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Ich hân gesehn in der
werlte ein michel wunder.
Walter v. d. Vogelweide.
Insel Capri, Juli 1903
Zimmer suchen! Das ist so eine der unangenehmsten Beschäftigungen. Treppauf, treppab, aus einer Strasse in die andere, immer dieselben Fragen und Antworten, – o du arme Seele!
Seit zehn Uhr war ich unterwegs, nun war's drei mittlerweile. Müde wie ein Karusselpferd natürlich.
Also noch mal hinauf, drei Stockwerk.
»Ich möchte die Zimmer sehen.«
»Bitte.«
Die Frau führte mich durch den dunklen Gang, dann öffnete sie eine Türe.
»Hier.«
Ich trat hinein. Das Zimmer war groß, geräumig und nicht allzu erbärmlich möbliert. Diwan, Schreibtisch, Schaukelstuhl, alles war da.
»Wo ist das Schlafzimmer?«
»Die Türe links.«
Die Frau öffnete und zeigte mir den Raum. Ein englisches Bett sogar! Ich war entzückt.
»Sechzig Mark monatlich.«
»Schön. Wird Klavier gespielt hier? Sind kleine Kinder da?«
»Nein, ich habe nur eine Tochter, die in Hamburg verheiratet ist. Klavier wird auch nicht gespielt, nicht einmal unten.«
»Gott sei Dank!« sagte ich. »Also ich miete die Zimmer.«
»Wann wollen Sie einziehen?«
»Wenn es geht, heute noch.«
»Gewiss geht es.«
Wir traten wieder in das Wohnzimmer. Da war gerade gegenüber noch eine Tür.
»Sagen Sie mal,« fragte ich die Frau, »wohin führt diese Türe?«
»Da sind noch ein paar Zimmer.«
»Bewohnen Sie die?«
»Nein, ich wohne nach der andern Seite. – Die Zimmer sind augenblicklich leer, sie sollen noch vermietet werden.«
Mir ging ein Licht auf.
»Aber die Zimmer da haben doch hoffentlich einen besonderen Ausgang zum Korridor?«
»Leider, nein. – Der Herr Doktor müsste schon erlauben, dass der andere Mieter hier durchgehen kann.«
»Was?« schrie ich. »Ich danke schön! Ich soll Wildfremde durch mein Zimmer gehen lassen – das wäre ja noch schöner!«
Also deshalb war der Mietspreis so gering! Wirklich rührend!! Ich war wütend zum Platzen, aber dabei so müde von all dem Laufen, dass ich nicht einmal ordentlich schimpfen konnte.
»Nehmen Sie doch alle vier Zimmer!« sagte die Frau.
»Ich brauche nicht vier Zimmer!« brüllte ich. »Der Teufel soll Sie holen!«
In diesem Augenblick schellte es, die Frau ging hinaus, um zu öffnen und liess mich stehen.
»Sind hier die möblierten Zimmer zu vermieten?« hörte ich.
Aha! Das ist schon wieder einer, dachte ich. Und ich freute mich darauf, was dieser Herr wohl zu der netten Zumutung der Frau sagen würde. Ich trat rasch in das Zimmer nach rechts, dessen Türe halb offen stand. Es war ein mittelgrosser Raum, zugleich als Schlaf und Wohnzimmer eingerichtet. Eine schmale Türe an der andern Seite führte in ein kleines leeres Zimmerchen, das spärlich durch ein winziges Fenster erhellt wurde. Dies, wie auch die übrigen Fenster der Wohnung, gingen auf einen grossen, mächtigen Parkgarten, einen der wenigen, die Patrizierstolz in Berlin noch leben lässt.
Ich ging wieder zurück, nun waren die Vorfragen wohl erledigt, jetzt bekam der Herr die Kehrseite der Medaille zu sehen! Aber ich irrte mich. Ohne nach dem Preise zu fragen, erklärte er, er könne die Zimmer nicht gebrauchen.
»Ich habe noch zwei andere Zimmer«, sagte die Frau.
»Wollen Sie mir die zeigen?«
Die Wirtin und der fremde Herr traten herein. Er war klein, in kurzem, schwarzem Rock. Blonder Vollbart und Brille. Er sah recht unscheinbar aus; so einer, an dem man immer vorbeigeht.
Ohne mich weiter zu beachten, zeigte ihm die Frau diese beiden Zimmer. Für das grössere hatte der Herr gar kein Interesse, dagegen besichtigte er recht genau den kleinen Nebenraum, der ihm sehr zu gefallen schien. Auch, als er bemerkte, dass die Fenster kein Gegenüber hatten, huschte ein zufriedenes Lächeln über sein vertrocknetes Gesicht.
»Diese beiden Zimmer möchte ich mieten«, erklärte er.
Die Frau nannte den Preis.
»Gut!« sagte der Herr, »ich werde heute noch meine Sachen herschaffen lassen.«
Er grüsste und wandte sich zum Gehen.
»Wo geht's hinaus?«
Die Frau machte ein verzweifeltes Gesicht.
»Sie müssen durch das vordere Zimmer.«
»Was?« sagte der Herr. »Diese Zimmer haben keinen besonderen Eingang? – Ich soll immer durch ein fremdes gehen?!«
»Nehmen Sie doch alle vier Zimmer!« jammerte die Frau.
»Aber das ist mir viel zu teuer, vier Zimmer. – Herrgott, jetzt kann die Lauferei wieder von vorne anfangen!«
Der armen Frau liefen dicke Tränen über die Backen.
»Ich werde die Zimmer nie vermieten«, sagte sie. »Es waren wohl hundert Herren da in den letzten vierzehn Tagen, allen gefiel die Wohnung, aber alle gingen wieder fort, weil der dumme Baumeister keine Türe hier nach dem Gange gemacht hat. – Der Herr wäre auch sonst geblieben!«
Sie wies auf mich und trocknete sich derweil die Augen mit der Schürze.
»Sie wollten auch diese Zimmer mieten?« fragte der Herr.
»Nein, die beiden andern. Aber ich bedanke mich natürlich für die Annehmlichkeit, andauernd fremde Leute durch mein Zimmer marschieren zu lassen. – Übrigens können Sie sich trösten: ich bin auch schon seit zehn Uhr früh auf dem Trab.«
Die kurze Unterhaltung gab der Wirtin wieder einen Hoffnungsschimmer.
»Die Herren verstehen sich doch so gut«, sagte sie. »Wäre es denn nicht möglich, dass die Herren zusammen die vier Zimmer nähmen?«
»Ich danke sehr!« sagte ich. Der Herr sah mich aufmerksam an, dann trat er auf mich zu.
»Ich bin die Sucherei herzlich müde,« sagte er, »und diese beiden Zimmer passen mir vorzüglich. Wie wäre es, wenn wir einen Versuch machten?«
»Ich kenne Sie ja nicht einmal«, rief ich entrüstet.
»Fritz Beckers heisse ich, ich bin sehr ruhig und werde Sie kaum stören. Wenn's Ihnen nicht passt, können Sie ja jederzeit gehen, es ist ja keine Heirat.«
Ich antwortete nicht. Er fuhr fort:
»Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag. Der Gesamtpreis ist neunzig Mark, davon zahlen wir jeder die Hälfte. Ich nehme diese beiden Räume, Sie nehmen die beiden andern. Nur muss ich freies Durchgangsrecht haben und ausserdem möchte ich morgens in Ihrem Wohnzimmer meinen Kaffee nehmen; ich frühstücke nicht gerne im Schlafzimmer!«
»So gehen Sie doch in den kleinen Raum da.«
»– Den brauche ich für – – andere Zwecke. – Ich versichere Sie nochmals, ich werde ihnen in keiner Weise lästig fallen.«
»Nein!« sagte ich.
»Na –« erwiderte Herr Beckers, »dann ist freilich nichts zu machen! Dann bleibt uns beiden nichts anderes übrig, als von neuem auf die Jagd zu gehen.«
Noch einmal treppauf, treppab –? Lieber Steine klopfen!
»Bleiben Sie!« rief ich ihm zu. »Ich will's mit Ihnen versuchen!«
»Also gut!«
Die Wirtin strahlte:
»Das ist ein Glückstag heute.«
Ich schrieb ihr einen Zettel und bat sie, durch ein paar Dienstleute meine Koffer und Kisten holen zu lassen; dann verabschiedete ich mich. Ich fühlte einen Mordshunger und wollte irgendwo Mittagbrot speisen.
Schon auf der Treppe tat mir mein Entschluss wieder leid. Am liebsten wäre ich umgekehrt und hätte die Sache rückgängig gemacht.
Auf der Strasse traf ich Paul Haase.
»Wohin?« fragte ich.
»Ick habe keene Bleibe. – Ick suche.«
Da war ich ordentlich froh, dass ich doch wenigstens eine »Bleibe« hatte. Ich ging mit dem Maler in ein Restaurant, wir speisten sehr ausführlich.
»Kommen Se heute abend mit zu Griebeln sein Atelierfest«, schlug er vor. »De Luxen ist ooch da. Ick komm Se abholen!«
»Gut«, sagte ich.
Als ich in meine neue Wohnung kam, waren die Koffer gerade angekommen. Die Dienstmänner und die Wirtin halfen mir; in ein paar Stunden war alles umgekrempelt, die Öldrucke und Nippfiguren waren hinausbefördert und die Zimmer hatten schon etwas den Charakter ihres Bewohners angenommen.
Es klopfte, der Maler trat ein:
»Na, det sieht ja schon janz vernünftig hier aus«, meinte er. »Aber nu kommen Se man, et is schon neun Uhr!«
»Was?« Ich sah auf die Uhr, er hatte recht.
In diesem Augenblick klopfte es wieder.
»Herein!«
»Entschuldigen Sie, ich bins.« Herr Beckers trat ein, hinter ihm schleppten zwei Dienstleute mächtige Kisten.
»Wer war det denn?« fragte Paul Haase, als wir in der Strassenbahn sassen.
Ich erzählte ihm mein Mietsgeheimnis.
»Da haben Se sich ja scheen in die Brennnesseln gesetzt! – Übrigens: wir müssen hier aussteigen.«
Es war ziemlich spät, als ich am andern Morgen aufstand. Als die Wirtin den Tee brachte, fragte ich, ob denn der Herr Beckers schon gefrühstückt habe.
»Schon um halb acht«, antwortete sie.
Das war mir sehr angenehm. Wenn er immer so früh aufstand, würde er mir wenig lästig fallen. Und in der Tat: ich sah ihn überhaupt nicht. Vierzehn Tage war ich schon in der neuen Wohnung und hatte meinen Mitmieter fast vollständig vergessen.
Eines Abends gegen zehn Uhr klopfte es an der Zwischentüre. Auf mein Herein öffnete Fritz Beckers und kam ins Zimmer.
»Guten Abend! Störe ich Sie?«
»Nicht im geringsten. Ich bin gerade mit meiner Schreiberei fertig.«
»Darf ich also ein wenig zu Ihnen kommen?«
»Bitte sehr! Aber unter einer Bedingung: Sie rauchen da eine lange Pfeife und die kann ich in der Seele nicht vertragen. Zigarren oder Zigaretten stehen zu Ihrer Verfügung.«
Er ging in sein Zimmer zurück und ich hörte, wie er aus dem Fenster den Pfeifenkopf ausklopfte. Dann kam er wieder und schloss die Türe hinter sich. Ich schob ihm den Zigarrenkasten hin.
»Danke sehr! – Können Sie eine kurze Pfeife auch nicht vertragen?«
»Doch, sehr gut.«
»So erlauben Sie, dass ich mir eine stopfe.«
Er zog eine kurze, englische Pfeife aus der Tasche, füllte sie und brannte sie an.
»Ich störe doch wirklich nicht?« fragte er noch einmal.
»Aber ganz und gar nicht. Ich bin in meiner Arbeit an einen toten Punkt gelangt und muss wohl oder übel aufhören. Ich gebrauche die Schilderung einer Osirisfeier; ich will morgen einmal zur Bibliothek, da werde ich schon was finden.«
Fritz Beckers lächelte:
»Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
Ich stellte einige Fragen, die er mir verblüffend gut beantwortete.
»Sie sind Orientalist, Herr Beckers?«
»Ein wenig«, antwortete er.
– Von jenem Tage an sah ich ihn zuweilen. Meistens am späten Abend kam er zu mir, noch ein Glas Grog zu trinken; manchmal rief ich ihn auch. – Wir unterhielten uns sehr gut über alles mögliche; Fritz Beckers schien auf allen Gebieten sattelfest. Nur über sich selbst vermied er jedes Wort.
Er war ein wenig geheimnisvoll. Vor die Türe, die zu meinem Zimmer führte, hatte er einen schweren persischen Teppich gehängt, der fast jedes Geräusch unhörbar machte. Wenn er ausging, schloss er die Türe fest zu und die Wirtin durfte nur morgens früh hinein, um das Zimmer zu machen, während er in meinem Zimmer frühstückte. Wenn Samstags reingemacht wurde, blieb er stets zugegen, setzte sich in einen Sessel und rauchte seine Pfeife, bis die Wirtin fertig war. Dabei war auch nicht das geringste in seinem Zimmer, das irgendwie auffällig gewesen wäre. Freilich, hinten der kleine Raum, der mochte alles mögliche beherbergen. Auch diese Türe war mit schweren Vorhängen verhangen; dabei hatte er zwei starke Eisenstäbe anbringen lassen, die mit amerikanischen Buchstabenschlössern angeschlossen waren.
Die Wirtin war natürlich furchtbar neugierig auf diesen geheimnisvollen Raum, in dem er den ganzen Tag arbeitete. Eines schönen Tages war sie in den grossen Park gegangen; sie hatte mit vieler Mühe die Bekanntschaft des Gärtners gemacht, nur um einmal nach dem kleinen Fenster hinaufsehen zu können.
Vielleicht sah sie was!
Aber sie sah gar nichts. Das Fenster war ausgehangen, um mehr frische Luft hereinzulassen, die Öffnung aber war mit einem schwarzen Tuche verhangen.
Bei Gelegenheit stellte ihn die Frau zur Rede.
»Warum haben Sie eigentlich das kleine Fenster immer verhangen, Herr Beckers?«
»Ich liebe es nicht, dass man mich beobachtet bei meiner Arbeit.«
»Aber Sie haben ja kein Gegenüber, es kann doch gar niemand hineinschauen!«
»Und wenn jemand auf eine der grossen Ulmen klettern würde?«
Starr vor Staunen erzählte mir die Frau dieses Gespräch. War das ein geheimnisvoller Mensch, der an solche Möglichkeiten dachte!
»Er ist vielleicht ein Falschmünzer!« sagte ich.
Von dem Tage an wurde jede Mark und jeder Groschen, die aus Herrn Beckers Händen kamen, genau untersucht. Die Frau liess sich absichtlich ein paarmal Scheine von ihm wechseln und trug alles Geld, das er ihr gab, zu einem befreundeten Bankbeamten. Es wurde mit der Lupe untersucht, aber nie war ein falsches Stück darunter. Ausserdem erhielt Herr Beckers an jedem Ersten zweihundert Mark durch den Briefträger, und es lag auf der Hand, dass er nicht einmal diese Summe ausgab. – Mit der Falschmünzerwerkstatt war es also nichts.
Verkehr hatte Herr Beckers überhaupt nicht. Ab und zu erhielt er grosse und kleine Kisten von allen möglichen Formaten, immer durch Dienstleute überbracht. Was darin war, konnte die Frau trotz aller Mühe nicht herausfinden; Beckers schloss sich ein, nahm den Inhalt heraus und gab ihr die alten Kisten als Brennholz.
– Eines Nachmittags war meine kleine Freundin bei mir. Ich sass am Schreibtisch, sie lag auf dem Diwan und las.
»Du, es hat schon ein paarmal geschellt!«
»Schad't nichts!« brummte ich.
»Aber es wird nicht aufgemacht.«
»Schad't auch nichts!«
»Vielleicht ist deine Wirtin nicht da?«
»Nein, sie ist ausgegangen.«
In diesem Augenblick schellte es wieder, sehr energisch.
»Soll ich aufmachen?« fragte Änny, »am Ende ist's was für dich!«
»Wenn's dir Spass macht! Aber sei vorsichtig.«
Sie sprang auf.
»Hab' keine Angst,« sagte sie, »ich sehe erst durch das Guckloch.«
Nach ein paar Minuten kam sie zurück.
»Es ist ein Paket für dich. Gib mal ein paar Groschen, ich muss dem Mann doch ein Trinkgeld geben.«
Ich gab ihr das Geld, der Dienstmann stellte eine viereckige Kiste ins Zimmer, bedankte sich und ging.
»Wir wollen gleich sehen, was es ist!« rief Änny und klatschte in die Hände.
Ich stand auf und sah die Kiste an. Es war keine Adresse darauf.
»Ich wüsste wirklich nicht, von wem das sein könnte«, sagte ich, »vielleicht ist's ein Irrtum.«
»Wieso?« rief Änny. »Der Mann hatte doch einen Zettel, darauf stand: Winterfeldstrasse 24 dritte Etage bei Frau Paulsen. Ausserdem sagte er: für den Herrn Doktor! Das bist du doch!«
»Ja!« sagte ich. Weiss der Kuckuck, dass ich gar nicht an Beckers dachte.
»Also geh! Wir wollen die Kiste aufmachen. Es ist sicher was zu essen drin.«
Ich probierte mit einem alten Dolchmesser den Deckel aufzubrechen. Aber die Klinge zerbrach. Ich schaute umher, nirgends war ein Instrument, das ich hätte benutzen können.
»Es geht nicht«, sagte ich.
»Bist du dumm!« lachte die Kleine. Dann lief sie in die Küche und kam gleich darauf mit Hammer, Zange und Stemmeisen wieder.
»Das lag in der Schublade im Küchentisch. – Du weisst auch gar nichts!«
Sie kniete und machte sich an die Arbeit. Aber es war nicht so leicht, der Deckel sass fest auf. Ihre bleichen Wangen röteten sich und das Herz pochte hörbar an das Mieder.
»Da, nimm du!« sagte sie und presste die kleinen Hände auf die Brust. »– Ah! das dumme Herz!«
Sie war das lustigste Spielzeug von der Welt, aber so zerbrechlich. Man musste sich höllisch mit ihr in acht nehmen, ihr Herz war arg in Unordnung.
Ich zog ein paar Nägel heraus und hob den Deckel. Krach! Nun sprang er los. Oben lagen Sägespäne; Änny griff rasch mit den Händchen hinein. Während dessen wandte ich mich, um das Werkzeug auf den Tisch zu legen.
»Ich hab's schon«, rief sie. »Es ist was Weiches!«
Plötzlich schrie sie jämmerlich, sprang auf und fiel nach hinten. Ich fing sie auf und trug sie auf den Diwan, sie lag in tiefer Ohnmacht. Ich riss ihr schnell die Bluse auf und löste das Mieder, ihr armes Herzchen hatte wieder einmal ausgesetzt. Ich nahm Eau de Cologne und wusch Schläfen und Brust, ganz allmählich fühlte ich« wieder ein leises Schlagen.
Indessen hörte ich draussen einen Schlüssel in der Flurtüre drehen und gleich darauf klopfte es.
»Wer ist da?«
»Kommen Sie nur durch!« rief ich, und Beckers trat ein.
»Was ist denn los?« fragte er.
Ich erzählte ihm, was vorgefallen war.
»Die ist ja für mich, die Kiste!« sagte er.
»Für Sie? Ja, was ist denn eigentlich drin, dass die Kleine so erschreckt war?«
»O, nichts besonderes.«
»Tote Katzen sind drin!« schrie Änny, die aus ihrer Ohnmacht erwachte. »Die ganze Kiste ist voll toter Katzen!«
Fritz Beckers nahm den Deckel, um ihn wieder auf die Kiste zu legen; ich ging hin und warf schnell einen Blick hinein. Wahrhaftig, da waren tote Katzen drin, oben auf lag ein starker schwarzer Kater.
»Zum Kuckuck, was wollen Sie denn mit dem Viehzeug?«
Fritz Beckers lächelte, dann sagte er ganz langsam:
»Wissen Sie, man sagt, dass Katzenfelle sehr gut für Gicht und Rheumatismus seien. Ich habe eine alte Tante in Usedom, die sehr leidend ist: der will ich die Katzenfelle schicken!«
»Ihre hässliche alte Tante in Usedom ist sicher des Teufels Grossmutter!« rief Änny, die schon wieder aufrecht im Sofa sass.
»Glauben Sie!« sagte Fritz Beckers. Dann machte er eine verbindliche Verbeugung, nahm die Kiste auf und ging in sein Zimmer.
– Etwa eine Woche später kam wieder ein Paket für ihn an, diesmal mit der Post. Die Wirtin brachte es durch mein Zimmer und winkte mir rasch zu. Als sie aus seinem Zimmer herauskam, trat sie zu mir und zog einen Zettel aus der Tasche, den sie mir gab.
»Das ist darin«, erklärte sie, »ich habe die Postdeklaration abgeschrieben.«
Das Paket war aus Marseille und enthielt zwölf Kilo – – Moschus! Genug, um alle Priesterinnen der Venus vulgivaga in ganz Berlin auf zehn Jahre zu versorgen!
Wirklich, ein merkwürdiger Mensch war er, dieser Herr Fritz Beckers!
Ein andermal trat mir die Wirtin ganz aufgeregt entgegen, als ich nach Hause kam und gerade die Haustüre öffnete.
»Heute morgen bekam er eine ganz grosse Kiste, wohl zwei Meter lang und einen halben Meter hoch. Es war sicher ein Sarg darin!«
Aber Fritz Beckers schickte die Kiste nach wenigen Stunden zum Zerschlagen heraus; und trotzdem die Wirtin tagelang beim Aufräumen eifrigst herumguckte, konnte sie auch nicht das geringste entdecken, war irgendwie mit einem Sarge Ähnlichkeit gehabt hätte.
Allmählich verschwand unser Interesse für Fritz Beckers' Geheimnisse. Er erhielt nach wie vor zuweilen mysteriöse Kisten, meist kleine, wie die, in der die toten Katzen waren, ab und zu auch eine lange. Wir gaben es auf, dies Rätsel zu lösen, zumal Fritz Beckers sonst auch nicht das geringste Auffallende hatte. Zuweilen kam er am späten Abend auf ein paar Stunden zu mir; und ich muss sagen, es war ein Vergnügen, mit ihm zu plaudern.
Da passierte mir eine höchst unangenehme Geschichte.
Meine kleine Freundin wurde immer kapriziöser. Wegen ihres kranken Herzchens nahm ich jede Rücksicht auf sie, aber es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Den Herrn Fritz Beckers konnte sie nun auf den Tod nicht ausstehen. Wenn sie mich besuchte und Beckers gerade auf ein paar Minuten hereinkam, so gab es sicher eine Szene, die damit endete, dass Änny in Ohnmacht fiel. Sie fiel in Ohnmacht, wie andere niesen. Sie fiel immer in Ohnmacht, bei jeder Gelegenheit. Sehr häufig auch ohne Gelegenheit. Und diese Ohnmachten wurden immer länger und beängstigender, stets fürchtete ich, dass sie mir unter den Händen wegsterben würde. Das arme liebe Ding!
Eines Nachmittags kam sie an, lachend und vergnügt.
»Die Tante ist nach Potsdam«, rief sie, »ich kann bis elf Uhr bei dir bleiben!«
Sie kochte Tee, dann setzte sie sich auf meine Knie.
»Lass mal lesen, was du geschrieben hast!«
Sie nahm die Blätter und las. Sie war sehr zufrieden und gab mir einen grossen Kuss. Unsere kleinen Freundinnen sind doch unser dankbarstes Publikum.
Sie war so fröhlich und gesund heute.
»Du, ich glaube, es geht viel besser mit meinem dummen Herzen. Es klopft ganz ruhig und regelmässig.«
Sie nahm meinen Kopf in beide Hände und drückte mein Ohr an ihr Herzchen, um mich hören zu lassen.
Abends machte sie den Speisezettel. Sie schrieb alles auf: Brot, Butter, Schinken, Frankfurter Würstchen und Eier. Dann schellte sie der Wirtin.
»So! Gehen Sie uns das holen!« befahl sie. »Aber sehen Sie zu, dass Sie gute Ware bekommen!«
»Sie werden nicht klagen, Fräuleinchen, ich werde alles fein besorgen«, antwortete die Frau. Und sie strich mit der schwieligen Hand liebkosend über Ännys Seidenärmel. – Ich finde, alle Berliner Wirtinnen sind begeistert von den Freundinnen ihrer Mietsherren.
»Ach, ist es nett heute bei dir!« lachte Änny. »Wenn nur der grässliche Beckers nicht kommt!«
Und da war er auch schon. Tack, tack – – Herein! – »Ich störe?«
»Ja, natürlich stören Sie! Sehen Sie das denn nicht?« rief Änny.
»Ich ziehe mich gleich wieder zurück.«
»Ach, Sie haben uns ja schon gestört. Wenn Sie nur schon ihren Kopf hineinstecken, wird's ungemütlich. Gehen Sie doch, gehen Sie doch endlich! Worauf warten Sie denn noch? Sie – Katzenmörder!«
Beckers hatte schon die Klinke in der Hand, um wieder hinauszugehen, er war nicht eine Minute im Zimmer gewesen, Änny aber war es schon viel zu lange. Sie sprang auf, ihre weissen Finger fassten die Tischkante.
»Siehst du denn nicht, dass er mit Gewalt dableiben will, der Mensch! Wirf ihn doch hinaus. Beschütze mich doch, schlag' ihn doch, den hässlichen Hund!«
»Bitte, gehen Sie!« sagte ich zu Beckers.
Er stand in der Türe und warf Änny noch einen Blick zu. Einen langen, seltsamen Blick.
Die Kleine wurde wie rasend.
»Hinaus, hinaus, du Hund!« schrie sie. »Hinaus!«
Ihre Stimme schlug um, die Augen traten weit aus den Höhlen. Langsam lösten sich die krampfhaft geschlossenen Finger von der Tischkante: sie fiel steif hintenüber auf den Diwan.
»Da haben wir's!« rief ich. »Wieder mal ohnmächtig. Es wird unerträglich mit ihrem Herzen. – Entschuldigen Sie, Herr Beckers, sie ist arg krank, die arme Kleine!«
Wie gewöhnlich öffnete ich Bluse und Mieder und begann sie mit Eau de Cologne zu reiben. Aber es half nichts. Sie blieb starr da liegen.
»Beckers!« rief ich, »bitte holen Sie mal den Essig aus der Küche.«
Er brachte ihn, aber auch diese Einreibungen nutzten gar nichts.
»Warten Sie«, rief er, »ich habe etwas anderes.«
Er ging in sein Zimmer und kam mit einer bunten Schachtel zurück.
»Halten Sie sich das Taschentuch vor die Nase«, sagte er. Dann nahm er ein Stück persischen Kampfers aus der Schachtel, das er dem Mädchen unter die Nase hielt. Es roch so scharf, dass mir die Tränen von den Wangen liefen.
Änny zuckte, ein minutenlanger, heftiger Krampf schüttelte ihren ganzen Körper.
»Gott sei Dank, es hilft!« rief ich.
Sie richtete sich halb auf, die Augen öffneten sich weit. Da erblickte sie über sich Beckers Gesicht. Ein grässlicher Schrei entfuhr ihren blauen Lippen, sogleich fiel sie wieder zurück.
»Eine neue Ohnmacht! Hol's der Kuckuck!«
Wieder versuchten wir alle Mittel, die wir wussten, Wasser, Essig, Eau de Cologne. Wir hielten ihr den persischen Kampfer dicht unter die Nase, dessen beissender Geruch eine Marmorstatue niesen gemacht hätte. – Sie blieb leblos.
»Donnerwetter! Eine schöne Geschichte!«
Ich legte mein Ohr an ihre Brust, ich konnte auch nicht das geringste Klopfen wahrnehmen. Auch die Lungen arbeiteten nicht mehr. Ich nahm einen Handspiegel und hielt ihn dicht vor die offenstehenden Lippen, kein leiser Hauch trübte ihn.
»Ich glaube –« sagte Beckers, »ich glaube –«
Dann unterbrach er sich: »Wir wollen Ärzte holen.«
Ich sprang auf:
»Ja, natürlich! Sofort! Im Hause gegenüber wohnt einer, gehen Sie dahin. – Ich laufe um die Ecke zu meinem Freunde, dem Doktor Martens; er ist sicher zu Hause.«
Wir stürzten zusammen die Treppe hinunter. Ich hörte noch, wie Beckers an dem Hause gegenüber heftig schellte. Ich lief so rasch ich konnte, endlich war ich an Dr. Martens Wohnung und drückte auf den Knopf. Es kam niemand. Ich schellte noch einmal. Schliesslich drückte ich den Finger auf den Knopf, ohne loszulassen. – Immer noch niemand? Es war mir, als ob ich schon tausend Jahre da stände.
Endlich kam Licht. Dr. Martens kam selbst, nur im Hemde und in Pantoffeln.
»Na, Sie machen aber einen Radau?«
»Wen man so lange warten muss!«
»Entschuldigen Sie, das Mädchen ist fort, ich war ganz allein und bei der Toilette, wie Sie sehen. Ich ziehe mich gerade für eine Gesellschaft an. – Na, was gibts denn?«
»Kommen Sie sofort mit, Doktor! Sofort!«
»So im Hemde? Ich werde doch wenigstens erst eine Hose anziehen können! – Kommen Sie hinein, ich werde mich fertig machen und Sie erzählen mir derweil, was los ist!«
Ich folgte ihm ins Schlafzimmer.
»Sie kennen doch die kleine Änny? Ich meine, Sie trafen Sie einmal bei mir? Also – –«
Und ich machte ihm Bericht. Endlich, endlich war er fertig – Himmel, jetzt zündet er erst noch eine Zigarre an!
Auf der Strasse kam uns Beckers entgegen.
»Ist Ihr Arzt schon oben?« fragte ich ihn.
»Nein, er muss jeden Augenblick kommen. Ich habe ihn hier erwartet.«
Als wir vor dem Hause waren, öffnete sich gegenüber die Haustüre und ein Herr trat heraus. Es war der andere Arzt. Alle vier eilten wir die Treppen hinauf.
»Nun, wo liegt unsere Patientin?« fragte Martens, der zuerst ins Zimmer trat.
»Dort auf dem Diwan«, sagte ich.
»Auf dem Diwan? – Da liegt niemand!«
Ich trat heran – Änny war nicht mehr da. Ich war sprachlos.
»Vielleicht ist sie aufgewacht aus ihrer Ohnmacht und hat sich nebenan aufs Bett gelegt«, meinte der andere Arzt.
Wir gingen ins Schlafzimmer, niemand war da; auch war das Bett völlig unberührt. Wir gingen in Beckers Zimmer; auch dort war sie nicht. Wir suchten in der Küche, in den Zimmern der Wirtin, überall in der ganzen Etage, sie war verschwunden.
Martens lachte: »Na, Sie haben sich mal unnütz aufgeregt! – Sie ist ruhig nach Hause gegangen, während Sie uns harmlosen Bürgern Ihre Mordgeschichten erzählten.«
»Aber dann hätte sie Beckers ja sehen müssen, er war doch die ganze Zeit über unten auf der Strasse.«
»Ich bin auf- und abgegangen,« sagte Beckers, »es wäre nicht unmöglich, dass sie vielleicht hinter meinem Rücken aus dem Hause geschlüpft wäre.«
»Aber es ist ganz unmöglich!« rief ich. »Sie lag ganz steif und starr, das Herz klopfte nicht mehr, die Lungen hatten ausgesetzt. Da kann niemand, so mir nichts dir nichts, aufstehen und gemütlich nach Hause gehen!«
»Sie hat Ihnen was vorgespielt, Ihre Kleine, und hat sich ins Fäustchen gelacht, als Sie verzweifelt die Treppen hinunterstürzten, um Hilfe zu holen.«
Die Ärzte gingen lachend weg; bald darauf kam die Wirtin zurück.
»Ach das Fräuleinchen ist schon fort?«
»Ja«, sagte ich, »sie ist nach Hause gegangen. Herr Beckers wird mit mir zu Abend essen. – Darf ich Sie einladen, Herr Beckers?«
»Danke sehr«, sagte er. »Mit Vergnügen.«
Wir assen und tranken.
»Ich bin wirklich neugierig, wie sich das erklären wird!«
»Werden Sie ihr schreiben?« fragte Beckers.
»Ja, natürlich! Am liebsten möchte ich gleich morgen zu ihr gehen. Ein Vorwand liesse sich schon finden. Wenn ich nur wüsste, wo sie wohnt.«
»Sie wissen nicht, wo sie wohnt?«
»Aber keine Ahnung! Ich weiss ja nicht einmal wie sie heisst. Ich lernte sie vor etwa drei Monaten in der Stadtbahn kennen, dann trafen wir uns ein paarmal im Ausstellungspark. Ich weiss nur, dass sie im Hansaviertel wohnt, keine Eltern hat, aber eine reiche Tante, die höllisch auf sie aufpasst. Ich nenne sie Änny, weil der Name so nett zu ihrem Persönchen passt. Aber sie mag eigentlich Ida, Frieda oder Pauline heissen – was weiss ich.«
»Wie korrespondieren Sie denn mit ihr?«
»Ich schrieb ihr – übrigens selten genug – Ännchen Meier – Postamt 28. Eine hübsche Chiffre, was?«
»Ännchen Meier – Postamt 28«, wiederholte Fritz Beckers nachdenklich.
»Na prost, Herr Beckers, auf gute Freundschaft! Wenn Ännchen Sie auch nicht leiden mag, heute abend hat sie ihnen ja das Feld geräumt.«
»Prosit!« Die Gläser klangen aneinander. Wir tranken und plauderten, und es war sehr spät als wir uns trennten.
Ich ging in mein Schlafzimmer und trat an das offene Fenster. Der grosse Garten lag da unten und das Mondlicht spielte auf den Blättern, die ein leiser Wind leicht schaukelte.
Da war es mir, als ob draussen jemand meinen Namen rief. Ich horchte scharf hin, da klang es wieder – – es war Ännys Stimme.
»Änny!« rief ich durch die Nacht. »Änny!«
»Änny!« rief ich noch einmal. »Bist du da unten?«
Keine Antwort. – Wie sollte sie auch in den Park kommen? Und dann um diese Zeit!
Zweifellos – ich war betrunken.
Ich ging zu Bett und schlief im Augenblick. Ganz fest, ein paar Stunden. Dann wurde mein Schlaf unruhig, ich begann zu träumen. Und ich bemerke, dass mir das nur selten, sehr selten vorkommt.
Sie rief mich wieder.
Ich sah Änny daliegen; Beckers beugte sich über sie. Sie riss die entsetzten Augen weit auf, die kleinen Hände hoben sich, um ihn zurückzustossen. Und die armen, bleichen Lippen bewegten sich, mit unsäglicher Anstrengung drang der Schrei aus ihren Lippen – – mein Name.
Ich erwachte. Ich wischte mir den Schweiss von der Stirne und lauschte. Jetzt wieder, ganz leise, aber klar und durchdringend hörte ich sie rufen. Ich sprang auf und eilte ans Fenster.
»Änny! Änny!«
Nein! Alles war still. Schon wollte ich wieder zu Bett gehen, da klang es noch ein letztes Mal, lauter wie sonst, wie in wahnsinniger Angst.
Kein Zweifel, das war ihre Stimme! Aber diesmal kam der Ton nicht vom Garten her, es war mir, als ob er irgendwo her aus den Zimmern komme.
Ich steckte die Kerze an und suchte unter dem Bett, hinter den Vorhängen, in den Schränken. Ganz unmöglich, hier konnte niemand verborgen sein. Ich ging ins Wohnzimmer. Nein, sie war nirgends.
Wenn Beckers – –? Aber der Gedanke war ja absurd! Trotzdem, was ist unmöglich? Ohne mich lange zu besinnen, ging ich an seine Türe und, drehte die Klinke. Sie war verschlossen. Da warf ich mich mit aller Kraft dagegen: das Schloss zerbrach und die Türe flog weit auf. Ich ergriff das Licht und stürmte hinein.
»Was gibt's denn?« fragte Fritz Beckers.
Er lag in seinem Bett und wischte sich den Schlaf aus den Augen. Meine Vermutung war wirklich kindisch gewesen!
»Entschuldigen Sie meine Albernheiten«, sagte ich. »Ein närrischer Traum liess mich alle Vernunft verlieren.«
Ich erzählte ihm, was ich geträumt hatte.
»Merkwürdig,« sagte er, » ich habe ganz etwas Ähnliches geträumt.«
Ich sah ihn an, ein überlegener Hohn lag auf seinen Zügen.
»Sie brauchen sich nicht über mich lustig zu machen!« knurrte ich und ging.
– Am anderen Morgen schrieb ich ihr einen langen Brief. Fritz Beckers trat herein, als ich gerade die Adresse schrieb, er sah mir über die Schulter und las: »Ännchen Meier. Postamt 28. Lagernd.«
»Wenn Sie nur bald eine Antwort bekommen«, lachte er.
Aber ich bekam keine. Ich schrieb nach vier Tagen noch einmal und ein drittes Mal nach vierzehn Tagen.
Schliesslich bekam ich eine Antwort, aber in einer mir gänzlich fremden Handschrift:
»Ich will nicht, dass Sie noch mehr Briefe von mir in Händen haben, darum diktiere ich diese Zeilen einer Freundin. Ich bitte Sie, mir unverzüglich alle meine Briefe und was sie sonst an Erinnerungen von mir haben, zurückschicken zu wollen. Den Grund, weshalb ich nichts mehr von Ihnen wissen will, können Sie sich selbst denken: wenn Sie Ihren ekelhaften Freund mir vorziehen, so gehe ich lieber selbst!«
Eine Unterschrift fehlte, dagegen waren in dem Kuvert meine letzten drei Briefe uneröffnet beigeschlossen. Ich schrieb ihr noch einmal, aber auch diesen Brief erhielt ich wenige Tage darauf uneröffnet zurück. So entschloss ich mich denn, packte all die Briefchen, die ich je von ihr empfangen, in ein grosses Kuvert, legte die anderen Kleinigkeiten hinzu und sandte es an die postlagernde Adresse.
Als ich abends Beckers davon erzählte, fragte er mich:
»Sie haben alles zurückgesandt?«
»Ja, alles!«
»Gar nichts zurückbehalten?«
»Nein, gar nichts; weshalb fragen Sie?«
»Ich meinte nur. Es ist auch besser so, als sich mit allen möglichen alten Erinnerungen herumzuschleppen.«
* * *
– – Ein paar Monate vergingen, da erklärte Beckers eines Tages, dass er die Wohnung kündige.
»Sie gehen fort von Berlin?«
»Ja«, antwortete er. »Nach Usedom zu meiner Tante. Ein sehr schönes Land – Usedom!«
»Wann fahren Sie?«
»Ich sollte eigentlich schon fort sein. Aber übermorgen feiert ein alter Freund von mir ein Jubiläum, da habe ich versprechen müssen, hinzukommen. Übrigens würde ich mich sehr freuen, wenn Sie mir das Vergnügen machten, mit hinzugehen.«
»Auf das Jubiläum Ihres Freundes?«
»Ja! Sie werden etwas anderes finden, als Sie sich vorstellen. Übrigens haben wir nun fast sieben Monate friedlich miteinander gehaust, da werden Sie mir die kleine Bitte nicht abschlagen können, den letzten Abend mit mir zu verbringen.«
»In Gottes Namen«, sagte ich.
An dem Abend kam Beckers gegen acht Uhr zu mir, um mich abzuholen.
»Sogleich!« sagte ich.
»Ich gehe schon vor, um eine Droschke zu holen. Ich werde unten auf Sie warten. Darf ich Sie noch bitten, schwarze Beinkleider, Gehrock und schwarzen Schlips anzuziehen, auch schwarze Handschuhe zu nehmen? Sie sehen, ich bin auch so angezogen.«
»Auch das noch!« brummte ich. »Das scheint ja ein nettes Jubiläum zu werden.«
– Als ich aus der Haustüre trat sass Beckers schon in einer Droschke. Ich stieg ein und wir fuhren durch Berlin, ich achtete nicht auf die Strassen. Nach etwa dreiviertel Stunden hielten wir; Beckers zahlte Und führte mich durch einen grossen Torbogen. Wir kamen dann in einen langen Hof, der hinten von einer hohen Mauer umgrenzt war. Beckers stiess eine niedere Tür in der Mauer auf und wir gelangten zu einem kleinen Hause, das dicht an der Mauer lag. Dahinter breitete sich ein mächtiger Garten aus.
»Sieh mal an, noch ein so grosser Privatgarten in Berlin? Man lernt doch nie aus!«
Ich hatte aber keine Zeit genauer hinzusehen, Beckers war schon oben auf der Steintreppe und ich beeilte mich, ihm zu folgen. Die Tür wurde geöffnet; wir traten aus dem dunklen Flur in einen kleinen, bescheiden eingerichteten Raum. In der Mitte stand ein weissgedeckter Tisch, darauf eine grosse Steingutbowle. Rechts und links brannten Kerzen in zwei schwersilbernen, fünfarmigen Leuchtern, ein paar ebensolche hohe Kirchenleuchter warfen auf einer als Büfett dienenden Kommode ihr Licht auf einige grosse Schüsseln voller Butterbrote. An den Wänden hingen ein paar uralte Öldrucke, auf denen man kaum mehr die Farben erkennen konnte, ausserdem eine Unmenge von Kränzen, alle mit schönen breiten Seidenschleifen. Der Jubilar war augenscheinlich Sänger oder Schauspieler. Und tüchtig musste er sein! Soviel Kränze hatte ich bei der gefeiertsten Diva nicht gesehen. Vom Fussboden bis zur Decke hingen sie hinauf, meist als und verwelkt, aber es waren auch ganz frische darunter, die kaum einen Tag alt sein mochten und die der Jubilar wohl gerade zu seinem Jubelfeste bekommen hatte.
Jetzt stellte Beckers mich vor;
»Ich habe Ihnen hier meinen Freund mitgebracht«, sagte er. – »Herr Laurenz – seine Frau – – und Familie!«
»Recht so! Recht so, Herr Beckers!« sagte der Jubilar und schüttelte mir die Hand. »Es ist eine hohe Ehre für uns.«
Nun habe ich schon manche seltsame Pflanze auf deutschen Bühnen blühen und wachsen sehen, aber so eine!? Man stelle sich vor: der Jubilar war ganz ausserordentlich klein und wenigstens fünfundsiebzig Jahre alt Seine Hände waren so schwielig wie eine alte Soldatenschuhsohle und dabei, obwohl er augenscheinlich für die Feier einen energischen Reinigungsversuch unternommen hatte, von einer dunkelbraunen Erdfarbe. Sein Gesicht war vertrocknet wie eine Kartoffelschale, die zwei Monate lang in der Sonne lag, und seine riesigen Ohren standen wie Wegweiser in die Luft hinein. Über den zahnlosen Mund hing ein struppiger, grauer Schnurrbart, der von Schnupftabak starrte, dünne Haarsträhne von einer undefinierbaren Farbe klebten hier und da auf dem blanken Schädel.
Seine Frau, nicht viel jünger als er, schenkte uns ein und stellte einen Teller mit Schinken- und Wurstbrötchen vor uns hin – die übrigens sehr lecker waren, was mich einigermassen mit ihr versöhnte. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid, und Brosche und Armbänder aus schwarzem Jett. Auch die anderen Gäste, etwa fünf bis sechs Herren, waren alle in Schwarz. Einer war dabei, der noch kleiner und älter war als der Jubilar, die übrigen mochten vierzig bis fünfzig Jahre zählen.
»Ihre Verwandten?« fragte ich Herrn Laurenz.
»Nein. Nur der da, der Einäugige, das ist mein Sohn! Die andern sind meine Leute.«
Also seine Leute waren es! So war also meine Vermutung, dass Herr Laurenz eine Bühnengrösse sei, doch falsch. Aber woher hatte er dann alle diese prachtvollen Kränze bekommen? – Ich las die Widmungen auf den Seidenbändern. Da stand auf einem schwarzweissroten Bande: »Unserm tapfern Hauptmann – die treue Grenadierkompagnie der St. Sebastianschützengilde.« – Also Schützenhauptmann war er! Auf einem andern Bande war zu lesen: »Die Reichstagswähler des Christlichen Central-Comités.« – In Politik machte er auch! – »Dem grössten Lohengrin aller Zeiten!« – Er war also doch Opernsänger? – »Dem unvergesslichen Kollegen – Der Berliner Presseklub.« – Was? Dazu noch ein Mann der Feder? – »Der Leuchte deutscher Wissenschaft, der Zierde deutschen Bürgertums – Der freisinnige Verein Waldeck.« – Wirklich, ein bedeutender Mensch, der Herr Laurenz. Ich schämte mich ordentlich, nie von ihm gehört zu haben. – Eine blutrote Schleife zeigte die Worte: »Dem Sänger der Freiheit – Die Männer der Arbeit«; während auf einer grünen Schleife zu lesen war: »Meinem treuen Freund und Mitkämpfer – Stöcker, Hofprediger a. D.« – Was war das für ein seltsamer Mann, der alles verstand und von allen gleich verehrt wurde? – Da in der Mitte hing eine mächtige Schleife mit den drei inhaltschweren Worten: »Deutschlands grösstem Sohne.«
»Entschuldigen Sie, Herr Laurenz,« begann ich bescheiden, »ich bin tief unglücklich, nie vorher von Ihnen gehört zu haben. Darf ich mir die Frage erlauben –«
»Gewiss das!« sagte Herr Laurenz jovial.
»– welches Jubiläum Sie eigentlich heute in so reizend kleinem Familienkreise feiern?«
»Hunderttausend!« sagte Herr Laurenz.
»Hunderttausend?« fragte ich.
»Hunderttausend!« sagte Herr Laurenz und spuckte mir auf den Stiefel.
»Hunderttausend!« sagte sein einäugiger Sohn nachdenklich. »Hunderttausend!«
»Hunderttausend!« wiederholte Frau Laurenz. »Darf ich Ihnen noch ein Glas Bowle einschenken?«
»Hunderttausend!« sagte Herr Laurenz noch einmal. »Ist das nicht eine schöne Zahl?«
»Eine sehr schöne Zahl!« sagte ich.
»Wirklich, es ist eine sehr schöne Zahl!« sagte Fritz Beckers, stand auf und erhob sein Glas. »Hunderttausend! Eine ausserordentlich schöne Zahl Hunderttausend! Bedenken Sie doch!«
»Es ist eine wundervolle Zahl!« sagte der eine Gast, der noch älter und kleiner war als Herr Laurenz. »Eine ganz wundervolle Zahl: Hunderttausend!«
»Ich sehe, Sie verstehen mich, meine Herren,« fuhr Fritz Beckers fort, »und darum brauche ich keine langen Worte zu machen. Ich beschränke mich auf das eine Wort: Hunderttausend! Ihnen aber, lieber Jubilar, wünsche ich: Noch einmal Hunderttausend!«
»Noch einmal Hunderttausend!« riefen seine Frau und sein Sohn und seine Leute und alle stiessen mit dem Jubilar an.
Mir ging ein Licht auf: Herr Laurenz hatte die ersten Hunderttausend beisammen, Mark oder Taler, und deshalb gab er eine Bowle!
Ich nahm auch mein Glas und stiess mit ihm an: »Erlauben Sie mir, mich aus vollem Herzen dem Wunsche des Herrn Beckers anzuschliessen! Noch einmal Hunderttausend! Prosit! Non olet!«
»Was sagt er da?« wandte sich der Jubilar an Beckers.
» Non olet: – es stinkt nicht!« erklärte dieser.
»Stinkt nicht?« – Herr Laurenz lachte. –
»Na, wissen Sie, junger Freund, Sie würden sich schon die Nase halten! Fast alle stinken. Mir können Sie's glauben.«
Auf welch gaunerische Weise mochte dieser alte Sünder zu seinem Gelde gekommen sein, wenn er so zynisch davon sprach!
Beckers stand wieder auf und nahm ein Paket, das er vorher auf die Kommode gelegt hatte.
»Ich habe Ihnen hier, Herr Laurenz, ein kleines Zeichen meiner Erkenntlichkeit mitgebracht, zugleich eine Erinnerung an unsere Freundschaft und an Ihr schönes Jubiläum.«
Er nahm das Papier ab und brachte einen grossen blanken Totenschädel zum Vorschein, schön in Silber gefasst. Die Schädeldecke war abgesägt und wie ein Bierglasdeckel wieder aufgesetzt, sie bewegte sich hinten in einem Scharnier.
»Geben Sie den Bowlenlöffel!« sagte er. Dann schenkte er den Schädel bis obenhin voll, trank und reichte ihn dem Jubilar. Dieser trank auch und reichte ihn weiter, so machte der Schädel die Runde.
»Du, Alte!« lachte der Jubilar. »Der ist gut für meine kleine Frühstücks-Weisse.«
Fritz Beckers sah auf seine Uhr:
»Viertel nach Zehn? Ich muss mich beeilen, mein Zug fährt mir davon.«
»Lieber Freund und Gönner!« bat der Jubilar. »Nur etwas noch! Noch ein Viertelstündchen! Ich bitte Sie, lieber Freund und Gönner!«
Fritz Beckers war der Gönner dieses berühmten Mannes? Das wurde immer rätselhafter.
»Nein, es geht nicht«, sagte der Gönner energisch und reichte mir die Hand. »Auf Wiedersehen!«
»Ich gehe mit Ihnen.«
»Sie würden einen grossen Umweg machen, ich muss zum Stettiner Bahnhof. – Ich laufe zur nächsten Haltestelle und werde Ihnen eine Droschke herschicken. – Adieu! Ich muss mich beeilen, wenn ich den Zug noch erwischen will.«
Alle brachten ihn hinaus; ich blieb allein und trank mein Glas aus. Der Alte kam, um es mir wieder voll zu schenken.
»Wissen Sie,« sagte er zu mir, »wenn Sie etwas brauchen, kommen Sie nur. Ich bediene Sie gut. Sie können ja Herrn Beckers fragen. Nur frische Ware!«
Also Kaufmann war er! Jetzt hatte ich es heraus.
»Gewiss, ich werde bei Bedarf an Sie denken. Augenblicklich bin ich noch versorgt.«
»Sooo? – Von wem denn?« – Der Jubilar erschrak ordentlich.
Richtig, ich hatte ja keine Ahnung, mit was der Alte eigentlich handelte.
»Von Wertheim«, sagte ich, das schien mir am sichersten.
»O die Warenhäuser!« jammerte er. »Sie ruinieren den kleinen Mann! – Aber Sie werden sicher nicht gut bedient, probieren Sie's mal mit mir. Was Sie bei Wertheim kriegen, ist gewiss nicht gut, faule Fische, abgestanden – –«
Also Fischhändler war er! Endlich! Beinahe hätte ich ihm eine Bestellung gemacht, aber es fiel mir gerade noch ein, dass wir am Ende des Monats waren.
»Für die erste Zeit bin ich noch versehen, aber nächsten Monat können Sie mir etwas schicken. Geben Sie mir Ihre Preisliste.«
Der Alte war ganz verdutzt:
»Eine Preisliste? – Hat Wertheim eine Preisliste?«
»Natürlich hat er! Billige Preise und gute Ware, ganz frisch, spring-lebend.«
Der Jubilar sprang entsetzt auf und fiel seiner Frau fast besinnungslos in die Arme.
»Du, Alte!« stöhnte er, » Wertheim liefert lebend!!«
In diesem Augenblick hörte ich draussen die Droschke vorfahren. Ich benutzte die Verwirrung, lief aus der Stube, nahm Mantel und Hut und schlüpfte aus dem Hause. Rasch sprang ich die Steintreppe hinunter, ging durch die Gartentüre in der Mauer und öffnete den Droschkenschlag.
»Café Secession!« rief, ich dem Kutscher zu.
Ich stieg ein und die Pferde zogen an. Schnell warf ich noch einen Blick zurück, da sah ich neben der Türe ein kleines weisses Schild. Ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und las mit einiger Mühe:
Jacob Laurenz.
Totengräber.
– – Donnerwetter! Der Jubilar war Totengräber!
* * *
Einige Monate, nachdem Beckers fortgezogen war, zog ich auch aus. Die Wirtin half mir meine Koffer und Kasten zusammenpacken. Ich war gerade dabei, eine Bilderkiste zuzunageln, als der Griff des Hammers zersprang. »Zum Kuckuck!« rief ich.
»Ich habe noch einen andern da«, sagte die Wirtin, die gerade die Anzüge fein säuberlich zusammenlegte. »Warten Sie, ich hole ihn.«
»Lassen Sie nur, ich laufe schon selber. Wo liegt er?«
»In der Schublade im Küchentisch. Aber ziemlich nach hinten.«
Ich ging in die Küche. Die Schublade war voll von nützlichen und unnützen Gegenständen. Alle möglichen Werkzeuge, Nägel, Knöpfe, Bindfäden, Türklinken und Schlüssel. Plötzlich zog ich ein blaues Bändchen heraus, daran hing ein unscheinbares goldenes Medaillon. – War das nicht Ännys? – Ich öffnete es, es war eine verblasste kleine Photographie darin, das Bild ihrer Mütter. Sie trug dieses einzige Andenken an die Tote immer auf der Brust wie ein Amulett.
»Das will ich mit mir ins Grab nehmen«, sagte sie mir einmal.
Ich nahm das Medaillon mit ins Zimmer.
»Wo haben Sie das her?« frug ich die Wirtin.
»Ich habe es neulich gefunden, als ich Herrn Beckers Zimmer aufwusch. Es lag hinten in dem kleinen Räume in einer dunklen Ecke. Ich wollte es ihm aufbewahren, vielleicht kommt er noch mal her.«
»Ich werde es an mich nehmen«, sagte ich. – Ich stecke das Medaillon in meine Brieftasche; da hat es jahrelang geruht. Später schenkte ich es dem Museum für Naturkunde in der Invalidenstrasse. Neulich erst, vor acht Tagen.
Ich sass nämlich im Café Monopol, vor mir einen Berg von Zeitungen. Da flog der kleine Beermann vom Börsencourier herein.
»Schale Haut, Herr Doktor?« fragte der Kellner.
»Schale Haut!«
Er setzte sich an einen kleinen Tisch und putzte die beschlagenen Zwickergläser. Dann blickte er sich um.
»Ah, Sie da?« rief er, als er mich bemerkte. »Bringen sie den Kaffee dort hin, Fritz!«
Er kam zu mir hinüber, während der Kellner die Tasse vor ihn stellte.
»Ihr Wiener seid grässliche Menschen! Wie kann man das Zeug da trinken!«
»Finden Sie?« sagte er. – »Ich bin selig, dass ich Sie getroffen habe, Sie müssen mir einen Gefallen tun!«
»Hm!« machte ich. »Ich habe absolut keine Zeit heute abend.«
»Aber Sie müssen mir helfen! Unbedingt. Es ist ja niemand anders hier heute abend und ich muss gleich wieder fort!«
»Was gibt's denn?«
»Ich muss in die Premiere zum Deutschen Theater. Und da fällt mir plötzlich ein, dass ich noch eine andere Sache heute abend habe, die ich total vergessen hatte.«
»Was denn?«
»Im Museum für Naturkunde hält heute abend Professor Köhler einen Vortrag über die neuen ägyptischen Erwerbungen dieses Museums. Der ganze Hof wird erscheinen. Eine sehr interessante Sache!«
»Ausserordentlich interessant.«
»Nicht wahr? – Also tun Sie mir den Gefallen und gehen Sie hin. Ich werde Ihnen sehr dankbar sein.«
»Kann ich mir denken! Aber wissen sie was: mich interessiert das gar nicht.«
»Ich bitte Sie! – Das aktuellste, was es geben kann! Alle die neuen Funde werden vorgeführt. Ich bin ganz unglücklich, dass ich selbst nicht hin kann.«
»Also machen wir's so: Sie gehen ins Museum und ich gehe zum Deutschen Theater.«
»Unmöglich! Leider ganz unmöglich! Ich habe meiner Kusine versprochen, sie heute mit ins Theater zu nehmen.«
»Also bitte, tun Sie mir den Gefallen! Sie werden es nicht bedauern. Sie müssen mir aus der Verlegenheit helfen.«
»Aber –«
Er sprang auf und warf ein paar Groschen auf den Tisch:
»Fritz! Für den Kaffee! – Hier sind die Karten. Zwei. Sie können noch einem andern eine Freude machen!«
»Eine nette Freude! Ich – –«
»Da – und vergessen Sie nicht, den Bericht noch heute abend in den Kasten zu stecken, damit ich ihn mit der ersten Post auf der Redaktion finde! Vielen Dank! Zu Gegendiensten stets bereit! Servus! Servus!«
– Und fort war er.
Da lagen die Karten vor mir. Himmel, ich musste wohl hin, er hatte mir schon so oft Gefälligkeiten erwiesen. – Der grässliche Kerl!
Ich versuchte gar nicht erst, irgendeinem anderen die Karten aufzuhängen, ich wusste ja doch, dass ich sie nicht los werden würde.
Natürlich ging ich erst hin, als schon dreiviertel des Vortrags zu Ende war. Ich setzte mich zu dem Philologen der »Norddeutschen«, und liess mir von ihm Notizen geben. Ich erfuhr, dass das Museum durch die wahrhaft fürstliche Munifizenz der Herren Kommerzienräte Brockmüller (Javol) und Lilienthal (Odol) in die glückliche Lage gekommen war, die prachtvollen Funde in den Pyramiden von Togbao und Kumo im Bausche für eine ungeheure Summe anzukaufen. Diese fast völlig zerstörten Pyramiden waren von einem jungen Forscher einige hundert Kilometer südlich vom Tschadsee aufgefunden worden, im Reiche des Rabeh, dessen Gefangener der deutsche Gelehrte jahrelang war. Als der Tyrann am 22. April 1900 den Franzosen unter Lamy erlag und ein indischer Scharfschütze den Kopf des Sklavenfürsten in das französische Lager trug, schleppte sein Sohn Fadel-Allah den jungen Deutschen weiter mit sich nach Bergama im Reiche Bornu, wo ihn seine kriegerische Schwester, die Amazone Hana, die Witwe Haiatus, zum Ehemann nahm. Als dann am 23. August 1901 morgens fünf Uhr die Engländer unter Dangeville bei Gudjha die letzten »Basinger« im Schlafe überfielen und töteten, fand er endlich die Freiheit und begab sich nun zu den Senussi, deren Ordensoberhaupt ihm als Deutschen sehr entgegenkam, da diese fanatischen Mohammedaner, denen von allen Seiten die franzosenfeindlichen Tuaregs zuströmen, augenblicklich gegen Frankreich ihre Politik richteten. So gelang es ihm, mit Hilfe der Leute von Kanun die Schätze zu bergen und sie über Nordkamerun an die Küste und von dort nach Deutschland zu schaffen.
Leider war der junge Gelehrte selbst nicht anwesend, er war wenige Wochen nach seiner Ankunft in Europa wieder nach Zentral-Afrika abgereist.
Dagegen waren, Gott sei dank! die beiden Herren Kommerzienräte anwesend, sie sassen nebeneinander in der ersten Reihe, und sie schwollen ordentlich von dem Ruhme, Spuren altägyptischer Kultur am Tschadsee nachgewiesen zu haben.
»Und nun darf ich Sie wohl bitten«, schloss Professor Köhler seinen Vortrag, »nach vorn treten zu wollen und unsern unschätzbaren Fund selbst in Augenschein zu nehmen.«
Er liess einen Vorhang zurückziehen, hinter dem die Herrlichkeiten aufgebaut waren.
»Es dürfte Ihnen allen nicht unbekannt sein, dass im alten Ägypten die Katze als ein heiliges Tier verehrt wurde, ebenso wie das Krokodil, der Ibis, der Sperber und alle diejenigen Säugetiere, die dem Ptah geweiht wären, das heisst, einen dreieckigen, weissen Fleck auf der Stirne trugen. Deshalb wurden diese Tiere, geradeso wie die Pharaonen, Oberpriester und Vornehmen des Landes einbalsamiert; in allen Pyramiden und Matasben finden wir Katzenmumien. Unser Fund ist darin besonders reich, ein Beweis, dass die ägyptischen Kolonisten am Tschadsee aus der Katzenstadt Bubastis stammten; wir zählen nicht weniger wie zweihundertachtundsechzig dieser Reliquien aus grauer Vorzeit.«
Und der Professor wies stolz auf die langen Reihen hin, die aussahen wie ein Regiment vertrockneter Wickelkinder.
»Dort sehen Sie«, fuhr er fort, »weiter vierunddreissig Menschenmumien, wahre Prachtexemplare, um die uns jedes Museum beneiden wird. Und zwar sind diese Mumien nicht, wie die aus Memphis, schwarz, vertrocknet und leicht zerbrechlich, sondern ähnlich den thebanischen von gelber Farbe und von mattem Glanze. Man muss wirklich staunen vor der ungeheuren Kunst der altägyptischen Einbalsamierer! – Nun aber komme ich zu dem schönsten Edelstein dieser reichen Fundgrube: hier liegt eine echte Topharmumie! Nur drei solche kennt die Welt, die eine kam 1834 durch Lord Hawthorne in das South-Kensington-Museum zu London, die andere, wahrscheinlich die Gattin des Königs Mereure aus der sechsten Dynastie, um 2500 v. Chr., ist im Besitze der Harvard-Universität, ein Geschenk des Milliardärs Gould, der dem Khediven Tewfik nicht weniger wie achtzigtausend Dollars dafür bezahlte. Und das dritte Exemplar verdankt unser Museum der grossherzigen Liberalität und dem hohen wissenschaftlichen Interesse der Herren Kommerzienräte Brockmüller und Lilienthal!«
Javol und Odol strahlten über die fetten Gesichter.
»Die Topharmumie«, fuhr der Professor fort, »ist nämlich ein Denkmal eines der eigentümlichsten und zugleich grauenhaftesten Gebräuche, die die Weltgeschichte kennt. Wie im alten Indien der Brauch bestand, dass die Witwe lebend dem verstorbenen Gatten in die Flammen folgte, so galt es in Ägypten als ein Zeichen der allerhöchsten Treue, wenn eine Gattin dem verstorbenen Gatten in die Totengruft folgte und sich – lebend – einbalsamieren liess. Nun bedenken Sie, bitte, dass nur die Leichen der Pharaonen und der Allervornehmsten einbalsamiert wurden, bedenken Sie ferner, dass diese unerhörte Probe der Gattentreue eine freiwillige war, dass sich also nur sehr wenige Frauen dazu entschlossen haben, so werden Sie ermessen, wie ungeheuer selten solche Tophars sind. Ich möchte behaupten, dass in der ganzen ägyptischen Geschichte kaum sechsmal die grosse Topharzeremonie gefeiert wurde! – Die Topharbraut, wie sie die ägyptischen Dichter nennen, begab sich mit grossem Gefolge in die unterirdische Totenstadt, um ihren jungen Leib den schrecklichen Einbalsamierern anzuvertrauen. Diese machten mit ihr dieselben Manipulationen wie mit den Leichen, mit dem Unterschiede, dass sie sehr langsam dabei zu Werke gingen, um den Körper so lange wie möglich am Leben zu erhalten. Im einzelnen ist uns die Art und Weise der Einbalsamierung noch wenig bekannt, wir kennen sie nur aus einigen, höchst mangelhaften Notizen Herodots und Diodors. Soviel aber ist sicher, dass die Topharbraut unter unerhörten Qualen lebend zur Mumie verwandelt wurde. Freilich, einen schwachen Trost hatte sie dafür: ihre Mumie vertrocknete nicht, sie blieb frisch wie im Leben und verlor auch nicht die leiseste Farbe. Überzeugen Sie sich selbst, man sollte glauben, dass diese schöne Frau hier soeben erst eingeschlafen wäre!«
Mit diesen Worten zog der Professor ein seidenes Tuch weg.
»Ah! – Ah! – Ah!« riefen die Leute.
Da lag ein junges Weib auf dem Marmortisch, bis zur Brust hinauf mit feinen Leinenstreifen umwickelt. Schultern aber, Arme und Kopf waren frei, schwarze Ringellocken spielten über der Stirne. Die feinen Nägel der kleinen Hände waren mit Henna gefärbt, an der Linken trug sie auf dem dritten Finger einen Scarabaeus. Die Augen waren geschlossen, die schwarzen Wimpern sorgsam mit Fliegenbeinen verlängert.
Ich trat mit den andern heran, ganz nahe, um besser sehen zu können – – –
Gerechter Himmel! Das war ja Änny!
Ich schrie laut auf, doch mein Schrei vertönte in dem Geräusche der Menge. Ich wollte sprechen, aber es war mir, als ob ich die Zunge nicht bewegen könne, ich starrte entsetzt auf die Tote.
»Diese Topharbraut«, hörte ich den Professor sagen, »ist zweifellos kein Fellahmädchen. Ihre Gesichtszüge tragen unverkennbar den Typus der indogermanischen Rasse, ich vermute, dass sie eine Griechin ist. Und dies Faktum ist doppelt interessant, beweist es doch die Spuren nicht nur ägyptischer, sondern auch hellenischer Kultur am Tschadsee, mitten in Zentralafrika – –«
Mein Blut hämmerte an den Schläfen, ich hielt mich an einer Stuhllehne, um nicht umzusinken. Da legte sich eine Hand auf meine Schulter.
Ich drehte mich um und sah ein glattrasiertes Gesicht – und doch – ah, das war ja – – beim Himmel – – Fritz Beckers!
Er fasste mich am Arm und zog mich aus der Menge heraus. Ich folgte ihm, fast willenlos.
»Ich werde Sie dem Staatsanwalt anzeigen!« zischte ich durch die Zähne.
»Sie werden das nicht tun, es würde gar keinen Zweck haben. Sie würden sich nur selbst Unannehmlichkeiten machen. Ich bin niemand, absolut niemand! Wenn Sie die ganze Erde durch ein Sieb schütten würden, Sie würden Fritz Beckers nicht darin finden. – So hiess ich ja wohl in der Winterfeldstrasse?«
Er lachte, und sein Gesicht nahm einen widerlichen Ausdruck an. Ich konnte ihn nicht ansehen; wandte mich halb um und starrte auf den Boden.
»Und übrigens,« raunte er mir in die Ohren, » ist es denn nicht besser so? Sie sind doch ein Dichter – – ist Ihnen Ihre kleine Freundin so nicht lieber, in ewiger Schönheit, als auf einem Berliner Kirchhof von Würmern zerfressen?«
»Satan!« stiess ich hervor. »Hündischer Satan!«
Ich hörte ein paar leichte Schritte und blickte auf. Ich sah, wie Fritz Beckers hinten durch eine Saaltüre schlüpfte.
Der Professor hatte seinen Vortrag beendet; man hörte lautes Beifallsklatschen. Er wurde beglückwünscht und schüttelte viele Hände, ebenso wie die Herren Kommerzienräte. Die Menge drängte zum Ausgang. – Unbemerkt trat ich an die Tote. Ich nahm das Medaillon mit dem Bild ihrer Mutter aus der Brieftasche und schob es leise auf ihre junge Brust, gerade unter die Leinenstreifen. Dann beugte ich mich vor und küsste sie leicht zwischen die Augen.
»Adieu, liebe kleine Freundin!« sagte ich.
* * *