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Vielleicht war es das Pferd im Stall gewesen, die Schimmelstute, das Lieblingstier des alten Hackendahl: Es ließ pausenlos die Halfterkette durch den Krippenring rasseln und schlug, sein Futter fordernd, unablässig mit dem Huf gegen das Stallpflaster.
Vielleicht aber war es auch die erste fahle Dämmerung gewesen, die mit ihrem grauen Schein das hellere Mondlicht abgelöst hatte – vielleicht hatte der über Berlin grauende Morgen den alten Hackendahl geweckt.
Vielleicht aber hatten weder Lieblingstier noch Morgendämmerung Hackendahl so früh wach gemacht, um drei Uhr zwanzig, am 29. Juni 1914 – sondern etwas sehr, sehr anderes ... Mit der Schlafseligkeit kämpfend, hatte der alte Mann gestöhnt: »Erich, Erich, das wirst du doch nicht tun ...!«
Dann war er hochgefahren und hatte in das Zimmer gestarrt, ohne noch etwas zu sehen. Langsam war Erkennen in sein Auge getreten; über den geschwungenen Muschelaufsatz des Ehebettes fort, flankiert von den beiden Knäufen rechts und links, sieht er gerade auf die Wand, an der sein Pallasch hängt aus der Zeit, da er noch Wachtmeister bei den Pasewalker Kürassieren war, neben dem Helm, unter dem Bild, das ihn an seinem Entlassungstage aus dem Dienst vor nun zwanzig Jahren zeigt.
Er sieht mit wachem Auge im Dämmerlicht den schwachen Schein auf der Klinge und auf dem goldenen Adler des Helms: Diese Erinnerungen machen ihn heute noch stolzer und glücklicher als das große Fuhrgeschäft, das er aufgebaut hat. Das Ansehen, das er beim Regiment genoß, freut ihn mehr als die Achtung, die dem erfolgreichen Geschäftsmann von den Nachbarn in der Frankfurter Allee gezollt wird. Und, unmittelbar an seinen Angsttraum anknüpfend, sagt er, jetzt völlig wach: »Nein, Erich würde so etwas nie tun – nie!«
Mit entschlossenem Ruck stellt er die Beine auf den Bettvorleger, ein Heidschnuckenfell.
»Stehst du schon auf, Gustav?« fragt es aus dem Nebenbett, und eine Hand tastet nach ihm. »Es ist doch erst drei.«
»Jawoll, Mutter«, antwortet er. »Drei Uhr fünfundzwanzig.«
»Aber warum denn, Vater? Füttern ist doch erst um vier ...«
Er wird fast verlegen. »Mir ist so, Mutter, als könnte was krank sein im Stall ...«
Er steckt rasch den Kopf in die Waschschüssel, um weiteren Erklärungen zu entgehen. Aber seine Frau wartet geduldig, bis er sich abgetrocknet hat und nun dabei ist, den aufgewirbelten Schnurrbart mit Pomade, Kamm und Bürste in Form zu bringen. Da sagt sie: »Du hast die ganze Nacht von Erich phantasiert, Vater ...«
Der Mann hält mit einem Ruck im Kämmen inne, er möchte etwas Rasches sagen, aber er besinnt sich. »So«, meint er dann gleichgültig. »Davon weiß ich nichts ...«
»Was hast du denn mit Erich?« fragt die Frau beharrlich. »Ich merke doch, ihr habt was miteinander.«
»Die Eva hat gestern wieder den ganzen Nachmittag in der Konditorei Koller gesteckt. Das paßt mir nicht – die Leute sagen dafür nur Café Knutsch.«
»Ein junges Ding will auch was haben vom Leben«, antwortet die Mutter. »Fräulein Koller hat jetzt ein Grammophon gekauft. Sie geht nur wegen der Musik hin.«
»Es paßt mir nicht!« sagt der alte Wachtmeister nachdrücklich. »Sorg du für Ordnung bei den Mädchen, ich werde die Bengels schon an die Kandare nehmen. Auch den Erich.«
»Aber ...«, fängt die Frau an.
Aber Hackendahl ist schon fort. Er hat gesagt, was er will, und sein Wille gilt in diesem Hause!
Aufseufzend läßt die Frau sich zurücksinken in die Kissen. Ach ja, ach du liebes Gottchen! So ein Mann, starr wie ein Besenstiel, möchte, daß die Kinder ebenso leben wie er! Der hat eine Ahnung – aber ich werde schon dafür sorgen, daß die Kinder zu ihrem bißchen Lebensfreude kommen, auch die Eva, auch der Erich. Gerade der Erich ...!
Schon schläft sie wieder.
Der Vater steht einen Augenblick unentschlossen auf dem dämmrigen Flur. Von unten, aus dem Stall, hört er den Schimmel mahnend klopfen und rasseln. Aber er widersteht der Versuchung, dem Liebling ein heimliches Extrafutter zu schütten. Statt dessen klinkt er leise die Tür zum Schlafzimmer der jungen Mädchen auf.
Die beiden schlafen ruhig weiter, sie sind es gewohnt, daß der Vater morgens, abends, nachts seinen Rundgang macht, genau wie in der Kaserne, wo er auch die Schlafsäle revidierte, ob alles in Ordnung war. Als Hackendahl die Uniform auszog, aus einem Militär ein Zivilist wurde, den Droschkenbetrieb des dahingegangenen Schwiegervaters übernahm, gab er doch nichts von seinen militärischen Gewohnheiten auf. Ob es nun die Kutscher, die Pferde oder die Kinder waren – sie hatten zu parieren, als seien sie Soldaten unter Militärrecht. Was die Kinder anging, so durften sie kein Privatleben haben, nichts von Geheimnissen, wie sie Kinder so lieben. In Schränken und Kommoden hatte jedes Ding auf seinem Platz zu liegen, der Vater war erbarmungslos in dem, was er Ordnung und Sauberkeit nannte. Der Vater – das war das Wort, das drohend über der ganzen Familie Hackendahl hing. Der Vater – das hieß Befehl, Urteil, strengstes Gericht.
»Der eiserne Gustav«, so nannten sie ihn nur, in der Frankfurter Allee – unnachgiebig, stur, dickköpfig, aber auch aufrecht und untadelig. Spät in eine bürgerliche Welt verschlagen, die ihm zu weich vorkam, versuchte er, seinen Kindern die Grundsätze einzuimpfen, durch die er, wie er meinte, zum Erfolg gekommen war: Fleiß, Pflichtgefühl, unbedingte Rechtlichkeit, Unterordnung unter den Willen eines Höheren – heiße er nun Gott, Kaiser oder Gesetz.
Die beiden Mädchen schlafen ruhig weiter in ihren Betten, der Vater steht im Zimmer und sieht sich prüfend um. Über dem Stuhl von Sophie, der Einundzwanzigjährigen, hängt, achtsam in Falten gelegt, das Schwesternkleid, auf dem Nachtkästchen liegt die steif gestärkte Schwesternhaube mit dem roten Kreuz. Der Vater seufzt, weil die mündig gewordene Tochter es erzwungen hat, Schwester zu werden. Er hielt dafür, daß dies blasse, bleichsüchtige, ein wenig frömmelnde Kind sich besser zur Lehrerin geeignet hätte. Aber Sophie wußte ihren Willen durchzusetzen. »Wenn du eben durchaus nicht willst, Vater«, hatte sie in ihrer stillen, immer ein wenig muffigen Art gesagt, »so muß ich es eben ohne deinen Willen tun.«
»Aber ich bin dein Vater!« hatte er gerufen, verblüfft über solchen Ungehorsam. »Was du gegen meinen Willen tust, ist gegen das fünfte Gebot!«
»Pastor Rienäcker hat mir gesagt«, hatte sie leise geantwortet, »ich habe den Ruf ...«
Der Ruf Gottes – wahrhaftig, sie hatte sich nicht geschämt, ihrem Vater so etwas zu sagen. Seit wann sprach man von Gott, dem Allmächtigen, als sei man persönlich mit ihm bekannt ...?! Für so was war man zu klein. Der alte Hackendahl glaubte an eine Rangordnung auf Erden, als sei sie etwas Räumliches: Ganz oben saß der liebe Gott, sehr weit unten er – und was dazwischen war: ein Oberst, Kammergerichtsrat oder Kaiser hatte jeder seinen bestimmten Platz, aber alle näher an Gott als die Hackendahls.
»Ich will doch nur dein Bestes, Sophie«, hatte er gesagt. »Du bist viel zu schwach für den Beruf.«
»Gott wird mir Kraft geben«, hatte sie geantwortet.
Nun gut, nun gut – mechanisch schiebt der Vater die Haubenbänder auf dem Nachtkästchen etwas nach links, so daß sie in einem geraden Winkel zur Haube liegen, trotzdem es vielleicht nötiger wäre, bei den Kleidern der zweiten Tochter, bei Eva, der Achtzehnjährigen, auf Ordnung zu sehen.
Eva liegt auf der Seite, das Gesicht in den Arm geschmiegt, die langen blonden Haare breiten sich um den Kopf aus wie eine Erntekrone. Sophie hat die Haare zur Nacht, wie es sich gehört, in zwei Zöpfchen geflochten – aber Eva: »Nachts wenigstens will ich das Haar frei haben statt den ollen Dutt den ganzen Tag ...!«
Ganz ungehörig, aber bei ihr hat der Vater nicht nein gesagt. Sie sieht so hübsch aus, mit dem blonden Geringel um die lichten Farben des Gesichtes; es macht sein Herz irgendwie froh, sie so liegen zu sehen, blühendes Leben, ein erwachsenes Mädchen – aber ein Kind noch!
Ein Kind noch, bestimmt, er kennt doch seine Eva ...
Hackendahl runzelt die Brauen, wieder denkt er an die Konditorei, dieses elende Café Knutsch mit seiner blechernen Musik aus einem riesigen, rosa-gold bemalten Schalltrichter. Gewiß, dahin läuft sie in letzter Zeit, aber nur wegen der Musik, wegen dieses neumodischen Apparates – kein Gedanke an Männer, an Küssen ...
Er betrachtet sie nachdenklich, und unter seinem Blick wirft sie sich rasch, wie sie alles tut, auf den Rücken. Sie streckt die Arme, sie stößt einen Laut aus, irgend etwas selig Zufriedenes, nur ein Oh! – aber so schön!
Dann sieht sie zu ihm hin. »Bist du das, Vater?«
»Guten Morgen!« sagt er langsam.
»Guten Morgen, Vater!« Und rasch: »Vater, du, hör mal ...«
»Was ist denn? Du sollst doch noch schlafen!«
»Keine Angst – ich schlaf gleich wieder ein. Du, Vater ...« Sehr geheimnisvoll: »Weißt du auch, wann Erich nach Haus gekommen ist?«
»Du sollst doch nicht petzen!«
»Um eins, Vater! Denk dir, um eins!«
»Pfui, Evchen, du sollst nicht petzen!« sagt er noch einmal. Aber er sagt es nur schwach, denn das, was er eben gehört hat, erregt ihn sehr.
»Petzen! Wo er mich auch immer verpetzt! Und im Café Koller haben sie erzählt, er hat Geld, Goldstücke, Vater ...«
»Du sollst doch nicht in das Café gehen!«
»Aber ich esse so gerne Schlagsahne – und hier kriegen wir nie welche!« Sie sieht ihren Vater listig prüfend an, sie merkt sofort, er denkt jetzt nicht an ihre Sünden. »Und jetzt will ich wieder schlafen. Gott, bin ich noch müde ...«
Ja, schlaf!« sagt der Vater mahnend. »Und petze nie wieder. Petzen ist sehr häßlich.«
Auf dem Flur hört er wieder deutlicher das Klopfen des Schimmels. Es ist schon bald vier, es wird Futterzeit. Aber er geht doch lieber erst in das Zimmer der Söhne.
Drei Betten, drei Schläfer, drei Söhne. Das könnte so etwas wie Reichtum sein – und der Vater hat das auch oft so empfunden. Aber heute nicht – heute nicht. Es ist nicht nur die dunkle Spur des Angsttraums in Hackendahl, es ist nicht nur das angeberische Geschwätz von Eva – Hackendahl steht auf der Schwelle und lauscht.
Lauscht ...
Hunderte, Tausende von Menschen hat er schlafen hören, laut und leise. Er kennt also dieses rasselnde, schwere, gaumige Atmen, er hat es gehört in den Kasernenstuben, hauptsächlich in den Sonnabend-, in den Sonntagsnächten, nach den Urlaubstagen – aber in dieser Stube, im Zimmer seiner Söhne hat er es noch nicht gehört.
Jetzt hört er es. Er steht und lauscht, durch den Kopf schießen ihm Evas Worte: Erich ist erst um eins nach Haus gekommen. Aber es braucht ihm keiner zu erklären, was ein betrunkener Schlaf ist, er hört das auch ohne Petzen ...
Er geht hastig auf Erichs Bett zu und bleibt wieder stehen. Jetzt sieht er nur noch den betrunkenen Sohn. Es wäre Anlaß genug, über die Art zu schelten, wie Heinz, der Jüngste, Bubi genannt, seine Kleider weggehängt hat. Oder dem Ältesten, dem vierundzwanzigjährigen Otto, begreiflich zu machen, daß der Vater wohl merkt, der Junge schläft nicht. Er tut nur so, viel zu regungslos liegt er im Bett.
Aber Hackendahl steht hilflos vor Zorn und Trauer an dem Bett seines Erich, seines heimlichen Lieblings, dieses raschen, frohen, hellen Jungen, klügeres Gegenstück zur Eva ... Zorn und Trauer, ach, der Junge tut nicht gut, er ist betrunken ... Er ist erst siebzehn, er geht in die Unterprima des Gymnasiums, Liebling seiner Eltern, Liebling der Mitschüler, Liebling der Lehrer – aber er ist betrunken ...
Der Vater steht gedankenverloren da, sein Fuß scharrt mit dem Bettvorleger herum, aber vielleicht ist es etwas anderes, gar kein Bettvorleger?! Jetzt hat er keine Zeit, nachzusehen, er muß in das Gesicht des Sohnes schauen, dieses geliebte Gesicht. Und er versucht, darin zu lesen ...
Aber es ist immer nur erst Dämmern in der Stube. So geht er an das Fenster und schlägt eine Ecke des Vorhangs zurück, damit das schon hellere Licht des Tages voll auf den Schläfer fällt ...
Dabei begegnet sein Blick einem anderen Blick, dem Auge seines ältesten Sohnes Otto, das ihn dunkel und ein wenig trübe anschaut. Zorn steigt in Hackendahl auf, als habe Otto ihn bei etwas Verbotenem ertappt. Er gibt ganz diesem plötzlichen Zorn nach, vor Otto kann man sich gehenlassen, Otto ist weicher Brei, weder Zorn noch Liebe scheinen einen merkbaren Eindruck in ihm zu hinterlassen. Der Vater hebt drohend die Faust, als wolle er ihn schlagen, er zischt im Flüsterton: »Stille biste! Willst du gleich wieder schlafen!«
Und sofort schließt der Sohn die Augen.
Einen Augenblick sieht der Vater noch in das blasse, weichliche Gesicht mit dem schütteren Bart. Dann wendet er sich wieder zu dem anderen Sohn zurück. Aber das kleine Zwischenspiel hat ihn verändert, er ist gewissermaßen nicht mehr allein im Zimmer, seit er weiß: Der Älteste ist wach. Mit dem ruhigen Nachdenken ist es vorbei, Zorn, Klage, Trauer sind verweht – es muß etwas geschehen ...
Es muß etwas geschehen!
Zuerst bückt er sich. Jawohl, er hat vorhin nicht darauf geachtet, aber er hat sie doch bemerkt, die betrunken verstreuten Kleidungsstücke. Das war kein Bettvorleger, auf dem er gestanden ... Er fängt an, die Kleider aufzusammeln.
Aus der Tasche der Weste gleitet etwas, leise klappernd fällt es zu Boden ...
Der Vater hängt erst die Weste ordentlich über die Stuhllehne. Dann hebt er den Schlüssel auf. Es ist ein ganz gewöhnlicher Schlüssel, ein kleiner Hohlschlüssel, wie man ihn für Schränke und Schubladen verwendet. Ziemlich neu noch, selbst im matten Licht meint der Vater, die Feilstriche am Bart zu erkennen ... Es ist eben kein Fabrikschlüssel, es ist ein vom Schlosser zurechtgefeilter Schlüssel, nichts Besonderes ...!
Der Vater steht so still, so still. Er hält dies Schlüsselchen in der Hand, er meint, die Zeit mit Sekunden und Minuten in den Ohren rauschen zu hören, sie fällt wie ein dichter Regen, sie löscht alle Geräusche aus, alle Geräusche des Lebens. Und das Leben selbst wird hinter diesen Schleiern grau und farblos und ferne ...
Nur ein Schlüsselchen ...
Nein, er sieht nicht mehr nach dem Bett des Trunkenen hin, es ist ihm auch gleich, ob Otto wach ist und ihn beobachtet. Im tiefsten Schmerz ist jeder unfaßbar allein. Nichts reicht mehr zu ihm ...
Mit schweren Füßen, wie über den Boden scharrend, mit Augen, die nur mühsam sehen, als seien sie halb blind, geht der Vater zur Tür, den Schlüssel vor sich in der Hand.
Auf dem Flur hörte Hackendahl wieder den Schimmel mahnend klopfen und rasseln. Das Lieblingstier des Herrn war verwöhnt, es forderte sich sein Extrafutter. Nein, es war nicht in Ordnung mit dem Schimmel und mit dem Erich auch nicht: Es war mit dem Herrn des Hauses nicht in Ordnung! Nach außen peinliche Gerechtigkeit und Pflichttreue, aber eine halbe Stunde früher stand er auf und schüttete dem Schimmel eine Extraration, heimlich, ehe der Futtermeister Rabause kam. Alle seine Kinder galten ihm gleich, aber wenn der Erich schmeichelte und nicht abließ, so lachte er schließlich, lachend gewährte er ihm, was er den anderen brummig abschlug.
Er hatte bei sich gemeint, dies sei nicht schlimm, niemand konnte seinem Herzen befehlen, wen es lieber haben sollte. Aber es war schlimm, es war keine Ordnung, ja, es war sogar wider die Ordnung, die menschliche und die göttliche, den Beweis dessen trug er in der Hand.
Er trug ihn in der Hand, zwischen zwei spitzen Fingern trug er den Schlüssel, wie einen Zauberschlüssel, dessen Wirkung man noch nicht genau kennt, mit dem man vorsichtig umgehen muß. Es ist ein Zauberschlüssel, er schließt dem eisernen Gustav neue Erkenntnisse auf. Kein Vaterherz kann eisern sein, es ist Boden, der immer neu gepflügt wird; manche von den Pflugfurchen vergehen nie wieder.
Hackendahl steht jetzt vor seinem Schreibtisch; er weiß nicht genau, wie er hierhergekommen ist, aber nun ist er hier, und es gibt kein Zurückweichen mehr. Gibt es das überhaupt je? Ein preußischer Unteroffizier weicht nicht zurück, er sieht dem Feind ins Auge, er greift an! Hackendahl blickt auf den Schreibtisch, es ist ein großes Stück aus heller Eiche, viel geschnitzt, die gelben Messingbeschläge zeigen Löwenmäuler.
In solch ein Löwenmaul stößt er den Schlüssel, er dreht ihn im Schlosse, siehe da, der Schlüssel schließt. Es überrascht ihn nicht, er hat es nie anders erwartet, als daß dieser von einem Schlosser angefertigte Schlüssel seine Schreibtischschublade schließen würde. Und er tut es nun also auch – Hackendahl sieht in die Lade. Plötzlich fällt ihm ein, daß früher, als die Kinder noch kleiner waren, rechts vorn immer ein Block aus braunrot gebranntem Zucker lag. Jeden Sonntag, nach dem Essen, traten die Kinder hier vor der Lade an. Der Vater hielt Gericht über die Woche, mit dem Messer schnitt er Stücke von dem Zuckerblock ab, je nach Artigkeit, kleinere und größere. Er hatte das für gut und gesund gehalten; in seiner Jugend war Zucker etwas Kostbares gewesen, man glaubte damals, daß er große Kräfte verlieh. Hackendahl hatte starke Kinder haben wollen ...
Später hatte sich herausgestellt, daß dies falsch gewesen war. Der Zahnarzt hatte erklärt, vieles Zuckeressen verderbe den Kindern die Zähne. Hackendahl hatte es gut gemeint, hatte es aber falsch gemacht. Das war oft so im Leben: Man meinte es gut und machte es doch falsch. Vielleicht wußte man nicht genug, hatte zuwenig gelernt. Mit Erich hatte er es auch gut gemeint und hatte es falsch gemacht. Er war nicht streng genug gewesen, und nun hatte er einen Dieb zum Sohne, das Schlimmste, was es gibt: einen Hausdieb, einen Burschen, der Eltern und Geschwister bestiehlt ...
Der Mann vor der Schreibtischlade stöhnt auf. Sein Stolz ist getroffen, seine Sauberkeit ist schmählich beschmutzt; wenn der Sohn stiehlt, kann der Vater nicht ohne Makel sein! Er hat, während er hier steht, ein sehr genaues Gefühl für die erbarmungslos verrinnende Zeit, er hat es vier Uhr schlagen hören. Er muß hinunter in den Stall, Füttern und Putzen der Pferde beaufsichtigen. In einer halben Stunde kommen schon die ersten Nachtdroschken von ihrer Tour zurück, er muß mit ihnen abrechnen. Er hat keine Zeit, hier tatenlos zu stehen und über einen mißratenen Sohn zu grübeln.
Jawohl, er müßte jetzt das Geld in den Leinwandbeutelchen nachzählen, er müßte den Fehlbetrag feststellen und den Sohn vernehmen. Dann das Füttern beaufsichtigen und das Putzen, anspannen lassen, abrechnen ... Er tut nichts von alledem, er schüttelt nachdenklich ein Leinwandbeutelchen, Sophie hat mit rotem Faden in Kreuzstich »10 Mark« darauf gestickt, das Beutelchen enthält Goldstücke, Zehnmarkstücke ...
Aber er zählt den Inhalt nicht nach, er geht weder zum Sohn noch in den Stall, er ist in Erinnerungen versunken. Seine Militärzeit hat ihn zum Mann gemacht, sie hat ihm Grundsätze gegeben, alles, was er später erlebte, im tätigen bürgerlichen Dasein, es gab Beispiele dafür in der Militärzeit, Richtlinien. Er erinnerte sich so manchen Diebes in den Mannschaftsstuben, es gab unverbesserliche Kerle, die ihren Kameraden immer wieder den Tabak oder die von Haus geschickten Würste stahlen. Da gab es erst Stubenkeile, erbarmungslose Prügel mit dem Koppelschloß, in der dunklen Nacht, auf den nackten Hintern, während das Gesicht mit einem Woilach verdeckt wurde. Aber auch ohne das hätte kein Unteroffizier Ohren für solches Geschrei gehabt ...
Half aber die Keile nicht, war der Dieb wirklich unverbesserlich, ein Feind seiner Kameraden, so gab es die Entehrung vor offener Front, die Versetzung zu einem Strafbataillon – Schande und Schmach. Kameraden, ja, ein Kamerad war etwas Gutes – aber war ein Vater nicht vielleicht doch noch mehr? War es nicht viel gemeiner, einen Vater zu bestehlen als einen Kameraden? Der alte Hackendahl steht zögernd, er sieht seinen Sohn vor sich, in drei Stunden hat der seine Schulsachen zu nehmen und ins Gymnasium zu gehen. Es ist fast unmöglich, sich auszudenken, daß der Sohn nicht ins Gymnasium gehen wird, nie wieder, dieser sein Stolz, sein Ehrgeiz! Und doch – es muß ja sein! Er sieht den Soldaten vor der Front, einen ganz bestimmten Soldaten, mit einer großen, höckrigen, bleichen Nase. Tränen liefen über seine Backen, aber erbarmungslos sprach die Stimme des Offiziers fort, das endgültige, unwiderrufliche, verdammende Urteil über den Mann und Dieb ...
Es darf kein Weichsein gegen das eigene Herz geben; daß es das eigene Fleisch und Blut ist, das sündigte, ändert nichts: Ein Dieb ist ein Dieb. Sie haben ihn den eisernen Gustav getauft, wohl halb im Spott, weil er so starrköpfig sein kann. Aber man kann aus einem Spottnamen auch einen Ehrennamen machen.
Und schon zählt er, und nur, als er die Höhe der fehlenden Summe festgestellt hat, hält er einen Augenblick bestürzt inne. So viel ...? Es kann doch nicht sein ...! Aber es ist so – noch mehr Schande und Schmach! Das kann nicht nur vertrunken sein, siebzehn Jahre, und plötzlich sieht der Vater hinter dem blassen, beweglichen, klugen Gesicht seines Sohnes die Fratzen von Weibern, käuflichen Weibern, jedem sauberen Manne ein Ekel! Siebzehn Jahre ...!
Mit einem Ruck stößt er die Schreibtischlade zu, schließt ab und geht eilend, eisern entschlossen zurück in das Schlafzimmer der Söhne.
Als der Vater so unerwartet zurückkommt, fährt der jetzt schon angekleidete Älteste, der Otto, auf seinem Fensterplatz schreckhaft zusammen. Angstvoll versucht er, Holz und Schnitzmesser zu verbergen, schon zehnmal hat ihm der Vater diese lächerliche Spielerei verboten: Pfeifenköpfe aus Holz schnitzen, oder kleine Tiere – eine Albernheit, die eines Mannes, der einmal einen Stall mit dreißig Pferden leiten soll, unwürdig ist!
Aber der Vater beachtet dieses Mal nicht die Unfolgsamkeit des Ältesten – er geht ohne Zögern auf das Bett von Erich zu, legt ihm die Hand fest auf die Schulter und befiehlt: »Wach auf!«
Der Schläfer bewegt sich, er versucht, seine Schulter dem harten Griff zu entziehen, die Augenlider zittern – aber er wird nicht wach.
»Du sollst wach werden, hörst du!« befiehlt der Vater lauter.
Erich versucht noch immer, sich in den Schlaf zurückzuretten, aber es ist umsonst. Die Hand des Vaters macht Schmerz, die Stimme des Vaters droht.
»Was ist denn los?« fragt Erich und reißt die Augen mühsam auf. »Schon Zeit für die Penne?«
Der Vater sieht dem Sohn wortlos in das erwachende Gesicht. Dann greift er mit einer Hand in das lange, blonde Haar des Schläfers, er zieht den widerstrebenden Kopf so nahe an den seinen, daß Stirn und Stirn sich fast berühren ... Die Augen sehen das zu nahe Gesicht nicht mehr, sie sehen nur das dunkle, feuchte Auge des anderen, so nahe – und in dem einen Auge ist Angst, in dem anderen aber ein dunkles, finsteres Glühen ...
»Was ist denn los?« fragt Erich wieder. Aber er fragt es ohne Mut, ohne Überzeugung.
Der Vater antwortet nicht, er hat im Auge des Sohnes schon das Geständnis gelesen, das Herz klopft ihm so schwer ...
Lange, lange bleibt er wortlos, dann hat er plötzlich, ohne es gewollt zu haben, doch leise gefragt: »Wo hast du das Geld gelassen ...?«
Die dunkle, nahe Pupille scheint sich eng zusammenzuziehen, hat der Sohn geantwortet? Der Vater weiß es nicht. Er reißt an den Haaren des anderen, er schlägt mit der Stirn des Sohnes gegen die eigene, wieder und wieder.
»Mein Geld!« flüstert er. »Dieb! Schlüsselfälscher!«
Der Kopf wackelt haltlos, er versucht nicht einmal, sich dem grausamen Griff zu entziehen.
»Wie stinkst du?« fragt der Vater wieder. »Nach Schnaps. Nach Huren – gibst du denen mein Geld?«
Wieder keine Antwort, ach, diese schlaffe, feige Nachgiebigkeit steigert den Zorn Hackendahls nur noch!
»Was denkst du, was ich mit dir tue?!« stöhnt er, fast sinnlos vor Zorn. »Zur Polizei ...! Ins Gefängnis ...?«
Keine Antwort.
»Was willst du?!« fährt Hackendahl zornig herum zu dem anderen, dem ältesten Sohn. »Misch dich nicht ein, du Tölpel!«
»Ich gehe in den Stall«, sagt Otto gleichgültig. »Soll ich für dich Futter ausgeben?«
»Du Futter ausgeben?!« ruft der Vater verächtlich und freut sich doch irgendwie über die Ablenkung, hat sogar den Sohn Erich aus dem Griff entlassen. »Das gäbe was Rechtes! Nein, geh voran, ich komme gleich nach.«
»Jawohl, Vater«, sagt Otto gehorsam und geht aus der Stube.
Der Vater sieht der schwerfälligen Gestalt nach, dann wendet er den Blick und sieht wieder auf Erich, der jetzt aufgestanden ist und blaß, mit verzogenem Gesicht, auf der anderen Bettseite steht.
»Und was hast du zu sagen?« fragt er und versucht, sich wieder in Zorn zu bringen. »Mach schnell – du hörst, ich habe zu tun. Ich muß Geld verdienen für meinen Herrn Sohn zum Stehlen, Versaufen, Verhuren ...«
Der Sohn sieht den Vater von unten her an, seine Lippe zittert, als wollte er weinen. Aber er weint nicht, und jetzt, da er aus dem Griff des Vaters ist, das Bett als Deckung zwischen ihnen steht, spricht er auch. »Ich will auch was vom Leben haben ...«, sagt er.
»Häh? Willst du das?« ruft der Vater zornig. »Und was gibst du dem Leben? Wenn man was haben will, muß man auch was geben!«
Er sieht den Sohn an. Dann sagt er verächtlich: »Aber du bist ja ein Dieb, du stiehlst ...«
»Ich will so nicht leben«, sagt der Sohn mürrisch und streicht die Haare aus der schmerzenden Stirn. »Immer nur Penne und Schularbeiten, und wenn ich eine halbe Stunde fort will, habe ich dich zu fragen, und du lauerst mit der Uhr, daß aus dreißig Minuten auch keine einunddreißig werden.«
»Kannst du so nicht leben? Als ich so alt war wie du, war ich Knecht beim Bauern. Ich habe morgens um drei aus dem Bett gemußt, und wenn ich mich Klock neun zur Nacht hinlegte, fühlte ich keinen Knochen mehr, so tot war ich! Du kannst nicht leben mit fünf Schulstunden, mit heilen Kleidern und gutem Essen – so kannst du nicht leben?!«
»Aber ich bin kein Bauernknecht! Ein Schüler lebt nicht wie ein Knecht! Und die Zeiten sind auch anders geworden, Vater!«
»Ja, die sind freilich anders geworden! Es sind Zeiten geworden ohne Respekt und Ehre! Vor dem Schloß haben die Roten spektakelt und ihr Recht vom Kaiser gefordert. Ihr Recht! Du bist wohl auch so ein Roter geworden und willst mir dein Recht auf Nachschlüssel und gestohlenes Geld beweisen?!«
»Wenn du mir nie einen Groschen in die Hand gibst, Vater!« antwortete der Sohn trotzig. »Jawohl habe ich ein Recht, so zu leben wie die anderen Gymnasiasten. Du hast mich in die Welt gesetzt und willst, daß ich studiere ... Dann gib mir auch, was dazu gehört! Aber du willst bloß tyrannisieren, du bist nur glücklich, wenn alle vor dir zittern. Du bist genau wie dein Kaiser: Wer nicht pariert, wird über den Haufen geschossen!«
»Erich!« rief der Vater tödlich verletzt. »Wie kannst du das sagen?! Will ich nicht euer Bestes? – Was redest du überhaupt?« fragte er, sich besinnend, ruhiger. »Du hast mir meinen Schlüssel gestohlen und heimlich einen falschen machen lassen, du hast mir mein Geld gestohlen – und das willst du verteidigen?! Da fällst du nicht auf die Knie und bereust und bittest? Ja, bist du denn ganz wahnsinnig geworden: Der Sohn bestiehlt den Vater, und nicht der Sohn, nein, der Vater soll schuld sein ...?«
Er sah sich hilflos in der Stube um. In seinem Bett der Heinz war nun doch von dem Lärm aus seinem festen Jungenschlaf erwacht, er saß aufrecht und sah den Vater an. Mit seinem altklugen, schnoddrigen Berliner Ton meinte er: »Reg dich bloß nich uff, Vater. Der Erich is ja nich normal, den haben se mit der Muffe gebufft, det weiß die janze Penne. Der is ja rot ...!«
»Rot!« schrie der Vater. »Mein Sohn rot! Ein Hackendahl Sozialdemokrat! Ja, weißt du denn nicht, daß der Kaiser gesagt hat, alle Sozialdemokraten sind Vaterlandsfeinde, und er zerschmettert sie!«
»Wenn die deinen Wilhelm bloß nicht zerschmettern!« sagte der Sohn böse. »Der kann ja bloß mit seinem Säbel rasseln!«
»Vater! Vater!« rief Heinz. »Laß Erich doch quasseln, der is ja verrückt!«
»Das will ich mal sehen!« schrie der Vater und drang über das Bett vor. »Ob mein eigener Sohn ...«
Er griff nach ihm, der Sohn wich aus ...
»Friedlich, immer friedlich!« rief Heinz in seinem Bett ...
»Hört euch bloß diesen Lärm an!« klagte die Mutter und schob sich in das Zimmer der Mädchen. »Und das schon am frühen Morgen! Vater kann doch nie Ruhe halten – er denkt immer, er ist noch in seiner Kaserne ...«
Eva saß aufrecht in ihrem Bett, mit interessiertem, fast vergnügtem Gesicht lauschte sie auf den Lärm. Sophie aber hatte die Decke hoch über die Schultern gezogen und tat, als höre sie nichts, nicht einmal die klagende Mutter.
»Sophie!« sagte die Mutter flehend zu ihr. »Auf dich hört Vater doch am ehesten. Geh mal hin und beruhige ihn – und horch, was eigentlich los ist. Was hat er bloß mit Erich – er hat sich schon im Schlaf mit ihm gestritten! Sophie! Bitte!!«
»Ich will nichts mit eurem Streit und Unfrieden zu tun haben!« rief Schwester Sophie, setzte sich auf und sah mit blassem, zuckendem Gesicht die Mutter an. »Oh, ihr quält mich ja so! Ich halte das nicht mehr aus! Immer Streit und Klatsch – ja, wofür lebt man denn?«
»Fürs Kirchegehen doch!« rief Eva spöttisch. »Für den Herrn Pastor Rienäcker. Gott, was hat der Mann für einen schönen Bart! Da kann es einem ja gar nicht langweilig werden in der Kirche ...«
»Mit dir rede ich überhaupt nicht!« sagte die Ältere zornig. »Oh, wie gemein bist du! Du denkst, weil du ... Aber ich will dir nichts Böses nachreden, Gott verzeih mir die Sünde, daß ich es mache wie du ...«
»Streitet euch doch bloß nicht, Kinder!« bat die Mutter jammernd. »Wir könnten uns doch alle so schön vertragen. Wir könnten unser gemütliches Leben führen, aber nichts, immer nur Streit und Zank ...«
»Nein, Mutter«, sagte Sophie entschlossen. »Das ist es ja gar nicht, das gemütliche Leben, wie du es dir denkst, alle Sonntage nach dem Eierhäuschen oder nach Hundekehle. Ihr denkt, das ist schön. Aber das findet ihr bloß schön, wir Jungen, und darin muß ich Evchen und Erich recht geben, wir finden schön anders ...«
»Danke, Fräulein Tugend«, sagte Eva spöttisch. »Ich brauch deine Hilfe nicht. Ich kann allein Mutter sagen, was ich will. Und so wie Erich, erst um ein Uhr nachts betrunken nach Haus kommen und Vater sein Geld klauen ...«
»O Gott, o Gott!« jammerte die Mutter. »Das wird Erich doch nicht getan haben! Wenn Vater das erfährt, schlägt er ihn tot! Er kann ja von mir Geld haben ...«
»Aber, Mutter«, rief Sophie entsetzt, »hinter Vaters Rücken darfst du Erich doch kein Geld geben. Ihr müßt doch zusammenhalten als Eltern, ihr seid doch ein Ehepaar ...«
»Wenn ich solchen Quatsch bloß höre!« sagte Eva verächtlich. »Das ist auch solches Pfaffengeschwätz! Lieber soll der Erich Geld klauen ...«
»Wozu braucht er denn Geld?« redete Sophie hitziger dagegen.
»Aber ich will dir sagen, was mit dir ist, Sophie!« fuhr Eva böse fort. »Du hast dich hier von allem gedrückt. Du läufst lieber mit 'nem Unterschieber von Erster-Klasse-Patienten, als daß du Vaters Nachtpott leer machst! Da kommst du dir wer weiß wie fein vor, da bildest du dir ein, der liebe Gott gibt dir 'ne gute Zensur, und du kriegst den ersten Platz im Himmel ...«
»Mutter!« rief Sophie weinend. »Laß sie nicht so gemein reden, ich halte das nicht aus ...«
»Ja, die Wahrheit zu hören, dafür bist du zu fein, aber uns die Wahrheit zu sagen, dafür bist du nicht zu fein!«
»Und ich mache es nicht mehr mit!« rief Sophie entschlossen und wischte sich die Tränen mit dem Nachthemdärmel vom Gesicht. »Ich habe es nicht nötig. Heute noch spreche ich mit der Frau Oberin, und heute abend noch ziehe ich mit Sack und Pack in das Mutterhaus!«
»Sophie!« rief die Mutter flehend. »Tu bloß das nicht! Vater erlaubt es nie! Du bist doch unsere Tochter, und wir sind eine Familie und gehören zusammen ...«
»Jawohl, zum Streiten gehören wir zusammen!« sagte Eva zornig. »Sophie hat ganz recht, sie soll machen, daß sie wegkommt! Und ich gehe auch bald. Jeder muß sehen, wo er bleibt, und das mit Familie und Elternliebe und Geschwistern – das ist alles bloß Unsinn!«
»Aber, Evchen, sage doch das nicht! Wir lieben uns doch untereinander ...«
»Gar nicht lieben wir uns!« rief Eva trotzig. »Nicht ausstehen können wir uns ...«
»Sage doch bloß das nicht, Evchen!«
»Ich höre mir das nicht mehr an«, sagte Sophie entschlossen ... »Daß du so redest, das zeigt, daß du überhaupt keinen Glauben mehr hast, du nicht und der Erich auch nicht. Und wenn du hier weg willst, so tust du es nur, weil du zügellos sein willst. Ich habe es schon lange kommen sehen, und ich brauche dich gar nicht zu treffen mit Kavalieren Arm in Arm, pfui Teufel! Ich habe es schon gewußt, wie du immer auf den Rummelplatz gelaufen bist und hast dich schon mit dreizehn von den Bengels freihalten lassen auf dem Karussell!«
»Neidisch bist du, weil dich nie einer angesehen hat, Sophie!«
»Vertragt euch doch wieder, Kinder!«
»Und nicht geschämt hast du dich, wenn dein Rock vom Wind hochgeflogen ist, daß man sogar die Häkelspitzen von deiner Hose sah!«
»O Gott, Kinder, helft doch!« jammerte die Mutter. »Hört doch nur! Ich glaube, der Vater schlägt den Erich noch tot ...«
»Chef verschlafen?« fragte der alte Futtermeister Rabause, saß auf der Futterkiste und klopfte mit den Pantinen gegen das Holz. »Wird Zeit zum Füttern ...«
Zwanzig Pferde hatten die Köpfe nach dem eintretenden Otto gedreht und leise, erwartungsvoll gewiehert. Aber sie kannten ihren Herrn, den Bringer der Nahrung, sie wußten, Otto war es nicht. So wandten sie die Köpfe enttäuscht wieder fort, scharrten im Stroh, klirrten mit den Halfterketten – und nur der Schimmel klopfte emsiger mit dem Huf.
»Kommt gleich«, antwortete Otto und setzte sich neben Rabause auf die Kiste. »Ist schon lange wach.«
»Warum hat er dann seinem Schimmel noch kein Futter geschüttet?« wundert sich der Meister. »Er ist sonst doch immer auf dem Kien.« Er lachte. »Der Chef denkt, ich merke es nicht, aber ich merke es doch.«
»Das geht uns nichts an, Rabause«, sagte Otto. »Es sind Vaters Pferde und Vaters Futter, damit kann er machen, was er will.«
»Sage ich denn was anderes, Ottochen?« fragte der alte Rabause. »Ich sage bloß, er füttert heimlich, und das ist wahr. Seine Lieblinge hat der Chef eben doch, er mag noch so sehr tun, als ob es nur nach der Gerechtigkeit geht.«
»Davon weiß ich nichts«, sagte Otto abweisend. »Ich tu, was Vater will.«
»Genau, was ich sage. Ottochen«, grinste der Alte. »Du bist aber auch nicht sein Liebling.«
Eine Weile saßen sie stumm auf ihrer Kiste. Dann räusperte sich Rabause, stieß Otto an und fragte: »Du, Otto, hast du mir den Pfeifenkopf geschnitzt?«
»Ich bin noch nicht dazu gekommen«, sagte Otto. »Sie wissen, ich muß so aufpassen, Vater will es nun mal nicht haben.«
»Mach ihn auch recht schön«, bat Rabause. »Es muß mein Ajax werden, wie ich ihn sieben Jahre gefahren habe, du weißt, eine Blesse über das halbe Maul.«
»Ich mach das schon«, sagte Otto. »Ich muß nur erst mal Zeit haben.«
»Siehste, Otto – nun hast du doch wieder vergessen, mich daran zu erinnern, daß ich Sie zu dir sage. Du weißt, der Chef hat mir das Du streng verboten.«
»Ich habe es nicht vergessen, ich mag es Ihnen nur nicht immer wieder sagen.«
»Das ist es ja gerade!« rief der Futtermeister eifrig. »Wenn Sie selber es wollten, daß ich Sie zu Ihnen sage, dann würde ich es auch nicht immer vergessen. Aber du willst es eben nicht.«
»Sie haben eben wieder du gesagt, Rabause!«
»Siehste! Dein Vater hat ganz recht, das ist keine Sache, wenn der Futtermeister zum Sohn vom Chef du sagt. Du bist doch keine zehn Jahre mehr, wie damals, als ich zu euch kam, du bist jetzt fünfundzwanzig ...«
»Vierundzwanzig.«
»Also vierundzwanzig.« Der Futtermeister klopfte nachdenklich mit den Füßen gegen die Kiste. »Vierundzwanzig – da mußt du vielleicht noch mal Soldat spielen ...«
»Ich Soldat? Nein, damit bin ich durch, einmal ist genug.«
»Aber wenn es jetzt einen Krieg gibt?«
»Es gibt doch keinen Krieg!«
»Hast du denn gestern nicht die Extrablätter gelesen? Die Serben haben doch den österreichischen Kronprinzen totgeschossen – paß auf, es gibt einen Krieg.«
»Was haben wir denn mit den Serben zu tun? Wo wohnen die überhaupt?«
»Weiß ich auch nicht genau. Ottochen, irgendwo da unten ...« Er wies unbestimmt in den Stall.
»Sehen Sie! Darum kann es doch keinen Krieg geben.«
Wieder schwiegen sie eine Weile. Dann fing der Futtermeister neu an: »Wenn jetzt aber der Chef nicht gleich kommt ... Ich muß doch füttern. – Die Taxen müssen pünktlich raus. – Willst du nicht mal rübersehen, Ottochen?«
»Der Vater hat gesagt, er kommt gleich.«
»Oder ich rufe ihn selber, wenn du Angst hast, Ottochen.«
»Lassen Sie's man lieber, Rabause, Vater wird schon kommen.«
»Was ist denn? Dicke Luft?« Otto nickte.
»Schon wieder? Am frühen Morgen? Wegen was denn?«
»Ach, nichts ...«
»Hat wohl wieder mal ein Topf in der Küche nicht richtig gestanden? Der Chef macht es aber auch zu schlimm, sich macht er kaputt und die andern mit! Du hast auch schon gar keinen Mumm mehr in dir, Ottochen.«
»Ach, ich halt's schon noch 'ne Weile aus. Aber ganz schön wäre es ja, es gäb einen Krieg, und ich käme raus aus dem Haus. Ich möchte auch mal meine Ruhe haben und nicht immer angeschnauzt werden.«
»Die schnauzen aber auch bei den Preußen, Ottochen.«
»Aber nicht wie Vater ...«
»Da!« rief Rabause. »Da haben wir schon den Krach! Komm, Ottochen!«
Und er lief zur Stalltür.
»Wollen wir nicht lieber hierbleiben?« fragte Otto unschlüssig. Dann aber ging er doch dem Futtermeister nach aus dem Stall.
Über den Hof kam der alte Hackendahl, er stieß den Erich, der nur in Hemd und Hose war, vor sich her. Aus den Fenstern spähten die erschrockenen, die neugierigen Gesichter der Frauen. Der Sohn hatte es mit seinem Trotz geschafft: Er hatte den Vater um alle Besinnung gebracht.
»Ein Student willst du sein?!« schrie der Alte und stieß Erich, daß er taumelte. »Ein Furz bist du in meinen Augen! Ein Garnichts! Ein Dieb!!«
»Ich lasse mir das nicht gefallen!« rief Erich. »Ich will ...«
»Herr Chef! Herr Chef! Bitte, Sie wecken die Nachbarn!« bat der alte Futtermeister erschrocken.
»Sehen Sie ihn sich an, Rabause!« rief der ehemalige Wachtmeister erbittert. »Der Herr Sohn verludert achtzig Mark in einer Nacht – und sagt noch, er hat ein Recht darauf! Stillgestanden, du, wenn dein Vater mit dir redet! Aber ich will dir zeigen, wer Herr ist in diesem Hause! Heute noch melde ich dich ab vom Gymnasium ...«
»Das tust du nicht, Vater!«
»Das tu ich. Ich schwöre dir, daß ich es tu, heute noch!«
»Herr Chef, Herr Chef, beruhigen Sie sich, überlegen Sie doch! – Rede deinem Vater doch auch zu, Ottochen!«
»Vater ...«
»Vater!«
»Jawohl, Vater! Jetzt kannst du Vater schreien, wo es zu spät ist! Aber es hat sich ausgevatert mit dir, Bürschchen, jetzt bin ich nur dein Herr – und ich werde dafür sorgen, daß du parieren lernst!«
»Herr Chef ...«
»Jawohl, Herr Chef, jetzt bin ich sein Chef! Marsch mit dir in den Stall, von heute an bist du Stallknecht, und ich schwöre dir, du sollst soviel auszumisten und zu putzen kriegen ...«
»Das tue ich nie, Vater! Lieber laufe ich fort, ehe ich eine Mistgabel anrühre!«
»Herr Chef, besinnen Sie sich doch, so ein heller Kopf ...«
»Für was helle? Für Diebstahl! Nichts da, du gehst jetzt in den Stall, Erich!«
»Ich gehe nicht in den Stall!«
»Du gehst in den Stall!«
»Nie!«
»Du verweigerst deinem Vater den Gehorsam?«
»Ich gehe nicht in den Stall, ich fasse nie eine Forke an!«
»Erich! Treib es nicht zum Äußersten! Geh in den Stall, tu die Arbeit, gehorche – und wir wollen nach einem Jahr sehen ...«
»Ein Jahr? Nicht eine Stunde, Vater, nicht eine Minute!!!«
»Du tust es nicht?«
»Nie!«
Der Vater stand nachdenkend, fast ruhig.
»Ottochen, red du dem Erich zu«, bat der alte Rabause. »Er soll vernünftig sein. Es wird ja nicht ein Jahr dauern müssen, dein Vater wird auch mit einem Monat zufrieden sein, mit einer Woche – er muß nur erst den guten Willen sehen.«
»Erich ...«, bat Otto schwerfällig ...
»Ach, sei du bloß still!« rief Erich böse. »Du Schlappschwanz – weil du immer gekrochen bist, ist Vater bloß so geworden!«
»Komm!« sagte der Alte, der nichts gehört zu haben schien. »Komm!«
Er legte dem Sohn die Hand um den Arm. »Los!«
»Ich gehe nicht in den Stall!« widerstand der Sohn.
»Komm!« sagte der Vater. Er zog den Sohn mit sich. Es ging wieder auf das Haus zu. »Bring mir die Kellerschlüssel, Otto!« rief der Vater.
Otto lief.
»Was ...?« fragte Erich verwirrt.
»Komm!« sagte der Vater.
Sie kamen zurück in das Haus, aber sie stiegen nicht die Treppe zu dem Obergeschoß empor, es ging in den Keller hinab.
»So«, sagte der Vater und stieß eine Kellertür auf. »Hier bleibst du, bis du dich besonnen hast. Ich schwöre, ich lasse dich nicht eher raus, Erich, bis du dich gefügt hast.«
»Hier ...?« fragte Erich ungläubig und sah in den schwarzen, dunklen, vergitterten Keller. »Du willst mich hier einsperren ...?«
»Hier bleibst du so lange, bis du dich besonnen hast. Ich gebe nicht nach!«
»Das tust du nicht, das darfst du nicht tun, Vater!«
»Das tue ich! Gib den Schlüssel, Otto! Geh rein, Erich. – Oder willst du gehorchen und im Stall arbeiten?«
»Vater!« bat der Sohn und hielt sich am Türrahmen fest. »Vater, höre doch, um Gottes willen, gib einmal nach! Ich bin vielleicht leichtsinnig gewesen, ich verspreche dir, ich will mich ändern ...«
»Gut, ändere dich, geh in den Stall!«
»Nie!«
»Also rein mit dir!«
Mit einem Ruck schob der Vater den Sohn in den Keller, die Tür schlug zu. Von innen warf sich der Sohn dagegen. »Vater! Vater ...!«
Der Vater schloß ab.
Fäuste trommelten von innen. Eine beinahe unkenntliche Stimme schrie: »Tyrann! Schinder! Henker!«
»Komm füttern, Otto«, sagte der Vater und ging.
»Du bist zu hart, Vater«, flüsterte Otto.
»Wie?!« rief der Vater und blieb stehen. (Der im Keller Eingesperrte schrie weiter.) »Wie?! Und ist er etwa nicht hart zu mir!« Er sah den Sohn streng an. »Tut es mir nicht weh? Komm füttern, Otto!«
Der Vater stieg vor dem Sohn Otto die Kellertreppe hinauf, wie ein sehr alter Mann.
»Jaja«, murmelte er. »Nun helfe uns allen Gott!«
Als er aber auf den Hof trat, wurde seine Haltung straffer. Fast im alten befehlenden Ton rief er zu den Frauen im Fenster hinauf: »Habt ihr nichts zu tun? Macht, daß ihr an eure Arbeit kommt!«
Gleich verschwanden die Gesichter. Hackendahl trat in den Stall. »Alles in Ordnung, Rabause?«
»Im Stall ist alles in Ordnung, Chef«, antwortete Rabause. Aber das war auch die einzige Andeutung, die er auf die Geschehnisse eben zu machen wagte.
In der nächsten Stunde gab es viel zu tun: Eilige, stumme Arbeiterei, um halb sieben mußten die Pferde zur Tagestour bereit sein.
Aber doch fand Otto immer wieder einen Augenblick Zeit, unter die Stalltür zu treten, nach dem Keller zu lauschen. Er hörte nichts – aber das sagte noch nicht, daß der Bruder sich gefügt hatte. Die Aussichten auf ein Fügen des Bruders schienen gering – fast so gering wie die Aussicht auf ein Nachgeben des Vaters. Schwer seufzend machte sich Otto wieder an seine Arbeit. Er merkte, auch der Futtermeister Rabause sah öfter als sonst aus der Stalltür – nur der Vater tat, als sei nichts gewesen.
Erst als die Nachtdroschken hereinkamen, ging der alte Hackendahl aus dem Stall. Wie immer sprach er mit jedem Kutscher, sah selbst die Taxuhr nach, berechnete die Gelder, kassierte und trug ein in sein Buch. In der vergangenen Nacht war das Geschäft ungewöhnlich gut gewesen, die Droschken hatten fast gar nicht an den Halteplätzen zu warten gehabt. Hackendahl kassierte viel Geld, er belebte sich etwas, es war nicht alles hoffnungslos, das Geschäft ging.
Er rief Rabause zu, daß die Pferde von den Nachtdroschken eine Extraration Hafer bekommen sollten. Dann fragte er den Kutscher: »Und wo bist du hingefahren, Willem?«
»Es war ja ville los in der Stadt«, sagte der Kutscher. »Die Leute sind mächtig uffjeregt wejen die Ermordung von dem Erzherzog. Dreimal habe ich bei Scherl jemußt, wo die Telegramme anjeschlagen sind. Den Mörder haben se ja fest, Herr Hackendahl, es is ein Studente, seinen Namen hab ich aber nich behalten. Er hat gleich Jift geschluckt, aber er hat's wieder rausgekotzt ...«
»Ein Student, so«, sagte der eiserne Gustav. »Und wegen so was schlagen sich die Leute die Nacht um die Ohren. Den Hintern blutig gehauen, das gehört so einem, Hinrichtung geht viel zu schnell, erst muß der mal Schmerzen spüren ... Aber es ist keine Zucht mehr auf der Welt ...«
Der alte Kutscher sah von den blauen Tuchkissen hoch, die er gerade für die Tagfahrt ausbürstete. »Meenen Se det, Herr Hackendahl? Ick denk immer, es is zu ville Zucht auf der Welt, alles jeht nach Drill un Kommando, und der Mensch is doch keine Maschine nich, er is gewissermaßen was Lebendiges, mit Jefühlen ...«
Aber der alte Wilhelm hatte einen schlechten Augenblick gewählt, denn gerade kam sein Kollege Piepgras auf den Hof gefahren, und der hatte bei seiner Droschke trotz des milden Sommermorgens das Verdeck hochgeschlagen, und das Kotleder war auch zugeknüpft, als regne es Pickelsteine. Aber das war nicht an dem, sondern ...
»Ja, Herr Hackendahl«, sagte Piepgras und stieg schnaufend über das hohe Wagenrad vom Bock und schob den Lackzylinder mit der Nummer aus seiner buckligen Stirn. »Willste stehen, Ottilje! Das Aas kann nie sein Futter abwarten! – Ja, Herr Hackendahl, nu sagen Sie bloß, was sollte ich machen? Klock einsen die Nacht sind die beiden beim Alten Kuhstall in meine Droschke gestiegen, und über den Lehrter in den Tiergarten hat er gesagt, und dann immer weiter, bis ich klopfe! Und ich hab gar nicht gemerkt, daß er einen auf der Lampe hat, aber gekloppt hat er nich. Und ich fahre und fahre, und manchmal frage ich: ›Ist es noch nicht genug?‹ – Aber nichts, keine Antwort, und wie ich nun schließlich anhalte, sehe ich, die beiden pennen, aber wie! Da hilft kein Schütteln und kein Rufen, er quasselt bloß betrunkenes Zeug, und von Wohnung erfahren und so ist keine Rede.«
»Immer stellst du solche Geschichten an«, sagt Hackendahl ärgerlich. »Weck sie auf! Rechne schnell mit ihnen ab und sieh, daß sie runterkommen von meinem Hof!«
Und er trat einen Schritt zurück.
»Aber, Herr Hackendahl!« sagte der Kutscher vorwurfsvoll. »Wie Sie bloß so sein können. Das sind doch zwei wie die reinen Kinder, so was muß man doch gesehen haben, das freut Vatern, und Muttern freut es auch ... Das ist doch noch die wahre Liebe, aus'm Gesangbuch ...«
Und während er so weiterdröhnte, schlug Piepgras langsam das Verdeck seiner Droschke zurück und knüpfte das Kotleder los ...
Es waren eine ganze Menge Leute, die da zuschauten. Müde Droschkenkutscher vom Nachtdienst und ausgeschlafene Droschkenkutscher vom Tagdienst. Auch Otto und Rabause ließen sich diesen Spektakel nicht entgehen. (Der alte Piepgras machte wirklich immer solche Witze.) Selbst die Frauen im Hause hatten eine Witterung von der Sache bekommen und sahen wieder aus den Fenstern, den dreizehnjährigen Bubi zwischen sich ...
Es war kein schlechter Anblick, der sich den Beschauern allen bot, nein, die beiden Schläfer sahen gut und erfreulich aus. Wenn sie wirklich berauscht in die Droschke gestiegen waren, jetzt schliefen sie einen wahren Kinderschlaf. Ihr Kopf lag, ganz wie es sich gehörte, an seiner Brust, und an den Händen hielten sie sich auch, als dürfe ihre Gemeinsamkeit selbst nicht in den Wäldern des Schlafs und in den Dickichten des Traums verlorengehen ...
Alle sahen still auf das freundliche Bild, und nach einer Weile sagte der alte Piepgras ganz friedlich: »Na, Herr Hackendahl, habe ich zuviel gesagt? So was freut einen doch, daß es das auch noch in der Kaiserstadt Berlin gibt, wo sich die Nutten auf der Friedrich geradezu auf die Hacken treten. Aber es jibt eben allens in Berlin ...«
Wer kann sagen, was alles dem alten Hackendahl beim Anblick der beiden jungen Liebesleute durch Herz und Hirn zog? Er war ja auch einmal jung gewesen und sah, daß dies noch Kinderliebe war, etwas Leichtes, Fröhliches ...
Aber da hatte nun Piepgras das Wort gesagt von den Nutten, die sich auf der Friedrich die Hacken abtreten, und in demselben Augenblick war ihm wohl die Tochter eingefallen, die heimlich in ein wirklich recht übel beleumdetes Café schlich, und der Sohn, der heute morgen nach gemeinem Parfüm gerochen hatte. Mit einem Satz sprang er zu der Droschke, riß den Schläfer bei der Schulter und rief zornig: »Wachen Sie auf! Machen Sie, daß Sie von meinem Hof runterkommen, Sie Kerl, Sie!«
Noch eher aber als der junge Mann wurde das junge Mädchen wach. Sie fuhr hoch und sah auf den fremden Hof und in all die fremden Männergesichter, die auf sie gerichtet waren, die alle erschrocken und böse und finster aussahen. Daß diese Finsterkeit nicht ihr, sondern dem Ausbruch des eisernen Gustav galt, das wußte sie ja nicht.
Sie faßte ihren Freund bei der Hand, zog ihn hoch vom Sitz und rief: »O komm bloß, Erich, was ist nur?« Und schon lief sie, ihre langen Röcke raffend, über den Hof dem Tor zu, ihren Erich mit sich ziehend.
Den alten Hackendahl aber hatte der Name Erich ganz rasend gemacht, er lief neben den beiden her und beschimpfte sie weiter. Auf der anderen Seite aber lief der Droschkenkutscher Piepgras, der ein solches Ende seines Scherzes nie erwartet hatte, und flehte und drohte: »Herr Hackendahl, was machen Sie bloß?! Der Herr hat doch noch nicht bezahlt! Wollen Sie wohl stehenbleiben, Herr, und mir meine Taxe zahlen?!«
Aber das junge Mädchen und der junge Mann liefen immer schneller, sie liefen von den bösen Gesichtern der Welt fort, in den blauen, frischen Junimorgen hinein ...
Zuerst blieb der alte Hackendahl stehen. Er stand unter dem steinernen Torpfosten mit der goldenen Kugel darauf, trocknete sich das Gesicht ab und sah wie erwachend in all die Gesichter. Die Gesichter wandten sich aber alle verlegen von ihm fort, ein jeder machte sich rasch an seine wirkliche oder an eine Scheinarbeit. Stumm ging der eiserne Gustav über den Hof, rief im Vorbeigehen nur halblaut: »Mach du fertig, Otto!« und verschwand im Haus.
Sofort war der Hof ein Wirbel von Getuschel und Geflüster, und am dicksten standen sie um den jetzt schnaufend zurückgekehrten Piepgras: Er hatte die jungen Leute nicht mehr erwischt, die Liebe war in dieser Nacht taxfrei gefahren.
Um sieben Uhr auf den Schlag wurde im Hause Hackendahl Kaffee getrunken, und dem eisernen Gustav mochte zumute sein, wie ihm wollte, er stand Schlag sieben gerade aufgerichtet am Kopfende des Tisches und ließ den Heinz das Morgengebet sprechen. Dann gab es ein allgemeines Stuhl- und Füßegescharre, und nun kellte die Mutter die Mehlsuppe auf.
Schweigend kratzten die Löffel auf den Tellern, schweigend sah bald der, bald jener Erichs leeren Stuhl an. Manchmal nur seufzte die Mutter, des hungrigen Sohnes im Keller gedenkend, sagte »Ach ja« und »O Gott, o Gott«, aber keiner antwortete, bis sie endlich klagte: »Heute ißt mal wieder kein einziger! Was das nur ist mit euch! Iß du wenigstens was, Bubi, du hast doch keine Ursache zu hungern!«
Der Bengel schoß einen wachsamen Blick auf den Vater und sagte dann abgrundtief mit seiner mutierenden Stimme: »Plenus venter non studet libenter – ein voller Bauch studiert nicht gern. Im Interesse meines lateinischen Exerzitiums geziemt sich Zurückhaltung in der Vertilgung von gekochtem Mehl ...«
»O Gott!« seufzte die Mutter. »Dafür läßt man nun seine Kinder studieren, daß man kein Wort mehr von ihnen versteht und daß sie ...«
Sie sprach nicht weiter, ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, jeder sah, daß sie an den Sohn im Keller dachte, der ausstudiert hatte.
»Halte den Mund!« knurrte der Vater zu Heinz hinüber.
»Zu Befehl, pater patriae!« Und nicht umzubringen: »Soll ich einen Entschuldigungszettel für Erich in die Penne mitnehmen?«
Der Vater funkelte den Sohn zornig an, die anderen duckten die Köpfe – aber das Gewitter zog ohne Einschlag vorüber: Hackendahl stieß nur seinen Stuhl zurück und ging auf sein Zimmer.
Eine halbe Stunde später war Heinz zur Schule gegangen und Sophie ins Krankenhaus. In der Wohnung räumte Eva mit dem kleinen Dienstmädchen auf, in der Küche putzte Frau Hackendahl Gemüse, und im Stall berieten Otto und der alte Rabause, ob man den Vater an seine Privatfuhren erinnern dürfe oder nicht ...
An seinem Schreibtisch saß der alte Hackendahl. Er hatte das Kassenbuch vor sich aufgeschlagen, die Morgeneinnahme hingelegt, aber er zählte nicht nach, er trug nicht ein.
Er saß und grübelte. Er grübelte finster und ungelenk, er sagte sich hundertmal, daß die Welt nicht einfällt über einen kleinen Hausdieb, über einen Arbeitgeber, der vor seinen Leuten die Beherrschung verliert.
Nein, die Welt fiel nicht ein, aber seine Welt war ihm eingefallen. Er grübelte, warum seine Kinder nie das wollten, was er wollte, warum sie stets widersetzlich waren. Er hatte jeder Obrigkeit stets freudig gehorcht, aber wenn seine Kinder ihm noch gehorchten, so nur widerstrebend, mit Maulen und Unwillen. Vielleicht war alles, was heute geschehen war, wirklich gar nicht so schlimm, in einem viertel oder halben Jahr konnte man es vergessen und begraben sein lassen, aber es war doch schlimm! Weil es nicht nur die Hausdieberei war, sondern weil alles zum Verfall drängte, auseinanderstrebte, das Erworbene mißachtete ...
Mit gerunzelter Stirne starrte er das Geld auf dem Schreibtisch an. Die gute Nachteinnahme freute ihn nicht, er mochte sie gar nicht eintragen ins Kassenbuch, er hatte vorher noch eine andere Eintragung zu machen.
Jawohl, er muß sie machen, er nimmt die Feder in die Hand, zögert – und legt sie wieder hin. Trostlos starrt er das Kassenbuch an. Es geht ihm wider Ordnung und Anstand, was er tun muß ...
Dann kommt ihm ein Gedanke. Es ist vielleicht nur ein Aufschub, aber es ist ja auch möglich, daß nicht alles Geld verbraucht wurde. Er geht eilig in das Schlafzimmer der Söhne. Dort macht Eva die Betten. Er möchte sie fortschicken – muß aber ein Vater sich dessen, was er tut, vor den eigenen Kindern schämen? Fast trotzig nimmt er Jacke und Weste von Erich, die noch über dem Stuhl hängen, und fängt an, die Taschen nachzusehen. Aber er findet nichts, nichts als die Spuren eines weiteren Ungehorsams: ein paar Zigaretten. Aber es reicht bei dem Vater nicht mehr zu einem neuen Zorn, er zerdrückt nur die Zigaretten, daß der Tabak auf die Erde rieselt, sagt barsch zur Tochter: »Kehr den Dreck fort!« und geht in die Küche.
Die Küche ist leer. Er schneidet einen Kanten Brot ab, so stark, wie ihn die Arrestanten beim Militär bekamen. Dann sieht er sich suchend um, aber in seiner bürgerlichen Küche gibt es die glasierten Tonkrüge nicht, in denen man den Leuten Wasser hinstellte. Nach einigem Schwanken nimmt er ein emailliertes Litermaß und füllt es mit Wasser. Er läßt die Leitung gut ablaufen, das Wasser soll frisch sein, auch ein Gefangener muß seine Ordnung haben.
Dann steigt er mit Wasser und Brot hinunter in den Keller.
Als er in den dunkeln Kellergang einbiegt, hört er ein Tuscheln. Er lauscht, dann räuspert er sich und geht weiter. Seine Frau schleicht an ihm vorüber, er sagt streng: »Hier hat keiner was zu suchen!« Und schließt den Keller auf.
Der Sohn steht an dem kaum zwei Hände großen Fenster. Er dreht sich nicht um, als der Vater eintritt. Der legt das Brot auf eine Kiste, stellt das Wasser daneben und sagt: »Hier hast du zu essen, Erich!«
Der Sohn rührt sich nicht.
»Du könntest auch danke sagen, Erich«, tadelt der Vater milde.
Kein Wort.
Hackendahl wartet noch einen Augenblick, als dann nichts erfolgt, sagt er härter: »Dreh deine Taschen um, Erich. Ich will sehen, ob du noch Geld hast ...«
Wieder rührt der Sohn sich nicht. In jähem Zorn tritt Hackendahl zu ihm und schreit: »Hörst du nicht?! Du sollst die Taschen umdrehen!!«
Jawohl, das ist der alte, stählerne Kommandoton, mit dem er eine ganze Kompanie zur Ordnung rief, jedem einzelnen Mann fuhr seine Stimme ins Gebein! Auch der Sohn schreckt zusammen, wortlos wendet er die Taschen, aber es ist nichts in ihnen ...
Der Vater will es nicht glauben. »Das ganze Geld!« ruft er. »Achtzig Mark in einer Nacht verlumpt, das ist doch nicht möglich!« Der Sohn wirft einen raschen Blick auf den Vater, fast hätte er über so viel Lebensfremdheit gelacht. »Es hätten auch achthundert sein können«, sagt er dann prahlerisch. »Wozu ist Geld sonst gut?«
Der Vater steht starr – es ist alles noch viel schlimmer, als er dachte, ein genußsüchtiges, weiches Geschlecht ist herangewachsen, das nicht erwerben, nur verschwenden kann. In der weichen Friedensluft aufgeschossen, fährt es ihm durch den Kopf. Siebzig-einundsiebzig ist zu lange her! Er denkt einen Augenblick an den gestern ermordeten Erzherzog. Die Leute reden von Krieg – das wäre nicht schlecht, dann lernen die Bengels wieder, daß Leben Kampf ist ...
»Also achthundert hättest du auch verlumpt«, sagt er verächtlich. »Und hast noch keine acht Mark in deinem Leben verdient! Im Straßengraben wirst du krepieren, ohne deinen Vater!«
Er sieht den Sohn noch einmal starr an, aber der zuckt nur die Achseln. Da dreht Hackendahl sich um und geht.
Sorgfältig schließt er die Kellertür ab, und als er nach oben kommt, verschließt er auch die Tür zum Gang: Es soll kein Getuschel mehr geben. Widersetzlichkeit muß nicht noch getröstet werden!
Er geht in sein Zimmer, jetzt greift er ohne Zögern zur Feder, er schreibt in das Kassenbuch:
»29. 6. Gestohlen von meinem Sohn Erich ... 80,- Mark.«
So! Das wäre erledigt! Und mit einem plötzlichen Entschluß schiebt er Morgeneinnahme und Kassenbuch in die Schreibtischlade. Das hat Zeit – das Wichtigste ist erledigt!
Er geht rasch in sein Schlafzimmer, zieht den blauen Kutscherrock mit den blanken Knöpfen an und setzt den Zylinder auf. Unten auf dem Hof steht schon die leichte Einspännerdroschke fahrbereit, Otto hält den übermütigen Schimmel am Zügel.
Hackendahl steigt auf den Bock, legt die Staubdecke über die Knie, drückt noch einmal den Zylinder fest und faßt die Peitsche. Zu Otto sagt er: »Um zwölf bin ich wieder hier. – Bring Kastor und Senta zur Schmiede – die Vordereisen sind ganz verbraucht. Das hättest du auch sehen können! – Hü, Schimmel!«
Er schnalzt mit der Zunge, der Schimmel trabt an, und die Droschke rollt vom Hof.
Das ganze Haus atmet auf.
Hinter der Gardine des Schlafzimmers hatte Eva gestanden und gebannt auf die Abfahrt des Vaters gewartet. Eigentlich hatte sie gewußt, daß sie fast nichts riskierte, als sie in des Vaters Zimmer geschlichen war, während der für Erich in Küche und Keller wirtschaftete. So töricht war sie nicht gewesen, das Geld auf dem Schreibtisch selbst anzurühren. Die Morgeneinnahme war gezählt, das wußte sie.
Das in der Lade liegende Geld, das in den Säckchen, war freilich auch gezählt. Aber wenn der Vater schließlich merkte, daß da nicht nur achtzig Mark, daß da zweihundertachtzig Mark fehlten, er würde immer nur an Erich als an den Dieb denken. Und Erich hatte schon soviel Butter auf dem Kopf, da kam es auf ein bißchen mehr oder weniger nicht an!
Sie machte eine geringschätzige Bewegung mit der Schulter, in der Schürzentasche fühlt sie mit den Fingerspitzen die zehn Goldfüchse – schlau muß man sein! Seit ihr Entschluß fest geworden ist, nicht mehr lange in diesem freudlosen Hause zu bleiben, sammelt sie Geld. Wo es zu machen war, hat sie kleine Beträge genommen, sie hat Schmugeld bei den Lebensmitteleinkäufen gemacht, heimlich hat sie Sachen aus dem Wäscheschrank der Mutter versetzt. Jawohl, sie befreit sich langsam und sicher aus der Abhängigkeit vom Vater.
Sollte sie sich ein Gewissen daraus machen, daß sie ihn beklaut? Nicht in die Tüte! Der Vater rückt freiwillig nicht einen Groschen heraus, und wenn er auch immer behauptet, er spart alles für seine Kinder – Vater kann hundert Jahre alt werden, und sie ist dann fast siebzig, ehe es was zu erben gibt. Nein, immer ran an die Kasse, solange sie offen ist, und heute früh war sie ja recht hübsch offen!
Eva schiebt schnell die Hängelampe zur Decke, es ist noch solche alte – ein bloß auf elektrisch aufgearbeitetes Petroleumdings. Je höher sie die Lampe schiebt, um so tiefer sinkt das Gegengewicht: ein blankes Osterei aus Messing, mit stumpfen Messingarabesken verziert. Rasch hakt sie das Gewicht los, schraubt es in der Mitte auseinander – und aus dem hohlen Innern, das früher wohl mit Sand oder Blei gefüllt war, schimmert ihr sanft golden ihr kleiner Schatz entgegen.
Sie starrt ihn an, atemlos vor Glück, ach, diese zwölf oder fünfzehn großen Goldfüchse – sie machen sie ganz selig! Ihr Vater hat ein gutes, solides Vermögen – teils steckt es im Geschäft, in Hofplatz und Haus, teils ist es in soliden Staatspapieren angelegt – hunderttausend Mark, schätzt sie, eher darüber als darunter!
Aber mit des Vaters Geld, mit dem Familienvermögen verbindet sie keinen Begriff. Der Vater gehörte zu der Generation, die gerne Geld verdiente, aber ungern Geld ausgab. Er war ein Anhäufer von Geld und meinte, seine Kinder müßten erst Geld verdienen, ehe sie Geld ausgaben. Aber die Zeiten hatten sich geändert, oder die Menschen hatten sich geändert, oder es war auch nur das alte Gesetz von Ebbe und Flut: Nach dem Hochstand kam Niedrigwasser. Die neue Generation interessierte aufgehäuftes Geld gar nicht, es war etwas Totes, Sinnloses, ja, Widersinniges! Geld war dazu da, um es auszugeben; Geld, das bloß dalag, war dumm!
So entzückt die Tochter des wohlhabenden Mannes der kleine Schatz im Gegengewicht der Hängelampe, den sie mit tausend schmählichen Kniffen und Pfiffen gesammelt hat. Langsam läßt sie die neuen zehn Goldfüchse auf die anderen fallen, das gibt einen leisen, sanften Klang, der sie berauscht. Aber nicht Klang noch Geld berauschen sie, es berauscht sie der Gedanke an das, was sie von diesem Gelde kaufen kann: Freiheit und ein seidenes Kleid, Genuß und einen neuen Hut.
Aufatmend bringt sie die Lampe wieder in Ordnung, setzt dann vor dem viel zu kleinen Spiegel (der Vater duldet keinen größeren) ihren Stroh-Florentiner auf und geht in die Küche.
»Gib mir Geld, Mutter, ich will einkaufen.«
Die Mutter sitzt in einem großen Stuhl am Herd, mechanisch rührt sie aus der Ferne mit einem langstieligen Löffel in einem großen Kochtopf. Alles an der Mutter hängt: Bauch, Brust, Backen – selbst die Unterlippe hängt. Am Fenster steht Bruder Otto, er dreht verlegen mit den Fingern an seinem dünnen, flaumigen Bärtchen.
»Was willst du denn einkaufen, Evchen?« fragt die Mutter klagend. »Wir haben doch alles zum Mittag. Aber du willst nur wieder rumlaufen!«
»Gar nicht!« sagt Eva, und ihre eben noch so strahlende Stimmung wird bei den tausendfach gehörten Klagelauten der Mutter sofort wieder gereizt und böse. »Gar nicht! Aber du hast selbst gesagt, Mutter, wir wollen heute abend Matjes mit Pellkartoffeln essen, und wenn ich die Matjes nicht heute früh hole, sind sie alle.«
Beides ist nicht wahr, weder hat die Mutter Matjes fürs Abendessen angesetzt, noch entleert sich der Berliner Markt bis zum Nachmittag gänzlich der Matjesheringe. Aber Eva weiß längst, daß es nicht darauf ankommt, was man der Mutter entgegenhält, sondern daß man ihr überhaupt widerspricht. Dann gibt sie sofort nach.
So auch jetzt. »Ich sage ja gar nichts, Evchen. Meinswegen kannst du gehen! Wieviel brauchst du denn? Is 'ne Mark genug? Du weißt doch, Vater will deine Lauferei nicht haben ...«
»Dann muß Vater uns eben einen Botenjungen halten!«
»Ach Gott, Evchen, sage doch bloß das nicht! So ein fremder Bengel im Haus, und überall schnüffelt er herum, und nichts kann man offen liegenlassen, alles kommt weg ...«
Sie bricht ab und wirft einen halb verlegenen, halb hilfeflehenden Blick auf den stummen Sohn am Fenster.
Statt seiner sagt Eva: »Ach, du meinst wegen Erich, Mutter? Hab dich man nur nicht so! – Der ist besorgt, den läßt Vater nicht eher aus dem Keller, bis er ganz kusch ist.«
»Aber er kann doch nicht – Tage und Wochen ...«, sagt die Mutter hilflos. Wieder sieht sie zu dem Sohn hinüber. »Sag du doch ein Wort, Ottchen! Du meinst doch auch ...«
»Habe ich das Geld genommen?« ruft Eva und dünkt sich sehr klug. »Jeder muß seine eigene Suppe ausfressen, da kann ich ihm nicht helfen.«
»So bist du immer gewesen, Eva!« ruft die Mutter, aber nur kläglich. »Bloß an dich hast du immer gedacht! Du sagst, Erich hat Geld genommen – aber wieviel Schmugeld hast du bei den Einkäufen ...?«
»Ich ...«, fängt Eva an, völlig verblüfft, daß die Mutter klüger gewesen ist, als sie geglaubt hat.
Aber bei der ist der schwache Zorn schon wieder vorüber. »Ich gönne es dir ja, Kind«, ruft sie weinend. »Du sollst doch auch etwas von deinem Leben haben! Aber sieh mal, Evchen«, fängt sie schmeichelnd an, »wenn ich dich nicht verrate, könntest du auch was für Erich tun ...«
»Ich habe kein Geld genommen«, protestiert Eva für alle Fälle, »ich tu so was nicht.«
»Siehst du, Evchen, du bist doch nun mal Vaters Liebling, bei dir drückt er eher mal ein Auge zu. Wenn du in den Keller gingst und Erich freiließest? Otto sagt, die Schlösser schlägt man leicht mit Meißel und Hammer entzwei ...«
»Und warum geht dann nicht der große Otto in den Keller und läßt Erich frei, wenn er so klug ist? Und warum gehst du nicht selber, Mutter? Du bist doch die Mutter! Nein, daraus wird nichts. Ich soll eure Dumme sein – aber das bin ich nicht! Von meinswegen kann der Erich da sitzen, bis er so schwarz wird wie die Preßkohlen. Da freue ich mich bloß!«
Damit schoß Eva noch einen triumphierenden Blick auf Mutter und Bruder, rief: »Und ihr laßt auch besser die Finger davon!«, fischte sich die Markttasche aus Wachstuch und schlüpfte aus der Küche.
Die beiden Zurückbleibenden sahen einander trostlos an, dann senkte die Mutter den Kopf, und mechanisch fing sie wieder an, im Topfe zu rühren ...
»Und wenn er raus ist, wo soll er dann hin, Mutter?« fragte Otto schließlich. »Er kann dann doch nicht hier im Haus bleiben.«
»Vielleicht kann er eine Weile bei einem Freund wohnen, bis Vater sich beruhigt.«
»Wenn Erich fortläuft, verzeiht Vater ihm nie. So lange kann er nicht bei einem Freund bleiben.«
»Wenn er nun was arbeitet?«
»Arbeiten hat er nicht gelernt. Und er ist auch zu schwach für Körperarbeit.«
»Dazu hat man nun Kinder gekriegt ...«, fing die Mutter wieder an.
»Vielleicht ließe ich ihn raus«, sagte Otto schließlich. »Aber wo man gar nicht weiß, wo er bleiben soll ... Und Geld haben wir auch nicht.«
»Siehst du!« rief Frau Hackendahl aufgeregt. »Da ist man nun die Frau von einem reichen Mann, und glaubst du, daß ich je eine Mark für mich gehabt habe? Nie! In meiner ganzen Ehe nicht! Aber so ist dein Vater, Ottochen, was war er denn, bloß ein Wachtmeister – und ich habe ihm das ganze Fuhrgeschäft zugebracht ...«
»Was hat es denn für Sinn, über Vater zu schelten? Vater ist so, wie er ist; und du bist so, wie du bist; und ich bin, wie ich bin ...«
»Ja, und darum stehst du da und tust nichts und guckst bloß, und am liebsten säßest du wieder auf der Futterkiste bei deinem Rabause und schnitzeltest was aus Holz. Deinetwegen könnte die Welt untergehen und dein Bruder sterben und verderben ...«
»Keiner kann aus seiner Haut«, sagte Otto ungerührt. »Mich hat der Vater, weil ich der Älteste bin, zuerst und am meisten in der Mache gehabt, und so bin ich denn wohl so geworden, wie er mich haben wollte. Ich kann mich nicht mehr ändern.«
»Ich«, rief die Mutter und kam wirklich in Bewegung, »ich hab am längsten mit Vatern gelebt, viel länger als du, mit mir hat er am meisten geschrien. Aber wenn ein Kind von mir in Not ist, dann stehe ich doch auf.« (Sie tat es.) »Und wenn keiner meinem Erich helfen will, dann tu ich es. Lauf, Ottchen«, sagte sie entschlossen, »bring mir Handwerkszeug, womit ich die Schlösser aufkriegen kann. Dann mach, daß du in den Stall kommst, damit du nicht dabeigewesen bist und nichts wissen mußt. – Ich habe auch Angst vor Vatern – aber nur Angst, nein, dann möchte ich doch nicht mehr leben ...«
Der alte Hackendahl hatte es sich mit seinen sechsundfünfzig Jahren nie nehmen lassen, Tag für Tag, Sommer und Winter, bei Schnee und Sonnenschein, noch selbst auf den Bock seiner Droschke zu steigen. Freilich, jeden Beliebigen fuhr er nicht, das hatte er nicht nötig. Aber die Stammkundschaft fuhr er, die Herren, die sich Tag für Tag nur vom alten Hackendahl auf ihr Büro, in ihre Bank, zum Ordinationszimmer fahren lassen wollten.
»Denn so wie Sie, fährt eben doch keiner, Hackendahl! Immer pünktlich auf die Minute, und dann im schlanken Trabe durch, und dabei kein Gejachter mit Peitschengeknall und Gejohle, und vor allem nie Streit mit diesen neumodischen Automobilen!«
»I wo denn, Herr Kammergerichtsrat! Zu was denn Streit? Mit solchen Benzinstinkern mache ich mich nicht gemein, Herr Kammergerichtsrat! Das sind doch alles bloß Todeskandidaten, und in zehn Jahren weiß kein Mensch mehr was von ihren Töfftöffs. Da ist die Mode vorbei. Die jagen, Herr Kammergerichtsrat, aber bloß, daß sie schneller in die Grube jagen ...«
So sprach Hackendahl mit seiner Stammkundschaft, und wie er sprach, so dachte er auch. Wenn er die Autos nicht ausstehen konnte, so nur, weil sie ihm seine guten Pferde nervös machten mit ihrer Huperei und Stinkerei und Raserei ... Sein braver Schimmel konnte ganz von Sinnen werden über die klapprigen Blechdinger, das Gebiß zwischen die Zähne nehmen und ab – in voller Karriere und Bauch auf die Erde. Und das liebte nun wieder Hackendahls Alte-Herren-Fahrkundschaft nicht.
Als Hackendahl an diesem Vormittag in die Bendlerstraße kam und bei der Villa des Geheimen Sanitätsrats Buchbinder vorfuhr, war er darum auch gar nicht erfreut, daß da solch Automobil vor der Türe stand. Der Schimmel stutzte. Und bockte und wollte gar nicht heran an den Kantstein: Hackendahl mußte wahrhaftig runter vom Bock und den Zossen beim Kopf nehmen.
Der neben seinem Wagen wartende Chauffeur grinste natürlich höhnisch. »Na, wat is'n mit deinem Hafermotor, Jenosse?« fragte er. »Hat wohl Fehlzündung? Soll ick ihm ein bißken mit'm Schraubenschlüssel den Auspuff regulieren?«
Natürlich antwortete Hackendahl auf solche Anpflaumerei kein Wort. Er stieg wieder auf den Bock, nahm die Zügel schulgerecht in die eine, die Peitsche in die andere Hand, wobei er den Peitschenknauf aufs Knie stützte, und sah nun ganz so vornehm hochherrschaftlich aus wie sein Kollege aus dem Kaiserlichen Marstall.
Der Chauffeur beäugte ihn kritisch. »Fein«, sagte er dann. »Fein mit Ei. Noch zehn Jahre, Jenosse, und se holen dir mit Bürjermeister und weißer Ehrenjungfrau als letzte Pferdedroschke erster Jüte durchs Brandenburger Tor ein. Und denn stopfen se dir aus und stellen dir ins Märkische Museum, nee, in de Naturjeschichte in der Invalidenstraße – da stellen se dir gleich neben den jroßen Menschenaffen aus'm Urwald ...«
Der langsam über dieser echt berlinischen Pöbelei blaurot anlaufende Hackendahl hätte nun doch wohl sehr kräftig seine Meinung über Menschenaffen gesagt, aber aus der Villa kam der Geheime Sanitätsrat Buchbinder, mit einem jungen Mann. Vorschriftsmäßig, die Augen stramm geradeaus gerichtet, tippte Hackendahl mit der Peitsche zum Gruß gegen seinen Lackzylinder. Der Chauffeur natürlich lümmelte sich nur langsam an seine Wagentür und sagte bloß: »Mojen!«
»Guten Morgen, Hackendahl!« rief der Geheimrat vergnügt. »Hören Sie, Hackendahl, das hier ist mein Sohn, auch schon Mediziner, und der will nun ...«
»Weiß ich doch, Herr Geheimrat!« sagte Hackendahl vorwurfsvoll. »Habe ich doch gleich gesehen. Ich habe doch den Herrn Sohn Ostern sieben zum Anhalter gefahren, zum Münchener Schnellzug, sechs Uhr elf, wissen Sie nicht noch, junger Herr ...?«
»Richtig!« rief der Sanitätsrat. »Ja, mein Hackendahl, der hat noch ein Gedächtnis! – Aber, Hackendahl, nun ist mein Sohn ein Mann geworden, nun will er nicht mehr mit Ihnen fahren. Ein Auto hat er sich gekauft (von meinem Gelde, Hackendahl!) ... und nun will er nur noch Auto fahren ...«
»Er wird's schon bleibenlassen, Herr Geheimrat«, sagte Hackendahl und sah mißgünstig Auto und frech grinsenden Chauffeur an. »Wenn er erst mal gegen einen Baum gefahren ist oder ein paar Menschen unglücklich gemacht hat, dann wird er's schon bleibenlassen!«
»Also, Papa«, sagte der junge Mann ungeduldig und ignorierte das subalterne Kutschergeschwätz vollkommen, »steig ein, und in vier Minuten hältst du vor deiner Charité.«
»Ja, mein Junge, das sagst du so. Aber ich muß in einer halben Stunde operieren, und wenn ich dann Herzklopfen von eurer Raserei habe, oder meine Hand zittert ...«
»Papa! Mein Ehrenwort! Du fährst wie in einer Wiege, du merkst überhaupt nichts von Schnelligkeit. Wenn chirurgisch etwas Neues aufkommt, versuchst du es doch auch ...«
»Ich weiß nicht«, sagte der alte Herr bedenklich. »Was meinen Sie, Hackendahl?«
»Wie der Herr Geheimrat befehlen«, sagte Hackendahl förmlich. »Aber wenn ich etwas sagen darf, in acht Minuten sind Sie auch mit mir in der Charité – und bei mir passiert nichts, bei mir ist noch nie was passiert!«
»Ja, Papa, wenn du dich freilich über Autos von deinem Droschkenkutscher beraten lassen willst ...«
Viel Kummer und Ärger hatte der alte Hackendahl an diesem Morgen schlucken müssen, aber Droschkenkutscher, das war ihm doch fast zuviel. Gottlob sagte auch gleich der Geheimrat: »Du weißt gut, mein lieber Junge, daß Hackendahl kein Droschkenkutscher ist. Und nun will ich dir etwas sagen: Ich werde mit Hackendahl fahren, und du wirst mit deinem Automobil fahren, ganz ruhig nebenher, und ich werde mir vom sicheren Port dein Schifflein anschauen, und ist es mir nicht zu stürmisch, dann darfst du mich von der Charité nach Haus fahren.«
Geheimer Sanitätsrat Buchbinder hatte milde, aber entschlossen gesprochen. Der Sohn antwortete etwas ärgerlich: »Wie du meinst, Papa«, und wandte sich zu seinem Auto.
Der alte Herr aber stieg in Hackendahls Droschke, legte die leichte Staubdecke über die Knie, rückte behaglich zurecht und sagte: »Also, dann fahren Sie langsam los, Hackendahl. Er wird uns ja mit seinen zwanzig oder vierzig Pferdekräften doch gleich einholen!«
Es war gut, daß Hackendahl solche Weisung bekam; der Schimmel war schon längst empört gewesen über das Schreckgespenst, das direkt vor ihm hielt. Gerade hatte der Chauffeur angefangen, an der Kurbel zu drehen, aus dem Auspuffrohr unter des Schimmels Nase kamen kleine, dicke, stinkende, blaue Wölkchen ...
»Sachte, Hackendahl, sachte!« schrie der Geheimrat, den es fast vom Sitz geschleudert hatte. »Fahren Sie langsam! – Sie sollen langsam fahren, Hackendahl, ich will keine Wettfahrt ...!«
Hackendahl wollte auch keine, es war nur schade, daß man dies dem Schimmel nicht begreiflich machen konnte. Das aufgeregte Tier raste die Bendlerstraße im Galopp hinunter, bog so scharf in die Tiergartenstraße ein, daß die Räder gegen die Bordkante schrammten, und ging nun, ein wenig ruhiger, aber immer noch ins Gebiß schäumend, an den grünen Rasenflächen entlang.
»Ich glaube, Sie sind des Teufels, Hackendahl!« stöhnte der Geheimrat von hinten.
»Das ist der Schimmel«, rief Hackendahl. »Der haßt Automobile.«
»Ich dachte, Sie führen nur sanfte Tiere?«
»Tu ich auch, Herr Geheimrat! Aber wenn solch ein Ding ihm direkt in die Nase stinkt und knallt!«
»Also immer langsam, keinesfalls eine Wettfahrt«, befahl der Geheimrat.
Gottlob war keine Aussicht auf Wettfahrten. Hackendahl fuhr schon um den Rolandsbrunnen, er sah sich vorsichtig um: Von dem Automobil war keine Spur zu sehen.
Kriegt den Kasten natürlich nicht in Gang! frohlockte Hackendahl bei sich. Der Geheimrat soll schon sehen, was zuverlässiger ist, ein anständiges Pferd oder solche Maschine, die immer gerade dann streikt, wenn sie am nötigsten gebraucht wird! Und er grinste, da er an den kurbelnden Chauffeur dachte.
In gutem Trab fuhren sie die Siegesallee entlang, freundlich standen die weißen Puppen im Grünen, viele sommerlich gekleidete Menschen waren unterwegs.
»Menge Leute unterwegs!« rief der Geheimrat.
»Das macht das gute Wetter«, antwortete Hackendahl.
»Und die Aufregung! Haben Sie auch schon von dem Mord in Serajevo gelesen, Hackendahl?«
»Jawohl, Herr Geheimrat. Glauben Sie, daß es Krieg gibt?«
»Krieg – wegen der Serben? Nie, Hackendahl! Sie sollen mal sehen, wie die kuschen! Wegen so was gibt es doch keinen Krieg!«
Noch in weiter Ferne tönte die Autohupe. Hackendahl hörte es, der Schimmel hatte es auch gehört, er spitzte kriegerisch die Ohren.
Hackendahl nahm die Zügel fester. »Ich glaube, da kommt Ihr Herr Sohn, Herr Geheimrat!« rief er nach hinten.
»Hat er also doch noch seinen Kasten in Gang gekriegt. Aber keine Wettfahrerei, wenn ich bitten darf, Hackendahl!«
Näher und näher tönte die Hupe, fast ununterbrochen klang ihr Schrei, Warnung und Alarm für alle Pferdeherzen. Für den Schimmel war es nur Alarm, er trabte straffer, warf den Kopf ungeduldig von rechts nach links, von unten nach oben ...
Direkt hinter ihm ging der Gummiball: tut, tut, langsam schob sich der grüne Kasten neben die Droschke, erreichte den Kutschersitz, die Hinterhand des Pferdes, den Kopf ...
Der Schimmel machte einen Satz in der Schere, dann schien die Droschke einen Augenblick stillzustehen, und nun raste der Gaul los ...
»Sie sollen nicht ...«, klang von hinten die Stimme des Geheimrates.
Das Automobil hielt sich genau neben dem Pferde, knatternd, hupend und stinkend. Obwohl Hackendahl immer nur starr geradeaus sah, immer über die Ohren des Pferdes weg, die Zügel fest in der Hand, nach allen Hindernissen ausspähend – trotzdem meinte Hackendahl das höhnische Gesicht des Chauffeurs zu sehen, dieses Verbrechers, der ihn »Genosse« angeredet hatte und der ihn ausstopfen lassen wollte! Kein Zeichen von Schwäche sollte dieser Bursche sehen – weiter, und dem Schimmel würde es schon leid werden!
Schon war die Siegessäule glücklich umrundet, da zeigte sich eine neue Gefahr in der Gestalt eines pickelhelmigen Schutzmannes. Die wilde Jagd, das galoppierende Pferd hatten seinen Unwillen erregt, in der einen Hand ein dickes Notizbuch, die andere hoch erhoben, trat er auf die Fahrbahn, Einhalt gebietend solch verkehrswidrigem Tun.
Er hatte gut gebieten, Hackendahl gehorchte jeder Obrigkeit, der Schimmel gehorchte nur dem Instinkt der Pferde, er raste weiter.
Der Schutzmann machte einen ganz unmilitärischen Schrecksatz zurück – und alles war vorüber. Weiterrasend wußte Hackendahl, er wurde aufgeschrieben, er bekam eine Strafe – er war vorbestraft!
Mit einem verzweifelten Ruck riß er den Kopf des Pferdes nach rechts in die stille Hindersinstraße, das überlistete Automobil schoß geradeaus weiter, der Schimmel machte noch zehn, fünfzehn Galoppsprünge, fiel in Trab, in Schritt ...
Hackendahl merkte, daß ihn der Geheimrat von hinten am Arm riß. »Sie sollen anhalten, Kerl! Verstehen Sie nicht?!« schrie der Alte, kirschrot vor Wut.
Hackendahl hielt an.
»Verzeihen Sie, Herr Geheimrat«, rief er aus. »Der Schimmel ist mir durchgegangen. Das Automobil hat ihn wild gemacht, der Chauffeur hat das mit Absicht getan!«
»Wettraserei!« sagte der alte Herr noch immer zitternd. »Alte Leute, und Wettfahrten!« Er stieg aus, mit zitternden Knien. »Wir sind das letzte Mal zusammen gefahren, Hackendahl. Schicken Sie mir Ihre Rechnung. Schämen sollten Sie sich!«
»Aber ich kann nicht dafür! Nicht das frömmste Pferd hielte das aus!«
Ein Hupenschrei erscholl. Von vorn kam das Automobil, das triumphierende Scheusal aus Lack und Eisen, das den Häuserblock umrundet hatte. Der abgekämpfte Schimmel stand mit hängendem Kopf, er rührte sich nicht, selbst als das Auto neben ihm hielt.
»Sie sagen, das Pferd!« rief der Geheimrat. »Aber das Pferd steht doch! Nein, Sie haben um die Wette rasen wollen, Hackendahl, nur Sie ...«
Hackendahl sagte nichts mehr, mit trübem Blick, mit gesenktem Kopf sah er den Geheimrat zu dem lächelnden Sohn in das Auto steigen. Schwer war zu tragen, was alles Gott einem rechtlichen Manne auferlegte!
Eine halbe Stunde lang hatte Frau Hackendahl mit Stemmeisen, Hammer und Zange an dem Vorlegeschloß zur Kellertür gearbeitet, sie hatte die Krampe krumm geschlagen, den Bügel verbogen, sich die Finger verletzt – aber das Schloß hatte sie nicht aufbekommen.
Nun saß sie erschöpft und verzweifelt auf einer Treppenstufe; in der Ferne, durch zwei Türen hindurch, meinte sie, den gefangenen Sohn rufen zu hören. Aber er rief umsonst, sie konnte nicht zu ihm. Wenn sie sich vorstellte, daß sie um ein nutzlos verdorbenes Schloß den schwersten Sturm bei ihrem Manne heraufbeschworen hatte, so erfaßte sie eine immer stärkere Verzweiflung.
So wie hier war es ihr in ihrem ganzen Leben ergangen: keine schlechten Vorsätze, nicht einmal weniger Mut als jeder andere, aber es gelang ihr nichts. Ihre Ehe war ihr nicht gelungen, ihre Kinder waren nicht so geworden, wie sie erhofft hatte, sie hatte das Schloß nicht aufbekommen.
Sie warf einen Blick auf dieses ekelhafte Eisenschloß. Jawohl, man hätte einen Schlosser holen können, aber man zeigte einem Fremden nicht die Schmach im eigenen Hause. Sie hätte auf den Hof gehen und an der Kellerluke horchen können – aber an allen Fenstern konnten Nachbarn sitzen und lachen, es ging wiederum nicht. Das Leben war so zugebaut, man konnte dem eigenen Mann nicht sagen, was einem zum Überdruß an ihm mißfiel. Und wenn man es ihm sagte, so hörte er nicht, und wenn er hörte, so änderte er sich nicht. Das Leben war so ausweglos, immer dasselbe, es war nicht zu ertragen, keinesfalls, und man ertrug es doch!
Man wurde dick und alt dabei, das Essen schmeckte meistens – und dann war da das Blödeste von allem, diese kleine unsinnige Hoffnung im Herzen, es könnte doch noch einmal anders werden. In diesem alten, verbrauchten, überquellenden Körper saß noch genau dieselbe Hoffnung wie in dem jungen Mädchen. Nie, nicht ein einziges, klimperkleines Mal hatte sie sich erfüllt, aber sie war da, hartnäckiger als je, sie flüsterte: Wenn du das Schloß aufbekommst und Erich frei ist, wird vielleicht doch noch alles anders!
Idiotisch – aber es war so. Es war nur dies alberne Schloß zwischen ihr und einem anderen, besseren Leben, wie es immer nur eine ganze Kleinigkeit gewesen war, die sie nicht zum Genuß ihres Daseins hatte kommen lassen. Das war das Allerschlimmste: Es waren stets nur Kleinigkeiten gewesen, niemals eine große Tragödie.
Auch ihrem Erich war kein anderes Los gefallen, über ein paar Mark sollte er zu einem halben Verbrecher und heimatlos werden, um eine Kleinigkeit. Das Leben war so erschreckend eng, es geschah rein gar nichts, wenn ein Mädel in der Nachbarschaft ein Kind kriegte, so sprach man viele Jahre davon. Kleine Leute, kleine Schicksale – sie hatte einen ungeheuer aufgeschwemmten Leib, aber der Kern in ihr, das, was sie selbst war, das war noch genau so groß wie damals, als sie eine ganz junge Auguste gewesen war, der war nicht mit gewachsen.
Sie sitzt da auf ihrer Kellertreppe, sie sieht das Schloß an, und dann schaut sie in ihren Schoß. Sie weiß, sie bekommt das Schloß nicht auf, und sie weiß, der Erich wird vielleicht darum unglücklich, vielleicht hängt er sich sogar darum auf, aber sie wird doch nicht den Otto rufen oder den Schlosser. Sie kann nicht aus sich heraus.
Sie sitzt da und grübelt. Sie hat die primitive Phantasie einer Siebzehnjährigen. Sie versucht, sich den Keller vorzustellen, ob da Haken sind und Stricke, ob er auch hoch genug ist dafür ... Aber dann fällt ihr ein, sie hat mal in der »Mottenpost« gelesen, einer hat sich an der Türklinke aufgehängt. Und nun fällt ihr ein, daß Erhängte eine blaurote, geschwollene Zunge aus dem Munde strecken und daß sie in die Hosen machen sollen ...
Da überwältigt sie der Schrecken, sie springt auf und fängt an zu schreien und schlägt mit dem Hammer gegen die Kellertür, sie trommelt und brüllt: »Tu es nicht, Erich! Tu es nicht, deiner Mutter zuliebe!«
Es ist nichts Bewußtes, was sie tut, sie hört nicht einmal, was sie schreit. Aber das gemarterte Herz in ihr quält sich, und sie tanzt herum, tanzt ihren grotesken Schmerzenstanz ... Und als Otto und Rabause erschrocken die Kellertreppe hinabstürzen und angstvoll fragen: »Was ist denn los?«, da schreit sie nur und deutet: »Er hängt sich auf! Jetzt hängt er sich auf!«
Oh, dieses Leben ist eine komplizierte Sache: Wäre Frau Auguste Hackendahl ein wenig bewußter, wacher, klüger, so würde man sagen, sie hat dieses ganze Theater bloß darum aufgeführt, damit die Männer für sie die Kellertür aufbrechen, damit sie doch ihr Ziel erreicht, nicht an der Kleinigkeit eines Schlosses scheitert. Denn ihr Geschrei, ihr Weinen, ihre Aufregung, ihre panische Angst verhindern alle Fragen, wortlos arbeiten die Männer an Schloß und Tür, und sie steht stöhnend daneben und bettelt: »Macht bloß schnell! Jetzt tut er es!«
Aber Frau Auguste Hackendahl ist nicht so raffiniert, sich so etwas auszudenken und durchzuführen. Sie fühlt wirklichen Schmerz, sie hat wirkliche Angst – und sie selbst ist die Überraschteste, als sie, nach dem Aufbrechen der zweiten Tür, den Sohn Erich ruhig auf seiner Kiste sitzen und an seinem Brotkanten kauen sieht.
»Ich dachte ...«, stammelt sie und verstummt.
Nein, nichts von Erhängen, aber da sie nun, wenn auch ohne es zu wollen, ihr Ziel erreicht hat, überläuft sie ein Glücksgefühl. Sie lehnt in der Tür; mit halb geschlossenen Augen sieht sie den Sohn an und murmelt: »Es ist schon gut, Erich.«
Die drei Befreier sehen auf den Befreiten. Fast schämen sie sich ihrer Aufregung, da sie ihn so ruhig sehen, und sie haben wie vom Tode gehetzt an den Türen gearbeitet!
»Ihr seid ja mächtig mutig, ihr drei!« sagt Erich, steht auf und streckt sich. »Siehe da, Otto, das Mustersöhnchen – das wird dir Vater gewaltig krummnehmen. Und der olle ehrliche Rabause – na, dich setzt Vater gleich auf die Straße! Und Mutter auch ...? Ja, du, Mutter ...«
Jetzt schämt sich sogar dieser kalte Mensch ein wenig und schweigt.
Alle schweigen, bis es wieder Erich ist, der zu reden anfängt. (Es ist seltsam, dieser siebzehnjährige Bengel tut so, als sei er ihnen allen an Lebenserfahrung weit überlegen, als sei er der Älteste und nicht der Jüngste, und sie akzeptieren das.) Erich also fragt: »Und was nun? Was für Pläne habt ihr mit dem verlorenen Sohn? Oder holt Vater schon das Mastkalb zum Versöhnungsschmaus?«
Jetzt wird es zuerst dem Rabause zu dumm. »Es fehlt nicht viel an der Zeit, Erich«, sagt er, »und der Chef kommt zurück. Und wem dann sein großes Maul ins Wasser fällt, den kenn ich auch!«
Spricht's und geht.
Erich lacht spöttisch, aber es klingt gezwungen, denn der nahende Vater jagt auch ihm Furcht ein. »Also, Mutter, was soll werden? Ihr werdet doch nicht so dumm gewesen sein, mich hier nur rauszuholen, und habt nichts für mich bereit? Geld? Sachen?«
Die beiden schweigen. Ja, nun stellt es sich heraus, daß sie wirklich so dumm waren. Dem Kaltsinn des Bruders gegenüber haben sie sich recht unüberlegt benommen.
»Mutter hat geglaubt, du tust dir was an ...«, sagt schließlich Otto halblaut.
Erich ist aus allen Wolken gefallen. »Ich mir was antun ...? Aber wieso denn? Wegen dem Dreck? Wegen ein bißchen Keller und achtzig Mark?! Ihr seid ja komisch!«
»Nicht wegen achtzig Mark«, sagt Otto wieder.
»Wegen was denn? Du meinst wegen Ehre und Schande und so? Was geht mich denn Vaters Ehre und Schande an? Gar nichts! Ich habe meine eigene Ehre und Schande, das heißt, ich will sagen, Schande kenne ich nicht, wenn man ein fortgeschrittener Mensch ist, existiert so etwas nicht für einen ...«
Nun hat er sich doch ein wenig verwirrt trotz seiner jungen, unreifen Selbstsicherheit. Um so zorniger sieht er die beiden an. »Also nichts habt ihr für mich vorbereitet?« fragt er noch einmal. »Dann muß ich selbst für mich sorgen – wie immer.«
Und er geht an den beiden vorbei, er geht ohne ein weiteres Wort an ihnen vorbei, den Kellergang entlang, steigt die Treppe nach oben hinauf.
Mutter und Sohn sehen einander an.
Dann sehen sie fort voneinander, sie gleichen zwei Verschwörern, die sich ihrer Schuld schämen. Die Mutter setzt sich auf die Kiste, sie nimmt das angebissene Stück Brot in die Hand, wie um sich in ihrer Niederlage zu trösten, sagt sie: »Nun braucht er kein trockenes Brot mehr zu essen!«
Aber da sie dieses sagt, kommt schon ein anderer, böser Gedanke, er löscht das bißchen Trost aus, es wird alles noch dunkler. Unsicher fragt sie zu Otto hinüber: »Und was wird er nun tun?«
Otto zuckt verlegen mit der Schulter, vielleicht hat er denselben Gedanken gehabt wie die Mutter. Er sieht gegen die Decke, als könne er durch sie hindurchsehen, hinauf in die Wohnung.
»Wenn er nun wieder stiehlt?« flüstert die Mutter.
Otto antwortet nicht.
Sie seufzt schwer; seit der Sohn wieder frei ist, ging eine Veränderung mit ihr vor. Jetzt muß er für sich selber sorgen, nun kann sie wieder an den Vater denken. »Das darf er nicht tun«, sagt sie wiederum. »Vater hat es auch schwer, Otto ...«
Otto nickt langsam.
»Bitte, geh rauf, Otto«, sagt sie. »Stell dich vor die Türe, laß ihn nicht rein. Sag, ich will ihm zehn Mark geben, nein, neun Mark, eine Mark hat die Eva bekommen für Matjes ... Mit neun Mark kann er drei Tage leben, sag ihm das, Otto, und bis dahin habe ich wieder Geld vom Vater in der Wirtschaftskasse ...«
»Ich habe auch sieben Mark.«
»Gut, gib die ihm auch. Sag ihm, er soll Nachricht schicken, wo er abbleibt. Ich sende ihm dann immer wieder was mit Bubi. Sag ihm das, Ottchen.«
»Ja, Mutter«, sagt Otto und wendet sich zum Gehen.
»Und, Otto«, ruft sie ihm nach, »er möchte doch noch mal runterkommen, mir adieu sagen. Ich kann jetzt nicht rauf. Ich habe es von der Aufregung in den Beinen. Vergiß nicht, es ihm zu sagen. Er muß mir adieu sagen. Ich bin seine Mutter, ich habe ihn hier rausgeholt.«
Otto nickt wieder und geht gehorsam. Otto ist der stumme Lastesel der Familie, er wird kommandiert und ausgeschimpft, beladen – aber nach dem, was er denkt und fühlt, fragt niemand. Auch jetzt denkt die Mutter nicht mit einem Gedanken an ihren Ältesten, sie hat das Brot in der Hand, sie sieht es an, sie beriecht es, sie befühlt es. Es ist ein gutes Brot, und es ist Brot, von dem Erich gegessen hat. Langsam, mit Genuß beißt sie davon ab. Das Kauen, der nahrhafte Geschmack, das Schlucken, das Eindringen von Nahrung in sie tun ihr gut. Der letzte Rest von Erregung verflüchtigt sich, sie ißt, also lebt sie. Sie denkt nicht mehr an den Streit, den es oben vielleicht zwischen den Brüdern geben wird, sie denkt auch nicht an die kommende Auseinandersetzung mit dem Mann – sie ißt, sie lebt.
Aber sie hat das Stück Brot noch nicht aufgegessen, da kommt Otto schon wieder. Seinem blassen, ausdruckslosen Gesicht ist nicht anzusehen, welche Botschaft er bringt.
»Nun?« fragt die Mutter kauend. »Kommt Erich?«
»Erich ist schon weg.«
»Hast du ihm denn nicht gesagt, er soll mir noch adieu sagen? Ich habe dich doch so gebeten, Otto!«
»Erich war schon weg, als ich nach oben kam.«
»Und ...?« Ungeduldig: »Nun rede doch, Ottchen – was ist in Vaters Zimmer?«
»Gottlob!« sagt sie aufatmend. »Ich sage es immer, Erich kann mal leichtsinnig sein, aber schlecht ist er nicht. Nein, schlecht ist unser Erich nicht.«
Sie wartet auf eine Bestätigung durch Otto, aber das ist zuviel von diesem Sohn erwartet.
Schließlich sagt der: »Aber die Hängelampe im Zimmer von den Schwestern hat er zerbrochen ...«
Sie wundert sich. »Warum soll Erich die denn zerbrochen haben?! Sei bloß nicht dumm. Ottchen! Das hat natürlich Doris beim Reinmachen getan, aber warte, das ziehe ich ihr am Ersten vom Lohn ab!«
»Bubi hat uns mal erzählt, die Eva bewahrt ihr Erspartes im Gewicht von der Hängelampe auf.«
»Die Eva? Bubi? Woher weiß Bubi denn das? Und wieso denn im Gewicht? In einem Gewicht kann man doch nichts aufbewahren.«
»Das Gewicht ist hohl, man kann es aufschrauben.«
»Aber ...« Sie versteht es noch immer nicht. »Aber warum zerbricht er dann die Lampe?«
»Ich muß mit den Pferden noch in die Schmiede«, sagt Otto. »Es ist sicher, Erich hat Evas Geld genommen, und dabei ist ihm die Lampe runtergesaust und zerbrochen.«
»Ich gebe es Eva wieder!« ruft die Mutter. »Was kann Eva viel gehabt haben? Ein paar Schmugroschen vom Haushaltsgeld! Sie soll bloß kein Geschrei machen, sag ihr das gleich, Ottchen.«
»Ich muß jetzt mit den Pferden in die Schmiede, Mutter«, antwortet Otto. »Und Eva hat über zweihundert Mark gehabt, hat Bubi erzählt ...«
Damit geht Otto und läßt die Mutter in neuer Sorge zurück.
Eva hatte es nicht eilig gehabt mit ihrem Matjeskauf, sie war durch den schönen Junivormittag gebummelt, am Schloß vorbei, wo die Leute schon wieder in dicken Klumpen standen, auf den Kaiser wartend ...
»Doof sind die!« entschied Eva. »Es weht ja keine Kaiserstandarte vom Schloß. Seine Majestät ist doch auf Nordlandfahrt – die werden sich schön die Beine in den Bauch stehen!«
Dann war sie über die Linden gegangen, war in die Friedrichstraße eingebogen und, langsam immer weiter bummelnd, war sie bis zum Warenhaus von Wertheim gekommen.
Eva hatte nur ihre eine Mark bei sich, sie hatte nicht die Absicht, etwas bei Wertheim zu kaufen. Aber sie ging und sah, sah und ging. Ihre Augen leuchteten: Dieser Anblick von Seide und Samt, diese Überfülle, dieser quellende Reichtum berauschten sie. Treppauf und treppab lief sie, wie sie ihr Einfall führte. Am Ende war es gleich, ob sie Kleider oder Porzellan, ob Thermosflaschen oder Hüte ansah. Nicht das einzelne berauschte sie, sondern die Fülle, Prunk und Reichtum – siebenhundert Bilder, Hunderte von Servicen ...!
Schließlich hatte sie sich in stillere Bezirke verloren, weniger Menschen waren um sie, das Licht schien gedämpfter. Sie war in der Schmuckwarenabteilung. In den Vitrinen glänzte es matt und heller, sie beugte sich über die Kästen, sie atmete rascher. Sanfter Schein von Gold, blaues und grünliches Blitzen von Brillanten – sie schossen ihre kleinen Strahlenbündel direkt in sie hinein –, oh, so etwas einmal zu besitzen! Uhren über Uhren, aus Gold, so zierlich, so klein! Ganz schmale Ringe, aber mit einem Stein, größer als eine Erbse! Silbertabletts, mit aufgelegten Ranken, man sah förmlich, wie schwer sie waren – und sie konnte mit all ihrer Schlauheit an den Matjesheringen höchstens zwanzig Pfennig Schmu machen!
Sie seufzte schwer.
»Na, Frollein«, sagte eine recht freche Stimme neben ihr. »Janz hübsche Schosen, wat?«
Sie sah hoch, mit all der Abwehrlust, die in jedem Großstadtmädchen bei jeder überraschenden männlichen Anrede wach wird. Aber gleich wurde sie unsicher. Der junge Mann mit dem schwarzen Bärtchen, der da neben ihr an der Vitrine stand, konnte auch ein Verkäufer sein. Er trug weder Kreissäge noch Panama, und 1914 trugen die Männer alle einen Hut auf dem Kopf, oder doch wenigstens in der Hand.
»Ich kaufe nichts«, sagte sie für alle Fälle abweisend.
»Wat macht denn det?« fragte der Jüngling wieder mit seiner frechen Stimme, bei der es sie wie Abwehr und doch nicht unangenehm überlief. »Ansehen kostet nischt und macht Vajniejen. Aber, Frollein«, sagte er überredend, »nu stellen Se sich mal vor, ick bin der dicke Wertheim – sicher isser dick! –, un Sie sind mein Frollein Braut. Un ick sare zu Ihnen: ›Such dir mal aus, mein Schatz, wat dein Herz bejehrt.‹ Wat würd'ste dir denn da aussuchen, Mächen?«
»Sie sind ja komisch«, sagte Eva. »Was fällt Ihnen denn ein, mich so einfach zu duzen?«
»Aba, Frollein – ick habe Ihnen doch jesacht, ick bin der dicke Wertheim, un Sie sind meine Braut – zu seine Braut sacht man doch du ...«
»Sie haben wohl Quasselwasser getrunken, daß Sie auf nüchternen Magen soviel reden?! Wieso sind Sie denn so aufgeregt?«
»Icke aufgeregt? Nich de Bohne! De Aufrejung kommt noch, aba bei de andern! – Also, Frollein, wie is et mit 'nem kleinen Brillantschmuck, vorne lang mit 'ne Bommel un hinten mit 'ne Schließe aus Brillanten?«
»Das ist doch bloß was für 'ne Olle«, sagte Eva amüsiert, obwohl sie fühlte, daß mit dem jungen Mann nicht alles in Ordnung war. »Nein, wenn ich was möchte, dann möcht ich so'nen Brillantring, dort im Kasten sind sie ...«
Sie ging weiter, an einem Verkäufer vorbei, der sich gelangweilt seine Finger beschaute, denn daß dies Pärchen keine Kundschaft wurde, war klar. »Sehen Sie, so ein Ring ...«
»Ganz hübsch, det Dingelchen«, sagte der Jüngling gönnerhaft. »Aber, Frollein, wenn Sie meine Braut wären, würd ick Ihnen so'nen Tinnef nich schenken ...«
»Das glaube ich!« lachte Eva. »Soviel Goldfüchse, wie der kostet, haben Sie nicht Haare in Ihrem Bart!«
»Hab ick nich? Na, denn will ick Sie mal sagen, Frollein, det Sie mir mit Ihrem Brillantenverstand leid tun können. Det is nämlich bloß Simili, det is bloß Tinnef, det is ein Diamant aus Jlas, verstehn Sie nu?«
»Reden Sie doch keinen Kohl ...«
»Die richtigen Sachen will ick Ihnen mal zeigen, Frollein, sehn Se hier, in diesem Kasten, det sind Steine! Kieken Se mal den hier, der so jelblich aussieht, un wenn Se von der Seite kieken, denn blitzt er rot – der hat seine sieben Karat, und lupenrein! Und der hier ...«
»Reden Sie sich bloß nicht in Brand!« spottete Eva, war aber schon angesteckt von der Begeisterung des jungen Mannes.
»Und dieser hier – Jott, Frollein, wat hier im Kasten liecht, wenn Sie und icke, wenn wir det hätten ...«
»Wir haben's aber nicht! Und wir kriegen's auch nicht!«
»Det saren Se nich, Frollein! Manchmal kommt es anders, un manchmal, als man denkt. – Ne schöne Markttasche haben Se, da jeht wat rin. Und wenn Se mal loofen müssen, denn loofen Se ooch, wat haste, wat kannste ...?«
»Was quasseln Sie denn so komisch?« fragte Eva argwöhnisch. »Sie haben doch nicht schon einen gehoben?«
»Sehn Se da den Verkäufer, Frollein?« fragte der Mann mit einer vor Aufregung ganz heiseren Stimme. »Der pennt jleich in. Können Se de Uhr über seinem Kopp erkennen? Wat is denn de Uhr? Ick habe nämlich so'ne schlechten Oojen. Nee, so müssen Se sich stellen, wenn Se de Uhr sehen wollen ...«
Von der Aufregung des Mannes ging etwas Ansteckendes aus. Fast wider Willen stellte sich Eva so, wie er ihr gesagt hatte, die Uhr war wirklich schlecht zu erkennen, sie kniff die Augen ein ...
Neben sich hörte sie ein Prasseln, ein Klirren ... Sie sah den Verkäufer schreckhaft zusammenfahren, auch sie fuhr herum ...
»Loof, Mächen, loof!« rief die heisere Stimme direkt neben ihr ...
Wie ein Schattenbild, wie etwas ganz Unwirkliches sah sie die zertrümmerte Scheibe der Vitrine, eine Hand, die schmuckgefüllt herauskam ...
»Renne doch, Dumme!« rief er wieder und stieß sie direkt gegen den hinzueilenden Verkäufer. Der Verkäufer griff nach ihr. Ohne zu wissen, was sie tat, schlug sie nach ihm, lief, mehr Menschen kamen, sie huschte um eine Vitrine, stolperte eine Treppe mit fünf, sechs Stufen hoch, warf eine Schwingtür auf ...
Hinter ihr schrien jetzt viele Stimmen: »Haltet den Dieb!«
Eine Glocke schrillte ...
Sie war in der überfüllten Lebensmittelabteilung. Erschreckende Gesichter sahen ihr entgegen. Jemand faßte nach ihr, aber sie wich der Hand aus, sie schob sich hinter eine dicke Frau, kam in einen anderen Gang, ein Stoß Konservenbüchsen verdeckte sie ...
Sie lief, hier war eine Treppe, sie warf die Tür zur Treppe auf, huschte die Treppe hinunter, ein Stockwerk, zwei Stockwerke tiefer ...
Sie stand und lauschte. Kamen sie? Wurde sie verfolgt? Warum war sie geflohen? Sie hatte doch nichts getan! Dieser ekelhafte Kerl – solche Unverschämtheit, ausgerechnet sie als Schutzschirm für seinen Diebstahl zu benutzen! Dieser Verbrecher!! Wenn sie ihn je wiedersieht, wird sie schreien, sie wird die Leute zusammenbrüllen, die Schutzmänner sollen ihn an die Kette legen – und dann wird sie ihm in sein freches Gesicht lachen! Sie, die vollkommen Schuldlose, in seine Schmutzereien zu ziehen! Ist so etwas erhört?!
Ein schwerer Schritt kommt langsam die Treppe hinunter – und sie flüchtet wieder. Sie stößt die Schwingtür auf, geht langsam durch ein paar Abteilungen und kommt dem Ausgang nahe. Aber plötzlich überfällt sie eine Angst, sie ist ja kenntlich, sicher ist ihre Beschreibung schon allen Portiers telefoniert, sie hat ja die Markttasche aus schwarzem Wachstuch! Warum sieht die Verkäuferin sie dort so an?
Sie bezwingt sich. Ich habe doch nichts getan, beruhigt sie sich. Sie fragt die Verkäuferin: »Frollein, wo ist denn hier die Toilette?«
Die Verkäuferin sagt ihr Bescheid, sie geht schon zur Toilette, aber dann überlegt sie es sich anders. Die Treppe, die gute Treppe von der Lebensmittelabteilung hat sie schon einmal gerettet, lieber geht sie zu ihr zurück!
Die Treppe ist jetzt belebt; Leute gehen aufwärts und abwärts. Aber sie hat Geduld. Sie setzt den Fuß auf eine Stufe und knotet an ihrem Schuhband ...
Dann ist sie endlich unbeobachtet, sie nimmt die Markttasche. Sie weiß natürlich, daß innen auf das Futter der Name »Hackendahl« geschrieben ist, den muß sie ausreißen!
Aber sie hält inne! Es leuchtet sanft in der Tasche, es blitzt, es strahlt ...!
Sachte setzt sie die Tasche auf die Treppe hin – oh, dieser Schurke, dieser Lump! Er hat sie völlig zu seiner Mitschuldigen gemacht, er hat einen Teil seiner Beute in die Tasche geworfen – wenn man sie gefaßt hätte! Nie hätte sie sich freischwatzen können! Ach, wenn sie ihn nur hier hätte, ihn mit seinem quasseligen Gerede von Markttasche und Laufen – so ein Schwein!
Jemand kommt eilig die Treppe herunter. Sie späht: Es ist ein Mann in der braunen Uniform des Warenhauses. Sie knüpft an ihrem Schuh; sie hat rasch ihren faltigen Rock über die Tasche gebreitet ...
Der Uniformierte sieht sie von der Seite an – hat er sie argwöhnisch angesehen? Jedenfalls wird es höchste Zeit, aus dem Haus zu kommen. Es müssen jetzt mindestens zehn Minuten seit dem Diebstahl vergangen sein, wahrscheinlich steht schon Polizei an allen Türen ... Kaum hat sie die Schwingtür unten klappen gehört, stopft sie den Schmuck in die Tasche ihres weißen Unterrocks. Sie hält sich nicht damit auf, ihn näher anzusehen, und nur als sie den Brillantring mit dem gelblichen Stein faßt, lächelt sie. So ein ausgekochter Lump!
Dann reißt sie den Namen aus und geht ohne Tasche. Geht durch das Erdgeschoß, an den Verkaufstischen, deren Glanz blaß und gewöhnlich geworden ist, vorüber, an dem Portier vorbei, mit dem Strom der Besucher auf die Straße hinaus ...
Draußen. Gerettet! Frei!
Als die Jungen zur Elf-Uhr-Pause auf den Hof des Gymnasiums kamen, sahen sie natürlich die Droschke erster Güte draußen halten. Keiner beachtete sie, Porzig bloß, der bekannte Hämling, konnte sich nicht entbrechen, vernehmlich zu bemerken: »Konkurrenz unseres geliebten Bubi! Hackendahl, nimm die Hacken dahl vor so viel väterlicher Pracht! Hackendahl, dekliniere equus, der Zosse ...«
»Stänkere nicht, Porzig!« warnte Hoffmann.
»Es ist sogar meines Vaters Wagen!« sprach Heinz Hackendahl. »Denkst du, deswegen schäme ich mich?! Keine Bohne!«
»Siehe da!« rief Porzig und imitierte den Lehrer des Griechischen. »Traun fürwahr, Hackendahl! Und beruht das Gassengerücht auf Wahrheit, daß der Kaiserliche Marstall mit Eurer väterlichen Gestrengen wegen Ankauf jenes schimmernden Rosses in Verhandlung steht?«
Der Schimmel, der Liebling des Vaters, sah wirklich ungewöhnlich kläglich aus. Nach der Jagd am Vormittag war er nur noch die Ruine eines Pferdes. Die Jungen der Obertertia sahen erst auf das Pferd, dann auf die beiden Gegner. Heinz Hackendahl und Hermann Porzig waren geschworene Feinde, ihre ständigen Plänkeleien erfrischten die Klasse.
»Krächze nicht, Hermann, mein Rabe«, bemerkt Bubi Hackendahl kühl. »Die Porzen sind stinkende Cojoten – beim Kriegsgeschrei verkriechen sie sich in die Wigwams der Squaws!«
(Dies war eine Reminiszenz aus dem geliebten Karl May.)
»Wir sehen nirgend den glänzenden Lackpott unseres Patris equorum, dieser Zierde der Droschkenfahrer-Gilde!« rief Porzig mit gut gespielter Besorgnis. Der Kreis der zuhörenden Jungen hatte sich wesentlich vergrößert und stachelte die Phantasie des Spötters. »Wo weilt er? Warum schützt er den Zossen nicht vor den Schlingen der Wurstschlächter? Kippt er etwa – traun fürwahr! – in einer Stehbierhalle ein Kümmelchen? Sprich, legitimer Sohn einer Droschke!«
Es war ein unausrottbares Märchen auf der Penne, daß der Alte Fritz seinem Kammergericht einen silbernen Nachttopf übermacht hatte – in Wut über das Urteil seiner Räte: für den Müller, gegen den König. Hermann Porzig war der Sohn eines Kammergerichtsrats, also antwortete Heinz Hackendahl: »Der glänzende Lackpott meines Vaters erblaßt vor dem Silberschein eines königlichen Nachtgeschirrs. – Ist es wahr, daß dein Vater dieses Gnadengeschenk jeden Sonnabend zu scheuern hat – und du darfst auf die Bürste spucken, Edeling?«
Ein Schauer des Schreckens ging durch alle beim Anhören einer so schweren Beleidigung. Wirklich lief Porzig sofort rot an – er teilte Spott leichter aus, als er ihn ertrug.
»Nimm den Nachtpott zurück!« schrie er. »Er ist eine Beleidigung des ganzen Kammergerichtes.«
»Nie!« rief Heinz Hackendahl. »Du hast meinen Vater beleidigt!«
»Du aber das Kammergericht! Revozierst du?«
»Nie!«
»Es ist also Schuß?«
»Schuß!«
»Schiß?«
»Schiß!«
»Verschiß?«
»Großer Verschiß – bis einer um Gnade bittet!« beendete Heinz den traditionellen Herausforderungsgesang der Penne. Er sah sich um. »Hoffmann, du bist mein Sekundant!«
»Laßt es für nachher!« bat der besonnene Hoffmann. »Wir haben nur noch drei Minuten Zeit.«
»In einer Minute winselt er!«
»Sein ungereinigter Pestatem soll uns nicht die Mathese verpesten!«
Sie hatten sich schon ihrer Jacken entledigt, beide brannten auf den Kampf.
»Eins! Zwei! – Drei!« riefen die Sekundanten. Mit winklig gebogenen Armen näherten sich die Streiter einander, tasteten sich ab, faßten sich, lehnten Brust an Brust, Stirn gegen Stirn – und einen Augenblick später rollten sie im Sande des Schulhofs.
»Nehmen Sie eine jugendliche Unbesonnenheit nicht zu schwer, Herr Hackendahl«, hatte oben in seinem Studierzimmer der Direktor den besorgten Vater gebeten. »Der Satz: ›Jugend hat keine Tugend‹ gilt heute mehr denn je.«
»Geld stehlen ist nicht unbesonnen, es ist schlecht«, hatte Hackendahl widersprochen.
»Der heutigen Jugend ist ein Hang zur Genußsucht eigen, der unserer älteren Generation fremd war«, dozierte der Direktor. »Eine lange Friedenszeit hat die jungen Leute schlaff gemacht ...«
»Wir müßten wieder einmal einen ordentlichen Krieg haben«, rief Hackendahl.
»Um Gottes willen! Nein! Ahnen Sie denn, welch schreckliche Ausmaße ein moderner Krieg nehmen könnte?!«
»Wegen solch einem Völkchen auf dem Balkan? Das ist in sechs Wochen ausgestanden – und hat den jungen Leuten doch gutgetan. Wie ein Stahlbad.«
»Die ganze Welt liegt voller Zündstoff«, antwortete der Direktor. »Alles schaut mit Neid auf das immer stärker werdende Deutschland und unsern Heldenkaiser. Die ganze Welt würde über uns herfallen.«
»Wegen ein paar Serben, die man kaum auf der Landkarte findet?!«
»Unseres wachsenden Reichtums wegen! Unserer Stärke wegen! Wegen unserer Kolonien! Wegen unserer Flotte! – Nein, Herr Hackendahl, es ist, verzeihen Sie, fast ein Frevel, sich einen Krieg zu wünschen, bloß weil der Sohn eine Dummheit begangen hat.«
»Er müßte militärische Zucht haben!«
»In knapp einem Jahr hat er sein Abiturium gemacht, dann können Sie ihn sofort dienen lassen«, sagte der Direktor überredend. »Nehmen Sie ihn jetzt nicht übereilt aus der Schule, aus einem Bildungsgang, der ihm alle Möglichkeiten erschließt.«
»Ich werde es mir überlegen«, sagte Hackendahl widerstrebend.
»Überlegen Sie nicht länger!« rief der Pädagog dringend. »Sagen Sie gleich ja! Versprechen Sie es mir.«
»Ich muß erst sehen ...«
»Eben das sollen Sie nicht. Wenn Sie ihn erst sehen, in seinem Eigensinn, in seinem Trotz, werden Sie wieder anderen Sinnes werden. Wie konnten Sie ihn aber auch in einen Kohlenkeller sperren – ist das denn Pädagogik ...?!«
»Mich hat man in meiner Jugend auch nicht mit Glacéhandschuhen angefaßt, und ich habe nie Geld gestohlen!«
»Sind Sie denn ein Strafrichter, oder sind Sie ein Vater? Sie werden sich auch schon verbotene Wünsche erfüllt haben. Wir Menschen sind alle schwach und ermangeln des Ruhmes – nun, das wissen Sie selbst. Also sagen Sie ja.«
»Wenn er um Verzeihung bittet!«
»Herr Hackendahl! Wird er denn jetzt um Verzeihung bitten, jetzt, wo Sie ihn aus dem Kohlenkeller herauslassen?! Man muß doch das Erreichbare verlangen!«
Der eiserne Gustav stand schwankend. Von dem Schulhofe her drang verworrenes Getöse.
Der Direktor sagte halblaut: »Es ist möglich, daß Erich als Erster sein Abitur macht – Primus omnium sagen wir dafür. Erster von allen – es ist ein hoher Ruhm!«
Gustav Hackendahl lächelte. »Mit Speck fängt man Mäuse, Herr Direktor, nicht wahr? Na schön, will ich einmal sehenden Auges in die Falle gehen. Der Junge kommt morgen wieder zur Schule.«
»Das ist ein Wort, Herr Hackendahl!« rief der Direktor erfreut und reichte dem Vater die Hand. »Sie werden es nicht bereuen ... Was ist das für eine Ungehörigkeit?!«
Er fuhr herum und lief zum Fenster. Ein brausendes Geschrei drang vom Schulhof herein, brüllende, johlende, schreiende Jungenstimmen!
»Evoe Hackendahl! Hackendahl hoch!«
Porzig hatte um Gnade gebeten, Bubi war Sieger. Im »Schwitzkasten« fast erstickt, konnte Porzig nur röcheln.
»Du nimmst den Lackpott zurück? – Den Zossen? – Die Pferdewurst? – Stehbierhalle und Kümmelchen? – Alles?«
Porzig grunzte jedesmal nur, der Kreis tobte Beifall.
»Es scheint«, hüstelte der Direktor am Fenster, »ein kleiner Streit des anderen Sohnes Hackendahl zu sein. Nein, wir wollen uns nicht am Fenster sehen lassen – oft ist es besser, den Anschein zu erwecken, daß man nichts gesehen und nichts gehört hat.«
»Der verfluchte Bengel hat sich die Hose zerrissen«, brummte hinter der Gardine Hackendahl. »Ewig reißt er sein Zeug entzwei, und seine Mutter darf flicken.«
»Die Begabungen Ihres Sohnes Heinz liegen auf anderem Gebiet«, meinte der Direktor. »Ich möchte sagen, er ist lebenspraktischer. Man müßte vielleicht einmal überlegen, ob nicht ein Realgymnasium das Richtigere für ihn ist. Sie haben zwei gut veranlagte Söhne ...«
»Es ist komisch, daß mein Dritter gar nichts abbekommen hat«, sagte Hackendahl. »Der ist bloß 'ne Suse; wo man ihn hinstellt, schläft er ein.«
»Er wird auch seine Begabung haben«, meinte der Direktor tröstend. »Man muß nur suchen. Suchen und fördern.«
»Bloß 'ne Suse«, wiederholte Hackendahl. »Keinen Kummer macht er mir, aber auch nie eine Freude. Es ist schon ein Kreuz!«
Otto Hackendahl hatte die beiden Pferde dem Schmiedeknecht übergeben, ging nun eilig weiter, trotzdem er wußte, daß er gegen ein Gebot des Vaters verstieß: Hackendahl verlangte, daß man dem Schmied beim Beschlagen auf die Finger sah, sonst war rasch ein Huf zu tief ausgeschnitten oder ein Nagel falsch eingeschlagen.
Aber Otto hatte auch seine Heimlichkeiten, und wenn er duckmäuserig und susig war, so war er doch nicht so susig, wie sein Vater meinte. Er überließ die Pferde dem Schmied, auf zwanzig gut beschlagene kam höchstens ein vernageltes, es brauchte nicht heute zu geschehen.
Er geht eilig die Straße hinunter, und schon wie er geht, wohl eilig, aber dicht an den Hauswänden, dem Blick jedes Vorübergehenden ausweichend, zeigt sich, daß mit ihm nicht alles in Ordnung ist. Eigentlich ist er ein großer, stattlicher Mensch, der kräftigste der Brüder, kräftiger als der Vater, aber er hat keine gute Haltung, er ist ohne Energie und Selbstbewußtsein, ihm fehlt jeder Eigenwille. Es ist vielleicht wirklich, wie er zur Mutter gesagt hat: Sein Vater hat am längsten mit ihm exerziert. Darüber brach sein Eigenwille entzwei. Aber es ist wohl auch so, daß dieser Wille nie stark war: Ein kräftiger Baum wächst gegen die Winde an, einen schwachen knicken sie.
Otto schlenkert ein Paketchen in der Hand, dann merkt er, daß er damit schlenkert, und versteckt es unter dem Arm, als sei es Diebsgut. Er biegt in eine andere Straße, überquert sie und geht, sich scheu umsehend, in einen Torweg. Er überschreitet einen Hof, durchschreitet einen neuen Torweg, kommt über einen zweiten Hof, und fängt eilig an, eine Treppe zu erklettern.
Er steigt ins erste Stockwerk hinauf, ins zweite, er klettert immer weiter. Er muß hier Bescheid wissen, er sieht die Schilder an den vielen Türen nicht an. Immerzu begegnen ihm Menschen, aber die Menschen beachten ihn nicht – Otto Hackendahl hat Schutzfarbe, Mimikry, man merkt ihn kaum, so farblos ist er.
Nun bleibt er vor einer Tür stehen. Er sieht das Schild, auf dem »Gertrud Gudde, Schneiderin« geschrieben steht, nicht an. Er drückt auf den Klingelknopf, ein-, zweimal. Drinnen rührt es sich, er hört Bewegung, eine Stimme, nun lacht ein Kind, Otto lächelt.
Jawohl, er kann lächeln, nicht nur das Gesicht verziehen, sondern richtig lächeln, weil er sich nämlich glücklich fühlt. Und er lächelt noch stärker, als die Tür aufgeht, ein stolperndes Kind gegen seine Beine läuft, selig schreit: »Papa! Papa!«
Eine Frau sagt: »Du bist heute aber spät dran, Otto. War was los?«
»Und ich muß in einer Viertelstunde wieder fort, Tutti«, sagt er, beugt sich über ihren Mund und küßt ihn. »Ich habe die Pferde in der Schmiede stehenlassen – ich muß gleich wieder hin. Ja, ja, Gustäving, Papa ist ja da! Hast du schön geschlafen?«
Das Kind ist selig, er schwingt es hoch, es lacht und jauchzt. Auch die Frau lächelt, Gertrud Gudde, Schneiderin – der Direktor des Gymnasiums hat recht gehabt: Niemand ist so ohne alle Gaben, daß er nicht Glück geben kann.
Gertrud Gudde, die Arme, Kleine, Verwachsene mit der zu hohen Schulter, mit dem scharfen Gesicht, aber dem sanften Taubenblick vieler Buckliger – Gertrud Gudde, kleine, mühsame Schneiderin, sie kennt ihren Otto genau, in seiner Schwäche, seiner Entschlußlosigkeit, der Angst vor dem Vater, aber auch in seinem Verlangen, Glück zu geben.
»Aber: Was war los bei euch?« fragt sie. »Erzähl, Otto, es wird schon nicht so schlimm sein.«
»Ich habe dir auch wieder Schnitzarbeiten mitgebracht«, sagt er. »Templin wird dir ungefähr zehn Mark dafür geben.«
»Du sollst aber nicht die halben Nächte sitzen und schnippeln! Ich schaffe es auch schon so – heute habe ich vier Anproben!«
»Ja, du!« sagt er. »Gustäving – haben wir nicht eine großartige Mutti?«
Das Kind ruft und jauchzt – die Mutter lächelt. Ach, die beiden im Leben zu kurz Gekommenen, er mit dem schwachen Willen, sie mit dem verkrüppelten Körper – hier zu zweien, nein, zu dreien, in Küche und Stube, allein für sich, geben und empfangen sie so viel Glück!
»Komm, einen Augenblick kannst du dich hinsetzen. Ich habe noch Kaffee für dich, hier sind Schrippen. Los, iß! Gustäving zeigt dir unterdes, wie er turnen kann.«
Gehorsam tut er, was sie sagt. Sie hält immer irgend etwas für ihn bereit, er kann kommen, wann er will. Es ist dann so, als seien sie richtig Mann und Frau. Und er versteht das, versteht es ohne ein Wort, er ißt immer, sagt nie nein – auch wenn er noch so satt ist.
Gustäving zeigt seine kleinen Kunststücke, die Mutter ist noch stolzer darauf als der Sohn. Die Mutter, die der gerade Rücken, die festen Beine des Kindes glücklich machen, sie, die fast keinen Tag ihres Lebens schmerzfrei verbracht hat ...
»Und nun erzähle, was bei euch los war ...«
Er berichtet, langsam und schwerfällig. Aber Gertrud Gudde versteht ihn, sie liest in seinem Gesicht.
Und dann – sie kennt ja alle, von denen er erzählt: die Mutter, den Erich, Eva und den gefürchteten grimmigen Vater, den eisernen Gustav, auch. Sie kommt dann und wann als Hausschneiderin zu den Hackendahls, schon seit vielen Jahren, so haben sich Otto und sie kennengelernt, liebengelernt. Ohne daß je ein anderer etwas merkte, selbst nicht die listige Eva. Gertruds lebhaftes Gesicht spiegelt alles wider, was er erzählt, mit abgerissenen Ausrufen begleitet sie seine Worte: »Sehr gut. Ottchen!« – »Das war richtig, was du da gesagt hast!« – »Und du hast das Schloß gleich aufgebracht? Großartig!«
Er sieht sie an, jetzt ist er frei, er hat nun selbst das Gefühl, als habe er einiges verrichtet, er, der Getriebene, der zwischen den Mühlsteinen Zerriebene.
»Aber was wird Vater sagen, daß Erich weg ist?« fragt er schließlich. »Und Eva, die so geizig ist, was wird die für ein Geschrei machen?!«
»Eva ...?! Eva kann ja gar nichts sagen, wenigstens zum Vater nicht. Es ist ja alles gestohlenes Geld, sie würde sich bloß selbst verraten! Nicht wahr?«
Er nickt langsam, jawohl, das versteht er.
»Aber der Vater – wegen Erich?« fragt er noch einmal, hoffend, daß sie ihm auch diese Last erleichtern wird.
Sie sieht ihn nachdenklich an mit ihrem sanften Taubenblick.
»Der Vater«, sagt sie – und die Gestalt des eisernen Gustav, die immer über ihrem kleinen Leben steht, richtet sich groß hinter ihnen auf. »Der Vater«, sagt sie und lächelt, ihm Mut machend, »der Vater wird sehr traurig sein – auf Erich ist er doch immer am stolzesten gewesen. Sag kein Wort gegen Erich, auch nicht, daß er Evas Geld genommen hat. Es wird dem Vater schon so schwer genug sein. Und gib ruhig zu, daß du die Schlösser aufgemacht hast, sag, hör zu, Otto, merk dir das, sag ihm: ›Ich hätte dich ja auch aus jedem Keller rausgeholt, Vater!‹ – Behältst du das?«
»Ich hätte dich ja auch aus jedem Keller rausgeholt, Vater«, wiederholt er schwerfällig. Und dann: »Aber das ist ja wahr, Tutti, das stimmt genau: Ich hätte Vater doch nicht eingesperrt gelassen!«
Er blickt sie freudig an.
»Siehst du, Otto! Ich sage ja nur, was du selbst denkst, du kannst es nur nicht so ausdrücken.«
»Aber was wird Vater dann tun, Tutti?«
»Das kann man nicht wissen, Otto, bei Vater kann man es nie genau wissen, weil er jähzornig ist ...«
»Vielleicht schmeißt er mich raus. Und was dann? Sollst du mich auch noch satt machen?«
»Aber, Otto, du bekommst doch jede Stunde Arbeit! Du gingst den Tag über in eine Fabrik als ungelernter Arbeiter oder auf einen Bau als Handlanger ...«
»Ja. Das könnte ich wohl. Doch, das ginge.«
»Und wir wohnten ganz zusammen, und dein Vater müßte dir deine Papiere geben, und wir könnten ...«
»Nein, das nicht. Ohne Vaters Willen heirate ich nicht. Es steht in der Bibel ...«
Es ist seltsam, dieser schwache Mensch ist in einem Punkt unnachgiebig: Er will nicht gegen den Willen des Vaters heiraten. Zu Anfang ihrer Liebe hat sie ihm viele Male gesagt, daß er sich die notwendigen Papiere hinter des Vaters Rücken besorgen kann, sie wird das Aufgebot bestellen. Was ändert denn eine standesamtliche Trauung, wie kann sie dem Vater weh tun, der doch nichts von ihr erfährt ...?!
Aber nein! Hierin ist er unerschütterlich. Aus dem Religionsunterricht der Volksschule, aus der Konfirmandenlehre bei Pastor Klatt, aus den Urgründen seiner dunklen, trüben Seele kommt ihm das Gefühl: Es bringt Unheil, ohne des Vaters Segen zu heiraten. Er braucht des Vaters Segen. An den die anderen nie denken.
Und sie weiß das, sie hat auch das verstanden. Sie hat begriffen, daß in der Brust dieses einen verachteten Sohnes der Vater nicht nur der Gott der Rache, sondern auch der Liebe ist – daß dieser verachtete Sohn den Vater am stärksten liebt. Daß sie trotzdem immer weiter hofft auf die Trauung, nicht ihret-, sondern Gustävings wegen, der schon den Vornamen vom Großvater trägt, aber auch einmal seinen »ehrlichen« Namen bekommen soll – das kann ja nicht anders sein.
Darum ersehnt sie die Trauung. Nur darum! »Könntest du es dem Vater nicht wenigstens einmal andeuten, Otto?« hat sie oft gesagt. »Sprich doch wenigstens einmal mit mir vor seinen Augen, wenn ich bei euch auf Arbeit bin.«
»Ich will es versuchen, Tutti«, hat er geantwortet und hat doch nie auch nur einen Ansatz zum Sprechen gemacht.
Dies ist der einzige Punkt, in dem sie mit ihm nicht einig ist, den sie immer wieder zur Sprache bringt, obwohl sie weiß, daß sie ihn damit quält. Sie will es gar nicht, aber dies kommt ihr stets von neuem auf die Zunge, wie jetzt eben, ganz ohne daß sie es wollte.
Rasch sagt sie darum: »Nein, du hast recht. Grade jetzt wäre es falsch, wo Vater so viel andere Sorgen hat.«
Sie sieht vor sich hin. Schüchtern kommt seine Hand über den Tisch zu ihrer hin. »Du bist doch nicht böse?« fragt er ängstlich.
»Nein, nein«, versichert sie eilig. »Nur ...«
»An was denkst du?« fragt er, als sie nicht weiter spricht. »Ich denke an den ermordeten Prinzen von Österreich«, sagt sie, »und daß die Leute meinen, es gibt Krieg ...«
»Ja ...?« fragt er verständnislos.
»Du müßtest doch mit in den Krieg, nicht wahr?«
Er nickt.
»Otto«, sagt sie eindringlich und drückt seine Hand. »Otto – würdest du denn auch in den Krieg gehen, ohne mich geheiratet zu haben? – Oh, Otto, ich sage es nicht meinetwegen! Aber Gustäving würde ja nie einen Vater gehabt haben, wenn dir etwas geschähe ...«
Er sieht nach dem friedlich spielenden Kind hin.
»Wenn es einen Krieg gibt, Tutti, dann heirate ich dich«, sagt er. »Das verspreche ich dir.« Er sieht das Leuchten ihrer Augen, er sagt schwach: »Aber es gibt ja keinen Krieg ...«
»Nein! Nein!« ruft sie hastig, selber erschrocken von den eigenen Wünschen. Nur das nicht! Nicht um den Preis!
Wie alle Abende hatte der eiserne Gustav auf seinem Fuhrhof gestanden, hatte mit den heimkehrenden Tagesdroschken abgerechnet und die Nachtdroschken zur Arbeit hinausgeschickt, wie alle Abende. Vielleicht war er noch ein wenig wortkarger als sonst gewesen, aber darauf war nicht viel geachtet worden heute, in der allgemeinen Aufregung. Denn aufgeregt waren die Droschkenkutscher an diesem Abend.
»Es gibt Krieg!« hatten die einen gesagt.
»Quatsch!« hatten die anderen gerufen. »Der Kaiser ist gleich wieder von Kiel weiter gedampft – der würde hübsch nach Berlin kommen, wenn es Krieg gäbe!«
»Aber die Kieler Regatta ist abgesagt.«
»Weil Trauer ist, nicht wegen Krieg. Er ist doch mit dem verwandt.«
»Der ›Lokalanzeiger‹ hat geschrieben ...«
»Du mit deinem dusseligen Skandalanzeiger! Der ›Vorwärts‹ sagt, wir haben hundertzehn Sozialdemokraten im Reichstag, und die sind sich mit den Proletariern der Welt einig: Wir wollen keinen Krieg.«
»Ruhe!« befahl Hackendahl.
»Wir bewilligen keinen Pfennig für die Kriege von den Kapitalisten ...«
»Ruhe da!« befahl Hackendahl noch einmal. »Auf meinem Hof will ich solch Geschwätz nicht hören.«
Sie schwiegen, aber hinter seinem Rücken flüsterten sie weiter, und das kümmerte ihn diesmal nicht, sosehr es ihn sonst geärgert hätte. Es freute ihn heute auch nicht die Tageskasse, die wieder ungewöhnlich hoch war: Man merkte, es war etwas los in Berlin. Die Leute waren unruhig, sie hielten es nicht aus in ihren Wohnungen, sie liefen auf die Straße, sie fuhren vom Reichstag zum Schloß, vom Schloß zum Kriegsministerium, vom Kriegsministerium ins Zeitungsviertel. Sie wollten etwas hören, etwas sehen. Aber das Schloß war dunkel, die Jacht des Kaisers fuhr mit ihrem Herrn dem Nordkap zu – nur wenn die Wache mit klingendem Spiel aufzog, konnten sie jubeln.
Der alte Hackendahl verbat sich rotes Geschwätz auf seinem Hof, dann kassierte er weiter. Die Tageslosung war reichlich, aber das eine ärgerte ihn nicht, das andere freute ihn nicht, und das Kriegsgeschwätz interessierte ihn, den alten Militär, nicht! – Er dachte immer nur: Mein Erich ist fort! Grade, als ich ihn aus dem Keller holen wollte, ihm sagen wollte, er kann wieder zur Schule gehn, es ist alles in Ordnung, grade da ist er fort!
Es wird still auf dem Hof, die Tageskutscher sind nach Haus gegangen, und die Nachtkutscher sind zu ihrer Arbeit gefahren. Hackendahl sieht am Haus hoch, es ist hier draußen noch dämmrig, aber im gemeinsamen Schlafzimmer brennt schon Licht, Mutter geht wohl schon ins Bett. Er könnte auch ins Bett gehen, aber er dreht kurz um und geht in den Stall.
Rabause schüttet den Pferden das zweite Futter, er sieht den Chef kurz von der Seite an, räuspert sich, als wollte er etwas sagen, und schweigt.
Ein wenig weiter hin reibt Otto ein Pferd mit dem Strohwisch trocken. Der Kutscher hat es überjagt, um einen Zug zu erreichen und ein Trinkgeld von einer Mark zu verdienen. Hackendahl stellt sich dazu und sieht sich gedankenlos die Reiberei an. »Der Bauch, Otto, vergiß den Bauch nicht!« ruft er schließlich scharf.
Otto wirft einen kurzen, trüben Blick auf den Vater und reibt dann kräftig den Bauch des Pferdes. Das kitzelt den Gaul, er fängt unruhig an zu tänzeln, er schnaubt ...
»Fester!« ruft der Vater. »Du denkst wohl, der Gaul ist ein Mädchen?«
Es ist der alte Unteroffizierston, gewohnheitsmäßig hingesagt, wieder wirft Otto einen Blick auf den Vater. Der Blick kommt aus einem geröteten, verschwollenen Auge, der Vater hat sofort zugeschlagen, als er erfuhr, daß Otto den Erich befreit hatte. Otto ist gar nicht dazu gekommen, den von Tutti eingelernten Satz zu sagen, so rasch und schwer schlug der Vater zu.
Der Vater sieht fast mit Haß auf den reibenden Sohn. Ohne die voreilige Rettungstat dieses Bengels hätte der Vater Erich befreit, und alles wäre in Ordnung gewesen. Einmal tut der Schlappschwanz was aus eigenem Antrieb, ein einziges Mal, und sofort verdirbt er alles.
Der Vater sieht mit Zorn und Haß auf seinen Ältesten. »Heb ihm das Bein!« schreit er. »Siehst du nicht, daß du dem Schinder weh tust?!«
Der Sohn hebt das Bein, legt es sich übers Knie und reibt weiter. »Du machst heute Stallwache«, befiehlt Hackendahl. »Ich will dich nicht in meinem Hause schlafen haben.«
Der Sohn reibt weiter.
»Du sollst Stallwache machen!« schreit der Vater. »Hast du mich nicht verstanden?!«
»Jawohl, Vater«, sagt der Sohn, militärisch laut und deutlich, wie es ihm beigebracht worden ist.
Der Vater sieht den Sohn noch einmal mit blitzendem Auge an, er überlegt, ob er noch irgend etwas sagen soll, ihm den Grad seiner Verachtung begreiflich zu machen. Aber er läßt es. Der ist viel zu weich, er wird immer gehorsam »Jawohl, Vater« sagen, er ist ohne Gegenwehr, wie er auch nicht einmal den Arm hebt, wenn er ins Gesicht geschlagen wird. Ein Schwamm, man kann ihn füllen und ausdrücken, wie man will, er verändert sich nicht.
Hackendahl dreht sich um und geht aus dem Stall. Als er an dem alten Rabause vorbeikommt, der noch mit seiner Futterschwinge läuft, sagt er gnädig: »Wenn du ausgefüttert hast, kannst du nach Haus gehen und dich ausschlafen. Du hast heute frei, Rabause.«
Der Futtermeister sieht ihn von der Seite an, diesmal wagt er es und tut den Mund auf: »Ich habe am Tag geschlafen, Herr Chef«, krächzt er. »Ich brauche in der Nacht keinen Schlaf – der Otto braucht ihn.«
Hackendahl blitzt den Rebellen ärgerlich an, er wünscht keinen Verteidiger seines Sohnes. Der Sohn soll sich selbst verteidigen, wenn ihm Unrecht geschieht. Aber ihm geschieht kein Unrecht.
»Und übrigens habe ich die Kellerschlösser mit aufgeschlagen, Herr Chef«, erklärt Rabause. »Ich fand es auch richtig.«
»So?« fragt Hackendahl langsam. »So ...? Und nun denkst du altes Saufloch, ich hau dir auch in die Fresse wie dem Otto?! Das möchtest du wohl – daß du dich groß und beleidigt fühlen kannst, was? Aber den Gefallen tu ich dir nicht – du bist bloß ein Schlappscheißer, genau wie dein geliebter Otto, Schlappscheißer alle beide! Wie ihr mich ankotzt!«
Fast zitternd vor Zorn sieht er den alten Mann an. »Um zehn bist du aus dem Stall und schläfst zu Hause, verstanden?!« schreit er noch einmal. »Der – der – der –« Er zeigt mit dem Finger nach hinten. »Der – soll wachen!«
Krachend fliegt die Stalltür hinter ihm zu.
Zwanzig Schritt her den Hof, zwanzig Schritt hin den Hof – die Nacht sinkt, die brausende Stadt wird ruhiger, aber es will nicht ruhig in ihm werden, immer schlimmer, alles immer schlimmer! Nicht einmal aus eigenem Antrieb hat der Otto den Bruder befreit; das Aas, die Saufgurgel, der Rabause hat es ihm vorgemacht, und er ist bloß wieder mal hinterhergelaufen, wie er sein ganzes Leben lang hinterhergelaufen ist! Und so etwas bleibt einem im Hause, und der Lebendige, der Geliebte läuft im Zorne fort!
Der läuft geldlos in die Welt, ohne Nahrung, ohne Heim; ohne allen Rückhalt ist er jeder Gefahr der Großstadt ausgesetzt – was wird aus ihm?
Hamburger Schiffsjunge, französischer Fremdenlegionär, Selbstmörder im Landwehrkanal – und das wenigste ist, daß er sich seinen Lieblingssohn auf einer Tiergartenbank schlafend vorstellt. Die Schutzleute jagen ihn immer wieder auf, denn es ist verboten, im Freien zu schlafen! Der verlorene Sohn bei den Säuen, wahrhaftig, von ihm ist im Neuen Testament die Rede – aber kein Wort steht dort davon, wie dem Vater in all der langen Trennungszeit zumute war!
Hackendahl macht kehrt, er geht eilig die Treppe hinauf, über den Flur, tritt in das Schlafzimmer. »Wo ist Erich?«
Mutter ist zusammengeschreckt, sie wälzt sich hoch, sie starrt ihn an. »Was hast du denn, Vater? Du erschreckst einen ja!«
»Wo Erich ist, will ich wissen!«
»Aber ich weiß es nicht! Er hat mir doch nicht mal adieu gesagt, ehe er weglief ...«
Sie hält inne. Sie fürchtet, sie hat jetzt ihren Anteil an der Flucht verraten, aber er achtet gar nicht darauf. Er will nur wissen, wo Erich geblieben ist.
»Das ist nicht wahr!« ruft er böse. »Du weißt, wo Erich ist.«
»Bestimmt nicht! Ich mache mir doch auch solche Sorgen! Otto hat noch nach ihm gesucht, aber da war er schon fort ...«
Hackendahl denkt nach. »Es ist doch nicht wahr«, sagt er. »Erich würde so nicht weglaufen. Hast du ihm Geld gegeben?«
»Nichts! Keinen Pfennig!« jammert sie. »Ich habe doch gar kein Geld, das weißt du doch, Vater!«
Jetzt ist er ganz fest überzeugt, daß sie lügt. Sie haben Erich irgendwo versteckt. Erich, er kennt doch Erich! Der wird doch nicht ohne Geld weglaufen!
»Ich werde es schon herausbekommen, du!« sagt er drohend und verläßt ganz plötzlich ihr Zimmer, geht hinüber in das Zimmer der Töchter ...
Dort ist es schon fast dunkel. Eva liegt in ihrem Bett. Sie hat im letzten Tagesschein mit ihren Schmucksachen gespielt, sie hat die Ringe aufprobiert, die Broschen auf das Nachthemd gesteckt, o so schön!
Als sie heute mittag nach Haus gekommen war, die Geschichte von dem bestohlenen Versteck in der Hängelampe erfuhr, das sie für ihr undurchdringliches Geheimnis gehalten hatte – und nun wußten alle davon, oh, sie wäre fast geplatzt vor Wut! Sie wäre am liebsten zur Polizei gegangen, sie hätte ihn angezeigt, den Bruder, diesen gemeinen Verbrecher!
Aber da war dieser Schmuck in der Tasche des Kleiderrocks! Nur jetzt nichts mit der Polizei zu tun haben! Sie hat mit zitterndem Herzen die Schilderung des Juwelendiebstahls in der Zeitung gelesen. Man ist natürlich davon überzeugt, daß der junge Mann und das junge Mädchen zusammengehörten, daß die beiden raffiniert zusammenarbeiteten. Man hat auch schon die Markttasche gefunden ...
Nein, nur Stille und Ruhe – leise gleiten die Schmucksachen durch ihre Hände, das macht sie glücklich. Erst am Morgen hat sie gedacht, daß sie ihren Anteil an den schönen Dingen des Lebens haben will – und nun besitzt sie schon etwas, nun besitzt sie schon viel! Sie wird diesen Schatz nie wieder hergeben! Sie wird stille sein!
Sie hört den Schritt des Vaters auf dem Gang, seine scheltende, die weinerliche Stimme der Mutter. Rasch steckt sie die Schmucksachen in ein Beutelchen. An einer dünnen, festen Schnur hängt das Beutelchen zwischen ihren Brüsten. Nun dreht sie sich um zur Wand und stellt sich schlafend ...
Der Vater steht auf der Schwelle des Schlafzimmers, er lauscht. Von je hat er so auf den Schlaf der Kinder gelauscht, er kennt jedes Geräusch, weiß sofort, wenn sie sich verstellen ...
»Eva!« ruft er scharf. »Du schläfst nicht. – Wo ist Erich?«
»Ich weiß doch nicht, Vater ...«
»Doch, du weißt es. Sag mir sofort, wo Erich ist.« Fast bittend: »Sei doch vernünftig, Evchen, ich will ihm doch nichts tun. Ich möchte bloß wissen, wo er ist.«
»Ich weiß es wirklich nicht, Vater! Ich war doch einholen, als das ganze Theater war. Bestimmt, Vater, ich würde es dir sagen; ich hätte ihn überhaupt nicht rausgelassen!«
Ja, diese Tochter ist nun des Vaters Meinung: Erich hätte nicht fort gedurft. Aber seltsam, so geäußert ist es dem Vater auch wieder nicht recht.
»Ich will gar nicht wissen«, sagt er, »was du denkst. Paß morgen auf, ob Erich kommt oder irgendeine Botschaft schickt, und sag mir sofort Bescheid.«
»Ja, Vater.«
»Tust du es auch?«
»Ja doch, Vater!«
»Gut.«
Hackendahl wendet sich, will schon gehen, da erst wird ihm klar, daß das zweite Bett in diesem Zimmer unbesetzt ist. Er fragt: »Sophie hat schon wieder Nachtdienst?«
»Sophie? Ja, hat dir denn Mutter nicht gesagt, daß Sophie auch weg ist?!«
»Was heißt weg?!«
»Na, zu ihren frommen Schwestern doch! Sie ist doch heute mittag für ganz ins Krankenhaus gezogen! Mit Sack und Pack. Wir sind ihr ja wohl nicht fromm genug. Wir streiten uns zuviel, hat sie gesagt!«
»So!« antwortet der Vater bloß. »So! – Na, gute Nacht, Evchen.«
Langsam zieht er die Tür zu, lange steht er auf dem Gang. Schlag auf Schlag, immer schlimmer, zwei Kinder an einem Tage verloren: Und auch Sophie hat mir nicht adieu gesagt! Was habe ich ihnen denn getan, daß sie mich so behandeln?! Nun gut, ich bin streng gewesen, ein Vater muß streng sein! Ich bin vielleicht noch nicht streng genug gewesen! Jetzt sehe ich erst, wie weich sie sind, wie sie gleich ausreißen, wenn es schwierig wird! Die hätten Soldaten sein müssen! Die Zähne zusammen, nicht mit der Wimper gezuckt – und durch!
Er steht da, lange, lange, seine Gedanken gehen hin und her, anklagend, grollend, zornig. Aber so viel er auch bedenkt, er wird nicht weich, er gibt nicht nach! Sie haben ihm schwere Wunden geschlagen, aber er klagt nicht wegen der Wunden, er klagt, daß Kinder eines Vaters Feinde sein können, ihn aus dem Hinterhalte schlagen.
Nein, er gibt nicht nach, der eiserne Gustav strafft den Rücken, er setzt den gewohnten, abendlichen Rundgang fort. Er verkriecht sich nicht in Bett und Wehleid, er geht in das Schlafzimmer der Söhne.
Der Schritt hallt, fahl leuchten die Betten – von dreien sind hier zwei unbesetzt ...
»Guten Abend, Vater«, sagt Heinz.
»Guten Abend, Bubi. Schläfst du noch nicht? Es ist schon längst Schlafenszeit.«
»Ich werd schon noch einschlafen, Vater. Du läufst ja auch noch rum und stehst drei Stunden früher auf als ich.«
»Ein alter Mann braucht wenig Schlaf, Bubi.«
»Du bist doch noch kein alter Mann, Vater!«
»Doch!«
»Bestimmt nicht.«
»Doch!«
»Nein.«
Der Vater geht durch das Zimmer, er setzt sich im Halbdunkel auf des Jungen Bett, er fragt ganz kameradschaftlich, gar nicht väterlich: »Hast du 'ne Ahnung, Bubi, wo der Erich hin ist?«
»Keine Ahnung, Vater. Du machst dir wohl Sorgen?«
»Ja; die hier bei uns wissen auch nicht, wohin er ist?«
»Glaub ich nicht. Aber ich kann ja morgen mal in der Penne horchen. Vielleicht weiß einer von seinen Freunden was.«
»Das tu, Bubi.«
»Das tu ich, Vater.«
»Und du könntest mal zum Herrn Direktor gehen. Ich hatte ihm versprochen, den Erich morgen wieder zur Schule zu schicken. Daraus wird ja nun nichts. Du mußt ihm das erklären ...«
»Ach, Vater ...«
»Was?«
»Ich möchte morgen lieber nicht zum Direx gehen ...«
»Warum denn nicht? Du sollst doch nicht Direx sagen!«
»Och – vielleicht hat er 'ne Pieke auf mich. Wir haben uns nämlich heute ein bißchen gekloppt, einer aus meiner Klasse und ich, und Kunze hat uns aufgeschrieben und sagt, er meldet uns dem Direx – dem Direktor.«
»Warum habt ihr euch denn gekloppt?«
»Ach, nur so. Der hat immer so 'ne Schandschnauze, da muß er mal was draufkriegen.«
»Und hat er was draufgekriegt?«
»Aber feste, Vater! Aber nach Noten! Zum Schluß hat er nur noch nach Luft geschnappt und immerzu Pax geschrien.«
»Ach, Pax heißt Friede. Das schreit man, wenn man zu Kreuze kriecht.«
»So – na, Bubi, deswegen kannst du dem Direktor ruhig meine Bestellung ausrichten. Der Herr Direktor und ich haben nämlich aus dem Fenster gesehen, wie ihr euch gekloppt habt.«
»Au fein! Ich hatte schon 'nen Bammel, eine Vier im Betragen wäre kummervoll.«
Einen Augenblick ist Stille. Der Vater ist ganz ruhig und friedlich geworden bei diesem Sohn.
»Na, also schön, Bubi, vergiß das nicht. Und schlaf auch gut!«
»Schlaf du auch gut, Vater. Wegen Erich mach dir bloß keine Gedanken. Der ist schlauer als du und ich und der Direktor zusammen – der Erich kommt immer durch.«
»Gute Nacht, Bubi.«