Zur Jugendgeschichte des Johannes von der Ostsee
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FÜNFTER BRIEF

Hochwasser bei Danzig, den 1. Oktober 1783

Neulich war ich in der Münde, und da sah ich einen Schiffer, dessen Schiff segelfertig lag, und wollte bald an Bord gehen und hatte schon klargemacht.
Da begab ich mich auf ihn zu und bat ihn, er möchte mich doch mitnehmen, aber er ging fort und ließ mich stehen, ohne mich auch nur anzuhören. Und das verdroß mich nicht so sehr, daß er mir es abschlug, als daß er mir kein Wort darüber sagte; denn das hätte ich doch wohl verdient. Und wie nun der Abend kam und ich so am Ufer des Meers mißmutig auf und ab ging und das hinwegeilende Schiff, mit seinen weißen Segeln, so lange mit meinen Augen verfolgte, als ich es nur immer im letzten Sonnenstrahl entdecken konnte, ist mir abermals ein Lied eingefallen, das ich auch dem Herrn Vetter lieber gleich, und eh ich es verliere, mitteilen will.

Der Knabe an der Ostsee

Danzig, den 28. August 1783 Am Strande der Insel Hela.

Vögelein,
Jahraus, jahrein,
Seh ich an der Ostsee kommen;
Keines hat mich mitgenommen
In ein fremdes Land hinein,
Vögelein, Vögelein!

Vögelein!
Jahraus, jahrein
Sitz ich hier, ich armer Knabe;
Auf der Welt ich niemand habe,
Hier auf diesem harten Stein;
Vögelein, Vögelein!

Vögelein,
Jahraus, jahrein
Sollt ihr kommen, sollt ihr fliegen,
Und ich werde schlafend liegen
Unter diesem harten Stein;
Vögelein, Vögelein!

SECHSTER BRIEF

Kloster Oliva bei Danzig, den 10.Juni 1784

Vorigen Donnerstag haben die Katholiken zu Schwarz-München groß FronleichnamDas Fronleichnamsfest wird am zweiten Donnerstag nach Pfingsten mit einer feierlichen Prozession begangen. und einen Umgang gehabt, und weil ich das gern mit angesehn, so habe ich meinem Vater schon frühe darum das Wort gegeben. Der hat es mir auch erlaubt, nämlich, wenn ich den Tag über fleißig wär und brav arbeitete. Das habe ich auch getan; auf den Abend aber, und wie es dazu kam, daß ich gehen sollte, machte die Mutter allerlei Einwendungen, und hatten es mir doch beide versprochen. Und ich war recht aufgebracht und vergaß mich so in Worten, daß sie mich schlug und ich fortlief und bei mir selbst schwur, ich wollte nun nie wieder meiner Eltern Schwelle betreten. Und wie ich mit diesem Vorsatz auf die Straße kam, sah ich Herrn Gutfall, einen alten Nachbar von uns, der über der Tür lag und mich anrief und fragte, was ich vorhätte oder wohin ich so eilig wollte. Aber ich antwortete ihm nicht, sondern sturte bei ihm vorbei, als ob mir der Kopf brennte. Und er brannte mir auch, und die Füße dazu. Und ein paar Schritte von da traf ich auf ein alt Schifferweib, die hinkt’ auf einem Fuß; ihr Mann, der fährt auf Ostindien, und sie geht so in den Häusern von der Stadt herum, hausiert und verkauft ostindische Tücher. Und ich trat zu ihr und sagte: “Guten Abend, Mutter!” Und sie antwortete: “Schön’n Dank, mein Sohn!” Und ich fragte sie weiter, ob sie nicht jemand wüßte, der mich mitnähme nach Ostindien, weil ich große Lust hätte, zur See zu gehen. Und sie gab mir darauf zur Antwort: “Wohl, mein Sohn, wenn du das gedenkest; so komm du nur heut abend, zwischen acht und neun Uhr, wenn es finster wird, zu mir zwischen den Siegen, hinter den großen Kamelspeicher, wo meine Wohnung ist; da will ich dir schon einen Patron ausmachen und ein gut Handgeld dazu!” Und ich fragte sie noch ausführlicher, wie es werden sollte, wegen meiner Eltern und der Nachfrage, weil die nichts davon wissen sollten. Und sie antwortete: damit habe es keine Not, bis das Schiff aus dem Baum lege, wolle sie mich schon in ihrem Hause verbergen. Und wie die alte Hexe dies gesagt hatte, ging sie ihres Wegs das Fischertor herauf und zu dem Mernnonisten in die “Blaue Hand” hinein und ich mit Gott des meinigen, nach der Kirche zu Schwarz-Müncher Und wie ich in die Kirche kam, sah ich, daß die Prozession schon angegangen war. Und der Herr Pater Prior ging voraus mit dem Kreuz, und die andern Herrn Paters folgten ihm nach und schwenkten das Weihrauchfaß, so daß die Wolken blau bis an die Deck von der Kirche emporstiegen. Und dann kamen die singenden Brüderschaften, mit ihren Fahnen, und jeder eine geweihte Kerze in der Hand. Und der Zug ging in den Kreuzgang, und ich stand vor Herrn Pater Lamberts Zelle, wo gegenüber das schöne Gemälde von LazariVgl. Neues Testament, Lukas, 16, 19 f. Auferweckung von den Toten zu sehen ist. Und die Weiber, und was sonst eifrige Katholiken waren, die ihren Rosenkranz beteten, da sie merkten, daß ich wohl nicht ihres Glaubens, sondern ein Ketzer sein mochte, stießen sie mich mit dem Ellenbogen, weil ich stand, und nötigten mich so lange, daß ich auch niederknien mußte. Und indem ich kniete, zeigte sich in der Entfernung ein roter Baldachin, und es ging die Rede im Volk, daß darunter die Heilige Jungfrau kommen und vor ihnen erscheinen würde. Und als der Baldachin vor mir stand und ich meine Augen wieder aufschlug, ach! – Herr Vetter, liebster Herr Vetter! wie soll ich oder wie kann ich je zu Worten bringen, was in diesen Augenblicken mit mir vorgegangen ist! Ja, ich erkannte, in einem weißen Kleide und eine Myrtenkrone auf ihrem Haupt, dasselbe junge Frauenzimmer, das mir schon einmal, vor nunmehr einem Jahr, in dem Gedränge des Christmarktes erschienen war. Und sie sah mich wieder ebenso still aus ihren frommen, blauen Augen an, als ob sie mich fragen wollte, wo ich so lange gewesen sei. Und wie sie so langsam an mir vorüberging, da versagte mir, als ich aufstehen wollte, das Knie, und alle Lichter in der Kirche zitterten in dem blauen Weihrauch, und die Orgel erklang, wie eine Posaune, und das Singen von den Prozessionsleuten versetzte mir den Atem. So rührte mir Gott das Herz, und ich betete voll Inbrunst und gelobte ihm, nie meine Eltern heimlich zu verlassen, sondern alles, wie es auch kommen würde, gelassen zu erdulden. Und wie ich nach Hause ging, durch das Fischertor, lag Herr Gutfall, unser alter Nachbar, noch über der Haustür und rief mich an und warnte mich wiederholt vor dem alten bösen Schifferweibe: ihr Mann sei ein Seelenverkäufer,Hier: Menschenhändler, der durch List oder Betrug andere für Matrosendienste anwirbt. und sie hätten beide schon viele junge Leute unglücklich gemacht; deshalb ihnen auch ein Hochedler Magistrat, seit vergangenem Dominik,Hier: Menschenhändler, der durch List oder Betrug andere für Matrosendienste anwirbt. auf der Spur sei. Und ich danke ihm und noch mehr Gott, der mich nun zum zweiten Mal so sichtbarlich, durch einen seiner Engel, aus einer augenscheinlichen Gefahr errettet hatte.

SIEBENTER BRIEF

Aller Gottes-Engel bei Danzig, den 10. August 1784

Nein, Herr Vetter, daß das junge Frauenzimmer kein Engel gewesen, das laß ich mir nicht ausreden, nun und nimmermehr nicht. Herr Hutmacher John, in der Breitengasse, leugnet zwar, daß Engel sind, aber ich denke, wenn der liebe Gott sonst will, daß sie sein sollen, so werden sie nicht erst bei dem Hutmacher John um Erlaubnis fragen dürfen. Mir ist es immer noch in frischem Andenken, was meine Mutter mir erzählte, als ich noch ein klein Kind war, wenn wir zur Winterszeit abends um den Tisch saßen, die Mädchens spannen und wir ihr dabei etwas aus der Bibel vorlesen mußten. Da wurde sie einst von ihren Eltern, die auf Langgarten wohnten, nebst ihren zwei kleinen Schwestern nach Kloster Oliva zu einem Gärtner des alten Abts geschickt und sollte Blumen bei ihm holen, zu einem Bouquet und um eine Braut aus der Verwandtschaft damit anzuputzen. Und es war gerade um Weihnachten und hatte viel und großen Schnee gelegt. Und da die Kinder in den Wald kamen, verirrten sie sich und wußten weder Weg noch Steg. Da überfiel sie die Nacht, und von weitem hörten sie die Wölfe, die gefährlich heulten, weil sie hungrig waren. Und sie ängsteten sich sehr und weinten laut. Und jedesmal, daß unsere Mutter so weit in ihrer Erzählung gekommen war, klammerten wir uns an ihren Rock und hielten uns fest an sie an. Und das Licht auf dem Tische brennte ganz blau, und die ganze Stube schien uns voll Bäume und Wölfe zu sein. Aber der Herr sandte seinen Engel mit einem feurigen Schwert. Dieser stellte sich vor den Ausgang des Waldes und wehrte den Wölfen, daß sie den Kindern nichts anhaben konnten. Und der Herr geleitete ihre Schritte, daß sie glücklich aus dem Walde heraus und in die Abtei gelangten, und wie sie daselbst vor der Tür des Gärtners von Oliva standen und anklopften, hörten sie drinnen die Frau desselben sprechen und zugleich die Klosterglocke von drüben, die soeben eins schlug. Und sie lobten Gott mit heller Stimme, nach glücklich überstandener Gefahr, und daß er sie so wunderbar errettet hatte. Und so, lieber Herr Vetter, wie Gott einst meine Mutter aus dem Walde geführt, so ist er auch mir jetzo mit den Seelenverkäufern gnädig gewesen. Ich denke darum immer, daß das ein gut Zeichen ist und daß er noch irgend sonst etwas mit mir vorhat; denn warum sollte er sich sonst die viele Mühe mit mir geben?

ACHTER BRIEF

Danzig, den 25. Dezember 1784,
am Vorstädtischen Graben

Herr Drommert, der englische Informator, ist ein vortrefflicher Mensch und seine Mutter auch, die am grünen Tor sitzt und eine schwarze Samtkapuze trägt. Sie haben beide mit meinem Vater gesprochen und ihm gesagt, er müsse mich durchaus studieren lassen. Mein Vater ist auch schon halb und halb dazu entschlossen – nämlich, wenn ich ihm verspreche, daß ich auch, wenn ich studiere, ihm noch ein paar Stunden tags in seiner Werkstatt helfen will. Jetzt geh ich schon zweimal die Woche zu Herr Drommert; das hat er mir erlaubt; der gibt mir Lektion. Und weil ich kein Buch habe, so läßt er mich mit in seins einsehn; denn die reichen Patriziersöhne, die auch bei ihm das Englische lernen, sind viel zu vornehm dazu. Die denken schon, wenn ihr Vater im Rat oder im Schöppenstuhl sitzt, sie können die Nasen nicht hoch genug tragen. Besonders ist einer dabei mit einem weißen Federhut und einem Degen an der Seite, der wird jedesmal so rot wie ein Puter, wenn ich ihm mit meinem Rock zu nah komme, und weiß doch für ganz gewiß, daß mein Vater, um den seinen zu bestechen, weil er Ältermann und jener Gewerkspatron ist, nur noch neulich zwölf Dukaten hat einwickeln müssen. Das ist wahr und wahrhaftig wahr; denn ich habe selbst dabei geholfen und das Geld für meinen Vater unter dem Titel “Dem Gewerk zum Besten verunkostet” in Rechnung gebracht. Sehen Sie, liebster Herr Vetter, so geht es bei uns in Danzig zu. Aber was bekümmere ich mich um die großen Hansen! Ich denke so, daß es keine Kunst ist, fein Tuch zu seinem Rocke zu haben, wenn eines sein Vater sich bestechen läßt oder – ein –

Der ich die Ehre habe usw.


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