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Pfingstfahrt in der Waschbalje

Zu jener Zeit, von der wir erzählen, lebten auf dem Ausbauhof von Karl Päplow außer dem Bauern acht Frauen; seine Mutter, seine Frau und sechs Töchter in allen Altersstufen, aber keine unter dreißig. Außerdem gab es da noch einen kleinen Jungen, den Malte. Zu welcher von den sechs Töchtern der aber gehörte, das war schwer auszumachen; alle waren alle Stunden wie die Puthennen um ihn, bis der Bauer es nicht mehr sehen konnte, sondern mit Gebrüll dazwischenfuhr.

Das tat er gerne, das tat ihm gut, wenn seine acht Frauen in Zittern und Zagen davonstoben, denn Karl Päplow war nicht nur ein Brüller, sondern auch ein roher und gemeiner Kerl. Dies zeigte sich so recht, als er gestorben war: Die Frauen konnten zuerst gar nicht an ihr tyrannenfreies Dasein glauben und wurden dann, als er wirklich begraben war, ganz verdreht. Das erste, was sie ihrer neuen Freiheit zugute taten, war, daß sie alles, was der Bauer auf dem Leibe getragen hatte, verbrannten, und um den Scheiterhaufen tanzten und schimpften die acht. Der kleine Malte, drei Jahre alt, stand in einem Winkel und sah aus seinen großen blauen Augen dem abenteuerlichen Beginnen stumm zu.

Dort fand ihn der Gemeindevorsteher, als sie mit der Spritze angerückt kamen – und hohe Zeit wurde das, denn das Reetdach auf der Scheune glimmte schon. Er sah, daß es so nicht ging mit der Frauenwirtschaft, und besann sich auf einen verschollenen alten Vetter aus der Greifswalder Gegend, der im Rufe großer Weisheit stand. Den verschrieb er dem Ausbauhof als Knecht, Viehfütterer, Verwalter, Ersatzvater und vor allem als Mann: »Denn ein Mann muß her in diese Kakelei!«

Eines schönen Tages kam dann auch der Vetter aus »Grips«, wie man dort für Greifswald sagt, auf dem Hof an, mit einer rotgestrichenen Lade und einer perlengestickten Handtasche. Der neue Herr über die acht Frauen war ein schwerer Mann mit starken Knochen und einem großen Bauch. Sein Gesicht war sehr rot, vor allem die knollige Nase, und alltags wie sonntags ging er in einem schwarzen Tuchanzug, der meist sehr dreckig war.

Als erster von allen erfaßte der kleine Malte die Situation: Er steckte sein kleines, weiches Kinderhänding in die große, harte Pranke des alten Mannes, nannte ihn »Onkel Walli« und zog ihn zu den jungen Hunden.

Aber gleich der nächste, der den Kram erfaßte, war doch Onkel Walli. Als er am Schluß seiner ersten Woche die acht Frauen zum Mittagessen rief und das übliche Gewusel anfing, das Hinundhergelaufe, das Schnell-noch-was-Besorgen, da rief er noch einmal klar und deutlich: »Middageten, segg ick, ji Mallen!«, wozu bemerkt werden muß, daß »ji Mallen« in jener Gegend der ungeschminkte Ausdruck für »ihr Verrückten« ist.

Natürlich gab es Geschimpf und Gekeif, aber dazu sagte Onkel Walli nur tiefsinnig: »Mall seid ihr, und parieren müßt ihr darum!« Sprach es sachlich feststellend, wie etwa ein Arzt einem Kranken sagt, daß er die Grippe hat und daß deswegen dies und jenes geschehen muß.

Und Onkel Walli drang durch. Unerschütterlich bestand er auf Parieren, und kaum waren zwei Wochen vorbei, saß er fester im Sattel, als je der Brüller Karl Päplow gesessen hatte. Allerdings kam zu seiner erdhaften Beharrlichkeit, daß er nicht nur ein tüchtiger Landwirt war – das konnten die Frauen gar nicht so recht würdigen –, sondern daß ihn die Unheimlichkeit des großen »Besprechers« umwitterte. Was krank wurde, das heilte er, sein Ruf verbreitete sich in der Gegend wie die Wasserpest in einem Teich. Die Kühe besprach er; hatten die Schweine Rotlauf, so machte er ihnen einen Schlitz ins Ohr und steckte Kräuter da durch: »Das zieht die Seuche aus dem Leib!« Die uralte Oma setzte er vor sich in einen Stuhl und sah sie piel an mit seinen kugligen, traurigen, runden Seehundsaugen. Eine Viertelstunde lang, ohne ein Wort. »Oh, wat ward mi dat wunnerlich, wenn Onkel Walli mi so dörch un dörch kiekt!« sagte Oma bezwungen. Aber ihr Husten war weg, für diesen Tag wenigstens.

Ja, wenn Onkel Walli auch die Verzweiflung von Arzt und Tierarzt wurde, seine acht Frauen fürchteten ihn und gehorchten ihm, sein kleiner Malte aber liebte ihn. Seht, da waren nun alle diese Tiere auf dem Hof; wenn der kleine Malte mit seinem Onkel Walli auf die Koppel kam, so drängten sich die Kälber um den alten Mann. Sie konnten sich gar nicht genug damit tun, seine schwarzen Tuchrockschlippen durchzukauen und über die fettglänzenden Ärmel zu lecken. Hatte eine Katze gejungt, ohne Fauchen und Kratzen ließ ihn die Alte an das Nest, und er zeigte dem Malte die blinden Miauzer, Tag für Tag, bis sie am neunten die Augen offen hatten. Und dabei erzählte er Geschichten von der Zauberkraft der Katzen und daß eine dreifarbige Katze den Hof vor Feuer schützt.

Der kleine Malte hörte ernsthaft zu, und dann gingen sie mit den Pferden hinaus auf den Kartoffelacker, und Onkel Walli behäufelte die Stauden, und Malte saß auf einem Rain und schlief oder sah zu oder lief durch das Holz oder horchte auch nur auf die Brandung der See.

Haben wir schon gesagt, daß der Hof an der See lag? Ja, er lag am Meer, an einem großen, weiten Bodden. Drüben, das jenseitige Ufer, sah man ganz ferne, grün von Wald und gelb von Sand und ab und zu ein Häuschen, nicht so groß wie ein Daumennagel. Zwischen diesem und jenem Ufer aber lag das Wasser, blau und grün oder grau, oder mit schäumenden, ununterbrochen redenden Wellen. Das gehörte zum Hof, das Meer, zum brüllenden Bauern Karl, zu den verwirrten Frauen, auch zu dem kleinen stillen Malte und nicht zum wenigsten zu Onkel Walli.

Erst mußte die Frühjahrsbestellung getan sein, aber dann, als alles wuchs, nahm Onkel Walli den Malte bei der Hand und stieg mit ihm den Uferweg von der Steilküste hinunter. Nun hatte der Hof zwar kein Boot, aber er hatte doch eine Waschbalje, eine kräftige, starke Balje, von einem tüchtigen Böttcher gebaut, mit flachem Rand, der das Rubbelbrett gut auflegen ließ. Und diese Balje hatte nun Onkel Walli sich an den Strand gewälzt, und Malte durfte nun zusehen, wie Onkel Walli vorsichtig, vorsichtig einstieg. Langsam, langsam stakte sich Onkel Walli mit zwei Stöcken auf das Wasser hinaus, atemlos sah Malte zu. Ja, sie trug, die Balje, Onkel Walli schwamm, und nun bettelte Malte, daß er auch mitdürfte. Aber so weit ging nun Onkel Wallis Zutrauen zu seinen Meereskünsten doch nicht, Malte durfte nur zusehen. Wenn einer ins Wasser fallen sollte, so durfte das nur Onkel Walli sein.

Aber er fiel nicht hinein, heute war der Bodden spiegelblank, und als er hundertfünfzig Meter draußen war, steckte er die Stangen in den Grund, machte die Balje dazwischen fest und fing an zu angeln.

Für Malte war dies kein schöner Nachmittag. Da saß sein Onkel Walli draußen auf dem blauen Wasser, und von Zeit zu Zeit zog er etwas weiß Blitzendes aus der Flut – Malte rief und lockte den Onkel, aber der wollte nicht hören. Mit Brüllen versuchte es Malte schließlich auch – umsonst, am Ende schlief er ein. Und nun war Onkel Walli wieder da, die Waschbalje lag am Ufer, zwischen den beiden Stangen.

»Morgen gehen wir wieder, mein Malte«, sagte der Onkel Walli. »Morgen ist Pfingsten.«

Aber Malte antwortete nicht, Malte war böse, und selbst der Eimer mit Fischen konnte ihn nicht versöhnen.

Nun ja, schließlich wurde es Nacht. Über allem Kummer, großem wie kleinem, wird es einmal Nacht. Malte ist zu Bett gebracht, Malte schläft. Denken die Großen. Aber kaum zwei Stunden später kamen jammernd die Frauen zu Onkel Walli: Wo er den Malte hätte? Onkel Walli hatte keinen Malte; besaßen die Frauen nun schon so wenig Verstand, daß sie nicht wußten, in welches Bett sie ihn gelegt hatten?

Sie hatten Verstand genug – aber wo war Malte? Sie durchschauten das Haus, sie durchsuchten die Ställe, es war viel Gezeter und Klagen. Vielleicht wurde das Onkel Walli zuviel, er seufzte plötzlich tief auf und ging in die Nacht, stracks hinunter von der Hofstatt. Die hatten gut hinterherschreien.

Aber nach fünf Minuten war er schon wieder da und sagte, sie sollten sich nur ruhig hinsetzen, er wüßte jetzt, wo Malte sei, und in einer halben Stunde brächte er ihn. Lief von allen Fragen fort – oh, wie hastig lief er durch die Nacht zum nächsten Hof, weckte den Bauern, bat um das Boot. Ja, so war es, die Waschbalje war fort. Malte war fort, nur die Stangen hatten noch am Ufer gesteckt.

Sie machten das Boot los und ruderten mit einer Laterne hinaus. Gottlob, es war kein Wind aufgekommen, es war spiegelglatt, aber es lag Dunst auf dem Wasser, es war diesig. Sie fuhren hin und her, dann riefen sie und lauschten: nichts. Das taten sie die ganze Nacht, und dazwischen lief Onkel Walli immer einmal zu den Frauen hinauf und tröstete sie. Nun käme er gleich mit Malte, gleich, gleich brächte er ihn.

Oh, der arme dicke Onkel Walli, der große Hexer und Zauberer! Da stand er wieder vor dem Wasser, er stand und starrte. Wie eine schwarze Wolke ging es über seine Seele – wie kann man sein Herz so an eine kleine Hand gewöhnen, die in eine große, alte, verbrauchte sich legt?! Welche Nacht, Onkel Walli – wieviel Versprechungen, wieviel Gelöbnisse!

Und nun, da wir beinahe am Ende unserer kleinen Geschichte sind, sind wir ganz zweifelhaft, ob wir sie nicht vom andern Ufer her hätten erzählen müssen. Am andern Ufer ging am Pfingstsonntagmorgen ein Fischerehepaar zur Kirche, den Strand entlang. Die hörten eine Stimme singen und hoben die Augen und sahen auf dem blanken, sonneblitzenden Wasser eine Balje schaukeln, und in der Balje saß ein Kind, ein kleiner, blauäugiger Junge, der sang so vor sich hin, wie ganz kleine Kinder tun, wenn sie sehr glücklich sind, selbstvergessen, es ist mehr ein Zwitschern.

Die jungen Fischerleute glaubten an ein wahrhaftiges Pfingstwunder – und das war es ja auch, wenn auch anders, als sie meinten – und starrten nur. Aber nun hatte das Kind sie gesehen und hörte auf mit Singen und rief, und es rief, daß es Durst hätte. Der junge Fischer lief eilig, eilig in seinem Sonntagsstaat in das Wasser, und seiner Frau verging in der letzten Minute noch das Herz vor Angst, daß die Balje umschlagen könnte.

Aber dann war ihr kleiner Moses an Land, und plötzlich waren die beiden Eheleute sehr glücklich und weinten und lachten. Nur Malte wußte von nichts, als daß die Nacht sehr lang gewesen war und daß er geschlafen hatte und war wieder aufgewacht und immer noch Nacht und wieder geschlafen ... »Und so viel Durst!«

Dann kamen am Nachmittag mit den Kutschbraunen Onkel Walli und die uralte Oma und die andere Oma und Tante Hete und Mammi und Tante Tini. Mehr konnten die Braunen im Kutschwagen nicht ziehen. Es war eine große Zärtlichkeit, nur Malte blieb ungerührt.

»Nimmst du mich jetzt mit zu den Fischen, Onkel Walli?« fragte er. »Ich kann gut in der Balje fahren!«


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