Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ob über das weitferne Glück, endlich einmal ein Werk zu erleben, in dem sich der Mensch in der ganzen Fülle seines Lebens offenbaren würde: den Menschen zu sehen bekommen, wie er in seinem gewaltigen Umfange bis jetzt nur mit geheimem Grauen geahnt werden konnte – den Menschen, bar aller fesselnden Gesetze, losgerissen von aller Norm und befreit von der sogenannten Ethik, die sein eigentlichstes Leben mit eisernen Pflöcken als »grüne Herdenwiese« abgrenzt und das wirkliche Gebiet, in dem sich der Mensch in seiner ganzen Machtfülle entfalten könnte, für »verpestet« erklärt: der Zugang zu diesem Gebiet ist »polizeilich« streng verboten.
Es ist gleichgültig, wer hier die Polizeivollmacht ausübt: das Dogma der Kirche, das bürgerliche Sittengesetz oder gar der Staatsanwalt...
Oh über das weitferne Glück, den Menschen in einem Werk zu erblicken, in seiner »zügellosen« Freiheit der Instinkte, in seiner Uebermacht des Begehrens und Willens, der durch keine Zwangsjacke des Gesetzes zahm und kirre wird, – den Menschen, der nicht durch die ewigen Peitschenschläge des blödsinnig rasenden Dompteurs – »Gesetz« benamst – zum zahmen, blöden Herdentier herabgewürdigt wurde!
Der Künstler, der dies Wunder vollzieht, der den Menschen in seinem ganzen Umfang »entdecken« wird, kann sich rühmen, eine weit bedeutsamere Tat vollbracht zu haben, als sie Röntgen mit seiner Durchstrahlung des Menschen zu Wege gebracht hatte.
Shakespeare scheint den Menschen gekannt zu haben, aber er gab von ihm nur einen unermeßlich gewaltigen – Torso. Goethe hätte ihn geben können, aber im letzten Augenblick schrak er zurück vor der Abgrundstiefe des Schmerzes und der Qual, die er bei dieser Erkenntnis hätte durchkosten müssen. Den Menschen ahnte Dostojewski in selbstvergessener, verbissener Brunst, dieses rätselhafte Tier aus seiner dunklen Höhle an den Ohren ans Tageslicht hervorzuzerren. Mit vielem Fleiß und tiefem Ernst wagte sich an diese Tat einer der verwegensten Pfadfinder der menschlichen Seele, Emile Zola, aber seine Seele war zu eng, um den unerhörten Umfang des Horizontes zu umfassen. Mit ironischem, boshaftem, kaltem Lächeln lüftete Stendhal den feinsten Spitzen-Unterrock der menschlichen Seele. Mit mächtiger, beinahe kraftmeierischer Wucht schwang Balzac den schweren Vorhang hin und her, hinter dem sich das »unbekannte Land« verborgen hält, aber wir bekamen nur ein kaleidoskopisches Wirrwarr zu schauen, in dem kaum greifbare Umrisse zu einem grotesken Kinobild verfließen. Mit der peinlichen Gewissenhaftigkeit eines genialen Anatomen gab uns Flaubert wirklich »weiße Raben« unglaublich sauber präparierter Seelenphänomene. Mit echt flämischem Phlegma hatte Huysmans den Menschen aus der dicken Gips- und Stuckkruste herauszumeißeln versucht, von der er im Zeitalter der »Aufklärung« überkleistert wurde; in immer tiefere Schächte und Irrgänge grub sich in irrem Haß und kranker Wut das »Grabschwein« – so heißt der Dehmelsche »Dachs« auf schwedisch – August Strindberg, aber der Mensch blieb trotz all diesen Bemühungen, all diesen gierigen Mutungen und Bohrungen – unentdeckt. – Bis auf den heutigen Tag ist der Mensch in seinem ganzen Umfang, von dem ihm nur ein geringes Teilchen zum Fristen seines Daseins ausreicht, ein erstaunliches und grauenhaftes Rätsel.
* * *
Und vielleicht wäre dieses Rätsel doch schon der Lösung nahe, wenn nicht ein blödsinniges Gesetz, geheiligt durch die Kirche, die »Sitte«, die Polizei und den ganzen kirchlich-staatlichen Unfug, durch den die sogenannte »bürgerliche Gesellschaft« besteht, streng verboten hätte, an dieses Rätsel heranzutreten.
Man darf ja nicht einmal den Dingen, die unseren fünf Sinnen zugänglich sind, näher auf den Leib rücken, also Dingen, in denen es dem Menschen »erlaubt« ist, sein Dasein zu fristen. Gott behüte, daß ein Mensch sich zufällig in dem Besitz eines sechsten Sinnes wähnen sollte: ihm ist das Irrenhaus ohne weiteres sicher – und wehe dem schöpferischen Künstler, der sich erfrecht, den ihm vom Gesetz zugezirkelten Umfang für sein Forschungsgelüste in der menschlichen Seele zu überschreiten.
Der Mensch, der unserem Erkenntnisvermögen zugänglich ist, hat wie jedes andere Ding in der Natur zwei gegensätzliche Pole; in solche hat ihn wenigstens das schematisierende Gehirn zerteilt: den südlichen und den nördlichen, den lichten und den dunklen, guten oder bösen, für das Dasein gedeihlichen oder schädlichen; tausend Bezeichnungen gibt es für diese scheinbar diametral entgegengesetzten Pole, aber eben diese Pole sind in ein tiefes, undurchdringbares Geheimnis gehüllt: es ist streng verboten, sie entdecken zu wollen. Wie unendlich glücklich die Sucher der geographischen Pole, deren kostspielige Expeditionen die Gesellschaft und die Regierungen bezahlen!
Für die Seelenforschung des Schaffenden innerhalb der südlichen Sphäre, der lichten, edlen, menschenbeglückenden Sphäre ist ein großes Forschungsgebiet freigestellt, das schaffende Herdentier kann dort » sub auspiciis« der Kirche und des Gesetzes nach Belieben grasen, aber schon die subpolaren Gegenden zu betreten ist nicht ratsam und durchaus nicht zu empfehlen. Es genügt vollkommen die Legende und die Tradition, daß einstens im frühen Mittelalter dieses Gebiet von sogenannten Heiligen betreten war: Wunder sollen sich dort vollzogen haben, an die man glauben müsse, obwohl man sie innerlich belächle, der Mensch soll nach der geheiligten Tradition dort mit der absoluten Gottheit Gelübde abgeschlossen haben, kraft deren er eines Teiles ihrer Macht teilhaftig wurde und hier auf Erden Dinge verrichtete, die bis dahin noch kein menschliches Auge gesehen. Aber näher auf diese Dinge einzugehen – non oportet – es genügt vollkommen, an sie zu glauben; die Kirche hat der heiligen Wundermänner mehr als genug und will durchaus nicht, daß jemand diese gefährlichen Pfade, die am Ende noch zu einer Irrlehre führen könnten, betrete.
Und hier auf dieser südlichen, der lichten, guten, gesetzmäßig geordneten Hemisphäre haust der lebensfrohe, zuversichtliche, sonnige Geist, der die ganze Welt in einem Lichtglanz badet, der Geist des Mitleids, soweit es sich nicht um den Geldsäckel handelt, der Vergebung, soweit nicht eine Uebertretung des Gesetzes in Frage kommt, der Demut, solange es sich nicht darum handelt, auch die andere Backe hinzuhalten, wenn man auf die erste einen Schlag bekommen hat; hier »schlafen die Ordentlichen« nach Richard Dehmel, und hier walten die Geister der Gerechtigkeit, die streng die Rechte der Abkömmlinge von Sem, Japhet, Cham auseinanderhalten und ihre Uebertretung mit allen Mitteln des Gesetzes nach Gebühr strafen, wobei das Strafmaß entsprechend der Abstufung der Geschlechter in maßvoller Weise geregelt wird.
Freilich ist es vorgekommen, daß diese ordinäre » joie de vivre«, das höchste Gebot der »Ordentlichen« in eine verzückte Ekstase ausartete, in die heiligste Glückseligkeitsempfindung, Eins mit Gott geworden zu sein; aber auch hier stößt der durch die Individuation vereinsamte Bruchteil der Menschheit, der sich nach einer Erklärungsmöglichkeit seines Daseins und seiner wirklichen Berechtigung sehnt und den es nach dem Glück der Ekstase gelüstet, um sich in ihr einen Ueberwert seines im tiefsten Grunde armseligen Lebens zu schaffen, auf ein strenges Verbot, sich in die Sphäre der gefährlichen Mystik zu begeben: denn hier sei der Mensch führerlos und jeglicher Gnade des Dogmas bar. Und wehe dem, der das Sicherungsseil des Dogmas losläßt!
In dieser Sphäre entwickelt sich alles nach den einfachsten merkantilen Gesetzen des gewöhnlichen Handels. Dazu sind eben jene »beliebten« und »hochgeachteten« Künstler da, um diesen armseligen, widrigen und schmutzigen Handel so zu veredeln, seine trüben Quellen mit dem Gotteshauch ihrer Inspiration so zu reinigen, den Unrat mit der ethischen Größe ihrer Redekünste zu versonnen und den Dung mit dem balsamischen Weihrauch der Tugend zu parfümieren, daß der Gestank – duftet.
Die andere Sphäre jedoch, die nördliche, jene trübe, finstere, düstere Sphäre mit ihrem Nordpol: die Sphäre » ab umbilico et inferius«, wie der Katharer es sagen würde, ist ein völlig unbekanntes Land, und wehe dem waghalsigen Narren, der sich in dies Gebiet waghalsig begibt.
Diese nördliche, finstere, schreckvolle, jeglicher »Ordnung« höchst gefährliche Sphäre bewohnt Alles das, was sich aus dem qualvollen Joch des Gesetzes befreit, sich aller Norm entschlagen hat. Alles das, was den breitgetretenen Weg, den alle Menschen gemach und sicher beschreiten, verachtet und auf dunklen Pfaden und tausend gefährlichen Schleichwegen »irrt«. Alles das, was sich durch tiefes Schattendunkel der Nacht hindurchstiehlt und das blödsinnige, verdummende Tageslicht scheut. Alles das, was infolge seiner Unbotmäßigkeit und Unfähigkeit sich dem blödsinnigsten aller Gesetze, dem » consensus omnium« zu unterwerfen, für vogelfrei erklärt wurde, denn dieses außer Rand und Band geratene Element stört den Burgfrieden, mißachtet die höchste Bürgerpflicht: »die Ruhe und die Harmonie der Herde«, und der Pol dieser Sphäre, das ist das gefährlichster Wagnisse volle Verlangen jenes durch Individuation vereinsamten Bruchteiles der Menschheit, sich durch wilden Protest, durch ein schrankenloses » liberum veto«, durch ewiges höhnendes Nein-sagen zu allem »Ja« der bestehenden Ordnung in die Quere zu stellen – das ist die gierige Sehnsucht und brünstiges Verlangen, sein Dasein sich zu erklären und es zu begründen durch Umsturz und Aufruhr – die düstere, verzweiflungsvolle Sehnsucht, die sich durch das Zerbrechen aller bestehenden Gesetzestafeln und jeglicher Norm erlösen und befreien will – wozu?!
Das weiß sie nicht, denn in dieser Sphäre gibt es keine Sicherheiten, es gibt keine feststehenden Eckpfeiler, die da »Gesetz« benamst werden und »ruhiges Gewissen« – hier gibt es keinen Handel, der selbst dem Gott durch vieles Feilschen alles abhandeln kann – hier gibt es nur einen finsteren, trotzigen, unnachgiebigen Zorn, ewige Qual und wilden Schmerz – hier wird das Verbrechen geboren und hier brennt lichterloh das Fanal des Aufruhrs und der Empörung, hier hört man nichts als das Zähneknirschen des Hasses und der tollwütigen Raserei. Hier gibt es nur ein einziges Gefühl über alle Gefühle: das der Verdammnis, und hier feiert die strenge Rache der »Gerechten«, die durch diese besessenen Satanskinder fortwährend beunruhigt und gefährdet werden, kraft übermächtiger Gesetze ihre blutrünstigen Triumphe.
Die Hemisphäre des »weißen« Gottes, um in der Sprache des Katharer zu reden, fand hier ihren gefährlichen und mächtigen Feind, der nur durch die Uebermacht in Schranken gehalten wird, aber den sie beständig fürchtet: denn dieser Feind ist über alle Maßen verlockend durch seine luciferische Schönheit, seinen trotzigen, schrankenlosen Wagemut und seine teufelsbesessene Kraft, die den Pelion auf den Ossa stülpt.
Die Kirche fürchtet den lockenden Zauber der Sünde und verbrennt, wo sie nur kann, das herrliche, wundersame »Unkraut«: » fleurs du mal«; der Staat und die Gesellschaft ängstigen sich mit vollem Recht vor der berückenden Schönheit des Aufruhrs und des Umsturzes und Jenes vor allem, das mit trotzig erhobener Stirn, die in den Himmel hineinragt, von seinen Blitzen umstrahlt, von seinen Sturmorkanen umbraust, von einer Ewigkeit zur anderen dahinschreitet: des »Fortschrittes«.
Man mißverstehe mich nicht. Es ist nicht der dumme kleinkleinliche, liberale Fortschritt der freisinnigen Parteien!
»Fortschritt« in meinem Sinne ist Alles, was die einmal festgesetzte »Ordnung« umwälzt, was die ganze stabilisierte Harmonie durcheinanderwirft. – »Fortschritt« in meinem Sinne, das ist das Gebiet, in dem sich der Sturz der uralten, durch Tradition geheiligten Götzenbilder vollzieht – das Gebiet des ewigen Aufruhrs gegen Autoritäten und die »ein für allemal« festgelegten Gesetze und Normen – das ist das sumpfige Brachland, auf dem beständig zügelloses Verlangen irrlichtet und zerstörende Sehnsucht – ein Pfuhl des Drachenblutes, in dem der Satan die menschlichen Seelen badet und sie für alle irdischen Qualen »immun« macht und sie, härter als ein Granitfels werden kann, in ihren »Sünden« verstockt.
Freien Zutritt zu diesem Gebiet haben nur die Richter und die psychiatrischen Kapazitäten.
Nie noch wurde ein feindliches Okkupationsgebiet mit einer dümmeren, geistloseren Strenge und so sinnloser Beserkerwut verwaltet, als gerade dieses durch die »berufenen« Organe der »lichten« Hemisphäre.
Der Zutritt und der Aufenthalt in diesem Gebiet ist fürnehmlich dem Künstler auf das strengste verboten, und wenn einer dieses verruchte, mit dem schwersten Interdikt belastete Land zu betreten wagt, kann er gewiß sein, daß er von der Gesellschaft ausgestoßen und außerhalb ihrer Grenzen verwiesen wird.
Und doch! Ein trotziges höhnisches » quand même!«. Trotz aller Verbote, trotz aller Androhungen des kirchlichen und staatlichen Fluches, findet man doch in jeder Nation eine Handvoll Künstler – » poètes maudits«, wie sie Verlaine nennt – ein paar » Certains«, die Huysmans bewundert, deren Werke man in der »Giftkammer« der Bibliotheken verfaulen läßt, sie einem Autodafé übergibt oder neuerdings der wüsten Verfolgungsbrunst des Staatsprokurators überweist. Und in diese kleine Schar der »unsittlichen« Künstler, der »Verführer« einer frühreifen Jugend (Sokrates gehörte auch zu diesen »Verführern«), zu diesen mißratenen Verbrechern an jeglicher »Sitte« – gehört in Deutschland neuerdings Hanns Heinz Ewers.
* * *
Um die Bedeutung und den innersten Wert des Ewersschen Werkes verstehen zu können, muß man den Mut haben, sich in jene Sphäre hineinzuwagen, in der es sich voll und ganz auslebt oder austobt, wie man will: das heißt in die Sphäre des Bösen, und weiter noch hinauf in die subpolare Sphäre der Mystik des Bösen, um dann endlich zum eigentlichen Pol zu gelangen, wo Satan-Wahnsinn, Satan-Verbrechen, Satan-Prostitution und in der tiefsten Finsternis Lucifer, der heiligste Lichtbringer, seine Herrschaft begründet hat – also dorthin, wo das Böse etwas Absolutes geworden ist, und wo sich demgemäß die armseligen Begriffe von »Gut und Böse« gegenseitig aufheben.
Wir kennen ja weder das Gute, noch das Böse »an sich«, wir sehen nur gewisse Aeußerungen, die wir je nach dem Nutzwerte als gut oder böse bezeichnen – aber Gut und Böse sind nur ganz armselige Gedanken-Kategorien, ein einfältiger Notbehelf des menschlichen Gehirns, das ohne »Kategorien« sich nicht helfen kann.
Der Mensch, »ethisch« gewertet, ist ein abstruses Unding. Man denke sich ein Wesen, eingepfercht in einen Käfig mit zahllosen eisernen Stäben von Gesetzesparagraphen, Normen, Übereinkünften, feststehenden »eisernen« Notwendigkeiten, ein Wesen, eingeengt, verschüchtert, verängstigt durch tausend Androhungen schärfster Strafmittel, unfähig sich irgendwie in seinem innersten Sein zu äußern, weil es überall an Wolfsgruben, Verhaue, Stacheldrähte und verpestete Gasatmosphäre stößt – wo ist da die Möglichkeit gegeben, den Menschen, wie er ist, kennen zu lernen?!
Das, was wir als den Menschen kennen, sind nur ganz elende und geringe Ausschnitte vom Menschen, die lediglich in weitferner Analogie an ihn erinnern, oder vielmehr ihn nur »ahnen« lassen.
Unendlich mühsam, steil und halsbrecherisch der Pfad, auf dem man kreuz und quer sich hinaufschleppen muß auf der Suche nach dem Menschen, dem, der sich nach außen hin in dem kurzen Wörtchen: »Ich« kundgibt – jener individuellen Einheit, die sich über das Tier hinweg hinausgerungen hat.
Es ist schon lange her, da auch ich auf die Suche nach diesem »Ich« – der Kluft, die den Menschen vom Tier trennt – ausgegangen bin.
Das Ich, sagten mir die Einen, das ist das große Uebergehirn, das über dem anderen steht, es kontrolliert und es in sein Machtbereich einverleibt hat – das Ich ist das Ueberbewußtsein, das Apperzipierende, durch welches das Perzipierte existiert, das ist der Ueberwille, der über die motorischen Energien verfügt, der die Leitungen in Kontakt setzt und sie nach Belieben wieder ausschaltet ...
Das ist das Ich, das sich im Besitz des »freien Willens« wähnt.
Das Ich, sagten mir die Anderen, das ist das Konstante und Absolute, das Einheitliche in dem Mannigfaltigen, das Unveränderliche in allem Wechsel: Ich als Ich bin der Anfang und das Ende der Welt, Ich bin der große Herr des Daseins, da alles nur durch mich existiert, da alle Dinge nur in mir sind ...
Ich als das absolute »Ding an sich«!
Und wieder Andere sagten mir von diesem »Ich« noch andere Dinge – ich erinnere mich nicht mehr genau, was für welche – und so begann ich auf eigene Faust den Menschen zu suchen.
Das, womit wir leben, womit wir im gewöhnlichen Leben auskommen, was wir die Identität des Ich nennen, das sind nur die im Verlaufe des persönlichen Lebens erworbenen Eindrücke, die sich in der Erinnerung in derselben Aufeinanderfolge präsentieren, in der sie erworben wurden; sie sind jedoch nur der kristallinische Schiefermantel, welcher den unbekannten Erdkern einhüllt.
Neben der Landschaft, durchfurcht von Eisenbahnschienen und umsponnen von Telegraphennetzen, ruht in der Tiefe des Gehirns eine scheinbar ausgestorbene silurische Landschaft mit erstarrten Gletschermassen, mit klaffenden Schütterlinien, mit einer riesigen fossilen Flora: Sigillarien, Stigmarien und Farrenkräutern.
Durch irgendeinen Anlaß kann diese erstarrte silurische Landschaft wieder lebendig werden: die Gletschermassen kommen in Bewegung, wie ein gewaltiger Archipelag von riesigen Blättern zeichnen sich die Kronen der silurischen Baumriesen gegen den glutheißen, roten Himmel ab und im entsetzlichen Grauen hört der Mensch in seinem armen Ich-Umfang das Brausen der Flügel vorweltlicher Archäopteryxe oder das dröhnende Gestampfe von Iguanodonten.
Neben dem Ich, jener kleinen Kette persönlicher Erfahrungen, oder vielmehr in ihm selbst, steckt der Mensch mit dem halbwachen Hirn, das nur wenige Eindrücke imstande war aufzunehmen und auf alle Außeneindrücke mit ungeheurer motorischer Explosion antwortet, jener von Ewers mit überlegener Kunst in seinem »Zauberlehrling« geschilderte Höhlenmensch, in welchem der sensitive und motorische Strang eine einzige Leitung darstellten, deren Verlauf noch durch keine Zwischenstationen, die die jeweilige sofortige Auslösung hindern konnten, unterbrochen wurde.
Und, wo bleibt denn mein armes »Ich«, wenn plötzlich ein einziger, vielleicht ganz unbedeutender Eindruck in das Gehirn hineinkommt und den ganzen Gehirninhalt in Schwingungen bringt, wenn alsdann das Menschtier plötzlich auflebt und die ursprünglichsten Assoziationen, die sich in dem Gehirn des Urmenschen festsetzte, zu gefährlichen Kräfteherden werden? – wo bleibt da mein ratloses »Ich«, das mit seiner eigenen Erfahrungssphäre nur dem eigenen Leben angepaßt ist, wenn plötzlich durch irgendeine Gefühlsirradiation Eindrücke, die die Urahnen empfangen habe, und die sich als physiologische »Spuren« auf das kommende Geschlecht vererbt hatten, von ihrem tausend- und abertausendjährigen Schlaf wachgerufen und die alten mitvererbten Leitungsbahnen, die der Mensch in seiner Seele nie geahnt, wieder erneut werden, und, einmal in Gang gebracht, die ganze Kette, ihm bis dahin völlig unbekannter, völlig fremder, grauenhafter Eindrücke sich von selbst abwickelt? – wo bleibt da das Ich, das » tout de coalition«, und zwar » coalition« meiner armseligen dürftigen Erfahrungen von Außen und Innen, wenn es plötzlich vor der Abgrundstiefe seltsamer Phänomene in seiner eigenen Seele stehen bleibt, einer Tiefe, aus der es mit seinem ganzen Erfahrungsumfang auch nicht das Unscheinbarste herausangeln kann?
Es gibt eben Milliarden von Leitungssystemen, vor denen das Leitungsnetz meines bewußten Ich so viel bedeutet, wie ein »winziger Tropfen am überfüllten Eimer«, um mit Klopstock zu reden – und gerade diese unbekannten Leitungssysteme sind es, in denen sich der ganze bas-fond unserer Seele abspielt. Neben den bewußten Zuständen – und ihr Umfang ist äußerst gering –, in denen das Ich immer als ein konstituierendes Glied auftritt, wickeln sich hier unterbewußte Vorgänge ab, die ich nicht als zu mir gehörig betrachte, die von etwas Fremdem ausgeführt zu sein scheinen, einem Dämon, der über dem Ich steht.
Mein armes, durch tausend armselige Freuden und noch armseligere Schmerzen zerquältes Ich! – das Ich mit seinem Gewissen, seinen Pflichten und der monströsen Unmasse von Gesetzesparagraphen – ist es nicht nur ein schmales Ausguckslöchlein in ein unerhörtes, unfaßbares Dschungel, übervoll von grausigen Fahrnissen, zerstörenden Miasmen giftiger Sümpfe und verräterischer Moortriften, darin sich das Leben, unbekümmert um alle Wertungen, in souveräner Majestät, in beständiger Mordbrunst zu neuen Entwicklungsmöglichkeiten hindurcharbeitet!
Ohé les psychologues!
* * *
Armselig und dürftig ist unser Wissen um die menschliche Seele, weil wir den Menschen aus dem ungeheuren Umfang der ganzen Sphäre, in der er lebt, herausgerissen haben. Und selbst diesen, unserer Erfahrung zugänglichen Menschen kennen wir ebensowenig, wie der Mensch des Altertums oder des Mittelalters seine »Erdscheibe« gekannt hatte, auf deren größtem Teil er immerwährend » terra incognita«, oder » hic sunt leones« hineinschrieb – doch hat er sich ahnend diese »Erdscheibe« von einem mythischen, geheimnisvollen »Okeanos« umspült gedacht.
Und auch die »Scheibe«, die meinen Sinnen und meiner Erfahrung zugänglich ist, die das Gehirn in zwei Hemisphären – die gute und die böse – zerstückelt hat und auf der tausend leere Stellen dank dem strengen Verbot, diese Gegenden zu erforschen, mit » terra incognita« überschrieben sind: auch diese Scheibe, die wir den »Menschen« nennen, ist rings von einem geheimnisvollen Okeanos umflossen und in dieser Sphäre, diesem » mare tenebrarum« lebt der eigentliche Mensch, läßt sich ohne sie nicht denken, und aus ihr herausgerissen ist er nichts weiter als eine Art in der zoologischen Systematik: ein stupider » homo sapiens«, das letzte Glied in der Darwinschen Entwicklungskette.
Im Spektrum existieren außer den sichtbaren Strahlen unsichtbare ultraviolette und ultrarote, unter deren Einfluß sich die geheimsten Lebensvorgänge abspielen sollen. Und rings um die menschliche Seele ergießt sich ein Okeanos von Ultrarot und Ultraviolett, dem Menschen völlig unbekannt, kaum, daß er ihn zu ahnen vermag, aber das ist eben die Riesensphäre, in welcher der Mensch in seinem ganzen Umfang wirklich und tatsächlich lebt – aus ihr entwurzelt bleibt er ein toter Schemen, ein verrenkter Mannequin, oder ein literarisches Papiermaché-Produkt.
Das, was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist lediglich nur dieses: daß für das Tier das Leben als solches völlig genügt und ihm Endziel ist – der Mensch jedoch hat, selbst auf der niedrigsten Stufe, eine dumpfe Ahnung, daß der Umfang des Lebens, das er durch Erfahrung kennen gelernt hat, nur einen Schein bedeutet, hinter dem das eigentliche Leben sich abwickelt.
Das Tier kennt keine Zukunft, der Mensch wächst beständig in die Zukunft hinein, er müht sich ab in sie hineinzudringen und sie zu erforschen: in dies Leben hinter dem Lebensschein, mit dem sich das Tier begnügt, versucht er sich hineinzulisten, denn er ahnt und weiß, daß dort die kostbaren Schätze aller Geheimnisse des wirklichen Lebens versteckt sind.
Und das Tier kennt keine Vergangenheit. In dunkler Ahnung errät sie der Mensch, der sich die »Krone« der Schöpfung nennt und trotz aller Analogien, die ihn mit dem Tier verbinden, doch das chaotische Bewußtsein hat, daß er den synthetischen Umfang der ganzen Tierwelt von der Amöbe bis zum Affen hinauf bedeute, und noch darüber hinaus: daß er ein Etwas sei, das außer dem Umfang des ganzen Tierdaseins noch etwas anderes darstelle: nämlich den Ueberwert des universellen Seins, und daß er somit über das tierische Sein hinauswachse.
Und in diesem dunklen, aber nichtsdestoweniger sicheren Bewußtsein, daß er – homo sapiens – den Ueberwert des tierischen Seins bedeute, wurzelt der Glaube, daß er nicht das endgültige Ziel noch das Ende der Schöpfung sei, im Gegenteil: ein großes Gebiet ist zu überschreiten, das ihn von dem absoluten Sein trennt.
Nur daß der Mensch sich diese Zukunft völlig falsch vorstellt. Gezwungen in der Zeit zu leben, glaubt er an diese Zukunft, als an ein Etwas, das erst nachfolgen soll, das er erst erleben wird, und inzwischen lebt er schon in dieser Zukunft, lebt in ihr und mit ihr selbst, ebenso, wie er in jedem Augenblick das »Vergangene« durchlebt, denn Zukünftiges und Vergangenes ist nur in unserem Hirn etwas Getrenntes, in Wirklichkeit ist es ein ewig Gegenwärtiges, und dieses Gegenwärtige ist uferlos.
Und nur in dieser Gegenwart, die gleichzeitig Vergangenheit und Zukunft ist, steckt die ganze »Fülle« des Lebens, dessen Umfang wir mit unserem Hirn nicht erfassen können; wir erhaschen nur kleine Ausschnitte, bunte Fetzen, sehen nur die demantnen Lichtnadeln, die man an schwülen Mittagen auf dem Seespiegel umhertanzen sieht.
Dieser Umfang des Seelenlebens: die unfaßbare, ewige Gegenwart alles Seins in meinem Sein und des heiß ersehnten Seins hinter jenem, das meine Sinne wahrnehmen, – das ist der mythische Okeanos, der die Erdscheibe in unendlichem Gewoge umspült, ohne den sich der Grieche die Erde nicht denken konnte – das ist die Sphäre des »astralen« Leibes, in welcher der neuzeitliche Okkultist den Menschen sieht, die Sphäre der »nackten Seele«, an deren Wirklichkeit der Verfasser dieses Prolegomenon zum Ewersschen Werke inbrünstig glaubt, und hier in dieser Sphäre soll man den Menschen suchen, nur muß man den gefährlichen Wagemut haben, sich auf die unbekannten, tückischen, verderbendrohenden Fluten des Okeanos zu begeben, sich in das Gebiet des Ultrarot und Ultraviolett hineinzuwagen, um wenigstens ein Handvoll von Neuerde aus dem Unbekannten herauszustehlen.
Viel Mut gehört dazu, um in diese Sphäre einzudringen, denn der Zugang zu ihr ist durch das bürgerliche und kirchliche Gesetz streng verboten und jedem dieser waghalsigen, tollkühnen Forscher droht der schwerste Bann.
» Poétes maudits« waren Baudelaire und Verlaine und Rimbaud, in der Hölle der Giftkammern moderten die Werke eines Barbey d'Aurevilly oder eines Villiers de l'Isle-Adam, mit dem schwersten Fluch wurde sogar »Madame Bovary« belastet, – ganze Bände müßte man anfüllen, wollte man nur die wichtigsten Werke, in denen ihre Schöpfer auf die Suche nach der menschlichen Seele ausgegangen sind, anführen, die vom Bannstrahl des gesetzlichen Interdikts getroffen wurden – und dasselbe Schicksal trifft das Werk eines der Mutigsten unter den deutschen Künstlern: Hanns Heinz Ewers'.
* * *
Um den Menschen zu »entdecken«, muß man den Menschen aufsuchen, der sich in keine zoologische Systematik einreihen läßt, den Menschen in seiner ganzen Lebenssphäre, von der uns nur ein winziger Ausschnitt als ζωων πολιτικον des Aristoteles, oder der Ueberaffe: » homo sapiens« im Linnéschen System bekannt ist, man muß eben in die Sphäre des Ultrapurpurs und des Ultravioletts hinabtauchen, um hier den »Menschen« zu finden. Hier suchte man ihn tastend und unbewußt schon im Mittelalter, als die Menschheit im unerhörten Ueberschwang sich über die Grenzen des Empirischen hinüberhob und in die Sphäre, die sie von der Gottheit trennte, bereits siegreich einzudringen schien.
Nach dem Menschen suchten die Hagiographen, die naiven Biographen der »Heiligen« und mit nicht geringerem Fleiß und Erforschungsdrang fahndeten nach ihm die »Diabologen«, die mit unermüdlichem Eifer und verwegener Wachsamkeit und Hinterlist das Gebiet der menschlichen Seele zu erforschen trachteten, das jenseits des Erfahrungsdaseins liegt, zu dem sich der Mensch mit wilder Gier hinsehnt, und dessen sicherste »Anamnesis« er in sich trägt – und zwar nicht die »Anamnesis« des tierischen Daseins – Blödsinn! – aber das sichere Wissen um jene Macht, die den Menschen weit über das Tier hinauszuheben sucht, oder ihn bereits außerhalb dieser, dem Tier vorgeschriebenen Grenzen gestellt hat.
Hagiographie und Dämonologie sind gleichwertige Dokumente der ungeheuren Anstrengung des menschlichen Hirnes, den Menschen zu »entdecken«: Für die zeitgenössischen Skeptiker, Snobs, » Dernier cri«-Jäger vielleicht lächerliche, banale und rohe Versuche und, wie es scheint, nutzlose Kräftevergeudung in der einen oder der anderen Richtung: für einen tiefschürfenden Geist dagegen ein erstaunliches Zeugnis dafür, wie der Mensch sich zu allen Zeiten qualvoll abmühte, auf jedwede Art in das Gebiet hineinzudringen, in dem sich das Wunder über alle Wunder vollzog, daß der Ueberaffe Mensch wurde.
Im eigentlichsten Grunde gibt es nicht den geringsten Unterschied zwischen dem Menschen, der sich in das Gebiet des Lichtpoles hineinwagt, also dem »Heiligen«, und dem »Diener des Satans«, der in die dunkelsten Abgründe der Nacht hinuntersteigt.
Der eine sowohl, wie der andere ist mit »übernatürlichen« Kräften begabt, die ihn die Grenzen des Erkennens, der engen Erfahrungssphäre überschreiten lassen; die weit über das Menschenmögliche hinausreichende Intensität der Anspannung aller Geisteskräfte, aus sich selbst herauszugehen, um in die »Zukunft« hineinzuwachsen, ist die gleiche: die gleiche Veranlagung, von Visionen des Seins vor der Geburt und des Seins nach dem Tode heimgesucht zu werden, dieselbe Gnade des unmittelbaren Verweilen-könnens in dem Gebiet des »Okeanos« – und nur in ihren Folgeerscheinungen sind die Phänomene dieser übermenschlichen Macht diametral verschieden; und deswegen wurde in dem Leben der Gesellschaft die Notwendigkeit unabwendbar, eine und dieselbe Kraft, je nach ihren für die Gesellschaft nützlichen oder schädlichen Aeußerungen verschieden zu »werten«.
Auch sonstige Analogien gibt es in Menge:
Das, was das menschliche Gehirn in Gott und Satan zerspalten hat, ist ein unzerreißbares »Eines«, dieses Eine, das noch der alttestamentarische Jahweh ist, der weit häufiger das Gesicht des rachsüchtigen, boshaften, hinterlistigen Satan zeigt als das eines gütigen Vaters, eines gerechten Gottes. Ganz dieselbe Kraft ist es, die lichte Wunder verrichtet, wie jene, die sich in der schwarzen Magie offenbart – die Nacht des Gebetes, und die einer magischen Invokation; dieselbe Kraft äußert sich in den wunderbaren Heilungen und dem Vom-Tode-auferstehen-lassen, welche mit dem » mal occhio« den Zauber auf den Menschen wirft und ihn dem Siechtum verfallen läßt, oder mit Hilfe magischer Einwirkungen ihn »telepathisch« dem sicheren Tod übergibt.
» Theló, theló manénai! « das ist der Refrain des heiligen Gesanges, der bei den orgiastischen Kulten der Griechen gesungen wurde – »ich will, ich will rasen!« ich will mich aus den Grenzen, zwischen denen es mir erlaubt ist zu leben, herausreißen, denn ich weiß, daß ich hinter diesen engen Schranken in eine Sphäre hineingelange, in der ich mich – das weiß ich ebenso sicher – in dem vollen, unendlich großen Machtbezirk, der meiner Seele zugewiesen ward, ausleben kann.
Und dieses theló, theló manénai schrie in heiligster Ekstase die heilige Theresa mit ganz derselben Brunst, wie die satanisierte Madaleine Bavant; denselben Refrain sang der seraphische Franciscus von Assisi, als er in dem Ozean der Glückseligkeit und übermenschlichen Anspannung der geheimsten Seelenkräfte untergetaucht war, wie ihn ein Gilles de Retz in die Nacht hinausbrüllte, als er aberhunderte von Kindern in seiner über jegliches Verstehen gesteigerten Brunst Satan zum Opfer darbrachte.
Die »weiße« und »schwarze« Magie sind im Grunde ganz dasselbe, sie unterscheiden sich nur in den Mitteln, deren sich die eine oder die andere bedient und durch welche die für unser Gehirn als »gut« oder »böse« bewerteten Folgen in Erscheinung treten.
Das haben die alten Diabologen sehr gut verstanden, ein Bodinus, Grillandus und vor allen Dingen Glanvil in seinem prachtvollen Werkchen » Saducismus triumphatus« – tief und eindringlich bis in die innerste Wurzelverfaserung der für das menschliche Gehirn getrennten Magie und Mystik hat der letzte der Diabologen und Hagiographen zugleich, Görres diese Einheit in seinem klassischen Werk: »Die christliche Mystik« dargelegt und, ausgerüstet mit allen modernsten Errungenschaften der Wissenschaft, für die er im letzten Grunde nur ein verächtliches Hohnlächeln hat, dringt nun Ewers in die geheimsten Schächte der menschlichen Seele, in denen das Heiligste und das Infamste in seliger Umarmung ruhen, seraphische, überirdische Liebe mit der wüstesten Prostitution sich miteinander paaren, das grausigste »Verbrechen« mit einer über alles Maß hinausragenden Tugend einen burlesken Cancantanz aufführen.
Nur dieser eine Unterschied besteht zwischen dem Heiligen und dem »Magier«, ich meine den Adepten der »schwarzen« Magie, daß dasselbe Gefühl der Ueberschreitung der Norm sich in dem einen Falle als höchstes Glück und inbrünstigste Seligkeit äußert, in dem anderen aber als Schmerz, Qual und Verzweiflung und als Synthese der gesteigerten Schmerzgefühle: als Gefühl der Verdammnis.
Das Satanskind bejaht eigentlich die Macht des Gottes und seine Unantastbarkeit, weiß, daß es ein » crimen laesae maiestatis« begeht, wenn es ihn lästert und seine Gesetze mit Füßen tritt, weiß, daß es nicht mehr erlöst werden kann und sich bedingungslos der Hölle verschrieben hat – das Satanskind glaubt an Gott und die Heiligkeit des Gesetzes und darin steckt seine ganze Tragödie und die düstere Macht, die das »Grauen« hervorruft.
Ein solcher Mensch durchbricht wissentlich das Gesetz, das für ihn denselben Wert bedeutet, wie nur für irgendeinen der »Ordentlichen«, und begeht seine verbrecherischen Taten in dem vollen Bewußtein der Schuld, der Sühne und der Verdammnis; er zerreißt damit noch eine stärkere Nabelschnur, als die, welche das Kind an die Gebärmutter heftet – warum? weswegen?
In dieser Frage liegt auch schon die Antwort.
Der Mensch ahnt, daß um ihn herum die Sphäre des Unbekannten, Unerforschten liegt, die Sphäre, die sein eigentlichstes Sein bedeutet, und in sie hinein will er durch alle Schranken eindringen, gleichgültig welche Gesetze er dabei übertritt und gleichgültig welche unermeßlichen Qualen er auch danach erdulden sollte.
Und nirgends, in keinem noch so tief geoffenbarten Worte hat sich das Wissen um die Sphäre, die den Mensche von dem so überaus nah angrenzenden Gebiet des Absoluten trennt, so unheilschwanger ausgedrückt, wie in dem verruchten, als ein fressendes Gift der menschlichen Seele eingeimpften Versprechen:
Eritis sicut Deus!
Dieses Versprechen hat über die unglückselige Menschenbrut eine solche Hölle von Qualen, einen solchen Abgrund von Elend und Unheil gebracht, daß Gott angesichts dieses Martyriums verzagt sich die Hände wusch: Nicht Ich, Satan, mein Widersacher hat das Gehirn des Menschen mit diesem Wahnsinn umstrickt!
Und, besessen von diesem Versprechen, begann der Mensch sich über die Schranken seiner fünf Sinne hinwegzusetzen, alle Normen und Gesetze in rasender Selbstvernichtungsorgie niederzutreten, um nur in die Sphäre, die ihn von Gott trennt, hineinzugelangen.
Und in der Gluthitze dieses Verlangens entfesselten sich alle verborgenen, niegekannten tierischen Instinkte, die im Menschen eine unbewußte Synthese bilden, und ergossen sich weit über die Ufer der geheiligten Rechte und Normen und weit über jegliche wertangebende und gesetzlich geschützte Macht jener Vernunft hinweg, die da »Ordnung und Sitte« bedeutet:
Eritis sicut Deus!
Das wurde zur Himmelfahrt und besser noch: zur Höllenfahrt des menschlichen Geschlechtes.
Die Kräfte, die der »bewußte« Mensch kannte, mit denen er nach seinem vermeintlichen Belieben schalten und walten konnte, waren viel zu armselig, um dieses Ziel zu erreichen, aber er ahnte in sich noch ganz andere Kräfte, die ab und zu über den Abgründen seiner Seele wetterleuchteten, und es galt, sich nun in den Besitz dieser kaum geahnten Kräfte zu setzen, um sie in einer gottgebärenden Tat sich austoben zu lassen.
Und nur der Satan vermochte diese Kräfte aus ihrem Versteck, aus ihrer schauerlichsten Tiefe ans Licht herauszuholen und sie in Wirksamkeit treten zu lassen:
Laßt uns also ihm zu Ehren rasen, mit ihm einen Pakt schließen und uns ihm mit Leib und Seele ergeben, und daher dies blutrünstige, schauerliche Thelo, thelo manenai anstimmen des schauernden Grauens und Entsetzens, das zugleich zur höchsten Wollust wird.
Um diese Raserei in sich zu entfesseln, sich in den Zustand dieser Heiligen »Mania« zu versetzen, benutzte der Mensch die erdenklichsten Mittel.
Er begann, sein Fleisch durch die schauerlichsten Foltern und Martern abzutöten, versetzte sich durch freiwilliges Hungern und Dürsten in die wahnwitzigsten Delirienzustände mit ihren höllischen und himmlischen Visionen, er zerfleischte durch unmenschliche Geißelungen seinen Leib, ließ ihn keine Minute von den Torturen ausrasten, gönnte ihm keinen Schlaf, keine Ruhe – oder wieder berauschte er sich an giftigen Absuden von allen erdenklichen Giftpflanzen, mit den unglaublichsten Aphrodisiaca versetzte er sich in einen geschlechtlichen Orgiasmus, der weit über das Menschliche hinausreichte, zerstörte seine Kräfte in teuflischen, blutrünstigen Ausschweifungen, in beständigen Unzuchtsorgien, um nur jenen Zustand der Ekstase zu erreichen, wo das Leben mit dem Tode ringt, und die irrsinnige Wollust, ins unermeßliche gesteigert, kein Lustgefühl mehr auslöst und zu einem Schmerz wird, der wieder selbst aufhört, als Schmerz empfunden zu werden: ein Inhalt ist nicht mehr möglich, es bleibt nur ein Gefühl, das seine Phänomenalität erlangt hat und sich allein tiefer hinabwühlt – bis zu jenem geheimnisvollen Dunkel hinab, wo aller Daseinsschmerz ruht und die mystische Wollust des schauernden Entsetzens.
Unvergleichlich hat Ewers alle diese Zustände in seinen »Teufelsjägern« dargestellt.
Hier an der Grenze des Urwesens, an der Grenze des Zusammenhanges des Ich mit dem All, an der Grenze, wo Irdisches und Transzendentales ineinanderfließen, bewegt sich das ganze Werk von Hanns Heinz Ewers.
Nur in den gröbsten Umrissen versuchte ich die Sphäre zu zeichnen, in die sich Ewers mit tollkühnem Wagnis hineinbegeben hat, oder vielmehr habe ich diese Umrisse, die in vielfach verschlungenen Fäden sich durch sein Werk hindurchschlängeln und sich häufig im unnützen Ballast des Allzuwirklichen verlieren, aus seinem Werk herausgeschält, um jedem, der im vollen Ernste auf die Suche nach der Menschenseele geht, einen Faden an die Hand zu geben, an dem er sich in dem reichen Ewersschen Werke orientieren kann.
Wer auf Ewers' Pfaden wandeln will, wer den Mut hat, mit ihm zusammen in dem schauerlichen Dschungel der menschlichen Seele den dunklen Fahrnissen entgegenzutreten, muß vor allen Dingen das armselige Bündel von sogenannten »ethischen« Wertungen von sich abwerfen, denn in diesem Gebiet gibt es keine Begriffe von »Gut« und »Böse« – diese Begriffe existieren nur für die »Ordentlichen« und für die »armen Teufel«, welche ihre Sündenstrafe als »gerecht« anerkennen – er darf auch keinen Staatsanwalt zur Hilfe rufen, wenn sich ihm die moralischen Borsten vor Entsetzen sträuben bei den Dingen, die an sich weder moralisch noch unmoralisch sind, in die er und nur er allein das »Pornographische« hineinprojiziert, er darf das Ewerssche Werk nicht in die Hand nehmen, wenn er dies alles seiner erhabenen »Moralität« nicht abringen kann.
Cave canem!
Und dieser Ewers ist ein verteufelt bissiger Hund, der sich gern an den »Ordentlichen« vergreist, er ist aber für den, der sich willig seiner Obhut übergibt, ein großer Künstler und gütiger Führer.
Es war nicht notwendig, daß ich das letztere unterstrichen habe – das Künstlerische in Ewers versteht sich von selber; nur große Künstler – Seher und Deuter – wagen sich in diese dunkelste aller dunklen Sphären hinein. Uebrigens überlasse ich die rein künstlerische Wertung des Ewersschen Werkes Anderen, ich habe es über das Künstlerische hinaus in seinem innersten Wert und Gehalt durchlebt. Und all das, was ich hier niedergelegt habe, betrachte man als »Randbemerkungen«, die sich mir beim Lesen der Werke dieses Künstlers in die Feder drängten.
München, im Oktober 1917.