen.
Hatte Adolf den Jungen auf dem Schoß, sich an ihm zu erfreuen, so fand sie nach wenigen Minuten einen Vorwand, ihm das Kind wegzunehmen.
Aber ihre Taktik, das Kind systematisch dem Vater zu entfremden, blieb erfolglos. Kinder sind Menschenkenner. Das kleine Gustavchen zeigte eine unverkennbare, unbeirrbare Vorliebe für seinen Papa. Sobald er das Zimmer betrat, fing es an zu lachen, streckte die Ärmchen nach ihm aus, wollte getätschelt sein. Ja, der kleine Wurm wußte ganz genau die Zeit, wann Adolf mittags und abends aus dem Geschäft kam, und fing schon eine Weile zuvor an, unruhig zu werden und mit Gesten nach seinem Vater zu verlangen.
Dann warf Katharina dem Kind einen bitterbösen Blick zu.
Adolf kam nur noch zu den Mahlzeiten herunter ins gemeinsame Wohnzimmer. Den größten Teil seiner freien Zeit verbrachte er in dem Dachstübchen, und es war, als sei er wieder wie ehemals der »möblierte Herr« und nicht der Gatte, der Ernährer der Familie.
Nun saß er wieder manche Stunde am Dachfensterchen und erneuerte die Beziehungen zum Mann im Mond. Er sah wieder von seiner hohen Warte herab die Menschlein wie kleine Käfer in den Straßen krabbeln, aber er ernannte sie nicht mehr zu Pagen seines Märchenhofstaates. Manchmal überwältigte ihn schmerzende Bitterkeit, und er dachte: »Ich wollt, ich hätt e groß Insektepulverspritz, so groß wie e Kanon, damit ich euch Käwwer da drunne beweise könnt, was ich for e Menschefreund bin!«
Das Schneeball-Orakel hatte richtig prophezeit: Gustav wuchs heran zu einem blonden Büblein, seine blauen Augen wurden denen des Vaters immer ähnlicher. Er lernte laufen und drollig plappern. Einer der ersten Sätze seines Sprachschatzes war die selbstgebildete Beschwerde: »Mama bees!«
Nur allzu deutlich zeigte es sich, daß das Kind seine Mutter fürchtete; es beobachtete beim Spielen jede Bewegung Katharinas, als erwarte es jeden Augenblick Schelte oder Schläge.
Für Adolf Borges wurde das Kind eine Art Fetisch. Er trieb eine abgöttische Verehrung mit ihm, einen Gottesdienst, dessen Zeremoniell in der Hauptsache darin bestand, auf allen Vieren vor ihm herumzurutschen und dabei zu krähen, zu bellen, zu miauen.
»Mach nor Dei Hose kabutt!« geiferte Katharina. »Mach se nor hie! Merr könne's uns ja leiste! Merr hawwe's ja!«
Bei seinen Geschäftsgängen machte Adolf, wenn es irgend möglich war, einen kleinen Umweg, um schnell einen Augenblick in die Wohnung hinaufspringen und sein Kind sehen zu können. Das trug ihm dann zwei Rüffel ein, einen von Katharina und einen von Herrn Feldmann, – aber was lag daran?
Er gewöhnte sich allerlei Fertigkeiten an, dem Kleinen damit eine Freude zu bereiten: er lernte aus Zeitungspapier Schiffe und Helme bauen, aus Lappen, die er sich im Geschäft von den Flickmamsells schenken ließ, mit der Schere Tiere und Menschen schnitzeln, aus Holzstückchen Bausteine zimmern.
Mit gespannten Augen und glühenden Bäckchen sah Gustav ihm zu, neugierig, was es werde, und lispelte, mit der Junge leise anstoßend: »Was machß'n Du da?«
Und dieses »Was machß'n Du da??« beseligte Adolf stets von neuem. Dieses freudige, dankbare, wißbegierige »Was machß'n Du da??« lag ihm Tag und Nacht wie eine süße Melodie in den Ohren, ward ihm zum geflügelten Wort.
»Was machß'n Du da??« lispelte er Bindegerst zu, wenn dieser seine Schnapsflasche an den Mund setzte. Und dann lachten sie Beide Tränen.
»Was machß'n Du da??« sagte er, wenn der Gasmann kam und den Gasometer ablas.
Und wenn des Nachts die Katzen ihre Gesangsproben abhielten, steckte er den Kopf zum Fenster hinaus und schmunzelte: »Was machß'n Du da, ahl Katzeviech? Willstde still sei'! Wo dhät'n des hieführn, wann mir Mensche bei der Lieb so e Geschrei mache wollte?!«
In den ersten Monaten der Ehe hatten Katharina und er an den Sonntagnachmittagen zuweilen kleine Spaziergänge in den Stadtwald oder in eine der benachbarten Ortschaften unternommen. Bald aber hatte sie keinen Gefallen mehr an diesen Ausflügen gefunden. In der Regel saß sie Sonntag mittags zu Hause und bastelte an irgendeiner Handarbeit, während Adolf allein in der Stadt und der Umgegend herumbummelte.
Das Heranwachsen des kleinen Zappelphilipps, der nicht den ganzen Tag stillsitzen mochte, machte eine Änderung des Sonntagprogramms notwendig. Bindegerst nahm die Angelegenheit in die Hand, indem er einfach bei einer günstigen Gelegenheit erklärte: »Adolf, mach's Gustavche fertich! Die Sonn' scheint, merr wolle e bissi Luft schnappe!«
Katharina stutzte. Dann sagte sie: »Schert Euch zum Deiwel!«
Sie hatte offenbar ihren Plan, das Kind dem Vater zu entfremden, als aussichtslos aufgegeben und begnügte sich damit, Vater und Kind mit erprobter Technik einzeln zu quälen.
Fortan trippelte Gustavchen Sonntag mittags, rechts und links von schwieligen Männerhänden geführt, durch die Stadt und ins Freie. Sein Vater erklärte ihm alle die tausend Wunder und Neuigkeiten, die sich den Kinderaugen bieten, die Denkmäler, Kirchtürme, Bäume, Blumen, Wiesen, Quellen, den Main mit seinen Schiffen, den Himmel mit der Sonne, den Wolken, dem Mond und den Sternen, die elektrische Straßenbahn, die Eisenbahnen, die Hunde, Katzen, Vögelchen.
Oh, wie viel gab es zu sehen in der Welt! Welche Schätze offenbarte allein das Schaufenster des Herrn Hippenstiel! Die zahlreichen Fläschchen, Kämme, Bürsten, die Bartbindenplakate mit den unmenschlich schneidigen Männerbildnissen, die Zahnwasserplakate mit den süßen Grisettenköpfchen, und – o Wunder! – da hingen auch Zöpfe, an denen gar kein Mensch wuchs!
Adolf, der zu Hause so schweigsam war, redete auf diesen Spaziergängen zu Bindegersts Erstaunen wie ein Buch. Und gab es nichts mehr zu erklären, dann erzählte er dem Gustavchen Geschichten, gelesene und improvisierte, was ihm gerade in den Kopf kam. Was in diesen Geschichten alles zusammengehext und zusammengezaubert wurde, das war selbst für eine Märchenwelt zu bunt.
Wurde Gustav müde, so trug sein Vater ihn auf den Armen, oder die kleine Karawane setzte sich zum Ausruhen auf eine Bank.
Während einer solchen Ruhepause sagte Bindegerst einmal plötzlich, indem er Adolfs Hand ergriff: »Adolf, – mich drickt ebbes! Des war damals net schee von merr mit dene vierdausend Mark … Ich hätt's net dhun gesollt … awwer 's Wasser is merr an der Gorjel gestanne …«
Ergriffen, gerührt von dieser Selbstanklage schüttelte der überraschte Adolf wehmütig den Kopf und lächelte versöhnlich: »Laß gut sei', Großvadder! 's is net mehr zu ännern!«
»Awwer leid dhut merrsch! No, vielleicht kimmt doch emal e Gelegeheit, wo ich mich erkenntlich zeige kann! Vielleicht!«
»Redde merr net driwwer, Großvadder! Ich war Derr nie bees deswege! Werklich net!« schnitt Adolf das Gespräch ab.
Aber es war ihm so vorgekommen, als verschwiege ihm sein Schwiegervater irgend etwas, als sei die Selbstanklage eigentlich die Einleitung zu einer Selbstentschuldigung wegen irgend eines ganz anderen, ihm noch unbekannten Unrechts gewesen.
Und er war auf dem Heimweg sehr nachdenklich und köpfte zerstreut Blumen und Pilze, so daß ihn Gustav wiederholt fragen mußte: »Babba, – was machß'n Du da??«
Die nächsten Jahre in Adolfs Leben leierten sich ab wie ein Drehorgellied.
Die Jahreszeiten führten die ewigen Kämpfe miteinander auf, alljährlich feierte der Frühling seine Auferstehung, um von neuem gekreuzigt zu werden.
Die alte Tante Klio, die ja auch mit der Zeit moderner geworden ist, tippte gleichmütig auf ihrer Schreibmaschine Weltgeschichte. Und wie alle Schreibmaschinendamen tippte auch sie gelegentlich daneben, und daraus entstand mancherlei Unangenehmes für die Menschheit. So hatte sie bei der Eintragung von Adolfs Eheschließung den Namen Katharina mit lauter großen Buchstaben, den Namen Adolf aber mit kleinem Anfangsbuchstaben getippt, und daher stammte das ganze Unglück der Borgesschen Ehe.
Gustav war sechs Jahre alt, in einigen Wochen sollte er in die Volksschule kommen.
»Gott sei Dank, daß es endlich e Ruh gibbt im Haus!« sagte Katharina. »Es is schonn net mehr auszuhalte mit dem miserawele Bub!«
Da erschien an einem Dienstag vormittag Herr Bindegerst aufgeregt im Hause Feldmann & Schröder und verlangte nach seinem Schwiegersohn. »Adolf, komm gleich, der Bub is krank!«
Adolf Borges ließ das Paket, an dem er herumschnürte, fallen und rannte zu Herrn Schröder.
»Ich muß haam, Herr Schröder … mei Bub, der Gustav … er is krank, Herr Schröder.«
Und dabei liefen ihm schon die Tränen über die Wangen.
»No, 's werd net gleich so schlimm sei', Adolf!« tröstete der dicke Chef. »Gehe Se nor! – Ja, Kinner mache Sorje, ich kann aach e Lied dervoo singe, ich habb aach so e Kollektivo von Stickerer sechse. Mit Schmerze wern se geborn, mit Schmerze wern se großgezoge, unn mit Schmerze nemmt merr später de Dank dafor in Empfang! Gehe Se haam! Unn ich empfehl Ihne de Dokter Grienebaum, des is e dichtiger Arzt unn net so deuer!«
Unterwegs erstattete Bindegerst bruchstückweise Bericht. Das Kind hatte schon in der Nacht gefiebert, und morgens hatte es keinen Kaffee trinken wollen. »Ich habb Derrsch net gesacht, daß De Dich net uffregst!« Und dann hatte es gehustet, über Halsweh geklagt, und nun lag es im Fieber und ächzte und erkannte Niemanden. Und wimmerte beständig in seiner Bewußtlosigkeit: »Babba, was machß'n Du da??«
»Laaf doch net so, Adolf! Ich komm ja net mit!« pustete der alte Bindegerst.
Ein fremder junger Herr, mit einem koketten Schnurrbärtchen und einem goldgerahmten Zwicker, stand an Gustavs Bett und fühlte den Puls. Er öffnete mit sanfter Gewalt den Mund des fiebernden Kindes, sah in den Hals, zog ihm das Hemd herab, beklopfte Brust und Rücken.
Katharina saß am Fußende des Bettes und harrte des Ergebnisses der Untersuchung. Ihr war keine Erregung anzusehen, sachlich wie eine bezahlte Krankenpflegerin verfolgte sie die Maßnahmen des Arztes.
Adolf hingegen konnte seine Aufregung nicht zügeln, er trat von einem Bein aufs andere, seine Augen hingen mit unendlich rührendem, verzweifeltem Hilfeflehen am Munde des Arztes, die Untersuchung schien eine Ewigkeit zu dauern.
Der Doktor deckte den Kranken wieder zu.
»Es ist ernst,« sagte er. »Zumal das Kind unterernährt ist. Wie alt ist der Junge?«
Adolf konnte nicht antworten. Er mußte sich an einen Stuhl klammern, um Haltung zu bewahren.
»Sechs Jahr', Herr Dokter!« sagte Katharina mit sicherer Härte.
»War er schon öfters krank?«
»Nein, Herr Dokter.«
»Das Herz ist schwach.«
Der Blick des Arztes fiel zufällig in den Spiegel über dem Sofa, er drehte selbstgefällig die Spitzen seines Schnurrbärtchens, rückte den Kneifer zurecht. Ein lautes Schluchzen veranlaßte ihn, den Kopf zu wenden. »Na, Herr Borges, man braucht die Hoffnung noch nicht aufzugeben. Kinder sind manchmal überraschend widerstandsfähig. Allerdings –«
Er trat wieder zum Bett, warf noch einen kurzen Blick auf das Kind.
»Sie scheinen sehr an dem Jungen zu hängen, Herr Borges?«
Adolf nickte.
»Es ist wohl Ihr Einziger?«
Adolf sank an dem Bett auf die Knie, ergriff das herabhängende, fiebernde Händchen und bedeckte es mit Küssen.
»Tja,« sagte der Arzt, »tja …!«
Er wartete einen Augenblick, sah ungeduldig auf die Taschenuhr. »Ich würde Ihnen empfehlen, den Kleinen ins Spital bringen zu lassen. Er hat dort doch eine bessere Pflege. Es ist auch nicht sonderlich gut geheizt bei Ihnen. – Ich werde nachher an die Sanitätskolonne telephonieren. Einstweilen können Sie ihm ja diese Tropfen geben.«
Er schrieb ein Rezept und gab es Adolf, der es hastig zusammenknitterte, aufsprang und in die Apotheke lief.
Dreiviertel Stunden mußte er warten, bis das Rezept ausgeführt war.
Er saß auf einer Bank an der Wand und sah die Käufer kommen und gehen; Leute, die harmlose Dinge kauften wie Hustenbonbons, Watte, Lysoform; vergrämte Mütterchen, die gleich ihm auf Arzneien warten mußten; kokette Dienstmädchen, die mit dem Provisor poussierten; und alle Menschen kamen ihm so beneidenswert, so glücklich vor.
Als er wieder zu Hause eintraf, war das Gustavchen schon abgeholt.
Er wollte wieder davonlaufen, nach dem Krankenhaus, aber Katharina hielt ihn gebieterisch zurück. »Merr derf'n jedz net besuche! Morje Middag von drei bis vier, – ich habb mich erkunnigt.«
Und der alte Bindegerst sagte: »Des war e netter Mensch, der Dokter. So mitfiehlend.«
Die ganze Nacht hindurch studierte Adolf in dem Buch aus Bindegersts Bibliothek. Es war freilich ausgeschlossen, daß in dem »Geschlechtsleben des Menschen« irgend ein Aufschluß über Gustavs Krankheit zu finden war, aber Adolf dachte in seiner Verzweiflung, vielleicht stünde doch irgend ein Hinweis in dem Buch, der ihn belehre, der ihm Hoffnung geben könne. Vielleicht konnte er den Ärzten doch irgend etwas sagen, an das sie gerade nicht dachten.
Drei Tage später war Gustavchen tot. Der Scharlach hatte ihn dahingerafft.
Wie ein Kriegsverwundeter in den meisten Fällen anfangs nur das Gefühl eines dumpfen Schlages hat, ohne wirklichen Schmerz zu verspüren, bis dann beim Verbinden, beim Heilungsprozeß die unerträglichen Qualen einsetzen, so empfand Adolf zunächst nur eine dumpfe Betäubung. Das Unglück war zu groß, um in seiner ganzen Schwere erfaßt werden zu können. Er hörte die Worte der Krankenschwester: »Ihr Sohn ist leider gestern Abend sanft entschlummert«, aber er konnte sich nichts dabei denken.
Bis plötzlich der Gedanke: »Du wirst Dein Kind nie, nie wieder sehen!« die Wunde mit glühendem Eisen ausbrannte.
Er fand nicht die Kraft, alle jene Gänge und Meldungen zu erledigen, die in unserem geordneten Staatswesen der Tod eines Familienmitgliedes den Hinterbliebenen auferlegt. Die, ach so praktische Katharina besorgte alle diese Dinge mit der Selbstverständlichkeit und nüchternen Klarheit, die sie in jeder Lebenslage bewies. Sie besorgte den Totenschein, bestellte den Pfarrer, kaufte den Sarg, die Blumen, nähte an Adolfs Kleiderärmel den Trauerflor, telephonierte ins Geschäft, ihr Mann könne die nächsten drei Tage nicht kommen, garnierte einen schwarzen Schleier auf ihren Hut,« schneiderte sich ein Kleid für die Beerdigung.
Nichts vergaß sie; man hätte meinen können, sie hätte seit Jahren Bestattungen arrangiert.
Dann kam der Tag der Beisetzung.
Die Firma Feldmann & Schröder hatte einen Kranz geschickt, von den Angestellten waren nur Herr Heinrich Baldrian und eine der Putzfrauen erschienen, denn der Herbstausverkauf war in vollem Gang. Einige Nachbarn hatten sich eingefunden, darunter der blondlockige Herr Hippenstiel in einem frischgebügelten, seidengefütterten Überzieher, tadellos gebürstetem Zylinder und erstklassigen schwarzen Glacéhandschuhen.
Adolf sah nichts, er weinte ununterbrochen, sodaß ihm Katharina während der Ansprache des Pfarrers einen Stoß mit dem Ellbogen gab: »Was solle dann die Leut denke!«
Zuletzt schritten die Menschen an ihm vorbei, drückten ihm die Hand, murmelten irgend etwas, was er nicht verstand und nicht verstehen wollte, und dann war er plötzlich wieder zu Hause, im Dachzimmerchen, und nach einer Weile hörte er Katharina schreien: »Komm erunner, der Kaffee is aagericht!«
Sie hatte für ihn kein Wort des Trostes. Sie hatte ihm bei Lebzeiten des Kindes nie erzählt, was der Junge getrieben hatte, sie sprach auch nach Gustavs Tode nie mit dem Vater von ihm. Und als Adolf anregte, eine Photographie Gustavchens vergrößern und einrahmen zu lassen, sagte sie nur: »Des kann merr ja!«
Sie sprach kein Wort, als Adolf das Kinderbettchen aus dem Schlafzimmer hinauftrug in seine Dachbehausung und es neben seinem Bett aufstellte. Sie ließ ihn ruhig den Matrosenanzug, den Gustav Sonntags getragen hatte, hinaufnehmen und in dem Schrank mit dem kaputenen Schlüssel verwahren.
Und als dann das vergrößerte Bild vom Photographen kam, hatte sie nichts dagegen einzuwenden, daß Adolf es oben in seinem Zimmerchen aufhängte. Aber die Rechnung fand sie zu teuer.
Bindegerst, dem der Verlust Gustavchens sehr nahe ging, ersäufte seinen Kummer in Schnaps. Er war mitunter sinnlos betrunken und gröhlte dann allerhand unanständige Lieder, von denen man nicht recht wußte, wo er sie eigentlich her hatte. In seinen nüchternen Stunden arbeitete er an einem Grabkreuz für sein Enkelkind.
Und wie ehemals der Entstehung des Kinderbettes sah Adolf nun dem Werden des Totenzeichens zu. Aber sie scherzten nicht mehr bei der Arbeit, er machte keine Verschönerungsvorschläge, er redete auch den alten Bindegerst nicht mehr mit »Großvadder« an, sondern degradierte ihn zum »Vadder«.
Und acht Tage nach der Einschaufelung Gustavchens gingen die beiden hinaus auf den Kirchhof und richteten das Holzkreuz auf.
Adolf war seltsam ruhig während dieser traurigen Verrichtung, diesmal war es der alte Bindegerst, der seine Tränen nicht meistern konnte. Er jammerte ein über das andere Mal: »Wie merr der Bub fehlt … wie merr der Bub fehlt!«
Adolf konnte das Jammern nicht mehr ertragen, er schlich während der letzten Spatenstiche davon, ging hinaus in den Stadtwald, in dem der fröstelnde Herbsttag sein Totenamt hielt.
Man hat auf Gemälden oft die Pest als einen Dämon dargestellt, vor dessen Hauch alles Leben dahinsinkt. Solch ein Pestdämon ist auch der Herbst. In seinen gelben Mantel gehüllt, schreitet er über die Erde, und unter seinem Geschwür-zerfressenen Fuß sterben die Blumen und Gräser. Er haucht die Bäume an, und die Zweige verdorren, die Blätter werden vergiftet und fallen ab. Verwesung folgt seiner Spur.
Adolf warf sich auf den kalten Boden und stierte in den Himmel.
Vor langer Zeit, als ihn noch fröhliche Träume umgaukelten, hatte er inmitten blühenden Sommers hier einmal versehentlich seinen Kopf auf einen Ameisenhaufen gebettet und hatte, erschrocken auffahrend, an dieses Mißgeschick mit resigniertem Humor lächelnde Betrachtungen geknüpft. Diese Episode fiel ihm jetzt, durch eine eigenartige Gedankenverbindung, ein. Ach, wie hätte es jetzt seinen Gram gekühlt, den Kopf in einen Ameisenhaufen stecken zu können und den Seelenschmerz durch körperlichen Schmerz zu betäuben!
Wie riesige Galgen kamen ihm die entlaubten Bäume vor, die ihre leeren Äste gleich Querbalken streckten, und er dachte: »Merr sollt sich uffhenke! Da drowwe sollt merr sich uffhenke, unn der Wind dhät ein schaukele, ganz samft unn schmerzlos, unn lang sollt's dauern, bis se ein finne! Unn e Eichhörnche käm' gehippt unn dhät mich aaglotze unn dhät denke: ›So'n große Tannezappe haww ich meiner Lebdag noch kaan geguckt!‹ Unn e Vögelche käm', unn dhät sich uff mei Schulter hocke, unn ließ' sich mitschaukele! Unn wann se mich dann haamgebracht hätte, dann hätt' der ahl Bindegerst widder e neu Kreuz zu schnitzele, unn des praktisch Kättche dhät sage: ›Jedz kann ich mei Trauerkleider gleich noch emal benitze unn braach merr kaa neue aazuschaffe‹!«
Seine Gedanken verwirrten sich, und plötzlich tauchte aus der Wirrnis eine andere Episode seines Lebens auf, und er sah sich im Odenwald stehen, auf dem Gipfel des Melibokus, wie er dem Käthchen die Welt zeigte: »Guck, lieb Kättche, die Nadur, die is e groß Sparkass, viel größer als wie die Offebächer Städtisch Sparkass, unn wann merr emal in Seelennot komme, dann hewe merr aafach in dere Sparkass en Poste Erquickung unn Trost ab, – unn wann merr aach noch so viel abhewe, des Guthawe nemmt kaa End'!«
Und nun war die Seelennot da, aber die Natur spendete keinen Trost, das Guthaben war erschöpft, und er fühlte, nie wieder würde ihm diese Sparkasse Erquickung auszahlen.
Ja, Bindegerst hatte recht: das Leben ist eine Gemeinheit. Eine so unbarmherzige Gemeinheit, daß die guten Kerle, wie Adolf Borges, niemals mit ihm zurecht kommen können.
Wann des so weider geht,« sagte Herr Feldmann, dann misse merr'n halt entlasse. Der packt uns ja die ganz Waar dorchenanner, babbt die verkehrte Adresse uff die verkehrte Paketcher, – es geht net mehr!«
Der dicke Herr Schröder ließ seinen Teilhaber ausschimpfen, dann bemerkte er: »Entlasse? 'N Mann, wo so lang im Geschäft is?«
»Wann'r awwer doch Alles verkehrt mecht?«
»Wo so lang im Geschäft is?«
»Wann awwer doch alles Ermahne unn Zuredde nix hilft?«
»Wo so lang im Geschäft is?«
»Solle merr'n vielleicht for's Nixdhun unn Verkehrtmache füttern?« schrie nun Herr Feldmann wütend.
»Ja, des solle merr!« sprach der dicke Schröder mit Überzeugung. »Weil e Mensch kaa gespalte Fedder is, die merr wegwerft, wann merr se kabutt geschriwwe hat. Ich gebb's zu, der Adolf is net mehr, was er war. Seit sei Bub dod is, scheint 'm Alles worscht zu sei', unn ich habb mich schonn grie unn blau geärjert iwwer die ewig Leichebittermien‹. Dann ich will vergniegte Mensche um mich gucke, mei Lewe is merr selwer mies genuch! – Awwer entlasse? Naa, Hermann, des mache merr net. Wer emal bald dreißig Jahr im Geschäft is, der is bei merr pensionsberechtigt. Net bei 'rer Pensionsanstalt mit hunnert Paragraphe unn sechshunnert Klausle, sonnern bei der Pensionsanstalt da drin!«
Und damit schlug er sich auf den dicken Bauch, ungefähr in die Gegend, wo sein Herz saß, das zwar ein Fettherz war, aber ein sehr gutes Fettherz.
»Mach, was De willst!« brummte Herr Feldmann.
»Des is e ahl Gewohnheit von merr, daß ich mach, was ich will. Unn se is merr bis jedz gut bekomme. Also merr wern de Adolf net entlasse. Awwer en zweite Auslaafer wern merr dazu angaschiern, en junge, der em so nach unn nach die Arweit aus de Finger nemmt. Des werd's Geschäft aach noch trage könne, ohne daß es pleite werd!«
So tauchte ein zweiter Auslaufer in der Firma Feldmann & Schröder auf, und Adolf, der sich zu Hause so überflüssig vorkam, kam sich bald auch im Geschäft überflüssig vor.
»Se sollte mich dodschlage unn ausstoppe unn als Modellfigur ins Schaufenster stelle,« dachte er. »Dann dhät ich all die neue Kleider trage, viel scheenere Kleider, als wie ich in meim ganze Lewe getrage habb. Unn ich dhät e recht liewenswerdig Gesicht mache unn dhät als e bissi mit de Aage zwinkere, daß recht viel Kundschaft ereikäm unn kaafe dhät, dann der Herr Schröder is immer aastännig zu merr gewese. Nor wann der eklig Kassierer vorbeikäm, dhät ich die Zung erausstrecke. Unn vielleicht käm aach als des Kättche voriwwer unn dhät dem Prinz odder Korferscht, wo se dann geheierat hätt, des Schaufenster zeige: »Guck, des is mei erschter Mann!« Unn vielleicht dhät se'm aach sage: »Ich unglicklich Fraa! Auslaafer hätt ich hawwe könne, unn en Korferscht muß ich kriehe!«
Er lächelte vor sich hin. Ein Lächeln, in dem viel Mitleid mit sich selbst lag.
Sein Eheleben war ein unheilbar Kranker, das sah er nun selbst ein. Weder mit Gewalt, wie es Petruchio in dem Theaterstück fertig gebracht hatte, noch mit Güte war eine Widerspenstige wie Katharina zu zähmen.
»Merr secht, daß aus der ehelich Lieb mit de Jahrn die still Freundschaft erausschluppt wie e Hinkelche aus'm Ei, – awwer mei Eh' is e Windei. Da schluppt kaa Freundschaft eraus unn kaa Kameradschaft, unn wann ich noch hunnert Jahr druff erumbrüt'! Des Ei, des hat der Deiwel gelegt.«
Äußerlich freilich war seine Ehe seit einiger Zeit geruhiger geworden. Katharina machte ihm kaum mehr Szenen, sie schien es nicht mehr der Mühe wert zu halten. Sie behandelte ihn jetzt mit einem verächtlichen Lächeln, sie benahm sich ihm gegenüber etwa wie ein Lehrer, der einen Schüler endgültig aufgegeben hat. »Wozu sich noch über solch einen Menschen ärgern? Da ist ja doch Hopfen und Malz verloren.«
Adolf bekam pünktlich sein Essen, sein Zimmer wurde aufgeräumt, seine Wäsche wurde gewaschen und geflickt, – mehr hatte er nicht zu beanspruchen.
Um so eifriger beschäftigte sich Katharina nun mit sich selbst. In ihr war offenbar endlich die weibliche Putzsucht erwacht; sie, die bisher stets im Aufzug einer Aufwaschfrau im Hause herumgetobt hatte, begann plötzlich Wert auf proppere Kleidung und eine ordentliche Frisur zu legen. Sie abonnierte eine billige Modenzeitung, schneiderte sich nette Blusen, ja sie fing sogar an, ihre Fingernägel zu pflegen. Sie wurde eine gute Kundin des blondgelockten Herrn Hippenstiel.
Das Glanzstück ihrer Ausstattung war ein greller, knalligbunter Sonnenschirm, der jedem Negerhäuptling zur Zier gereicht hätte. In der Wüste hätte der Sonnenschirm sicherlich sehr dekorativ gewirkt, – in Offenbach blieben die Leute stehen, wenn Käthchen das Monstrum spazierentrug, und dachten: »Da muß e Farwe-Fabrik explodiert sei'!«
Katharina aber hatte sich von je wenig um die Meinung anderer Sterblicher gekümmert; sie fand den Schirm wundervoll, und sie machte es den Kritikern gegenüber wie der Esel in der Fabel, der behauptete, die Nachtigall beneide ihn um seine schöne Stimme.
Adolf hatte anfangs die Änderung in Katharinas Kleidung mit freudiger Hoffnung gesehen. »Se will mich an sich locke!« sagte er sich. »Se will merr widder gefalle.«
Und er beschloß, ihr auf halbem Wege entgegen zu kommen, und dachte schon daran, sein Dachstubenexil aufzugeben.
Aber der erste Annäherungsversuch wurde mit so unverkennbarem Hohn aufgenommen, daß er keinen zweiten wagte. Obwohl ihn Bindegerst dazu ermunterte.
»Du kannst sage, was De willst, Adolf, des war net gut, daß De da enuff gezoge bist! E Mann geheert bei sei Fraa! Sonst kimmt se uff dumme Gedanke! Odder hastde am End' noch die Absicht unn baust Derr e Nest uff de Schornstei' unn haust da drowwe als Klapperstorch?«
»Ich wollt, ich wär e Klapperstorch!« seufzte Adolf. »Dann könnt ich jeden Herbst nach Afrika ziehe, unn dhät merr die ahle Piramide aagucke unn dhät mit de Kamele e bissi polidisiern. Nor Kinner bringe dhät ich kaa. Dann ich glaab, ich könnt mich net trenne von dem Storchedeich. All die klaane Buwe unn Mädercher, wie se da erumplätschern in dem Deich unn uff de Blädder von dene Wasserrose Dambfschiffches fahrn, – Vadder, muß des schee sei'!«
Bindegerst ließ ihn stehen. Auch er hatte Adolf längst aufgegeben. Wenn er ihn sah, summte er vor sich hin:
»O Gummizell, o Gummizell,
Wie grien sin Deine Blätter!«
Im übrigen wich er Adolf aus, wo er irgend konnte. Es war, als habe der Alte ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen, als fürchte er, das Gespräch könne auf ein Thema kommen, über das er nicht reden wollte oder durfte. Der ehedem so geschwätzige Drechslermeister wurde immer stiller, die Schnapsflasche war seine einzige Ansprache. Sie war von der heimlichen Geliebten zur offiziellen Kaiserin gestiegen, und Bindegerst hielt es für seine Pflicht, alle zehn Minuten eine Audienz bei ihr zu erbitten.
»Vadder, da steht Dei Schnapsflasch uff'm Disch!« mahnte Adolf einmal erschrocken, als er zum Nachtessen herunterkam.
Aber Bindegerst erwiderte: »Des is net die mei'! Die geheert'm Kättche!« Das hatte ihm einen tiefen Stich ins Herz gegeben. Also auch Käthchen fing an …
Aber er hatte nichts gesagt. Er wußte ja, sein Wort galt nichts. Vielleicht hatte Käthchen ganz recht, und es war tatsächlich das beste, das Leben, dieses zweifelhafte Geschenk, von dem man nicht wußte, ob es vom lieben Gott oder vom Teufel stammt, im Halbschlaf, in der Narkose des Alkohols zu verbringen? Vielleicht haben die Eltern Unrecht, die ihre Kinder zu eiserner Pflichterfüllung erziehen, und jene Leichtlebigen sind die besseren Eltern, die die Genußsucht ihrer Sprößlinge fröhlich und ungehemmt emporschießen lassen? Vielleicht ist der Fleiß nur eine törichte Angewohnheit, und die Ehrlichkeit nur eine Feigheit?
»Ich wer's aach emal mit'm Schnaps browiern!« nahm sich Adolf vor.
Aber er brachte es nicht übers Herz. Ihn ekelte davor. »In meim Alter lernt merr nix mehr dazu«, sagte er sich resigniert. »Net emal mehr e Laster! Dreißig Jahr frieher hätt ich 's Saufe aafange solle, dann wär vielleicht e glicklicher Mensch aus merr worn!«
Und er sann: »Weshalb dhut's Kättche drinke? Hat se'n Schmerz zu bedäuwe? Is se unglicklich? Unn wann se unglicklich is, wer annerschter kann draa schuld sei' wie ich? – Awwer ich dhu err doch nix zu leid? Ich redd err doch in nix erei, ich gebb err doch Alles, was ich verdien, unn habb noch nie e Abrechnung verlangt? Awwer vielleicht is des grad der Fehler? Vielleicht faßt se des als Gleichgiltigkeit uff?«
Er spann diesen Gedankenfaden weiter, und die Frage überfiel ihn: »Lieb ich se eigentlich noch?«
Ach, das war eine schmerzliche Frage, – viel, viel peinigender als die Frage, die er sich ehemals vorgelegt hatte: »Hat se mich eigentlich noch e bissi lieb?«
Liebte er Katharina noch? Wenn er sie nicht mehr liebte, dann lastete ja alle Schuld des Unglücks auf ihm, dann war er es ja, der die Ehe entweiht hatte, dann hatte er sie durch ein Gelübde an sich gelockt, das zu halten er nicht imstande war.
Und der arme Adolf Borges, dessen ganzes Wesen lichte Güte war, zermürbte sich in Selbstquälerei: kannst Du überhaupt lieben? So lieben, daß es nicht nur Dich, sondern auch den Gegenstand Deiner Liebe beseligt?
Oder war seine Liebe nur ein süßer Eigennutz? Zuckerzeug der Seele, das man behaglich lutscht, sich einen Genuß zu verschaffen?
»Hätt' ich's iwwer 's Herz gebracht, in die Dachstubb zu ziehe, wann ich se werklich noch lieb hätt'? Hätt' ich des in de erschte Jahrn von unserer Eh' gekönnt? Da haww ich doch net eischlafe könne, wann ich se net newe merr gefiehlt habb!«
Aber ihm kamen selbst Zweifel, ob dies ein Prüfstein der Zuneigung sei.
»Merr werd doch älder, unn immer fordissimo singe, des kann kaa Mensch. Außer'm ahle Bindegerst. Is die Lieb werklich wie e geheizt Zimmer, wo merr von Zeit zu Zeit nachschürn muß, daß merr net erfriert? Kann merr die Lieb iwwerhaapts mit'm Thermometer nachmesse?«
Nein, so konnte er sich nicht über den Zustand seines Herzens klar werden. Er begann sich auszumalen, wie sein Leben wohl ohne Katharina aussehen würde?
Und da mußte er sich gestehen: nein, ohne Katharina konnte er sich sein Dasein nicht mehr vorstellen. Der Gedanke, daß sie vor ihm sterben könne, daß er sie überleben könne, war unmöglich. Katharinas Tod würde auch der seine sein.
Und er jubelte auf: »Ich lieb se noch! Gott sei Dank, ich lieb se! Net mit erer Lieb, die sich alle fimf Minute abknutsche muß, awwer mit 'rer Lieb, die wo aach des schlimmst häuslich Gewidder net entworzele kann! Ich lieb se noch! Unn wer net uffheern, se zu liewe! Grad wie de klaa Gustav!«
Er hatte sich von Herrn Schröder eine der ausrangierten Modellpuppen, die oben auf dem Speicher moderten, schenken lassen, eine jener Holzpuppen, die ehemals zum Ausstellen von Schulanzügen für Knaben gedient hatten, bis vornehmere Wachsfiguren ihnen dieses Amt abnahmen.
Diese Holzpuppe hatte er mit heimgenommen, hatte ihr Gustavchens Matrosenanzug angezogen.
Nun stand sie neben seinem Bett, und manchen Abend saß er davor, zupfte die Joppe zurecht, band ihr den Schlips und führte mit ihr die seltsamsten Gespräche.
Oder er rückte seinen Stuhl ganz dicht heran, schnitzelte aus Zeitungspapier Schiffchen und Helme, und ihm war, als höre er wieder das süße Stimmchen lispeln: »Was machß'n Du da??«
Und der Mann im Mond schüttelte den Kopf und murmelte: »Thät' er lieber Schnaps saufen! Das wär' immer noch besser!«
Im Geschäft machten sie jetzt kaum mehr Witze über ihn, – denn Witze macht man nur über Menschen und Dinge, die man innerlich ernst nimmt. Den kleinen Adolf aber betrachteten die übrigen Angestellten lediglich noch als Gnadenbrotempfänger. Der neue Auslaufer, ein fixer, mundgewandter Kerl, hatte fast alle Packarbeit an sich gerissen, und an Adolf Borges erinnerte man sich eigentlich nur noch am Tage der Gehaltszahlung.
Und auch da schien man ihn einmal zu vergessen. Denn der eklige Kassierer, der jedem Angestellten am Monatsschluß das Gehalt in verschlossenem Briefumschlag aushändigte, überging ihn. Verdutzt wartete Adolf, bis es Zeit für ihn war, die Pakete zur Post zu bringen, dann klopfte er an die angelehnte Türe des Privatkontors.
»No, Adolf, was is dann?« frug väterlich der dicke Herr Schröder.
»Ich habb kaan Lohn krieht, Herr Schröder. Ich bin vergesse worn.«
Herr Schröder sah ihn erstaunt an. »Awwer Adolf,« sagte er vorwurfsvoll, »Se hawwe'n doch schonn längst! Ihne Ihr Fraa hat'n doch vor acht Dag perseenlich abgeholt. Unn hat sich aach noch Vorschuß gewwe lasse uff's nächste Mal! Wisse Se dann des net?«
»Doch!« stotterte Adolf. »Nadierlich! … Entschuldige Se bloß … mei Kobb … mei Gedächtnis läßt mich als im Stich …«
Er lief schnell hinaus. Er fürchtete, man könne ihm seine Bestürzung, sein Entsetzen ansehen. Die Kunst der Verstellung hatte er nie beherrscht.
Als Adolf an diesem Abend das Postgebäude verließ, trat Herr Heinrich Baldrian, der offenbar auf ihn gewartet hatte, auf ihn zu.
»Gu'n Abend, Adolf«, redete er ihn an. »Wollen wir nicht 'n Stückchen zusammengehen?«
»Wann Se sich net scheniern, mit so'me schäwige arme Deiwel zu laafe«, erwiderte Adolf bitter.
»Reden Se kein' Unsinn!« sprach Herr Baldrian. »Wir können aber auch 'n Glas Bier zusammen trinken, wenn Ihnen das lieber ist?«
»Naa, Herr Baldrian, des geht net! Ich habb kaa Zeit, ich muß haam bei's Gustavche!«
Heinrich Baldrian sah ihn von der Seite an. Was sagte Adolf da?
Einige Minuten schritten sie schweigend nebeneinander.
Dann hub Herr Baldrian an: »Adolf, ich hab' heut Abend die kleine Szene zwischen Herrn Schröder und Ihnen beobachtet, – hm, wenn Sie vielleicht etwas Geld brauchen?«
Unwillkürlich blieb Adolf stehen. Er war leichenblaß geworden.
»Nun ja,« sagte Herr Baldrian, »ich geb's Ihnen gern. Wirklich. Und kein Mensch wird's erfahrn. Mein Ehrenwort.«
Er hatte noch mehr sagen wollen, aber erschrocken hielt er inne.
Denn Adolf lehnte an einem Laternenpfahl, das Gesicht in den Händen bergend, und haltloses Weinen schüttelte seinen Körper.
»Aber Herr Borges, was ist Ihnen denn? Wenn ich das gewußt hätte … Ich wollt' Ihnen ja nicht weh tun …«
Da raffte sich Adolf wieder auf, richtete seine nassen, blauen Kinderaugen stumm auf den Begleiter. Und es war Herrn Baldrian, als hätte er noch nie in so dankbare, treue Augen geblickt.
Ganz beschämt fühlte er sich, und wie abwehrend meinte er, in grenzenloser Verlegenheit: »Aber Adolf, Sie überschätzen das … Das ist gar kein so großes Opfer für mich!«
Adolf drückte seine Hand und flüsterte: »Ich waaß, Herr Baldrian, ich waaß! … Sage Se nix mehr, sage Se nix mehr … Ich waaß schonn! …«
Und nach einer Weile: »Sin Se froh, Herr Baldrian, daß merr uff der Gass' sin, unn daß die Laderne so hell brenne, – sonst dhät ich jedz vor Ihne nidderkniee … Herr Baldrian, Se wisse ja net, wie dankbar so e eisamer Mensch sei' kann!«
Oh doch, das wußte Heinrich Baldrian nur zu gut. Und deshalb sprach er im Weitergehen: »Adolf, ich bin vielleicht noch viel einsamer gewesen als Sie! Aber man muß das Leben nicht so wichtig nehmen. Schattenbilder, sonst nichts. Zur Freude am Leben gelangt man erst, wenn einem das Leben gleichgültig geworden ist. Der liebe Gott hat den Menschen aus Erde gemacht, heißt es – aber an dem Tag muß es beständig geregnet haben, und so ist der Mensch aus lauter Schmutz entstanden. Schmutz, wohin man sieht – vergoldeter Schmutz, versilberter Schmutz oder unbeschönigter, purer Schmutz. Aber das macht nichts. Das ist sogar ganz lustig, wenn man erst einmal dahinter gekommen ist. Solang man sein Glück von den Menschen erhofft, ist man zur Einsamkeit verdammt. Man muß sich jenseits des Lebens umsehen und seine arme Seele mit den überirdischen Stationen telephonisch verbinden lassen, mit der Religion, oder der Dichtkunst, oder der Musik, oder der Philosophie. Und das schönste ist: wenn man so mitten im besten Telephongespräch ist, dann merkt man auf einmal, daß das Fräulein in der himmlischen Telephonzentrale wieder einmal geschlafen hat, und daß man mit sich selbst verbunden ist.«
So redete Herr Heinrich Baldrian wohl eine halbe Stunde lang.
Aber Adolf Borges schüttelte verneinend den Kopf. »Se maane's gut, ich spier's, unn es dhut merr wohl, so wohl – awwer des is All zu hoch for mich! Ich geheer' scheints zu dem unbeschönigte Schmutz. Ich versteh nix von der Philosophie unn all dem Zeug, unn wann ich ebbes dervoo verstehn dhät, dhät merrsch aach nix nitze! Des verseehnt merr mei Kättche net, unn gebbt merr aach mei Gustavche net widder. – Gu'n Nacht, Herr Baldrian! Schlafe Se wohl! Grieße Se merr des himmlisch Delefon, – awwer ich bin e armer Schlucker unn kann merr kaan Delefonanschluß leiste!«
Dies war der letzte Abend in Adolfs Leben, an dem die Nächstenliebe seinen Weg kreuzte. Und bald dämmerte der Abend, der sein letztes bißchen Glückshoffnung in Scherben schlug.
Er saß Katharina gegenüber am Abendtisch und würgte schweigend das bescheidene Essen herunter. Das war nicht das beseligende Schweigen, das zwischen zwei Freunden webt, die des groben Werkzeugs der Sprache zur Sicherung gegenseitiger Hingabe nicht bedürfen, ein verbittertes Schweigen war es, hinter dem das Mißtrauen lauerte, ein Schweigen, das die Angst vor bösen Worten diktierte.
Katharina hatte sich nach ihrer neuen Gewohnheit so durchdringend parfümiert, daß der süßliche Geruch sogar den scharfen Duft der marinierten Heringe übertäubte. »Wo nor der Vadder bleibt?« sagte Adolf schließlich. »Die Quellkartoffle wern ganz kalt.«
»Dann soll er se kalt fresse!« knurrte Katharina. »Ich habb'm schonn zwaamal gerufe, die Gorjel kann ich merr net aus'm Hals kreische!«
Adolf aß weiter. Aber als nach einer Viertelstunde Bindegerst noch immer nicht erschien, stand er auf. »Ich wer' en hole!«
Er tastete die Treppe hinunter, auf der aus Sparsamkeit kein Licht brannte.
Das Geräusch des Holzsägens drang an sein Ohr.
Er schmunzelte. Was mochte der Alte zu so später Stunde noch für ein Kunstwerk zusammenzimmern? Welche Arbeit nahm ihn so gefangen, daß er sogar das wiederholte Zeichen zum Essen überhört hätte?
Aber plötzlich lief es Adolf eiskalt über den Rücken. Das war kein Holzsägen … das war ein langgezogenes Röcheln …
Er sprang atemlos die Stiege hinab, riß die Türe zur Werkstatt auf.
Da lag der alte Bindegerst mit geschlossenen Augen neben der Drechslerbank am Boden. Die Hände griffen mit gekrümmten Fingern nach dem Hinterkopf, aus dem das Blut sickerte, und mit dem Schnaps der zerbrochenen Flasche eine schmierige Lache bildete.
»Vadder, was is Derr?«
Adolf kniete neben ihm nieder, versuchte den Ächzenden aufzurichten.
»Vadder«, wimmerte er. »Vadder, so redd doch 'n Ton!«
Aber der Alte gab keine Antwort. Nur sein Röcheln klang noch schärfer, und sein Gesicht verzerrte sich in doppeltem Schmerz.
Adolf stand auf. Instinktiv erkannte er, was geschehen war. Der Alte hatte, wie so oft, im Schnapsrausch das Gleichgewicht verloren, war gegen die Drechslerbank getaumelt und mit dem Hinterkopf in eines der geschärften, spitzigen Werkzeuge gefallen.
»Vadder, kennstde mich dann net? Ich bin doch der Adolf!«
Er rüttelte den Bewußtlosen.
Da schlug Bindegerst die Augen auf. Seine Hände tasteten an Adolfs Ärmel. Er richtete den Kopf ein wenig empor, sank aber gleich wieder zurück.
»Willstde Wasser, Vadder? So sag doch ebbes … ich fercht mich ja so!«
Die Lippen des Sterbenden bewegten sich, aber er brachte kein Wort hervor.
»Willstde merr was sage, Vadder?«
Ein kaum sichtbares Kopfnicken.
Adolf riß ihm die Joppe auf, nestelte mit zitternden Händen den Kragen ab. Das schien dem Verblutenden wohl zu tun.
»Adolf … Adolf … ich habb Derrsch versproche … weilsde merr mit dem Sparkassebuch …«
»Awwer Vadder, des is doch jedz ganz egal, des dhut doch nix …«
»Adolf …!«
»Ja, Vadder?«
Er beugte sein Ohr dicht zu Bindegersts Mund. Aber die Worte ertranken in rasselndem Stöhnen.
Adolf umarmte den zuckenden Leib, küßte die Stirn verzweifelt.
Noch einmal kehrte das Bewußtsein auf kurze Augenblicke zurück.
»Adolf … Du bist … zu gut for se …«
»Nein, Vadder! Nein!« jammerte Adolf. »Sag des net!«
»… Adolf … des Kättche unn der Hippestiel … der Friseer … schon iwwer zwaa Jahr … Adolf!!«
Er versuchte sich aufzurichten, seine angstvoll geweiteten Augen starrten in unbekannte Ferne, »… ich wollt Derrsch schon immer … die zwaa … des Kättche unn der Hippestiel … die zwaa …«
Er ballte die Faust, sein Leib wälzte sich in der Lache, seine Linke griff in die Scherben der Flasche, zerkrallte sie. Aber er fühlte nichts mehr.
Adolf rannte die Treppe hinauf. »Kättche, der Vadder sterbt!«
Ein gellender Schrei antwortete ihm.
Dann war er allein.
Er schloß die Türe zur Treppe. Eisige Ruhe überkam ihn. Noch nie in seinem Leben hatte er die Dinge so klar gesehen.
Was geschah hier? Sein Schwiegervater starb. Gut, alle Menschen müssen sterben. Auch sein Gustavchen hatte sterben müssen. Und war doch so jung gewesen.
Aber weshalb hatte Katharina so geschrieen? Das war der Schrei tiefsten Schmerzes gewesen. Also liebte sie doch einen Menschen, ihren Vater. – Ihren Sohn, ihren Gatten hatte sie nie geliebt. Merkwürdig.
Aber mit dem Vater hatte sie ja unter einer Decke gesteckt. Die Beiden hatten ja gemeinsames Spiel gespielt, sie hatte ihn betrogen, und der Alte wußte es – seit zwei Jahren – –
Plötzlich griff er mit den Händen an den Hinterkopf, so wie es vorhin Bindegerst getan hatte.
»Ich will nix wisse!« stöhnte er. »Ich will nix wisse!«
Er ging wieder hinunter in die Werkstatt.
Da lag der alte Bindegerst ganz still. Und Käthchen saß auf dem Schemel, auf dem er einst dem Alten beim Schnitzen der Wiege und dann beim Zimmern des Grabkreuzes zugeschaut hatte, und weinte, wie er sie noch nie hatte weinen sehen.
Es trieb ihn unwillkürlich, sie zu trösten, er hob die Hand, sie zu streicheln, aber er zog die Hand wieder zurück, als habe er sie glühendem Eisen genähert. Und ging hinaus.
Und wieder kam der Zug zum Friedhof, der Pfarrer redete, die Nachbarn drückten ihm beileidsbezeigend die Hand, und Herr Hippenstiel trug wieder seinen tadellos gebügelten Zylinder und die erstklassigen schwarzen Glacéhandschuhe.
Adolf beobachtete ihn genau. Er lauerte, ob der Friseur und Käthchen einen Blick wechseln würden.
Aber Katharina hielt während der ganzen Dauer des Begräbnisses das Taschentuch vors Gesicht und schluchzte ununterbrochen.
Und Adolf dachte: »Vielleicht haww ich'n in der Uffregung falsch verstanne. Vielleicht hat er aach in der Besoffeheit net gewißt, was er redt. Odder vielleicht hat'r ganz was annerscht sage wolle, unn die Wörter sin em im Sterwe dorchenanner komme? Könnte ich'n nur aus der Erd' kratze unn en noch emal frage!«
Er nahm sich vor, Hippenstiels Laden zu besuchen. Er wollte sich rasieren lassen und dabei genau auf das Benehmen Hippenstiels und des Gehilfen achten: irgendwie würden sie sich schon verraten, durch ein Lächeln, ein Zucken der Mundwinkel, eine unwillkürliche Geste. Oh, ihm würde nichts entgehen.
Aber er führte den Plan nicht aus. Ihm fehlte die Tatkraft. Er besaß nicht den Mut, dem Unglück entschlossen entgegenzutreten. Er wußte nicht, daß das Unglück eines jener Raubtiere ist, die keinen Angriff wagen, wenn man ihnen furchtlos ins Auge sieht.
Statt sich durch rasches Zugreifen Gewißheit zu verschaffen, fing er an zu grübeln, zu kombinieren, wie es seine Art war.
Er rief sich jene Szene draußen auf der Waldbank ins Gedächtnis zurück, als Bindegerst ihn so unvermutet wegen des Sparkassenbuchs um Verzeihung gebeten hatte: »Vielleicht kimmt doch emal e Gelegenheit, wo ich mich erkenntlich zeige kann! Vielleicht!«
Was hatte der Vater damit gemeint? Hatte er Adolf damals schon die Augen öffnen wollen? War das eine Andeutung gewesen, die er nicht verstanden hatte?
Er hatte ja auch im Sterben vom Sparkassenbuch zu lallen begonnen. Sollte die Enthüllung der versprochene Dank sein?
Und wie ihm Bindegerst in der letzten Zeit ausgewichen war! Und sein Vorwurf »des war net gut, daß De da enuffgezoge bist!« Hatte der Alte deutlicher sein können? Und das Alles hatte er überhört.
»Ich bin blind«, sagte sich Adolf. »Wie die Kinner, wann se Blindekuh spiele, laaf ich mit verbunnene Aage erum, unn dapp nach rechts, unn dapp nach links, unn erwisch nix, sonnern reiß merr nor an de Bäum unn Hecke die Händ blutig! Ich bin dümmer wie die Bolizei erlaabt, unn grad uff dem Gebiet erlaabt doch die Bolizei mehr wie uff jeddem annern. Ich bin e Kamel, so groß, daß es in der ganze Wüst' kaan Blatz hätt'. Wie der Verstand ausgedeilt worn is, muß ich geschlafe hawwe. Awwer ich glaab als, der Verstand is iwwerhaapts net ausgedeilt worn, sonnern der liewe Gott hat'n unner die Mensche geschmisse, wie die reiche Leut als Klaageld unner die Buwe schmeiße, unn die Frechste hawwe am meiste erwischt.«
Konnte sich der alte Mann nicht überhaupt getäuscht haben? Wenn seine Anklage sich nur auf leeren Verdacht gründete? Einen Beweis hatte er ja nicht gegeben.
Aber war Katharinas verändertes Wesen nicht Beweis genug? Für wen zierte und schmückte sie sich? Und parfümierte sich, daß es kaum auszuhalten war? Und behandelte ihn mit offenkundiger Verachtung? Mit der Verachtung, die dem Manne, der sich betrügen läßt, nur allzu reichlich gebührt?
Adolf wußte nicht, was er glauben sollte. Denn er wollte nicht glauben. Ihm war zumute wie einem schuldigen Verbrecher vor der Urteilsverkündung. Er bebte: gibt es kein Mittel, gar kein Mittel, die Entscheidung hinauszuzögern?
Nun wich er Katharina aus, wie ehemals Bindegerst ihm. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen, nicht mit ihr sprechen. Gleichgültiges brachte er nicht über die Lippen, und den Verdacht, der ihm die Seele beschwerte, wollte er nicht preisgeben.
Er kannte aus Romanen und Zeitungsgeschichten die heroische Geste, mit der sich betrogene Gatten zu rächen pflegen. Aber zu dieser Geste hätte er sich nie aufraffen können. Denn er verspürte keinen Rachedurst. Nicht einmal richtig »böse sein« konnte er dem Herrn Hippenstiel, – nur traurig war er, trostlos traurig.
Alle Sterne seines Himmels waren erloschen, tiefschwarze Nacht umbrodelte ihn.
»Was haww ich eigentlich von mei'm ganze Lewe gehabbt? E Fußball bin ich, den wo die Herrn Feldmann unn Schröder vom Geschäft uff die Post, von der Post haam, unn von dahaam ins Geschäft gekickt hawwe! Unn wie e Fußball bin ich von alle Mensche nor mit Fußtritte beehrt worn. – Naa, daß ich gerecht bleib, e paar aastännige Mensche haww ich doch kenne gelernt: de Herr Bernheim, der merr immer sei Butterbrod zor Vesper gewwe hat, »Da, Adolf, freß!« unn de Schröder, des gutmiedig Zwaazentnerferkel, unn de Herr Baldrian, der mich zum himmlische Delefonfräulein ausbilde wollt'. Des warn gute Mensche, unn wann die groß Schnaps-Sintflut komme dhät, wo der ahl Bindegerst davoo geschwermt hat, dann dhät ich de liewe Gott bitte: »Nemm die drei mit in die Arch', se verdiene's! Die iwwerig Menschheit kannstde ruhig versaufe lasse! Mich zu allererscht! Ich kann sowieso net schwimme! Wann ich aach e Fußball bin.
Unn ich habb doch emal Wunner geglaabt, was ich for e Mordskerl bin. Damals, wie merr verlobt warn, wie ich mit'm Kättche awends am Mää spaziern gange bin. Ach, wär' ich doch damals gestolwert unn ereigeborzelt! Da hätte wenigstens die Fisch was zu lache gehabbt! …«
»Adolf,« sagte Katharina am dritten Tag nach Bindegersts Begräbnis, »des Haus geheert jedz uns!«
»Ja,« sagte Adolf, »jedz geheert's uns. Merr könne's verkaafe, wannstde maanst.«
»Schafskobb!« fuhr ihn Katharina an. »Des guckt Derr widder ganz ähnlich! Nix werd verkaaft! Awwer unne die Werkstatt unn de Lade wer' ich vermiete. Verstanne?«
Und sie führte diese Absicht sogleich aus. Als Adolf einige Tage später ins Geschäft ging, arbeiteten schon drunten die Handwerker an der Auffrischung der Räume.
Und am nächsten Mittag turnte vor dem Schaufenster ein Mann auf einem Gestell herum und pinselte in großen Buchstaben den Namen einer Firma auf die Glasscheibe.
»Gottlieb« stand da. Der Nachnamen war noch nicht geboren.
Drüben an der Ladentüre stand Herr Hippenstiel und schaute dem Malkünstler zu.
»Gu'n Dach, Herr Borges!« rief er hinüber.
Aber Adolf gab keine Antwort.
»Wann ich mich nur e bissi verstelle könnt!« murmelte er. »Wann ich nor so e bissi Katzefreundlichkeit heuchele könnt! Awwer ich bring's net fertich. So was dummes wie ich werd net zum zweite Mal geborn!«
Er ging geradewegs ins Geschäft, denn auch das Abholen der Geschäftsschlüssel in Herrn Feldmanns Wohnung besorgte längst der neue, junge Auslaufer.
»Ich glaab, se dhäte's iwwerhaapts net merke, wann ich dahaam bleiwe dhät! An mich denkt kaa Mensch!«
Mit dieser Behauptung tat Adolf Borges der Menschheit wieder einmal Unrecht. Denn gerade an diesem Nachmittag sagte der dicke Herr Schröder zu seinem Teilhaber:
»Hermann, nächste Woch' werd's dreißig Jahr, daß der Adolf bei uns is. Maanstde net, merr sollt da erjend ebbes mache?«
»Schreib emal an die Kasern, vielleicht halte se e Parad for en ab!«
»Da werd'r kaan Wert druff lege. Awwer e Geschenk könnt mer'm doch gewwe. Es braacht ja net gleich e Million koste. Unn aach'm Personal sollt merrsch sage, daß se so e klaa Feier veraastalte. Der Herr Baldrian könnt die Festredd halte, ich glaab, dem leiht so was! – Unn 's wär doch aach e Reklam' fors Geschäft, wann's in die Zeidung käm.«
»Mach, was De willst! Mir is worscht, ich bin kaa' Danzlehrer!«
Als Adolf Abends nach Hause kam, war der Mann mit dem Malgestell verschwunden.
Und Adolf las auf der Glasscheibe:
Gottlieb Hippenstiel
Coiffeur und Friseur
Ausführung aller Haararbeiten zu billigsten Preisen.
Eine unbändige Wut überkam ihn.
Also an ihn hatte Katharina den Laden vermietet. So weit trieb sie den Zynismus.
Er stürmte hinauf, bereit, Katharina zu prügeln, zu mißhandeln.
Aber schon auf der Treppe wurde er in seinem Entschluß schwankend. Was nützte es, eine Szene zu machen? Gar keinen Wert hatte es. Es war ja doch Alles aus.
Und als er vor der Wohnungstüre stand, hörte er drinnen zwei lachende Stimmen.
Da stieg er langsam zur Dachstube. Er schloß das Fenster, denn draußen regnete es.
Er nahm das Bild Gustavchens von der Wand, betrachtete es lange, lange.
Dann drehte er es um, schnitt es aus dem Rahmen, zerriß es in kleine Fetzen, stopfte sie in den Ofen und verbrannte sie.
Ganz ruhig und bedächtig tat er das.
Wie ein sorglicher Familienvater, der seine Angelegenheiten ordnet.
Dann zog er der Holzfigur den Matrosenanzug aus. Er rollte ihn zusammen, schnürte ihn mit dem Schlips fest.
Nahm das Bündel unter den Arm und stieg langsam, auf den Zehenspitzen, die Treppe hinab.
An der Wohnungstüre blieb er einen Augenblick stehen.
Und nun schlich er durch die naßtrüben Straßen, dem Main zu.
Das Bündelchen mit Gustavs Matrosenanzug hielt er dicht an sich gepreßt.
»Babba, was machß'n Du da??« frug plötzlich ein Stimmchen.
»Ich geh ins Wasser, Gustavche! Versaufe dhu ich mich!«
»Warum dann, Babba?«
»Da bistde noch zu jung dazu, des verstehstde noch net, mei Liebling.«
»Awwer 's Wasser is doch so kalt, Babba?«
»Des spier' ich net mehr, mei Kind. Ich habb kaa Gefühl mehr. Laß' mich nor mache!«
Das Zwiegespräch verstummte.
Bis nach einer Weile das Stimmchen wieder begann: »Die Mama is bees!«
»Des mußtde net sage, lieb Gustavche! Die Mama kann nix dafor. Du mußt Dei Mama lieb hawwe!«
Der Regen geißelte sein Gesicht. Er eilte, ans Ziel zu kommen.
Auf einem der großen Mainkähne saßen schwatzend drei Schiffer, in dichten Sturmmänteln und Kapuzen. Der Jüngste von ihnen spielte Ziehharmonika.
»Hastde nix plumpse heern?« frug der eine.
»Mir war's aach so! 's werd e Bierflasch ins Wasser gefalle sei'!«
»Hoffentlich kaa volle!« lachte der Frager.
Sie wandten sich wieder ihrem unterbrochenen Schwatz zu.
Und die Ziehharmonika spielte gedehnt:
»Katharinchen mit dem Selleriekopp,
Allez hopphopphopp,
Allez hopphopphopp …«
Münchner Buchgewerbehaus M. Müller & Sohn