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Niemand hätte vermutet, in dem winkligsten Teil der unteren Stadt hinter dem ›Wilden Mann‹, wo die Häuser auseinander herauswachsen und sich biegen und krümmen wie die Bäume in einem verkommenen Eichenwald, ein Gärtchen zu finden, wie es der Herbergsvater der Schneiderzunft herzurichten und zu erhalten wußte. Es bot nur Raum für vier kleine Wirtstische; aber drei überaus genügsame Kastanienbäumchen fanden trotzdem Luft und Licht genug, alljährlich ein neues Laubdach über sie zu breiten und den Meistern der ehrsamen Schneiderzunft den ganzen Sommer hindurch ein kühleres Trinkstübchen zu verschaffen, als es irgend sonstwo in der Stadt zu finden war. Das ist heutzutag alles anders geworden und nur die ältesten Ulmer wissen sich zu erinnere, daß ihre Väter das Gärtchen noch gesehen haben wollten. Es soll mit schuld daran gewesen sein, daß die Schneider von Ulm durstigere Kunden waren als die andrer Gemeinwesen im zerfallenen, aber noch immer trinkfesten Reich und in dieser Hinsicht nur von den Bäckern und Fleischern, den Schmieden und Zimmerleuten derselben ehrwürdigen einstigen Reichsstadt übertroffen wurden.
So saßen denn auch schon kurz nach zwei Uhr drei der Herren Meister am hintersten, schattigsten Tisch des Gärtchens vor einem gewaltigen Steinkrug, aus dem sie abwechslungsweise tranken, obgleich die Versammlung vor offener Lade erst auf drei Uhr angesagt war. Sie gehörten mit Ausnahme nicht einmal zu den Durstigsten und ratschlagten mit nüchterner Bedächtigkeit. Es war Glöcklen, der zweite Zunftmeister, Meister Bandel aus der Platzgasse, der älteste der Zunft, der den Siebenjährigen Krieg mitgemacht hatte, und Bockelhardt, der allerdings nur noch auf Stör arbeitete, aber doch mit Rücksicht auf alte Zeiten als Vollmeister mitzählte und sogar eine gewisse Achtung genoß; das Ansehen, mit dem man in andern Kreisen ein verkommenes Rittergeschlecht und seine zerfallende Burg betrachtet.
»Der Obermeister muß aus dem Häuschen sein«, klagte der runde rosige Glöcklen mißmutig, indem er sich den Schweiß von der Stirne wischte, denn es war ein erstickend schwüler Nachmittag und das Bier wirkte. »All' Ritt eine Sitzung. Man kommt zu keiner ehrlichen Arbeit mehr.«
»Das sind die Zeiten!« stöhnte der alte Bandel, daß sein weißer Bocksbart zitterte. »Alles wackelt und bewegt sich. Es soll schon seine Richtigkeit haben: Wir werden württembergisch.«
»Meinethalben chinesisch, solange das Bier bayrisch bleibt«, sagte Bockelhardt, der noch nüchtern war und denken konnte. »Das haben die Herren Brauer im ›Goldenen Ochsen‹, im ›Hecht‹ und auch hier im ›Wilden Mann‹ doch gelernt, seitdem wir königlich sind: ihr Bier sieden. Hat halt alles sein Gutes. Wer weiß, was uns die Württemberger bringen werden. Sie glauben, sie seien allein die echten Schwaben, und halten sich für besonders schlau.«
»Ihr König ist's. Ich denke wie der Rat Schwarzmann und wollte, wir blieben bayrisch«, meinte Glöcklen. »Aber deshalb sind wir nicht zusammengerufen worden. Es geht die Zunft nichts mehr an, wer die Stadt regiert. Die Zeiten sind vorbei, Bandel, Gott sei's geklagt.«
»Das alte Zeughaus wird wohl nie mehr hergerichtet«, versetzte der Achtzigjährige, seinen zahnlosen Mund öffnend, als ob er gähnen wollte. »Nie mehr! Wir könnten unser tapfer Fähnlein der Stadtbibliothek schenken. Und die Franzosen hinten und vorn, oben und unten! Sind das Zeiten!«
Bockelhardt leerte den Krug, um sich und die andern zu trösten, und schlug ihn dröhnend auf den Tisch:
»Also frag' ich: Wozu sind wir hier?«
»Na, du brauchst nicht so breitspurig zu tun, Nachbar«, lachte Glöcklen. »Wer zahlt hier, du oder ich? Wozu wir hier sind? Erstlich soll die Bruderschaft entscheiden, ob der Breithuber, der Altgesell bei Strigl in der Schwörhausgasse, Meister werden soll oder nicht.«
»Nicht!« sagte Brandel prompt. »Wir haben Meister genug für die schlechten Zeiten; etliche zuviel, mit Respekt zu sagen.«
»Das Alter hätt' er«, meinte Glöcklen gutmütig.
»Zweifach«, versetzte der andre ärgerlich. »Wir kennen ihn; er war bei dir auch schon Altgesell, Bockelhardt. Gehört nach Ansbach; die sollen ihn füttern. Der Herrgottsackerment will keine Meisterstochter heiraten und könnte drei haben, so alt wie er. Das war Handwerksbrauch zu meiner Zeit und soll's bleiben, Revolution hin, Revolution her! Wir haben an dem Berblinger genug von dieser Sorte. Wie ist's, Glöcklen, beißt er noch nicht an?«
»Das halte er, wie er will«, antwortete der Befragte verdrießlich. »Meine Schwägerin würde sich heute besinnen, mehr für ihn zu tun als haushalten. Der Berblinger? Auch wegen dem sind wir hier, wie ich höre.«
»Der Berblinger?« nickte Bockelhardt. »Ich kann ihn wohl leiden von früheren Zeiten her – das Prätle –; hab' ihm oft genug auf die Finger geklopft. Muß wieder geschehen; er treibt's zu bunt. Der Krug geht so lange zum Brunnen –«
»Als du zum Faß«, unterbrach ihn Glöcklen. »Was wißt denn ihr?«
»Er hat seinen zweiten Gesellen auch laufen lassen«, antwortete Bandel. »Er arbeitet jetzt nur noch mit einem Lehrbuben, mit Bockelhardts Fränzle. Du solltest mehr von ihm wissen«, wandte er sich an diesen, »als wir beide zusammen.«
»Der Bub sagt nichts. Ich hab' noch nie einen Buben gesehen wie den Buben«, berichtete Bockelhardt. »Die Leute schwatzen um so mehr, wenn der Tag lang ist, Dummes und Gescheites, und ich glaube wahrhaftig: Mit dem Dummen hat es diesmal seine Richtigkeit.«
»Ja, ja, so ist's!« erklärte der alte Bandel. »Diesmal hat der Bockelhardt recht. Er ist doch ein Malefizkerl, der Bockelhardt.«
»Ich denke, man weiß genug«, fuhr der Gepriesene fort, sich selbstgefällig umsehend. »Meine Meinung ist: entweder ist er verrückt oder er ist des Teufels, des wirklichen, schwarzen, bocksbeinigen Teufels, nicht bloß façon de parler, wie der Franzos sagt. Ich bin auch in Paris gewesen, Meister Glöcklen.«
»Das Saufen hättest du auch hier lernen können«, versetzte Glöcklen ärgerlich. Es war der Kummer seines Lebens, daß er seinerzeit in Nanzig hängengeblieben war. »Weiter!«
»Na, die ganze Stadt schwatzt ja davon! Ich hab' es immer gern gehabt, das Prätle, aber was wahr ist, muß wahr bleiben. Man sehe ihn öfter am Galgenberg, sagen sie, als es einem regelrechten Galgenstrick gesund ist; auch daß er dort mit einem Schäfer aus Grimmelsingen zusammen hantiere, Gott weiß was und wozu. Was hat ein Schneider mit einem Schäfer zu tun, frag' ich. Ist das Handwerksgebrauch? Und das ist noch nicht alles. Immer steckt er bei unehrlichen Leuten. Der Münstermesner sagt, er sei keinen Tag sicher, so laufe der Berblinger auf den Turm zum alten Lombard.«
»Ja, ja!« sagte Bandel, die Augen weit aufreißend. »Der ist schlimmer als alle Schäfer miteinander. Daß das die hohe Obrigkeit mit ansehen kann! Der Mann sei ein halber Türke aus dem Österreichischen, dazu über hundert Jahr alt. Dort oben sitzt er schon seit fünfzig Jahren, soviel ich weiß, und was er treibt, weiß kein Mensch. Auf unserm eignen Münster!«
»Und den besucht der Berblinger?« fragte Glöcklen kopfschüttelnd.
»Regelmäßig. Es vergeht keine Woche, in der sie nicht beisammen sind«, bestätigte Bockelhardt. »Mir tut's leid um den Prätle, denn von all meinen Lehrbuben hab' ich ihn am besten leiden mögen. Dazu rumort er in nachtschlafender Zeit auf seinem Speicher herum, daß der Bäckermeister Gelbsack ausziehen will. Es sei zu grausig für einen Christenmenschen.«
»Dummheiten!« sagte Glöcklen entschieden, »da muß etwas andres dahinterstecken.«
»Das sag' ich auch«, fuhr Bockelhardt fort. »Die Frage ist nur, was. Ich denke, wir hören heute mehr davon. Viel länger kann die Zunft nicht zusehen, auch wenn die Geistlichkeit mit Gewalt blind sein will. Die betrifft's vor allen andern.«
»Das begreif' ich auch nicht«, erklärte Glöcklen.
»Die Geistlichkeit!« rief Bockelhardt entrüstet. »Die fürchtet den Teufel mehr als wir, von Amts wegen. Wahrscheinlich denken sie, unser Herrgott habe Platz genug gemacht für all seine Geschöpfe. Man solle niemanden ungelegen in die Quere kommen, am wenigsten dem.«
Er machte mit den Fingern, die er gegen die Stirne hielt, ein Zeichen, das ein paar Hörner andeuten sollte, dann neigten sich die drei alten Köpfe etwas tiefer über den gemeinsamen Bierkrug, um der Philosophie des Übersinnlichen, soweit sie den Galgenberg, Schäfer und Türmer betraf, des weiteren nachzugrübeln. Bockelhardt spielte hierbei den Freidenker, Bandel glaubte noch an jeden Spuk, und Glöcklen nahm eine versöhnende Mittelstellung ein, indem er abwechslungsweise dem einen wie dem andern recht gab. Dabei verdüsterte sich Berblingers Zukunft, ohne daß er es ahnte, obgleich er seit einiger Zeit nur wenige Schritte von der Gruppe am zweiten Tisch saß und sichtlich in trüber Stimmung, die Hände in den Taschen, weit zurückgelehnt auf der Holzbank das Zeichen erwartete, das die Meister in die wohlbekannte Amtsstube der Zunft rufen sollte.
Er hatte sich in kurzer Zeit nicht zu seinem Vorteil verändert, war bleich und magerer geworden und hatte sich unruhige, nervöse Bewegungen angewöhnt, die den Schein erweckten, als ob ihm jede Begegnung, selbst mit Bekannten, unangenehm wäre. Auch war er nicht mehr so sorgfältig gekleidet wie zu Anfang seiner Meisterschaft. Es schien ihm gleichgültig zu sein, ob er auffiel oder nicht und allen, die ihn früher gekannt hatten, fiel er auf. Einige seiner gutartigeren Zunftbrüder vermuteten, daß er krank sei. So weit war es jedoch noch nicht, wenn auch manchmal das Blut in seinem Kopfe klopfte, als ob es die Stirnadern sprengen wollte, und dann wieder tagelang so leis und sacht floß, daß jedermann über sein mattes Aussehen den Kopf schüttelte. Er hatte im April drei Wochen lang an einer zerrissenen Sehne zu Bett gelegen und hinkte noch immer ein wenig. Das aber konnte den sonst gesunden jungen Mann unmöglich in diesen Zustand versetzt haben.
Wohl ein Dutzend weiterer Zunftgenossen waren mittlerweile in den Garten getreten und hatten, sich eng zusammendrängend, am dritten und vierten Tisch Platz genommen. Niemand setzte sich zu ihm, aber er bemerkte es kaum. Endlich hörte man ein fernes, dünnes Klingeln, worauf sich einer nach dem andern erhob und bedächtig ins Haus trat. Nur wenige hatten gegen Berblingers Tisch hin mit dem Kopf genickt; begrüßt hatte ihn keiner. Das war vor einem halben Jahr noch anders gewesen. Nun erhob auch er sich und folgte den andern.
Als er das Sitzungs- und Festzimmer der Zunft betrat, stand die Lade bereits geöffnet auf dem Tisch und hinter ihr der Obermeister Knöppel, an dessen Seite Glöcklen mit drei Beisitzern, darunter Bandel und der Zunftschreiber, Platz genommen hatten. Entlang der Wände saßen in zwei langen Reihen die übrigen Meister und sahen mit unbeweglichen Gliedern und steinernen Gesichtern der Aufnahme von zwei Lehrlingen zu, welche, da die Jungen Meisterssöhne waren, rasch und ohne Anstand erledigt wurde. Berblinger setzte sich als jüngster der Meister an das Ende der linken Reihe und sah gleichgültig und verstimmt zu Boden. Knöppel hatte ihm eindringlich sagen lassen, er dürfe diesmal bei Strafe die Versammlung nicht versäumen. Er hatte am selben Nachmittag die gebrochenen Flügel seiner neuesten Maschine verstärken wollen.
Nach der Lehrlingsaufnahme legte Knöppel die Bitte des Altgesellen Breithuber vor, der zum drittenmal um die Erlaubnis einkam, sein Meisterstück am hiesigen Orte machen zu dürfen, um sich später als selbständiger Meister niederzulassen. Sie wurde einstimmig abgelehnt, nachdem der Obermeister erklärt hatte, daß die Geschäftslage derzeit nicht dazu angetan sei, die Zunft mit weiteren Meistern zu belasten, namentlich mit Leuten, die von Rechts wegen nach Ansbach gehörten und nicht gewillt seien, einen ehrbaren Hausstand nach Ulmer Handwerksgebrauch zu begründen, obgleich dem Breithuber solches nahegelegt worden.
Alles sah bei diesen Worten auf Berblinger, der endlich aus seinen Träumereien aufwachte und unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her rückte. Was wollten die Herren Meister von ihm? Sie konnten sich neuerdings nicht darüber beklagen, daß er ihnen in ungebührlicher Weise das Brot wegnehme. Er hatte selbst Mühe genug, es für sich zusammenzubringen.
Knöppel aber legte sein Gesicht in besonders feierliche Falten, öffnete einen Brief, den ein großes wunderliches Siegel schmückte, und begann nach ältester Zunftweise, was immer ein Zeichen war, daß etwas besonders Wichtiges bevorstand:
»Mit Gunst und Verlaub, ihr Herren Meister der ehrsamen Zunft der Schneider in der weltberühmten, weiland freien Reichsstadt Ulm, so nunmehr seiner allergnädigsten Majestät dem König von Bayern et cetera, in Treue untertan! Mir ist ein Brief zugegangen, gerichtet an die ehrsame Zunft von der neuen, gleichfalls ehrsamen Zunft der Schirmmacher, darin besagte Zunft Klage führt gegen einen der Unsern, und zwar gegen den Meister Berblinger in der Herrenkellergasse und folgendes zur Anzeige zu bringen sich bemüßigt sieht:
Mit Gunst und Verlaub einer ehrsamen Zunft der Schneider zu Ulm mögen die Endunterzeichneten anfolgendes berichten und zugleich bitten, Remedur zu beschaffen, also daß in Zukunft wie bisher ein friedlich Einvernehmen zwischen den zwo ehrsamen Zünften erhalten und nicht weiter gestört werde. – Obgleich unsre Zunft nur klein und sich keines sehr hohen Alters zu rühmen vermag, hat sie doch ihre verbrieften Rechte von dem hohen Rat der weiland freien Reichsstadt Ulm überkommen und ist gewillt, solche Rechte nicht freventlich hintansetzen noch verletzen zu lassen. Nun ist uns glaubwürdig angezeigt und wird von dem Bäckermeister Gröber in der Herrenkellergasse sowie dessen Gesellen, insgesamt ehrbare Bürger der hiesigen Stadt, bezeugt, daß Schneidermeister Berblinger, so in demselben Hause wohnhaft, nächtlicherweile und unberechtigterweise schirmartige Gestelle angefertigt, dieselben auch mit Seiden- oder Baumwolltuch überspannt und derart präparieret hat, daß ein Schirm oder schirmähnlicher Gegenstand daraus entsteht, auch daß er solches mehrfach wiederholt und also derartige Gegenstände fabriziert hat. – Nachdem auch festgestellt worden, daß besagter Berblinger große Quantitäten von Fischbein, Bambusstöcken sowie andern Stoffen angekauft, wie solche in unserm Gewerbe verwendet werden, befürchten wir mit Recht, daß solche Hantierung unser zünftig Handwerk schädigen und dazu führen könnte, den berechtigten Verdienst unsrer verbrieften Zunft zu schmälern. – Wir bitten deshalb den hochwohllöblichen Obermeister der ehrsamen Zunft der Schneider, ohne Verzug solch ungebührlichen Eingriffen in unsre Rechte zu steuern und also ein friedlich und ehrsam Zusammenleben der beiden Zünfte nicht weiter zu gefährden. Gezeichnet im Namen der ehrsamen Zunft der Schirmmacher zu Ulm. – Obermeister Stengle.«
Der Brief wurde in feierlichem Schweigen angehört, bei dem die Versammlung verharrte, nachdem ihn Knöppel bedächtig zusammengefaltet und wieder niedergelegt hatte. Dies war nicht Handwerksgebrauch. Ein derartiger Einspruch einer Zunft gegen die Übergriffe einer andern wurde gewöhnlich mit heftigen Gegenangriffen der Angeklagten erwidert. Heute blieb jede Kundgebung dieser Art aus, und der Obermeister sah fragend von einem zum andern der Meister, die dasaßen, als ob alles Geistesleben hinter den monumentalen Holzköpfen zum Stillstand gekommen sei. Nach einer Pause von mehreren Minuten erhob sich Knöppel aufs neue.
»Es ist mir zu Ohren gekommen«, sagte er, »daß dies nicht das einzige sei, was Meister Berblinger auf dem Kerbholz habe, also daß es sich wohl geziemt, nach Handwerksgebrauch eine Umfrage zu halten, auf daß auch in der Zunft Friede und Freundschaft herrsche, wie vordem gewesen ist. So mit Gunst, ihr Herren Meister, hat einer oder der andre etwas zu klagen, der stehe auf und klage, dieweil die Herren Beisitzer und Meister beisammensein und Lade und Büchse offenstehen. Solches vermelde ich laut meines innehabenden Amtes zum ersten-, zum zweiten- und zum drittenmal.«
Wieder trat eine tiefe Stille ein; dann erhob sich der alte Lamprecht aus der Hirschgasse, ein würdiger, weißhaariger Herr, trat langsam vor den Tisch, an dem er sich krampfhaft festhielt und begann mit dünner, zitternder Stimme:
»Der Herr Obermeister und die Herren Beisitzer sowohl als eine ganze ehrsame Bruderschaft wolle mir vergönnen, etliche Worte zu melden.«
»Es ist Euch vergönnt. Redet mit Bescheidenheit!« sagte Knöppel feierlich.
»Ich wollte gefragt haben«, fuhr Lamprecht aus der Hirschgasse fort, »ob denn dieses der Gebrauch wäre, daß ein Meister der ehrsamen Zunft nächtlicherweile unter seinem Dach ein ander Gewerb treibe, auch wenn dasselbe nicht zünftig, sondern eine freie Kunst sein sollte, und seinen Lehrjungen dazu anhält, das gleiche zu tun. Item wollte ich fragen, ob ein Meister der ehrsamen Schneiderzunft sich in gemeine Hantierung mit einem Schäfer einlassen mag, wohl wissend, daß die Schäferei und dergleichen von alters her nicht als ein ehrlich Gewerbe erachtet ist, er solches auch nur nächtlicherweile zu tun wagt und an einem Ort, den in dieser ehrsamen Versammlung zu nennen sich nicht geziemt.«
Lamprecht hatte sein Sprüchlein auswendig gelernt und sah sehr vergnügt aus, als er mit demselben glücklich zu Ende war. Aber schon hatte sich ein zweiter Kläger erhoben und verlangte in zorniger Aufregung, gehört zu werden.
»Sprecht, Meister Rau!« sagte Knöppel beschwichtigend. »Jeder soll zum Wort kommen, nach Handwerksgebrauch, aber redet mit Bescheidenheit!«
»Mit Gunst, ihr Herren, und verzeiht wenn ich meine Worte nicht setzte, wie es alter Brauch verlangt. Ich bin einer von den Jungen, aber ich halte auf alte Ordnung so gut als ein andrer. Ist's Handwerksgebrauch, daß ein ehrsamer Schneidermeister allwöchentlich zwei-, dreimal auf den Münsterturm klettert und mit dem Türmer konferiert, von dem jedes Kind in der Stadt weiß, daß es nicht geheuer mit ihm ist? Das mag man glauben oder nicht. Ich glaub's nicht, aber trotzdem –: wozu tut er das, und ist es Handwerksgebrauch?«
Der junge Rau setzte sich, sehr rot im Gesicht und halblaut gegen seine Nachbarn weitersprechend, denen er ärgerlich erklärte, daß er die Hälfte seiner Anklage vergessen habe. Er sei wie verhext gewesen während des Sprechens.
Der Zunftmeister sah um sich.
»Begehrt noch jemand in dieser Sache zu fragen?«
Ein stattlicher Mann mittleren Alters erhob sich, der gewohnt schien, das Wort zu führen und gehört zu werden.
Es war Meister Schlumperger aus der Herrenkellergasse, einer der nächsten Nachbarn Berblingers, der aus seinem Fenster auf dessen Arbeitstisch sehen konnte und dies oft genug fluchend getan hatte. Er sprach ohne Stocken, seine grauen stechenden Augen fest auf den Angeklagten gerichtet.
»Mit Gunst und Verlaub möchte auch ich fragen, ob es Handwerksgebrauch ist, daß ein junger Meister sich erdreistet und sich den einzigen wahren Wiener Schneider nennt, und solcherweise alte Kunden von Meistern abzieht, die seine Lehrherren gewesen sein könnten? Daß er durch derartig verwerfliche Anmaßung allerdings imstande ist, mit zwei geschickten Gesellen ein lustig Geschäft zu treiben, sodann aber nach wenigen Monaten sein Geschäft derartig liederlich führt, daß es eine Schande für die ehrsame Zunft und die ganze Stadt ist, auch das gesamte gemeine Wesen schädigt, erstlich durch unzünftig schlechte Arbeit, zweitens durch die vorangegangene freche, verstunkene und verlogene –«
»Sprecht mit Bescheidenheit!« mahnte Knöppel.
»Verstunkene Behauptung. Ich bin nämlich auch in Wien gewesen, schon ehe der Lump auf der Welt war, und ich will wissen –«
»Sprecht mit Bescheidenheit!« wiederholte der Zunftmeister eindringlich.
»Ich wollte fragen, ob dies in dieser Stadt Ulm Handwerksgebrauch ist. Dann will ich lieber in Söflingen Schneider sein als hier; mehr kann ich nicht sagen.«
Auch der dritte Kläger setzte sich, diesmal unter allgemeinem Murmeln des Beifalls. Knöppel wartete wieder einige Minuten, ehe er begann.
»Mit Gunst, ihr lieben Herren und Zunftgenossen, ich vermeine, daß alles, so hier vorgebracht worden, der Gebrauch nicht gewesen ist, nicht ist und nicht sein wird. Derjenige, der solches getan hat, wird sich melden!«
Berblinger zauderte einen Augenblick; dann erhob er sich. Er war bleicher, aber auch ruhiger als gewöhnlich, und begann wie üblich:
»Mit Gunst, Herr Obermeister und ihr Herren Beisitzer, ich bitte, daß ich vor offener Lade sprechen möge.«
»Es ist Euch gewährt, Meister Berblinger«, entgegnete Knöppel nach gewohnter Weise. »Sprecht mit Bescheidenheit.«
»Mit Gunst, ihr Herren alle!« fuhr Berblinger fort, dem letzten Kläger frech – wie sie nachher sagten – ins Gesicht sehend; »zuvörderst möchte ich sagen, daß der Meister Schlumperger, der letzte der drei Kläger, in der Herrenkellergasse wohnhaft ist, woselbst auch ich meine Werkstatt mit obrigkeitlicher Bewilligung errichtet habe, und daß ich ihm deshalb sonderlich im Weg gewesen sein mag. Ob ich all das getan habe, was dieser Kläger und auch die andern beiden vorgebracht und noch in Gedanken beigefügt haben, die man leichtlich erraten konnte, will ich nicht zugeben noch bestreiten. Auch dürfte es seine Richtigkeit haben, daß ich da und dort nicht nach Handwerksgebrauch verfahren. Dagegen soll mit Verlaub folgendes nicht ungesagt bleiben: Den Türmer Lombard hab' ich gekannt, eh' ich in die Lehre kam, und hat mich der Pestilenziarius Krummacher, ein gottesfürchtiger Herr, wie jedermann weiß, ihm zugeführt. Auch ist er mir ein guter Freund gewesen mein Leben lang. Was die Leute über ihn sagen, ist Altweibergewäsch und zu verwundern, daß solche Torheiten in der Versammlung einer ehrbaren Zunft nachgeplappert werden. Damit habe ich diesen Punkt geziemend abgefertigt.«
»Sprecht mit Bescheidenheit!« kam es wieder hinter der Lade hervor.
»Das tu' ich!« versetzte Berblinger prompt. »Aber auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil, und mit Narren ist nicht gut rechten. Das hab' ich auch zu der Klage wider den Schäfer von Grimmelfingen zu sagen. Der ist eine brave, ehrliche Haut und ein armer Teufel und läuft nicht vor jedem Weidenbusch davon, den der Wind bewegt. Er hat mir geholfen bei meiner Hantierung, wofür ich ihn ehrlich bezahlt habe, wie's unter Christenmenschen üblich. Den Schirmmachern aber mag der Herr Obermeister kund und zu wissen tun, daß ich zeitlebens nie einen ganzen Schirm gemacht habe noch zu machen verstehe, daß sie aber zweifellos von böswilligen Leuten übel berichtet worden, und darauf läuft wohl all das Klagen hinaus.
Was ich aber gemacht habe oder vielmehr mit Gottes Hilfe zu machen gedenke, will ich nicht länger verhehlen, sondern nunmehr vor offener Lade frei und ohne Zagen kundtun, denn es hat mich Müh und Arbeit genug gekostet, dazu mein gutes Geschäft, wie der Meister Schlumperger wahrheitsgetreu erzählt; nur kennt er Grund und Ursach nicht, die mich so weit gebracht haben. Ich habe nämlich seit Jahren gedacht, daß der vernünftige Mensch gleichwie die Vögel, die ohne Verstand sind, sollte fliegen können, und habe eine Maschine erfunden oder vielmehr ein Paar Flügel gebaut, mit denen jedermann, der die Kunst erlernt, nach Vogelart durch die Lüfte segeln kann. Zu solchen Flügeln brauche ich Fischbein, Bambusrohre und dergleichen Schirmzeug jeder Art. Auch war mir dienlich, daß ich schon als Lehrbub von einem andern Jungen einiges von der Kunst der Schirmmacher erlernt habe, so daß ich mir getraute, mein Gesellenstück in der Schirmmacherzunft zu machen. Um das Fliegen zu erlernen, mußte mir der Schäfer behilflich sein, und der Türmer Lombard hat mir manchen guten Rat gegeben. Ihr lacht, ihr Herren Meister von der Zunft; mich aber hat es manche bittere Stunde und heißes Sinnen gekostet, auch habe ich fast Hals und Bein gebrochen, bis ich soweit war, euch dies sagen zu können. Aber ich weiß, ihr werdet noch alle stolz sein, einen in eurer Bruderschaft gehabt zu haben – der –«
Weiter kam er nicht, des Lärms wegen, den Knöppel vergeblich zu beschwichtigen suchte, obgleich er selbst mitlachte. Alles spottete, kreischte, schimpfte wild durcheinander. »Ist der Mensch verrückt? Will er uns für Narren haben? Hat jemals einer solche Narrheiten in einer ehrsamen Versammlung der Zunft vorgebracht?« hieß es von allen Seiten. Einige taten, als ob sie zornig wären, waren es vielleicht auch, und drangen mit geballten Fäusten auf ihn ein; andre riefen mit schallendem Gelächter: »Öffnet das Fenster! Er soll zeigen, was er gelernt hat!« Berblinger stand mit dem Rücken gegen die Lade, als ob er imstande wäre, dem wildesten Ansturm Trotz zu bieten. So klein er war, wagte doch keiner, ihn anzurühren. Der Zunftmeister war hilflos, bis Meister Schlumperger mit seiner dröhnenden Stimme die Ruhe einigermaßen hergestellt hatte. Mit der Zeit bequemten sich die Herren, wieder Platz zu nehmen, so daß Knöppel ordnungsgemäß fortfahren konnte, nachdem er Schlumperger feierlich gedankt hatte. Er begann aufs neue:
»Nachdem wir nach Handwerksgebrauch gehört, was der Beklagte zu seiner Entschuldigung vorzubringen gewußt, auch wie weit nach seiner eignen Aussage er sich ungebührlich betragen, so bitte ich euch, sowohl die Herren Kläger als auch den Beklagten, ein wenig zu entweichen, also daß wir ohne Scheu den Kasus betrachten und unser Urteil beraten mögen.«
»Es ist Handwerksgebrauch!« sagten die vier fast einstimmig und verließen die Stube, um unten im Gärtchen – die drei Kläger am einen, Berblinger am andern Tisch – den weiteren Verlauf der Dinge zu erwarten.
Oben ging es lebhaft genug zu. Alle sprachen zugleich. Es bildeten sich Gruppen, in denen die einen erzählten, was sie von Berblingers Versuchen am Galgenberg, von seinen Nachtarbeiten, von seinen Besuchen beim Türmer und von diesem selbst wußten. Bei Meister Lamprecht arbeitete einer der Gesellen, die früher bei Berblinger in Arbeit gestanden hatten. Diesen hatte sein neuer Meister in das Haus des alten geschickt, um auszukundschaften, was auf dem Dachspeicher in der Herrenkellergasse vorgehe. Er sei schreckensbleich zurückgekommen. Eine schwarze Wand habe er mit Drudenfüßen und Hexenzeichen aller Art bemalt gefunden, an einer andern seien eine tote Eule mit ausgebreiteten Flügeln und darunter zwei Fledermäuse angenagelt. Auf dem Boden lägen die kostbarsten Seidenzeuge und die unsinnigsten Ständer und Rahmen umher; auch habe er für wohl hundert Gulden Fischbein auf einem Tisch liegen sehen. An einem Dachsparren hänge ein Strick mit einer Schlinge, der über eine Rolle laufe, als ob sich Berblinger damit selbst aufziehen und hängen wolle, was glaublich genug sei, wenn man bedenke, wie sein Geschäft geblüht habe und wie es jetzt gehe. Frohmüller, der Geselle, habe auch wunderliches Scharren und Kratzen hinter der schwarzen Wand gehört, was ihn, obgleich ein couragierter Kerl, veranlaßte, sich schleunigst zu entfernen. Dabei sei er über einen Draht gestolpert, der, das wisse er ganz bestimmt, eine Viertelstunde zuvor nicht dagewesen, und jämmerlich die Treppe hinuntergefallen, so daß er Gott gedankt habe, wenigstens mit heilen Knochen aus der Hexenwerkstatt herausgekommen zu sein.
Das sei noch gar nichts, meinte ein andrer Meister, der am Glöcklertor wohnte. Ein halbes Dutzend Grimmelfinger Marktweiber seien bereit zu schwören, daß sie schon vergangenen April und Mai viel häufiger als früher nachts zwischen zehn und zwölf Uhr am Rabenstein ein spukhaftes Lichtlein bemerkt hätten. Später seien die Couragiertesten von ihnen dem Spuk nachgegangen und haben den Berblinger und den Grimmelfinger Schäfer erkannt, die dort in grauenhafter Weise hantiert hätten. Mehr als einmal habe man den Berblinger sich von oben herunter, wo der Galgen stehe, stürzen und dann davonlaufen sehen, als ob nichts passiert wäre. Natürlich glaubten die Weiber an Hexerei und Teufelsspuk; es seien eben Weiber. In der aufgeklärten Zeit, in der man lebe, erkläre sich die Sache ganz einfach und natürlich, sei aber deshalb nicht weniger unziemlich.
Das schlimmste blieben die Besuche auf dem Münsterturm, erklärte ein dritter. Mit dem alten Lombard sei es wirklich nicht richtig. Der Mann sei über hundert Jahre alt und laufe herum wie ein Fünfziger. Sei das natürlich? Wie er sein Amt auf dem Turm bekommen habe, wisse eigentlich niemand, und was er dort oben treibe, sei ebenso rätselhaft. Man könne nicht begreifen, daß die Behörden das duldeten, dazu auf dem Münster, mitten in einer christlichen Stadt! Hätte er keine hohen Freunde und Gönner, so wäre es natürlich morgen aus mit ihm. Aber da sei zum Beispiel der Staatsrat von Baldinger, merkwürdigerweise! Auch der Pestilenziarius Krummacher sei früher sein Freund gewesen, schüttle aber jetzt den Kopf, wenn man den Alten nur erwähne, und zu diesem unheimlichen Kumpan laufe der Berblinger jetzt gewohnheitsmäßig, anstatt am Zunftkränzchen, am Kegelabend, an den Freitagsabenden im ›Wilden Mann‹ teilzunehmen und gelegentlich einen ordentlichen Rausch heimzuschleppen, wie es sich für einen Christen von seinem Alter schicke. Wenn er, der Sprecher, Bockelhardt wäre, würde er seinen Buben morgen aus der Lehre nehmen, in der der Junge an Leib und Seele zugrund gehen müsse.
Bockelhardt verteidigte sich. Er glaube zwar selbst, sagte er lachend, daß sein Fränzle schon halb verhext sei, denn es sei nichts aus dem Jungen herauszukriegen, und er hänge an seinem Meister wie ein Hund an seinem Herrn, obgleich er seit geraumer Zeit mehr Knochen als Fleisch zu essen habe. Es sei ein lieber Mann, sein Meister, sage er immer wieder, der den Leuten schon zeigen werde, zu was es ein Ulmer Schneider bringen könne.
Auch Glöcklen wehrte sich für den Angeklagten, so gut es ging. Er sei noch jung; vorläufig habe er sich nur selbst geschadet. Nach einiger Zeit werde er schon merken, daß unser Herrgott den Menschen ohne Flügel geschaffen habe, damit er auf seinem Arbeitstisch sitzen bleibe wie ein vernünftiger Christ. Man möge mit dem Mann Geduld haben; mancher sei schon verrückter gewesen und nach überstandenem Rappel doch noch ein tüchtiger Meister geworden. Man sollte zusehen, daß er endlich heirate. Dann würden ihm die hochfliegenden Schrullen schon vergehen.
Nach einer halben Stunde fragten die Beisitzer herum, was die Ansicht der Herren wäre. Die Hitzköpfe, namentlich die Jungen, die sich am meisten über den neuen Wiener Schneider geärgert hatten, verlangten, daß man ihn ohne viel Federlesens aus der Zunft ausschließen müsse, wenn auch an Hexerei und dergleichen nicht zu denken sei. Die Alten, die sich bezüglich der Hexerei nicht aussprachen, meinten, man könnte mit dem Äußersten abwarten und ihn mit einem scharfen Verweis schlüpfen lassen. Zaudernd neigte sich auch Knöppel dieser Ansicht zu, vorausgesetzt, daß Berblinger verspreche, von seinem sündhaften Treiben abzulassen. Glöcklen und Bockelhardt gingen in den Garten hinunter, um dies dem Angeschuldigten mitzuteilen und ihn dementsprechend zu bearbeiten.
Sie hatten ihre liebe Not mit dem Mann, der darauf erpicht schien, seine besten Freunde vor den Kopf zu stoßen. Versprechen wollte er nichts. Er sei im Begriff, eine der größten Erfindungen des neuen Jahrhunderts zu machen, für die ihm die Welt dankbar sein müßte. Keiner von den Herren da droben – er wurde immer erregter und sprach von zünftigen Eseln – verstehe etwas davon, denn nichts Neues und Großes sei jemals zünftig gewesen. Und nun solle er der Zunft zulieb aufgeben, was durch ihn der Menschheit geschenkt werde?! Da kenne er seine Pflicht besser und sei bereit, das Elend zu ertragen, das auf kurze Zeit jedem Wohltäter der Menschheit beschieden sei. Bockelhardt, der sein fünftes Maß Bier droben unter einem Stuhl halb ausgetrunken hatte stehenlassen müssen, war tief bewegt und nickte. Er kenne das! Er habe das Elend auch auf sich zu nehmen gelernt. Glöcklen blieb dabei, daß ein Schneider vor allen Dingen leben müsse, ehe er die Menschheit beglücken könne, und wie er denn leben wolle, wenn sie ihn aus der Zunft hinauswürfen? Als Schäfer oder Türmer oder mit einem andern unehrlichen Gewerb werde er sein Brot nie verdienen.
»Sei vernünftig, Berblinger«, schloß der wackere Mann, mit den gutmütigen Äuglein zwinkernd. »In der Not hat schon mancher etwas versprochen, das er nicht gehalten hat. Bitt' wenigstens um Gnad'. Ich denke, wir können's dann durchsetzen, daß sie Geduld mit dir haben.«
Berblinger senkte den Kopf, steckte beide Hände trotzig in die Hosentaschen und machte zwei Fäuste. Er sah ein, daß ihm nichts andres übrigblieb.
Fast ebenso ungehalten waren die drei Kläger, die darauf gerechnet hatten, daß man mit dem verdammten Wiener Schneider kurzerhand ein Ende machen werde. »Wenn nicht der reiche Schwarzmann sein Onkel wäre, hätte der Obenhinaus heute den Hals gebrochen«, meinten sie schließlich. »Na, ist's heut nicht, ist's morgen, wie die Zunft sagt. Der Kerl hätte nie Meister werden sollen. Solche Sparafandel gehören nicht in eine ehrbare Zunft.«
Murrend gingen sie die Treppe hinauf, hinter Berblinger, der zwischen Glöcklen und Bockelhardt wie ein Gefangener in die Amtsstube transportiert wurde.
Der Ausschluß eines Mitglieds aus der Zunft war ein seltenes Vorkommnis, aber es hatten nur drei Stimmen gefehlt, ihn diesmal ins Werk zu setzen. Alles war nach der Abstimmung in lebhafter Erregung. Jetzt, als sie Berblinger eintreten sahen, setzten sich die Herren und legten die Gesichter in Falten, die einem Femgericht Ehre gemacht hätten. Obermeister Knöppel stand hinter der Lade, vor die Berblinger wieder getreten war, und wartete auf die übliche Ansprache, mit der der Angeklagte ihn und die Versammlung zu begrüßen hatte. Aber Berblinger wartete auch; man sah, wie der Zorn in ihm aufstieg. Endlich sagte Glöcklen, der gleichfalls rot geworden war:
»Ich bitte für den Meister Berblinger um einen freundlichen Eintritt. Was die Herren Beisitzer sowohl als eine ehrsame Meisterschaft beraten und beschlossen haben, soll ihm recht und lieb sein. Das ist doch so, Meister Berblinger?«
Der Befragte nickte. Darauf räusperte sich Knöppel lauter als gewöhnlich und begann:
»Die Herren Beisitzer sowohl als eine ganze ehrbare Meisterschaft hat sich soweit beraten und beschlossen, daß, wenn Ihr, Meister Berblinger, wollet bei derselben haften und halten, so sollt Ihr angeloben, den Umgang mit unehrlichen Gesellen, als da sind Henker und Henkersknechte, Abdecker, Schäfer, Türmer, Trompeter und dergleichen Volks künftighin zu meiden; auch sollt Ihr nächtlicherweile keine unzünftige Arbeit tun noch auch versuchen, sonstige Narrenteidungen zu treiben, insonderheit Vögel nachzuahmen, so der ehrbaren Zunft zu Spott und Unehre gereichen möchte; vielmehr sollt Ihr das ehrsame Handwerk betreiben und seine Satzungen nicht schwächen, wie es Brauch und Sitte war, ist und bleiben wird. Wollt Ihr all dies angeloben, so mag, was vorgekommen und beklagt worden, vergessen und vergeben, in Gnaden auch keine weitere Strafe über Euch verhängt sein. Nun möget Ihr sprechen und Dank sagen.«
Berblinger räusperte sich jetzt auch, richtete sich so hoch auf, als er konnte, und erwiderte:
»All dies will ich nicht geloben. Auch werde ich keine Unehre auf die Zunft bringen, sondern mit Gottes Hilfe Ehre genug, wenn ich mit der Arbeit, die ich auszuführen gedenke, zu Ende bin. Man soll einen Rock nicht bekritteln, ehe denn er fertig ist. Was ich getan, habe ich nicht leichtfertig unternommen, auch nicht aus Hoffart, noch weniger weil mich der Böse versuchte, sondern allein weil ich glaube, daß ich allen Menschen einen großen Dienst erweise, wenn ich ihnen zum Fliegen verhelfe. Wenn keiner von den Herren Beisitzern und Meistern dies einsieht, so kommt es daher, daß niemand darüber nachgedacht, und ist nicht meine Schuld. So bitt' ich euch alle, um und um, noch eine kleine Weile Geduld zu haben. Ein Staatskleid ist nicht in einem Tagewerk zu fertigen; Flügel auch nicht. Zu beidem braucht man Zeit. Das ist alles, um was ich bitte. Armut und Not will ich selbst tragen, bis sich's wendet. Dann, ihr Herren, werdet ihr mir Dank sagen und es euch zur Ehre rechnen, den Berblinger ins Zunftregister eingeschrieben zu haben.«
Er sagte das mit erhobener Stimme und sehr selbstbewußt. Es war ein Glück für ihn, daß alle wieder lachten und selbst der Obermeister ein mitleidiges Lächeln nicht unterdrücken konnte. Glöcklen flüsterte ihm ins Ohr: »Seid menschlich, Knöppel, gebt dem Narren Zeit, er ist noch jung.« Der Obermeister nickte, runzelte die Stirne und sprach in seiner feierlichen Weise:
»Obgleich was Ihr sagt, Meister Berblinger, niemanden befriedigt, werden wir doch Gnade vor Recht ergehen lassen. Zu wohlverdienter Strafe sollt Ihr zehn Gulden in die Lade legen; so wollen wir zusehen und Euch Eure eignen Wege gehen lassen. Hütet Euch aber, wiederum Anlaß zur Klage zu geben; das nächstemal dürftet Ihr nicht so leichten Kaufs davonkommen.«
Berblinger griff in die Tasche und zählte zum Erstaunen aller ohne Widerstreben zehn blanke Silbergulden auf den Tisch. Es war Sitte, nach einem derartigen Urteilsspruch um Gnade zu bitten, worauf ebenfalls nach strengem Herkommen die Strafe um die Hälfte gemindert wurde. Aber dieser Berblinger schien in seinem Dünkel entschlossen, allem Herkommen ins Gesicht zu schlagen.
»Es ist schier mein letztes Geld«, sagte er finster, »aber es soll mich nicht reuen. Die Zeit wird kommen und ist schon nahe, da sie mir's mit Kratzfüßen zurückgeben werden.«
Sie lachten wieder, und unter allgemeiner und ungewöhnlicher Heiterkeit wurde die Lade geschlossen. Die meisten gingen wieder in das Gärtchen oder in die Wirtsstube hinunter, um hinter einem Krug die Angelegenheit mit mehr Behagen durchzusprechen. Man fand Knöppels Spruch nach der Weigerung Berblingers, seine Torheiten aufzugeben, eigenmächtig und zu mild. Einige wunderten sich, daß Berblinger die immerhin beträchtliche Strafe so prompt bezahlt hatte. »Der Kerl muß noch immer Geld verdienen, wenn es ihm der Teufel nicht zuträgt«, sagten sie; »aber lange kann es nicht mehr so fortgehen, und das nächstemal wollen wir schon dafür sorgen, daß er nicht mehr so leicht davonkommt.«
Ohne Verzug machte sich Berblinger auf den Heimweg. Kein Wunder, daß er nicht in der besten Stimmung war; es war einer jener Tage, an denen ›alles zusammenkommt‹, wie man zu sagen pflegte. Sein letzter Versuch am frühen Morgen war nicht zum besten ausgefallen. Die nach oben gewölbten Flügel, die er in jener ersten Nacht auf dem Galgenberg der Eule abgeguckt hatte, mochten noch immer nicht die richtige Krümmung haben. Zweimal war er seitdem von derselben Stelle abgeflogen, und da ihm jetzt der Grimmelfinger Schäfer bei den Vorbereitungen half, ging manches leichter. Tatsächlich hatte er auch die Wirkung der gekrümmten Flügelform beim dritten Versuch deutlich gefühlt, aber noch immer war er in ziemlich steilgeneigter Richtung unsanft zur Erde gekommen. Nun hatte er eine Vorrichtung auf seinem Dachspeicher getroffen, mittels welcher er an einem Seil hängend die Flügel erproben konnte. Das Seil lief über zwei am Firstbalken des Hauses angebrachte Rollen und trug am andern Ende eine Waagschale mit Gewichten, die zunächst seinen eignen Körper im Gleichgewicht hielten und verringert werden konnten, je nachdem er durch den Flügelschlag das Eigengewicht verminderte oder gar aufzuheben vermochte. Fränzle, der Lehrbub, legte unter Zittern und Zagen die Gewichte auf, die seinen Meister in der Schwebe erhielten. Er war ein verständiger Junge, der sich schon auf die eignen kleinen Flügel freute, die ihm Berblinger versprochen hatte, wenn er seinen Mund halte. So war der Meister vorläufig unabhängig von seinem unheimlichen Versuchsplatz auf dem Galgenberg, den er nicht wieder aufsuchen wollte, ehe er seiner Sache sicher war. Die Flügel hatten jedoch noch nicht die richtige Wölbung, oder waren noch immer zu klein. Wenn er mit voller Kraft arbeitete, verminderte er sein Gewicht um zwanzig Pfund; das waren aber noch lange keine hundertundfünfzig, die er schwebend erhalten mußte, ehe man von Fliegen reden konnte. überdies war noch zweifelhaft, ob er beim Aufschlag der Flügel nicht soviel verlieren mußte, als er beim Niederschlagen gewann. Dazu gehörte jedenfalls lange Übung. Alles, das fühlte er wohl, war noch in den ersten Anfängen, ebenso deutlich empfand er aber auch das Wachsen seines Muts, seiner Ausdauer und Kraft. Was er heute erlebt hatte: der Kampf mit Unwissenheit, Böswilligkeit und Vorurteilen, hatte ihn eher gestählt als geschwächt. Es mußte gelingen!
Je weiter er sich vom ›Wilden Mann‹ entfernte, um so zuversichtlicher wurde seine Stimmung. Selbst ein Vers des alten Lutherlieds, so wenig er hier passen wollte, fiel ihm ein und half ihm weiter. »Und wenn die Welt voll Teufel wär' –!« Ein fast heiliger Zorn packte den jungen Mann, als ihn ein kräftiger Schlag auf die linke Schulter aufschreckte. Es war sein alter Lehrmeister Bockelhardt, der soeben das sechste Maß Bier geleert hatte und sich jetzt wieder im Vollbesitz seiner Geisteskräfte fühlte. Gleichzeitig ergriff Glöcklein seinen rechten Arm und zwang ihn, stehenzubleiben.
»So geht's nicht, Prätle«, sagte Bockelhardt, ihn mit bierseligem Wohlwollen betrachtend. »Lauf langsam, wir müssen ein Wort mit dir reden.«
»Das geht nicht so«, sagte auch Glöcklen, nicht minder freundlich. »Wir sind dir gut, Berblinger, und sehen dich ungern in dein Verderben rennen. Nimm Vernunft an und ruinier dich nicht vor der Zeit.«
»Sieh mich an, Prätle!« bat Bockelhardt, seinen Kopf sentimental nach der Seite neigend. »Ich weiß, was Ruin heißt. Ich höre so auf; du fängst damit an, wenn du dich nicht zusammennimmst. Fliegen! Hat man je dergleichen gehört?«
»Das nächstemal bring' ich's nicht mehr fertig«, versicherte Glöcklen. »Das nächstemal fliegst du hinaus aus der Zunft, statt übers Münster. Wir meinen's gut mit dir, und du hast heute nicht mehr viele Freunde. Nimm guten Rat an und laß den Fürwitz.«
Berblinger machte sich los.
»Ich will's ja glauben, daß ihr es gut meint, sonderlich Ihr, Glöcklen, aber ihr wißt alle nicht, wovon ihr schwatzt. Wartet! Wartet nur noch eine kleine Weile – vier Wochen im äußersten Fall. Bis dahin kann das neue Gestell fertig sein; das Überziehen kostet ein paar Tage. Damit ist das Problem gelöst; diesmal bin ich meiner Sache sicher.«
»Siehst du denn nicht, daß alles zum Teufel geht«, entgegnete Glöcklen, zornig werdend, »dein Geschäft, deine Meisterschaft, dein Geld, dein Verstand, ehe die Hälfte der vier Wochen um ist?«
»So will ich alles dransetzen«, rief Berblinger. »So haben vor alters die Erfinder ihr Ziel erreicht, denen die Menschheit dankt, was sie geworden ist. Auch heute geht's nicht anders. Aber in sechs bis acht Wochen sollt ihr sehen – soll die ganze Welt sehen und staunen. Laßt mich meiner Wege gehen; nie war ich meiner Sache sicherer. Ich hab' ein Ziel, von dem ihr nichts wißt – mehr als ein Ziel, und werde beide erreichen oder – oder mir das Genick brechen.«
Er war schon etliche Schritte voraus, als er dies sagte, und verschwand einen Augenblick später hinter der nächsten Hausecke. Es war der geradeste Weg nach der Herrenkellergasse. –
Glöcklen und Bockelhardt blieben stehen und sahen sich an.
»Ihr werdet noch einmal stolz darauf sein, daß er Euer Lehrbub gewesen ist«, sagte Glöcklen nachdenklich.
»Er ist verrückt. Ich merkte es schon, als er zu mir kam; aber ich hab' ihn immer wohl leiden mögen, den Prätle. Schad um ihn!« seufzte Bockelhardt, indem er sich nach einem Eckstein umsah, auf den er sich setzen konnte. Gemütsbewegungen erschöpften ihn, und er war zum Umfallen durstig.