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Mein Taschenatlas belehrt mich: »Die Staatsreligion Haitis ist die römisch-katholische. Alle anderen Religionen werden toleriert.« Unter den »anderen Religionen« werden aufgeführt: Baptisten, Methodisten, Wesleyaner, Anglikaner usw. Von dem Kult des »Vaudoux« weiß mein Atlas gar nichts, ebensowenig wie eine Reihe von anderen Geographiebüchern, die ich nachsah. Und doch ist der Vaudouxkult, wenn nicht Staatsreligion, so doch Volksreligion in Haiti. In der Tat spielen alle anderen Religionen nicht die geringste Rolle; wirklichen Einfluß haben nur die Freimaurerei in den »besseren« Kreisen und der Vaudouxkult im Volke. Die haitianischen Freimaurerlogen haben allerdings mit der übrigen Freimaurerei herzlich wenig zu tun, sie sind eine alberne, narrenhafte Nachahmung und werden selbstverständlich von den wirklichen Logen nicht anerkannt.
Das gemeine Volk aber ist trotz allen Christentums, trotz aller katholischen und evangelischen Missionare längst wieder in den alten afrikanischen Fetischismus zurückgesunken. Ob die Art des haitianischen Kultus, der in der Anbetung einer Schlange gipfelt, sich auch irgendwo im Innern Afrikas findet, weiß ich nicht; auch sind die Nachrichten, die wir über den Ursprung dieser Religion haben, äußerst vage und wenig überzeugende. Nur darin stimmten alle Reisenden, die über Haiti geschrieben haben, überein – die Moreau St. Mery, Spencer St. John, Samuel Hazard, Tippenhauer, Texier usw. –, daß der Vaudouxkult überall im Lande im Schwunge ist und daß ihm alljährlich Menschenopfer gebracht werden. Ob das nun, wie der Franzose Texier schreibt, »wenigstens fünfzehnhundert im Jahre« sind, oder ob man mit dem haitischen Schriftsteller, dem Mulatten Tippenhauer, der sein Vaterland nach allen Kräften in Schutz nimmt, annehmen will, daß die Menschenopfer »durchaus nicht allgemein« sind, erscheint wenig von Belang: hundert oder tausend – gleichviel, auf jeden Fall werden in diesem von den Mächten anerkannten »christlichen Kulturstaate« Jahr für Jahr eine Menge Kinder geschlachtet und aufgegessen!
Es ist für den Fremden recht schwer, einen Einblick in den Vaudouxkult zu erhalten, den der Haitineger mit einem großen Geheimnis umgibt. Der bessere Haitianer pflegt zuerst dem Fremden gegenüber die Tatsache überhaupt zu leugnen; erst wenn er sieht, daß man schon etwas von der Sache weiß, bekennt er Farbe, sucht aber nach Möglichkeit alles abzuschwächen. Was also die Reisenden erzählen, verdanken sie entweder einem Zufall oder aber öffentlichen Prozessen, wie dem großen Prozesse 1864 zu Port-au-Prince unter Geffrard, einem der wenigen Präsidenten Haitis, die nicht Anhänger, sondern Gegner dieses kannibalischen Fetischismus waren. Damals wurden acht Personen, Männer und Frauen, des Menschenopfers und des Kannibalismus – es handelte sich um ein Mädchen von zwölf Jahren – überführt und erschossen.
Meine persönlichen Erfahrungen verdanke ich einem italienischen Kaufmann, der, seit Jahren in Haiti ansässig, mit einer Oberpriesterin zarte Bande unterhielt, die er übrigens – und das ist der Humor davon! – als echter Neapolitaner dazu benutzte, um durch Vermittlung der schwarzen Geliebten den Gläubigen für teures Geld wunderkräftige Tränklein zu verkaufen, die er höchst eigenhändig aus Wasser und Tomatensaft zurechtbraute. Wo mich meine eigenen Erfahrungen im Stiche ließen, habe ich für meine Darstellung die Erzählungen ansässiger Fremden und Einheimischen, sowie die einschlägige Literatur insoweit benutzt, als sie in ihren Mitteilungen vollständig übereinstimmend war; abweichende Momente gebe ich nicht wieder. So, glaube ich, mag mein Bild einigen Anspruch auf Richtigkeit machen.
Die Anhänger des Vaudoux verehren eine ganze Reihe von Gottheiten, als deren höchste hougon badagri, die Schlange, gilt. Man nimmt eine gewöhnliche Natter dazu, die wenig Freude von ihrer Gottheit hat: sie wird nämlich in eine Kiste gesteckt und lebt da so lange, bis sie verhungert ist! Neben der Schlange genießt Damtala, der Donnerstein, die höchste Verehrung; er liegt auf einem Teller und verrät durch Klappern seine Wünsche. Er kennt die Zukunft; die Oberpriester übersetzen seine Klappersprache den Gläubigen; alle Freitage erhält er ein Bad in Olivenöl. Dieser Gott ist natürlich viel seltener als die Schlange, die man alle Tage fangen kann. Es ist mir gelungen, einen solchen Damtala-Gott zu bekommen, es ist ein sehr schön geschliffener Stein, aber ganz sicher kein Donner- oder Meteorstein, wie die Neger annehmen, sondern ein Steinbeil aus der Karaibenzeit. Die Haitianer finden hier und da einen solchen Stein in den Wäldern, können sich seine Herkunft nicht erklären und nehmen ihn eben als »vom Himmel gefallen«, als Donnerstein, dem man göttliche Verehrung erweisen muß. Die übrigen Gottheiten sind durchaus nicht allgemein, die einen werden in diesem, die anderen in jenem Teile des Landes verehrt. Da haben wir Loco, den Erdbeerbaum, der am Eingang des Tempels steht und den man dadurch verehrt, daß man Gläser, Teller und Flaschen rund um ihn zu Scherben wirft, die Zwillingsgottheit Sango und Bado, die den Blitz und den Wind darstellen, Attaschollô, den großen Weltengeist und Agaou Kata Baalyi, den Herrn des Chaos. Da ist ferner Opétè, der göttliche Truthahn, Cimbi Rita, der Herr der Hölle, der durch eine in Blut getauchte Axt dargestellt wird, mit seinen Unterteufeln, und Alagra Vadra, der Gott, der alles weiß.
Der Tempel heißt Honfoû; er liegt stets außerhalb der Stadt, oft im Walde in einer kleinen Lichtung, die gestampft und geglättet als Tanzplatz dient. Sein Aeußeres zeigt ebensowenig einen Stil wie sein Inneres: eine Hütte, beliebig zusammengebaut aus dem Material, das gerade da ist. Im Tempel steht, etwas erhöht, der Korb mit der heiligen Schlange, die Wände schmücken katholische Heiligenbilder, Illustrationen aus deutschen, englischen und französischen Journalen, ein paar Muschelketten oder alte Fahnenlappen und bunte Papierschnitzel.
An der Spitze einer Vaudouxgemeinde steht ein Oberpriester, der den Namen Papaloi, und eine Oberpriesterin, die den Namen Mamaloi führt; kreolische Verstümmelungen für Papa-Roi und Mama-Roi: Vater und König, Mutter und Königin, fürwahr stolze Namen. Die niederen Priester sind in Namen und Funktionen in den verschiedenen Gegenden verschieden; man kennt hougan, Medizinmänner, die im Umherziehen wanges, das heißt Amulette (Säckchen mit kleinen Muscheln und Steinchen) verkaufen: » points«, die unverwundbar machen, und » chances«, die einer Frau den Geliebten verschaffen. Andere Priester werden Djions oder Aninbindingues, auch Dugaous genannt; sie stehen im Dienste des Oberteufels Cimbi Kita und seiner Knechte Azilit und Dom Pèdre. Das Hauptkunststück dieser Herrschaften besteht darin, auf Wunsch und nach Bezahlung von Gläubigen deren Feinde zu töten, indem sie ihnen die »Seele rauben«, das heißt sie hängen der Feinde Wachsbildchen im Tempel auf und besprechen sie. Diese Sache ist nicht so harmlos, wie man glauben sollte, denn die Gläubigen machen sich nun kein Gewissen mehr daraus, auch den Körper, der ja nun doch »keine Seele mehr hat«, durch ein stilles Giftchen umzubringen. Lavolou ist der Küster; houcibossales nennen sich die Vaudouxleute selbst; langous sind diejenigen, die die Weihen durchgemacht haben. Diese Weihen sind keine Kleinigkeit, vierzig Tage lang muß der Adept in einem ekelhaften Schmutzbade hocken, bis dieses verdunstet; seine Nahrung besteht in dieser Zeit aus Verver, einer widerlichen Mischung aus Mais und Blut.
Innerhalb des Vaudoux gibt es verschiedene Sekten, von strenger und weniger strenger Observanz; die wildeste ist wohl die Teufelssekte des Dom Pèdre. An rituellen Gegenständen haben nur die Trommeln, ausgehöhlte Stücke Baumstamm, mit Hammelhaut überzogen, einige Bedeutung; sie heißen houn, hountor und hountorgri und sind – den Aposteln St. Peter, St. Paul und St. Johannes geweiht. Diese seltsame Vermischung mit dem katholischen Kultus findet sich überall: die höchste Gottheit, die Schlange, gilt als eine Personifikation Johannes des Täufers! Nicht nur hängen katholische Heiligenbilder – neben den Oeldrucken des Deutschen Kaisers, des Zaren, Victor Emanuels, der Königin Victoria – in den Vaudouxtempeln; auch ermahnen die Papalois ihre Gläubigen, recht fleißig in die Kirche zu gehen: sie kennen keinen Konkurrenzneid. Morgens eine römische Messe, nachts Schlangenanbetung, Kinderschlachten und Menschenfleischfressen: das ist echt haitianisch!! Außer den erwähnten drei Trommeln gibt es noch die große Assauntortrommel, die mit der Haut eines verstorbenen Papaloi überzogen ist. Néclesin heißt das eiserne Triangel, das die Gläubigen zum Tempel ruft.
Natürlich kennt das Vaudoux auch Tabus; so gelten Schildkrötenfleisch, Ziegenfleisch, Tomaten und Auberginen als verbotene, Bockfleisch und Maisakassan (Maisbrot) als gesegnete Speisen. Uebrigens sind oft für die eine Familie dieselben Speisen Tabu, die für andere erlaubt sind, und umgekehrt. Zwillinge, Marassas, werden immer verehrt, einerlei ob von Menschen oder Tieren; bei ihrer Geburt werden Feste mit seltsamen Zeremonien veranstaltet.
Das Triangel klingt durch die Straßen; nur die Eingeweihten verstehen die abgerissenen Töne. Bei Sonnenuntergang eilen sie in den Wald hinaus, durchschreiten den Weg zum Tempel, der mit Pflöcken zu beiden Seiten abgesteckt ist. Auf den spitzen Pflöcken sind schwarze und weiße Hühner aufgespießt, zwischen ihnen liegen Eierschalen und wunderlich geformte Steine und Wurzeln. Die Gläubigen versammeln sich im und um den Tempel und bereiten sich zu den heiligen Handlungen durch Trinken von ungeheuren Mengen von Tafia vor. Endlich rasseln die großen Trommeln, auf denen die Musikanten sitzen, die Feier beginnt, man strömt in den Tempel. Zuerst ist ein neuer Adept in den engeren Kreis aufzunehmen, er hat schon die vierzigtägigen Weihen in dem Schmutzbade durchgemacht. Er muß nackt durch ein Feuer laufen, dann aus einem dampfenden Kessel mit den Händen Fleisch greifen und den Anwesenden auf Blättern zum Mahle reichen. Nun tritt der Papaloi hervor. Während die Gläubigen nur mit Sandalen und ein paar zusammengeknüpften roten Taschentüchern bekleidet sind, trägt der Oberpriester noch ein blaues Tuch um die Stirn; von dem Kopfe hängen wie lange Nattern die wilden Strähne verfilzter Haare. Er tritt an den Korb mit der Schlange und schwört ihr Gehorsam; alle Anwesenden wiederholen den Schwur. Houdja-Nihou, die Königin-Priesterin, erscheint, als Bekleidung ein blaues Tuch um die Stirn; sie tritt auf den Schlangenkorb und spielt die Pythia. Jeder bittet die göttliche Schlange um Erfüllung eines Wunsches; dafür gibt man ein Geldstück, das der Papaloi im Hut einsammelt. Die Priesterin prophezeit; wirre Worte, abgerissene Sätze kommen aus ihrem Mund. Nun zieht der Papaloi einen schwarzen Ziegenbock heran, sticht ihm das Messer in den Hals, schneidet den Kopf ab und zeigt ihn den Trommelschlägern. Man fängt das Blut auf und trinkt es mit Rum vermischt. Im Augenblick ist das Tier gehäutet, ausgenommen, zerlegt und auf den Rost gelegt, um gebraten zu werden. Ein Tänzer tritt hervor; ohne sich zu rühren, steht er minutenlang in der Mitte, aber all seine Muskeln zittern. Und langsam, während die Gläubigen das halbrohe Bockfleisch verschlingen, beginnt er sich hin und her zu wiegen. Die Gemeinde betrachtet einander, die Erregung steigt; bis plötzlich die Priesterin das gräßliche Lied anstimmt:
»Leh! Eh! Bomba, hen hen!
Canga bafio tè,
Canga moune dè lé
Canga do ki la
Canga li! «
All die schwarzen Gestalten, Männer und Weiber, springen auf, drehen sich im Tanze, stoßen, treten einander, machen gewaltige Bocksprünge, knien am Boden nieder, schlagen den Kopf zur Erde und singen die berauschenden Worte ihrer Königin, die die Trommeln mit einem wilden Rhythmus begleiten. Da hebt der Oberpriester ein langes Messer und alles verstummt. Der große Moment ist gekommen: das Opfer des cabrit sans cornes, des »Bockes ohne Hörner«, wird gebracht. Man schleppt das Opfer herein, das durch irgendein Gift halb betäubt ist, manchmal einen Erwachsenen, meistens ein zehn- bis zwölfjähriges Kind. Man führt es in einen schwarzen Kreis, legt ihm zur Weihe ein Bündel mit Haaren und Hornstückchen aufs Haupt. Die Priesterin erwürgt es, der Priester schneidet ihm den Kopf ab. Man zerlegt den Leichnam, um ihn wie den Bock zu braten. Der Blutdurst scheint unstillbar. Der »Dom Pèdre« beginnt, der Teufelstanz; wie eine Horde Wahnsinniger springen die Neger durcheinander. Man reißt sich die Lappen vom Leibe, die Glieder verrenken sich, der Schweiß rieselt von den nackten Körpern. Sie beißen einander oder auch sich selbst, springen aufeinander wie die Tiere, reißen sich zu Boden und werfen sich in die Höhe, während der Papaloi alle mit Blut besprengt und die Königin die göttliche Schlange hoch in die Luft hebt. Sie singen nicht mehr, aus ihren Konvulsionen und Delirien klingt nur der eine fanatische Schrei heraus: »Aa-aa-boo-boo!«
Und allmählich geht der Teufelstanz in eine rasende Wollustorgie über, die keine Geschlechter, nicht einmal mehr Menschen und Tiere, lebende Wesen und tote Gegenstände unterscheidet.
Nach Stunden: Erschöpfung; dann: Sauf-, Freß-, Liebesgelage, erneuter Tanz!
Und dieser wahnsinnige Kult ist nicht etwa nur in der Hefe des Volkes verbreitet, er zählt die höchsten Beamten zu seinen Mitgliedern. Toussaint Louverture, der »Befreier Haitis«, und seine Nachfolger, »Kaiser« Dessalines und »König« Christophe, waren selbst Papalois. Kaiser Soulouque (1848 bis 1859) und Präsident Salomon (1882–1888) waren eifrige Förderer des Vaudoux. Präsident Salnave brachte selbst (1868) das Opfer des »ungehörnten Bocks«, d.h. das Menschenopfer und bei dem Tode des vorletzten Präsidenten Hyppolite (1896) fand man in den Nischen seines Schlafzimmers die Skelette zweier beim Vaudouxkulte von ihm geopferter Menschen. Nur zwei Präsidenten: Geffrard (1860–1867) und Boisrond-Canal (1876–1879) wagten es, dem Vaudouxkult entgegenzutreten; unter ihre Regierung fallen die Prozesse, der anfangs erwähnte 1864 und andere 1876 und 1878 in Port-au-Prince; bei dem einen wurde ein Papaloi, bei dem andern zwei Weiber des Menschenopfers und Kannibalismus überführt und erschossen. Seitdem ist es nicht besser geworden, im Gegenteil: heute werden in Haiti mehr Kinder denn je der Schlange geopfert und von den Gläubigen aufgefressen!
Und solche Präsidenten erkennen die gekrönten Häupter und erwählten Präsidenten aller Völker als »gleichberechtigt« an, einen solchen Staat duldet man im Rate der Völker! Man muß ein Diplomat sein, um das begreifen zu können: ein nicht total verdrehter Kopf wird es nie einsehen!