Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Soll ich von jener Reise nach dem Niemandsland erzählen? Sie kommt mir noch heute vor wie ein Traum, und es kommen Augenblicke, in denen ich mich frage, ob es wirklich alles so gewesen ist, wie ich es hier erzähle.
Nichts ist unberechenbarer als die Bewegungen des Eises im hohen Norden. Es kommt und geht und treibt über die unermeßliche Wasserfläche nach unerforschten Gesetzen. Viel ist darüber geredet und geschrieben worden. Ein jeder hat seine eigene Theorie auf diesem Gebiete, aber ein Rätsel ist alles geblieben, auch für die ältesten und erfahrensten Polarforscher, ja, für die am allermeisten. Heute fährt man frei und unbehindert durch blaues Wasser mit hüpfenden Wellen, überall über dem Horizont steht der dunkle Widerschein des offenen Wassers, und nirgendwo in der weiten Runde ist ein Stückchen Eis zu sehen oder auch nur ein heller »Eisblink« in der Ferne. Das Herz lacht einem vor Freude bei dem Anblick, und man meint, das müßte nun immer so weitergehen. Und kommt man einige Stunden später wieder an Deck, so sind sie auf einmal alle wieder da. Von allen Seiten kommen sie herangerückt wie die Gespenster aus dem grauen Nichts. Im Augenblick ist kein Tropfen offenen Wassers mehr zu sehen. So weit das Auge reicht, schweift es über die endlosen Eisfelder im fahlen Lichte unter dem grauen Himmel, und es ist, als ob sie ihre Beute nimmer preisgeben wollten aus der tödlichen Umklammerung.
Und immer von Zeit zu Zeit im Lauf der Jahre kommt eine sogenannte »offene Saison«, von der die kommenden Schiffergenerationen in Jahrzehnten noch reden wie von einem Wunder; ein Sommer, in dem unter dem Einfluß der Strömungen die Massen des Packeises noch weiter als sonst zurückweichen nach anderen Teilen des Meeres und man unbehindert weit vordringen kann in Regionen, wo in normalen Zeiten ein ununterbrochener Eiswall jeder Schiffahrt ein Ende macht.
Das Glück – oder sollte ich nicht besser doch sagen, das Unglück? – hatte uns mitten in solche »offene Saison« hineingeführt. Drei Tage Schiffahrt im offenen Meer ohne Eis ist in jenen Gewässern schon ein Erlebnis. Nun segelten wir schon beinahe acht Tage lang mit nördlichem Kurse, ohne etwas anderes anzutreffen als gelegentliche kleine Streifen Brucheis, quer zur Fahrtrichtung. Der Wind wurde immer stärker. In wilden Böen wehte er aus Südosten und jagte die »Bonanza« vor sich her mit einer Geschwindigkeit, die man ihr nimmer zugetraut hätte. Jedes Tau war gespannt wie eine Saite, alle Segel blähten sich zum Zerplatzen. Wild pfiff es in der Takelage. Die See ging hoch, und immer von Zeit zu Zeit vergrub sich der Bug in den Wellenbergen, die schäumend und sprudelnd sich auf dem Verdeck verliefen. Es war alles so wie im offenen Atlantik, wenn man durch die Westwindtrifft fährt, »running easting down«, wie die Seeleute sagen.
Auch die offenste Saison des Eismeeres ist jedoch nicht so zu verstehen, als ob man jederzeit nach jeder Richtung unbekümmert drauflosfahren könnte, ohne durch Eis behindert zu werden. Ab und zu wird man immer wieder festgehalten und treibt durch das Wasser nach den Launen Poseidons, wie immer es ihm gefällt. Nach achttägiger Fahrt fanden wir uns hart und fest eingeschlossen in einem unübersehbar großen Eisfelde. Es war ein richtiges dickes Packeis mit phantastischen Kuppen und Zacken, die unheimlich aussahen in dem matten Lichte des trüben Tages. Die Luft war kalt, und überall, wo offenes Wasser vorhanden war, da war es bedeckt mit einer dicken Haut von dünnem Eis. Es sah aus, als ob wir nie wieder aus diesem Eisgefängnisse herauskämen. Schlimm, wie unsere Lage war – denn man konnte ja nicht wissen, wo die Strömung uns hintreiben würde und ob wir überhaupt wieder freikommen könnten vor Einbruch des Winters –, so fing ich doch wieder an, allerlei Hoffnungen zu schöpfen. Wer konnte wissen, ob das nicht doch eine im letzten Augenblick von einem gütigen Geschick gesandte Rettung war, die uns die Reise ins Unbekannte verbaute. Als ich aber am Morgen an Deck kam, hatte das Bild sich vollständig verändert. Wie durch ein Wunder hatte das Eis sich vollständig verlaufen. Die Sonne stieg hell und klar aus dem Meere heraus und spiegelte sich millionenfach in dem glitzernden Kleide von Rauhreif, der die ganze Takelage des Schiffes wie mit einem Zuckerguß überzog. Die Segel begannen sich zu füllen vor einer kräftigen Brise. Eben waren sie dabei, das Vormastsegel zu heißen. Das schwere Fall hatten sie um das Gangspill genommen, um das sie nun marschierten mit einem lustigen Liede:
»Oh, ein stolzes Schiff war die ›Belveder‹,
Alaska ließ sie in See,
Und kam durch die Straße von Unimak her,
Bestimmt nach der Beringsee,
Ho, he, nach der Beringsee!«
Und noch einmal, indem sie die Speichen kräftiger vor sich herstießen, wiederholten sie alle den Kehrreim mit dem langen Schnörkel:
»Ho, he, nach der Beringsee!«
Es war ein recht langes Lied mit vielen Strophen, die sich anscheinend beliebig vermehren ließen, je nach der Länge der Arbeit, und die von den erdenklichsten Abenteuern berichteten. Von schneller Fahrt und gutem Wind, von Walfischen, die die Boote zerschlugen, von Liebesabenteuern in Eskimo-Iglus, von Hunger und Skorbut und kurzen Rationen. Von zwei Steuerleuten, die einander umbrachten im Streit um die Fuchsfelle, von einem Negerkoch, der den Bootsmann vergiftete, von einer Bootsmannschaft, die im Eise verlorenging, von einem Kapitän, der am delirium tremens starb.
Und wie nun die schwere Rahe schon beinahe oben war, stimmten sie alle mit viel Gefühl den schönen Schlußvers an:
»Und Koch und Junge und Kapitän
Tut keinem ein Zahn mehr weh.
Sie segeln nicht mehr auf der ›Belveder‹,
Nicht mehr durch die Beringsee.«
Die alte Romantik findet nur da und dort noch eine Heimstätte in vereinzelten Walfischfängern und Kap-Hoorn-Seglern. Nur in den Büchern findet man heute noch den Typus des tollkühnen Seemanns, wie er die Regel gewesen sein mochte auf den alten Klipperschiffen oder gar unter den bezopften Matrosen, die unter Franz Drake und Jean Bart auf Beute ausgingen. Der Seemann von heute ist anders. Er fühlt sich nicht mehr als solcher, sondern einfach als Glied einer Masse, als Sklave der Maschine wie jeder andere Industriearbeiter an Land. Sie organisieren sich in – Transportarbeiterverbänden, und wo in früherem Zeiten Flibustier und Black Birders ihre Garne spannen, da reden sie heute nur von Streik und Aussperrung, vom Achtstundentag und von Überstunden.
Und mit dem alten Seemann ist auch neben so vielen anderen Gebräuchen und Sitten der tiefen See das Seemannslied, das »Shanty«, aus der Mode gekommen. Seeleute sind im allgemeinen keine musikverständigen Menschen. Das wäre auch zuviel verlangt. Aber im Shanty sind sie alle Meister. Für eine Landratte sind solche Lieder, die im Grunde genommen nichts weiter sind als ein in Reime gebrachter Rhythmus der Arbeit, nicht ohne weiteres verständlich, und man muß sich fragen, ob sie den richtigen Begriff davon bekämen, wenn sie wirklich den Sinn der Worte verständen. Es gehört dazu als Unterton die Stimme des Meeres und der immer gleiche Rhythmus der rollenden See. Ein nicht seebefahrener Mann macht sich keine Vorstellung von dem Chor der Stimmen, den ein Sturm an Bord eines Segelschiffes hervorruft. Im ganzen Körper des Schiffes ist ein gewaltiges Ächzen und Stöhnen.
Oben heult, singt und pfeift der Sturm durch das Tauwerk. In den Pardunen singt er wie eine Orgel; weiter oben heult er wie Telegraphendrähte mit greller, aufreizender Stimme oder mit einem süßen, melodischen Ton wie von Harfensaiten. Und lauter als das alles ertönt das Krachen der hereinbrechenden Sturzseen auf dem Großdeck, das Zischen des verlaufenden Wassers und das Hämmern der Taue gegen die Bordwand. In solchem Wetter tief unten beim Kap Hoorn muß man eine Schiffswache beobachten, wenn sie zu der Melodie »away for Rio« am Gangspill auf der Back das Marssegel heißt. Keinen schöneren Vorwurf kann man sich denken für einen Marinemaler: das schwer arbeitende Schiff inmitten der schäumenden Gischt des aufgeregten Meeres, die großen grünen Seen und der wilde, stürmische Himmel im fahlen Lichte des fernen Südens und die arbeitende Mannschaft auf dem Deck.
Auf den ersten Blick mag es scheinen, als ob die Shanty-Verse wenig Sinn und Verstand hätten. In endloser Folge erzählen sie von den Abenteuern verschiedener legendärer Persönlichkeiten, die durch die Jahrzehnte, ja durch die Jahrhunderte die Phantasie des Seemanns beschäftigt haben. Da ist Ruben Renzo, der auf einem Walfischfänger musterte und dem es dort so erbärmlich schlecht ergangen war. Da ist John Brown, von dem wir erfahren, daß das Whiskytrinken seine stärkste Seite war, daß seine Frau eine Warze auf der Nase hatte, und unendlich viele andere Dinge. Da ist – bei Walfischfängern besonders beliebt – Neuseeland-Tom, der kriegerische Walfisch in den Solandergründen, der mit jedem Boot und jedem Schiff den Kampf aufzunehmen pflegte und dennoch nie zur Strecke gebracht wurde, obwohl sein Rücken mit Harpunen gespickt war und er im Laufe seines unheiligen Lebens schon zahllose Bootsmannschaften in David Jonas' Spind befördert hatte. Stellenweise haben solche Singsänge sogar einen politischen und geschichtlichen Ursprung, dessen Bedeutung aber heute kaum einem mehr bewußt ist. Kaum einer von denen, die heute das gute alte Shanty »Santa Ana was a good old man« singen, ist sich wohl der Tatsache bewußt, daß dieser selbe Santa Ana einstmals Präsident der Republik Mexiko war und einen Krieg gegen den revoltierenden Staat Texas führte. Es scheint, daß sehr viele dieser Shanties, die heute noch gesungen werden, ihren Ursprung auf den alten Yankee-Klippern der fünfziger Jahre gehabt haben, so vor allem das beliebte »Blow, boys, blow, for California«, das die neuentdeckten kalifornischen Goldlager besingt. Zahlreich sind auch die, die sich mit den Ereignissen des amerikanischen Bürgerkrieges beschäftigen, worunter das bekannteste ein Spottlied auf den damaligen Präsidenten der Südstaaten ist: »Hang Jeff Davis on a sourappletree.«
Auf deutschen Schiffen und bei deutschen Matrosen haben sich derartige Gesänge nie eingebürgert, denn obwohl der deutsche Seemann von heute, was Kühnheit und Seemannskunst anbelangt, erheblich über seinen alten Konkurrenten steht, hat er doch nicht wie diese die Tradition der See, die diese Lieder nur in jener Umwelt als echt erscheinen läßt. Nur das zuletzt erwähnte Shanty mit seinem Kehrreim: »Glory, glory, hallelujah« findet sich wieder in dem deutschen Liede: »Hamburg ist ein schönes Städtchen.« Da es sich um eine schöne Marschmelodie handelt, ist sie schließlich auch in das Repertoire des deutschen Soldaten übergegangen.
Leute, die Shanties singen können, sind immer nützliche Persönlichkeiten an Bord, denn es gibt nichts, was eine schwere Marsrahe schneller in die Höhe schicken könnte als ein gutes Shanty.
An Bord der »Bonanza« war Schanghai-Bill der unbestrittene Meister auf diesem Gebiet. Das aber war auch wirklich der einzige Punkt, in dem er sich auszeichnete. Im übrigen aber war er in den anderthalb Jahren das geblieben, als was er sich schon am allerersten Tage gezeigt hatte: ein mürrischer, arbeitsscheuer Seeadvokat. In jedem Monat zu bestimmtem Tag und zu bestimmter Stunde erschien er auf dem Achterdeck, um dem Kapitän seinen Fall erneut in Erinnerung zu bringen. Der Vorfall pflegte sich dann blitzartig abzuspielen nach einem im Lauf der Zeit ausgearbeiteten Schema.
»Was willst du hier?« fragte der Kapitän.
Worauf Schanghai-Bill: »Ich bin krank, Sir, und ich muß Sie auffordern, mich im nächsten Hafen an Land zu setzen.«
Kapitän: »Scher' dich nach unten, du alter Seelenverkäufer! Du wirst noch viel kränker werden, ehe ich mit dir fertig bin.«
Worauf dann wieder Schanghai-Bill unter Protest mit den Worten fortging: »Sie werden sich vor Gericht verantworten müssen für das, was Sie hier gesagt haben. Ich hab' das alles aufnotiert in meinem Logbuch. – Ah, mein Hals ist steif bei dem Gedanken an den Galgen, an dem ihr alle hängen werdet!«
Dann war wieder Ruhe für einen ganzen Monat.
Doch ich muß nach diesen Abschweifungen wieder zu meiner Geschichte zurückkommen.
Schon bald nach dem Passieren des Eisfeldes gelangten wir mitten in eine »Schule« von Walfischen. Es war ein schöner, sonniger Tag, und die Art und Weise, wie die buschigen Spaute aus dem blauen Wasser aufschossen, war genug, um jedes Walfischfängerherz vor Jagdlust erzittern zu machen. Der Dritte Steuermann, der eben die Wache hatte, ließ beidrehen in der steifen Brise.
»Blo–o–ow!« rief er aus dem Krähennest.
»Steht bei den Booten!« sang der Steuermann aus. Da kam der Kapitän an Deck und schaute sich um mit wilden Blicken wie ein gereizter Löwe. »Weg von den Booten!« brüllte er mit einer Stimme, die alle polternden Sturzseen übertönte. »Holt achtern die Großrahe! Wer ist hier Kapitän an Bord?«
Auf diese erste Schule folgten bald noch andere. Bald sah man in der Ferne die Spaute aufblitzen, bald kamen sie aus nächster Nähe wie ein lautes, übernatürliches Schnarchen. Da und dort sah man die mächtigen schwarzen Körper wie Schatten unter dem grünschimmernden Wasser.
Alle bewegten sich langsam und gemessen, in spielerischer Beschaulichkeit. Es war die schlimmste der Tantalusqualen für jeden ordentlichen Walfischfänger, aber – mochten auch noch mehr kommen – der Kapitän schien keine Augen mehr zu haben für die Schätze, die da im Wasser lagen, und ebensowenig Alaska-Jim. Auf und ab marschierten die beiden auf dem Achterdeck, ohne je ein Wort miteinander zu reden. Es war offenbar, daß die beiden sich um so wohler fühlten, je weiter sie voneinander entfernt waren.
Auch sonst gab es in jenen Tagen genug der bösen Blicke und sauren Gesichter an Bord der »Bonanza«. Mürrisch, verdrossen und schleppend ging jeder seinen Geschäften nach. Meuterei heckte in allen Gesichtern.
Will man sich ein Bild machen von der Stimmung der Schiffsmannschaft, so braucht man sich gewöhnlich nur den Koch anzusehen. Allezeit ist dessen Gesicht ein untrügliches Barometer, und niemand versteht dieses besser zu lesen als der Schiffsjunge, auf den die Böen immer zuerst niederprasseln. Dieses Barometer stand aber derzeit auf Sturm. Mürrisch ging er seiner Arbeit nach, mürrisch reichte er mir das Essen, das ich in der Kombüse holen mußte, und nicht einmal mehr in vielen Wochen hatte er mir ein Garn gesponnen. Wann immer ich nach seinem Reiche kam, da saß er mit Joe Carrol in einer dunklen Ecke hinter dem Herd, wo sie eifrig Zwiesprache hielten, mit tuschelnder, halblauter Stimme.
»Nein«, zischelte Joe, »'s ist nicht natürlich! Wie kann es denn sein? Seit einem Menschenalter fahre ich zur See und habe dabei mehr gesehen als irgendein anderer auf diesem gesegneten Schiffe. Ich war an Bord des alten ›Krampus‹, wie er im Eise erdrückt wurde bei Kap Bathurst, ich war mit Billy Bones in Banksland, ich habe gehungert und gefroren in mancher kalten Winternacht, ich hab' auf dem ›Fearleß‹ unter Kapitän Kid gefahren, der ein richtiggehendes Piano in der Kajüte hatte.«
»Pi–a–no?« wiederholte Jim im höchsten Diskant des Erstaunens.
»So wahr ich da sitze, Jim! Ich hab' es mit meinen eigenen Augen gesehen. Ich hab' ihn draufloshämmern hören, ihn und das dürre Geschöpf von einer Missionarsfrau, als wir vor St. Michael in Alaska lagen. So etwas ist nicht schiffsgemäß, wirst du sagen, und eine Beleidigung für alle Mann an Bord. Da magst du wohl recht haben. Ziehharmonikas sind mehr nach meinem Geschmack. So etwas klingt kräftig, wie Speck und Erbsen, und außerdem ist so ein Schnörkel dabei, der nach Segeln schmeckt und dich ganz zu Hause fühlen macht. – Aber wer kann wissen, was alles vorgeht in den Köpfen von seefahrenden Menschen? Ah, Jim, ich habe davon etwas gesehen zu meiner Zeit! In einem Monat von Sonntagen würde ich nicht fertig werden, wenn ich dir davon erzählen wollte. Je länger man lebt, je weniger wundert man sich darüber. Aber das geht über meine Begriffe! Ich habe einen Bischof gesehen, den sie auf einen Perlenfischer verschanghait hatten, und einen Bootssteuerer, der nachher Tanzmeister wurde und Messerschlucker auf dem Rummelplatz auf Coney Island bei New York. Aber noch nie habe ich einen Walfischfänger vor den Walfischen davonlaufen sehen. Ich bin zu meiner Zeit in den Solandergründen gewesen und bei den Tongainseln und überall dort, wo etwas zu holen ist, aber noch nirgendwo habe ich so viele Walfische gesehen wie gerade hier in dieser Gegend. Kein Tag vergeht, ohne daß man eine Schule von Walfischen zu sehen bekommt, von denen ein jeder gut und gern seine 10 000 Dollar einbringt in San Franzisko. Sie brechen Wasser und gehen flugs und schauen einen an, daß es einem das Herz im Leibe umdrehen könnte. Und niemals ein Boot im Wasser! Immer vorwärts vor einem Fairwind. – Wohin? Weißt du's? Weiß ich's? Vielleicht zu David Jonas. – Es ist nicht natürlich, sage ich. Und es ist auch nicht recht. Eine Sünde ist es und eine Beleidigung für die ganze Zunft. – Jim! Jim! Wir haben für eine böse Reise gemustert. Halte einen hellen Ausguck. Es liegen Böen voraus, und well – ich sag's dir gerade, wie es ist –, es ist nicht natürlich. Die ganze Reise gefällt mir nicht.«
So ungefähr maulten und zischelten sie an jedem Tage. Die Unzufriedenheit wuchs von Tag zu Tag. Das Gerede wurde immer ärger, und binnen kurzem brach es los wie ein Hagelwetter.
*
Das war so ungefähr um drei Glas in der Hundewache. Ich stand auf dem Achterdeck und putzte mit Öl und feinem Putzsand – aber zum wievielten Male seit der Abreise von New Bedford! – das kupferne Gehäuse über dem Kompaß. Es war nicht einzusehen, warum ich das tun mußte, denn das Ding leuchtete auch so im Glanz seiner fleckenlosen Reinheit. Aber Schiffsgewaltige haben stets eine Schwäche für leuchtendes Kupfer und Messing, und noch viel weniger können sie es ertragen, wenn Schiffsjungen ohne Beschäftigung sind. Und also werden Messing und Schiffsjunge immer eine Anziehungskraft aufeinander ausüben, solange es Schiffe und Seeleute gibt. Im übrigen war es ein schöner Abend, wie wir ihn seit langem nicht mehr erlebt hatten. Der Wind war merklich abgeflaut zu nicht viel mehr als einer kräftigen Brise. Die Sonne stand tief über dem Wasser, und der Himmel war getaucht in alle Farben des Regenbogens. Der Abend lag weich und wohlig auf dem Verdeck. Sogar der Kapitän hatte seinen ewig unruhigen Spaziergang unterbrochen und saß auf der Luke neben einem der Eskimoweiber, die an den Pelzkleidern nähten.
Eben kam Mr. Silas Hard vom Großdeck herauf.
»Haben Sie etwas bemerkt dort unten?« fragte der Kapitän. »Die Luft scheint dick zu sein.«
»So dick, daß man sie essen könnte!« antwortete Silas Hard. »Es ist ein böses Schimpfen und Fluchen, und irgend etwas wird da ausgeheckt. Das kann man ihnen von den dummen Gesichtern ablesen. Jim Collins ist ziemlich frei mit seinen Redensarten, und Schanghai-Bill hat es wieder mit seiner Krankheit zu tun. Das ist allemal ein böses Zeichen. Ich wette einen Dollar, daß wir hier etwas erleben werden, ehe noch der Tag zu Ende gekommen ist.«
Er hatte noch nicht ausgesprochen, als Will Watch, der Expfarrer aus Pennsylvanien, die Treppe zum Achterdeck heraufkam. Wild schaute er um sich mit seinen schwarzen Augen und murmelte vor sich hin, wie das seine Gewohnheit war. Seit der Abfahrt von San Franzisko hatte er gemurmelt und seither nicht mehr damit aufgehört in anderthalb Jahren.
»Was gibt's?« fragte Silas Hard.
Der Angeredete blieb die Antwort nicht schuldig und begann ihm den Fall auseinanderzusetzen, mit einer Zungenfertigkeit, die von vergangenen besseren Zeiten auf der Kanzel in seinem Pennsylvaniadorf zeugte. Mr. Silas Hard, der wenig Verständnis hatte für solche Beredsamkeit, unterbrach ihn ungeduldig.
»Schon gut! Schon gut! Sag's geradeheraus, was du zu sagen hast, und ohne Umstände. Dieses ist keine Kirche, sondern ein christliches Schiff.«
In diesem Augenblick kamen noch ein paar Mann von vorn, die anderen folgten, und bald standen alle Mann auf dem Achterdeck, achterkant des Besanmastes. Das war nun ein Sakrilegium, das nach Sühne geradezu schrie, denn das Achterdeck ist dreimal heilig für ungeweihte Füße, wenn sie dort nichts zu tun haben. Der Kapitän aber, der sonst ein Fanatiker der Schiffsetikette war, schien heute geneigt, über die Ungehörigkeit solches Benehmens hinwegzusehen. Eine Weile starrte er wortlos den grollenden Haufen der meuternden Matrosen an, die offenbar bei dem Heraufkommen mehr im Schilde geführt hatten, als sie jetzt auszuführen wagten.
»Was wollt ihr hier, Jungens? Was kann ich für euch tun?« fragte er mit einem eigentümlichen Tone, aus dem man beim besten Willen nicht heraushören konnte, ob es Spott oder Ernst war, der in seinen Worten lag.
»Was wir wollen?« grollte eine rauhe Stimme. »Ah, der kann von Glück reden, der jetzt noch weiß, was er will! Gerade deshalb sind wir hier heraufgekommen, um das zu erfahren, Sir.«
»Stimmt etwas nicht mit den Rationen?«
»No, Sir«, antwortete derselbe Sprecher in einer womöglich noch gröberen Tonart, »nichts auszusetzen auf dem Gebiete, solange Salzfleisch und Stockfisch gut genug sind für den Mann vor dem Mast.«
»Handelt sich's um den Koch?«
»No, Sir.«
»Für was, zum Teufel, seid ihr dann hier heraufgekommen? Heraus mit der Sprache! Macht den Mund auf, einer von euch Seeadvokaten! Wie wär's, Schanghai-Bill? Hast doch sonst kein Reff in der Zunge. Ich hab' mein Auge an dir gehabt in diesen Tagen. Seit Wochen höre ich dich maulen da vorne. – Well, nun, was gibt's? Jetzt ist die Zeit, dein Sprüchlein herzusagen. Niemand wird dich darum fressen.«
Der also angeredete Schanghai-Bill beeilte sich keineswegs mit der Antwort.
»Ich muß Sie schon bitten, meinen Namen aus der Geschichte zu lassen, Sir«, sagte er zögernd. »Ich bin ein kranker Mann. Ich bin hier unrechtmäßigerweise, unter Anwendung körperlicher Gewalt, an Bord gekommen. Ich betrachte mich als Passagier und müßte nun von allen guten Geistern verlassen sein, wenn ich mir ein gutes Ding durch eine lose Zunge verderben würde. Ich kenne eine gute Hand, wenn ich sie habe. Sie ist so gut wie ein volles Haus im Pokerspiel. Ich werde sie halten und spielen, für alles, was darin ist. Wenn je ein seefahrender Mann ein gutes Ding hatte, so bin ich es, ich, Schanghai-Bill, so wie ich hier stehe! – Ah, es wird ein Futter werden für die Advokaten, ein Fressen für den Staatsanwalt, und ich werde einen Zahltag haben, so lang wie ein Tag ohne Sonne! Es wird wohl das beste sein, wenn ich meinem Kollegen Mr. Collins das Wort erteile – zu weiteren Ausführungen.«
»Mr. Collins ist gut«, sagte Silas Hard mit grimmiger Miene, »ich werde ihn mistern, ihn und die ganze Sippschaft!«
Aber schon kam der also Titulierte langsam hinter dem Besanmast hervor, ganz die Figur des Anführers einer meuternden Schiffsmannschaft, so, wie man sie zuweilen auf den Bildern sehen kann. Sein Gesicht war noch gelber als gewöhnlich, die Augen schillerten grün wie Katzenaugen, und wie er sich nun aufrichtete in seiner ganzen unwahrscheinlichen Länge, da ragte er um Haupteslänge über alle anderen hinweg, und es waren doch einige darunter, die auch keine Zwerge waren.
»Well, Sir«, begann er seine Rede mit einer gewissen gemessenen Feierlichkeit, »'s ist nichts zu sagen gegen das Essen und nichts gegen den Koch, wenigstens nicht mehr als das, was man sonst alle Tage an ihm auszusetzen hat, und das mit Recht. Aber es gibt noch andere Dinge außer Koch und Küchenzettel, sollte man meinen. So zum Beispiel die Abrechnung, die man am Schluß der Reise bekommt, oder die Artikel der Musterrolle, oder Leben und Tod, wenn das auch nicht viel zählt bei unserer Sorte, oder ob einer ein richtiger Seemann ist und für seine Rechte einsteht, für die er gemustert hat.«
»Da magst du wohl recht haben«, sagte der Kapitän.
»Und wenn ich recht habe«, fuhr Jim Collins fort, »so kann ein anderer nicht auch recht haben. Das wäre nicht vernünftig. Und well – ich sag's geradeheraus: Es gefällt uns nicht mehr an Bord. Nicht das Schiff, nicht die Steuerleute und nicht der Kapitän. Wir haben es satt. Heute morgen haben wir eine Beratung abgehalten und nach Recht und Gesetz beschlossen, die Geschäfte selbst in die Hand zu nehmen. So stehen die Sachen, und diese armen Jungens hier haben mich beauftragt, Ihnen das zu sagen.«
Der Kapitän, der bisher schweigend und anscheinend gleichgültig die Rede angehört hatte, klopfte seine Pfeife aus auf dem eisernen Poller. Dann richtete er sich langsam auf, und je höher er sich aufrichtete, desto kleiner wurde Jim. Leise pfiff er durch die Zähne.
»Das also ist das Viertel, aus dem der Wind kommt! Kapitän Collins! In der Tat! Und eine feinere Zierde kann ich mir nicht gut denken für das Achterdeck eines Walfischfängers.«
»Er würde noch feiner aussehen von einer Rahnock!« unterbrach ihn Mr. Hard.
»Walfischfänger«, sagte Jim mit grimmiger Miene, »ist's etwa noch ein Walfischfänger, der vierkant braßt vor jedem Fisch und vor jeder Schule davonläuft, als ob er sich vor ihr fürchtete wie vor David Jonas in eigener Person? Wenigstens könnte man uns sagen, wie der Kurs ist und was das alles zu bedeuten hat, denn schließlich sind wir doch auch Menschen sozusagen und keine Hammelherde. Mit Ihrer Erlaubnis, Sir, sind wir das?«
Nun richtete der Kapitän sich erst in seiner ganzen Größe auf. Die Stirn begann sich zu runzeln, und die Augen blitzten grau und kalt wie das Meer.
»Der Kurs? Er ist Nord! Und nordwärts werdet ihr mit mir gehen, oder aber, so wahr ich hier stehe, ihr geht mit mir zu David Jonas! Wenn ihr euer Leben liebhabt, so müßt ihr nicht mit Ben Tilden segeln. Auch ich kenne eine gute Hand, wenn ich sie habe, und ich bin nicht zu feige, um sie zu spielen. Gerade hier sehe ich die Gelegenheit meines Lebens. Alles habe ich in einem Kreuzknoten und lass' ihn mir nicht zertreten von euren landlümmeligen Plattfüßen. Wer mit mir segelt, der muß Order parieren wie ein ordentlicher Seemann und riskieren, daß er vorzeitig zu den Fischen geht. Wer aber bange ist um sein bißchen Leben und lieber zu Mama gehen will –«
Wütend schaute er sich um nach den im Hintergrund stehenden Bootssteuerern.
»Klar das Steuerbordboot!«
»Wer also kalte Füße hat, der braucht sich nur zu melden! Ich packe ihn ins Boot. Ich gebe ihm für vierzehn Tage Proviant mit auf den Weg und wünsche ihm außerdem noch eine gute Reise. Es wird nicht schade um ihn sein, und froh bin ich um jeden, den ich los werde. Wer aber bei dem Schiffe bleibt, dessen Namen schreibe ich ins Logbuch als den eines wahren Seemannes, und ich werde dafür sorgen, daß er am Ende der Reise einen Zahltag haben wird, wie er ihn sonst niemals bekommen würde, und wenn er zehn Leben leben würde als Mann vor dem Mast.«
Plötzlich brach er die Rede ab. Ein paar Minuten lang herrschte Totenstille. Man hörte nur das Waschen des Wassers an der Schiffseite und das Pfeifen des Windes in der Takelage. Während der Erörterungen waren auch die gesamten Bootssteuerer, Steuerleute und sonstige »afterguards« auf das Achterdeck gekommen, bewaffnet bis an die Zähne mit Gewehren und Revolvern, während der Haufe der meuternden Matrosen sich auf nichts stülpte als auf ein wirkliches oder vermeintliches Recht und auf Jims großes Mundwerk.
»Was habt ihr zu sagen?« donnerte der Schiffsgewaltige.
Immer noch lautlose Stille.
»Ah, ihr wollt nicht? Euch fehlt der Mut? Nicht mehr habt ihr davon als meiner Mutter Katze! Aber dann, beim Donner, sollt ihr gehorchen! Lange genug habe ich euer Maulen dort vorne mit angehört. Nun ist's genug. Keine Seeadvokaten mehr, savvy! Was ihr hier gegen mich auszusetzen habt, das könnt ihr meinetwegen zu Hause den Advokaten erzählen, aber inzwischen bin ich Kapitän an Bord. – Geht nach vorne, wo ihr hingehört!«
Schroff wandte er sich ab und marschierte achteraus zum Mann am Ruder. Silas Hard, der schon lange ungeduldig dabeigestanden hatte, tat den Mund auf zu einer energischen Strafpredigt an die Leute, die noch immer murrend beisammenstanden und keine Miene zum Fortgehen machten. Doch da trat Alaska-Jim in seiner Eigenschaft als Erster Steuermann vor und hielt eine Rede mit öliger Stimme.
»Langsam, langsam, Jungens! Wer wird denn weinen über solche Kleinigkeit? Wo käme man denn hin, wenn man sich über alles aufregen wollte? Damit verdirbt man sich nur den Appetit und bringt sich um den gesunden Schlaf, und das ist das Schlimmste, was einem passieren kann in diesem Leben. Ich bin ein gemütlicher Mann, der mit sich reden läßt und ein Herz hat für den Mann vor dem Mast. Das wißt ihr alle. Ich bin auch nicht von gestern und habe manches gesehen zu meiner Zeit, mehr als irgendein Muttersohn unter euch. Und das ist es nun, was ich euch sage:
Ihr habt doch wohl gehört von MacKays Insel? Von MacKay, dessen Steuermann ich gewesen bin, die vielen Jahre. – Nun ja, wer redet da von Walfischen? Wenn Ben Tilden und ich Geschäfte zusammen machen, so ist das allemal so gut wie ein langer Zahltag, so gut wie Pferd und Kutsche für jeden von euch am Ende der Reise, wenn ihr es nur einmal in eurem Leben fertigbringen wolltet, den Mund zu halten. Aber das bringt ihr nicht fertig – ihr nicht! Ihr spuckt's heraus, was ihr auf der Leber habt und laßt euch dafür hängen am anderen Tage. Noch nie habe ich einen Seemann gesehen, der es anders gemacht hätte. Darum werde ich mich auch nicht vor euch hinstellen und meine Geschäfte ausschreien wie ein Marktschreier auf einer Kirchweihwiese. Ich könnt' es geradesogut den Papageien erzählen. Aber im Vertrauen will ich euch so viel sagen: ein Wort, von dem das Ohr nicht wissen darf, was der Mund gesprochen. Zwischen mir und euch und dem Besanmast will ich es euch sagen:
Es geht um bare Dollars. Es geht um Gold.«
Um Gold!
Die Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Ein Murmeln ging durch die Menge.
»Und dies ist nun, was der Kapitän mir gesagt hat«, fuhr Jim fort. »Gerade vorhin, ehe ihr heraufkamt: ›Mister Jim‹, hat er gesagt, ›ich will, daß alle Mann zufrieden sind an Bord meines Schiffes.‹ Ja, das waren genau seine Worte – es soll in Zukunft Duff zweimal in der Woche geben, den Stockfisch am Freitag werden wir ausschalten und dafür Reis mit Curry servieren. Samstags soll es Erbsensuppe mit Speck geben, jeden Monat ein Pfund Tabak mehr pro Mann, täglich in der Hundewache soll jeder einen Schluck Whisky bekommen, und heute – da es gerade sein Geburtstag ist – stiftet er ein Fäßchen Rum für alle Mann. – Nun, ich denke, das ist anständig gehandelt als ein wahrer Seemann.«
Die Wirkung dieser Rede war offensichtlich. Ein Murmeln der Freude und des Erstaunens ging durch die Menge. Nur Silas Hard schien keineswegs erfreut über die Mitteilung. »Nur so weiter!« sagte er mit grimmiger Miene. »Ich hab' noch nie etwas Gutes von so etwas kommen sehen. Verdorbene Vormasthände geben Teufel.«
Nachdem sie noch eine Weile beraten hatten, trat Jim Collins, der von Anfang an den Rädelsführer gespielt hatte, aus der Menge hervor.
»Und sind das nun wirklich auch des Kapitäns Worte?« fragte er mit unsicherer Stimme.
»Genau seine Worte«, antwortete Alaska-Jim.
»Es soll Duff zweimal in der Woche geben?«
»Gewiß.«
»Und Reis mit Curry an Stelle des Stockfisches?«
»Wenn ich's dir sage!«
»Und Erbsensuppe mit Speck an jedem Samstag?«
»Jawohl!«
»Und – und – und ein Faß Rum für alle Mann jetzt gleich in diesem Augenblick?«
»Jetzt in diesem Augenblick! Ich dächte, Jungens, das ist anständig gehandelt als ein wahrer Seemann, und ich schlage nun vor, daß wir allesamt drei kräftige seemännische Hurras ausbringen für Kapitän Tilden!«
Schon riß er die Mütze vom Kopf, und alle stimmten begeistert mit ein in den Ruf, als ob sie nicht eben erst mit Mord und Meuterei in den Augen aus dem Mannschaftslogis gekommen wären. Für den Rest des Tages war nun alles ein Herz und eine Seele. Drei Mann wurden achteraus geschickt, wo sie mit vielem lustigen Jo! Ho! ein Fäßchen Rum aus der Luke heraufheißten, und zwar von dem guten echten Zuckerrohrrum, den wir bei den Hawai-Inseln an Bord genommen hatten. Im Triumph wurde es nach dem Mannschaftslogis gebracht, wo jeder seine Blechmug bis oben an mit dem scharfen Stoffe füllte. Im Augenblick waren die Becher leer und wurden wieder und wieder gefüllt. Dazwischen grölte einer ein Lied zur Erhöhung der Festesstimmung:
Whisky bracht' mich um Kap Hoorn,
Whisky, Johnny!«
Dann fielen sie alle ein zu einem mächtigen Rundgesang, der in seiner Inbrunst schon beinahe etwas Feierliches hatte:
»Whisky hier und Whisky da,
Whisky für mein'n Johnny!«
Ab und zu stand Jim Collins auf und hielt immer wieder dieselbe Rede, derweilen er sich krampfhaft am Tische festklammerte und mit den grünen Augen ausdruckslos in das unsichere Licht der matten Lampe starrte.
»Was denkt ihr wohl davon, Jungens? Habe ich meine Sache gut gemacht? Zweimal Duff in der Woche, Whisky in jeder Hundewache und hier gleich ein ganzes Faß Rum! Ja, er ist ein feiner Kapitän, Ben Tilden, wenn man ihn nur zu nehmen weiß, und ich bin gerade der Junge, der sich auf so etwas versteht. Verlaßt euch nur auf mich. Weiß der Teufel, ich segle mit ihm zu David Jonas, solange er mir nur an jedem Tage meinen Whisky in der Hundewache gibt! Drei Hurras für Kapitän Tilden, hurra für die Reise nach dem Nordpol!«
Einmal kam sogar Alaska-Jim die steile Treppe hinunter in die dunkle Höhle des Mannschaftslogis. Er klopfte jedem auf die Schulter und war noch mehr als sonst die vollendete Liebenswürdigkeit.
»So ist es recht! Amüsiert euch gründlich, Jungens! Was hat man denn auch vom Leben? Wenn immer es euch an etwas fehlt, so kommt nur gleich zu mir. Ich bin auf eurer Seite und sorge für euch, wie ein Vater, sozusagen!«
Das sagte er mit sanften Worten und einer süßen Miene, der man nimmer anmerken konnte, wie schon Mord und Verrat in seinem Kopfe spukten. Mir wenigstens erschien er damals als der einzige Kavalier an Bord, wenn ich mir auch heute im Zurückdenken daran mit Hamlet sagen muß:
»Schreibtafel her! Ich will mir's niederschreiben,
daß einer lächeln kann und immer wieder lächeln,
und doch ein Schurke ist!«
Da sie immer aufdringlicher wurden in ihrer Lustigkeit, nahm ich meine Schlafdecke und entschlüpfte damit an Deck, wo ich fröstelnd und zitternd den trüben Gedanken nachhing.
Es war eine ganz klare und schon fast wieder dunkle Nacht. Am Himmel stand die dünne Sichel des zunehmenden Mondes und zog eine weiße Straße, die wie flüssiges Quecksilber zitterte über dem nachtschwarzen Meere. Auf dem Verdeck lagen lange, scharfe Schatten von den hohen Masten, deren Schattenbilder neben dem Schiff herzogen. Die Hunde lagen in fauler Behaglichkeit auf der Luke. Man sah das rote Licht, das hell aus der Kajüte leuchtete, man hörte das Summen des Windes im Tauwerk, und dumpf nur, wie aus weiter Ferne, das Singen der betrunkenen Matrosen mit dem immer gleichen Kehrreim:
»Whisky, Johnny . . .«
Nur wenig hatte ich von dem Rum gekostet, aber hätte ich eine Flasche davon getrunken, so hätte mein Kopf nicht heißer, meine Gedanken nicht verworrener sein können. Ich versuchte nachzudenken, aber ich konnte es nicht. Ich versuchte meine Gedanken zu sammeln, aber sie zerflatterten im Winde. Ich ging nach vorn auf die Back und hörte auf das Rauschen des Wassers und starrte hinaus in die Nacht mit den flimmernden Nordlichtern, als sollten sie mir Antwort geben auf all die verworrenen Gedanken, die in meinem armen Kopfe gingen.
Und wie ich noch darüber nachdachte, da ging unmerklich das Dunkel in die graue Dämmerung des jungen Tages über. Alle Gestalten des Tages begannen sich aus der Finsternis abzusondern, und plötzlich kam aus dem Krähennest der langersehnte Ruf:
»Land ho!«
Vom Verdeck aus war vorerst nichts von dem Lande zu erkennen, aber als ich um acht Glas wieder nach oben kam, da stand es deutlich unter dem nördlichen Himmel, ein steiler, fast viereckiger Tafelberg, dessen Umrisse sich scharf abhoben im Lichte der aufgehenden Sonne. Der Wind war inzwischen umgesprungen und wehte fast genau aus Süden, so daß wir schnell vorwärts kamen. Es war ein wunderschöner Morgen mit kräftiger Brise, die die Schaumflocken auf den kräuselnden Wellen tanzen machte. In einem Abstand von drei bis vier Seemeilen fuhren wir während des ganzen Tages entlang der Küste, die schwarz und drohend und nicht eben einladend herüberschaute. Überall stieg sie schroff an zu hohen Steinwänden, deren Schichtung auch aus der Ferne deutlich zu erkennen war. Gegen Abend leuchteten sie blutrot in der untergehenden Sonne, so recht ein Sinnbild aller trüben, gottverlassenen Wildnis. Ganz im Hintergrund standen einige schneebedeckte Bergkegel, kaum sichtbar am dunstigen Himmel. Auf dem Achterdeck stand der Kapitän mit einer Karte in der Hand und ließ sich von Alaska-Jim die Einzelheiten erklären.
»Aye, aye, sir!« sagte er diensteifrig. »Dieses hier ist die Seehundküste. Den Kegel dort drüben haben die Jungens den Dollarberg genannt. Bei klarem Wetter kann man etwa zwei Strich weiter nach Westen, genau Nord zu West, von hier noch einen anderen größeren ausmachen. Das ist der David Jonas. Hinter jenem Kap im Osten – sie heißen es den Klüverbaum – liegt die Entenlagune, wo wir mit dem alten ›Walroß‹ überwintern. Sie müssen über Stag gehen, ungefähr fünf Meilen hart am Wind und dann gerade hinein in die Bai, wo Sie so sicher sind wie am Dock in New Bedford. Im ganzen Eismeer gibt es keinen bequemeren Winterhafen.«
»Allright«, sagte der Kapitän, »das ist alles, was ich wissen wollte. Sie können jetzt den Anker klar machen.«
Noch am selben Abend, als eben die Sonne untergegangen war, segelten wir um das weit vorspringende Kap, und plötzlich kam die Bai in Sicht, die eine neue Überraschung war in dieser seltsamen Umwelt. Sie war fast kreisrund und stellenweise noch von dünnem, blauschimmerndem Eis bedeckt. Die Felsen traten ganz zurück. Landeinwärts breitete sich ein flacher, sandiger Strand, der nur ganz allmählich anstieg, zu einem sanften Hügellande, dessen Hänge grün schimmerten von dem dichten Moosteppich.
Den Namen »Entenbucht« hatte der Platz nicht gestohlen. In ganzen Wolken flogen die bunten Wildenten auf bei unserem Herannahen. Überall sah man Gänse und Lummen. Die Möwen erhoben ein ohrenzerreißendes Geschrei. Wie Wolken umschwebten sie die Spitzen der scharfkantigen, rotleuchtenden Felsen. Es war klar, daß wir hier nicht verhungern würden, und wenn jeder einzelne von uns so alt würde wie Methusalem selbst, auf dieser Insel oder was sonst es sein mochte. Nicht ein bißchen scheu waren die unruhigen Geschöpfe. Sogar die Wildgänse flatterten neugierig über dem Verdeck und ließen sich vertraulich nieder in die Takelage ohne Ahnung davon, welch großer Feind sich unter ihnen niedergelassen hatte. Das wildeste, verschlagenste, erbarmungsloseste aller Tiere des Tierreichs: der Mensch.
Während der Nacht lagen wir in der Bucht vor Anker, und im ersten Grauen des nächsten Morgens machten wir uns daran, das Schiff in die richtige Lage zu bringen zum Einfrieren für den kommenden Winter. Ein an eine lange Tauleine befestigter Bootsanker wurde an Land gebracht und dann vom Verdeck aus die Leine am Gangspill kurz gehievt, bis das Schiff mit dem Heck hoch und trocken auf dem Lande lag. Sobald das möglich war, sprangen wir alle über die Seite und kamen uns dabei ungefähr so vor wie Kolumbus. Nach so vielen Decksplanken war es ein rechter Hochgenuß, einmal wieder den knirschenden Sand unter den Füßen zu spüren. Auch sonst war es ein ganz einladendes Plätzchen. Überall rauschte das Wasser der kleinen Bäche, und überall leuchteten die Blumen aus dem Moose. Die Vögel machten teilweise ein ohrenbetäubendes Geschrei. Sogar etwas Treibholz lag am Strande. Mit dessen Hilfe machten wir ein Feuer und wärmten die Hände in den Pausen zwischen der kalten Arbeit. Alaska-Jim, der heute bei ganz besonders guter Laune war, stand dabei und gab uns noch allerlei geographische Belehrungen.
Niemandsland!