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In dem langen und ermüdenden Ringen um die Würdigung ihrer Erfolge, um die Anerkennung des von ihnen Erreichten durch die infragekommenden Kreise Europas und vor allem Frankreichs, in diesem Don Quichoteähnlichen Kampf gegen Windmühlenflügel stießen die Brüder Wright immer wieder auf den Einwand: Wie können wir glauben, was die Wrights behaupten, wenn nicht einmal die amerikanische Öffentlichkeit, die Presse der Vereinigten Staaten, ja, wenn nicht einmal die amerikanische Regierung sich zu ihren eigenen Landsleuten bekennen? Dieser Frage war ihre Berechtigung nicht abzusprechen. Und man muß, um die Zusammenhänge richtig zu würdigen und zu verstehen, noch einmal auf die Zeit der ersten geglückten Versuchsflüge mit einem motorisierten Flugzeug, also auf den Ausgang des Jahres 1904 und die anschließenden Monate, zurückgreifen.
Vorgänge, die sich auf der Huffman-Farm, also in verhältnismäßiger Nähe des Städtchens Dayton abspielten, konnten nicht völlig unbemerkt bleiben. Für die Wrights bestand keine Möglichkeit, in weitem Umfange Absperrungsmaßnahmen vorzunehmen – wobei es sogar dahingestellt bleiben muß, ob sie andernfalls von einer solchen Möglichkeit überhaupt Gebrauch gemacht hätten, – zwei Landstraßen führten ziemlich nahe vorbei, ein Flugzeug, das wirklich fliegt, bewegt sich notwendiger Weise in der Luft und ist also von weither zu sehen, kurz und gut: ein zahlenmäßig nicht zu erfassender Kreis von Personen wußte um diese Experimente. Um Einzelheiten wußte man natürlich, bei der Zurückhaltung der Wrights, die jeder Art von Geschwätzigkeit abhold waren, nichts. Immerhin sickerte dies und jenes in die Spalten der lokalen Blättchen, des Dayton Journal etwa oder des Osborn Local. Aber keiner der mehr oder minder zufälligen Berichterstatter nahm sich auch nur die Mühe, die Wahrheit im einzelnen, den tatsächlichen Sachverhalt zu erforschen. Der Gedanke, man könne mit einer motorisierten Flugmaschine den Äther durchqueren, erschien so absurd, so ganz und gar unglaubwürdig, daß es, nach Meinung der Zeitungen, »nicht dafür stand«, an diese Vorgänge mit Ernst heranzugehen und alles nur erreichbare Material darüber zusammenzutragen.
Nein, das stand nicht dafür. Die Zeitungen nahmen die Sache nicht ernst, und so war es nur selbstverständlich, daß die Leser sie erst recht nicht ernst nahmen. Was also über die Wrights und ihre angeblichen Flüge erschien, das war ein Kuriosum, keine gewichtige Neuigkeit. Die Zeitungen waren ja immer voll von solchen Kuriosa, das lasen die Leute gern, und natürlich lächelten die Leser darüber und sollten ja auch lächeln. Auch den berufsmäßigen Humoristen war die Idee des Menschenfluges nur eine Vorstellung, an der sie ihren Witz schärfen konnten, und so brachte der Puck in seiner Ausgabe vom 19. Okt. 1904 – also bald ein Jahr nach dem ersten größeren Flug vom Dezember 1903 – diesen kleinen Scherz, der auf die Berichte einiger Reporter über die fliegenden Brüder in Dayton zurückging:
»Wann«, fragte ein Freund den Erfinder der Flugmaschine, »wirst du nun deinen ersten Flug ausführen?«
»Sobald ich erreichen kann, daß die Gesetze der Schwerkraft durch die zuständigen Körperschaften aufgehoben werden«, erhielt er zur Antwort.
Lächerlichkeit ist ein gefährlicher Feind für alle Erfinder, für alle Entdecker. Besonders auf technischem Gebiet haben so manche große Männer das zu spüren bekommen, wurden sie oft genug erst Jahre nach ihrem Tode vor der Nachwelt in ihrem Streben und in ihren Ideen gerechtfertigt. Das Schicksal, das die Brüder in der ersten Zeit nach der Verwirklichung ihrer Idee erleiden mußten, war also alles andere als neu – sie befanden sich damit sozusagen in bester Gesellschaft. Und vielleicht waren sie zu zuversichtlich, zu überzeugt davon, eine Tatsache lasse sich auf die Dauer nicht verfälschen oder abstreiten, als daß sie solch irreführender Berichterstattung mit dem gebührenden Nachdruck entgegengetreten wären.
Die ernstzunehmenden Blätter in den USA brachten entweder überhaupt nichts zu den Vorgängen auf der Huffman-Farm oder sie verbanden ihre Berichte mit Anmerkungen und Hinweisen, die diese Berichte selbst als unglaubwürdig hinstellten. Sie schrieben etwa, wie der Scientific American, von dem Wright-Aeroplan und – im gleichen Atemzuge – von seinen »erdichteten« Eigenschaften, oder sie verstiegen sich gar zu diesem, jedem ihrer Leser sofort einleuchtenden Satz: »Wenn so sensationelle und ungeheuer wichtige Experimente wirklich in einem nicht sehr abgelegenen Teil unseres großen Landes gemacht worden sind, auf einem Gebiet, dem wohl jedermann das denkbar größte Interesse entgegenbringt, ist es da zu glauben, daß der unternehmungslustige amerikanische Reporter, der, wie bekannt ist, durch den Kamin in ein Haus eindringen würde, falls er die Tür verschlossen fände – selbst wenn er zu diesem Zweck einen fünfzehn Stock hohen Wolkenkratzer an der Außenwand erklettern müßte – nicht alles über sie feststellen und in Erfahrung bringen würde und sein Wissen in der ganzen Welt veröffentlicht hätte?«
Das also war die Haltung der amerikanischen Presse unmittelbar nach der Verwirklichung der Wright'schen Idee. Und eine andere Frage wurde gerade in Frankreich immer wieder teils offen aufgeworfen, teils in privaten Gesprächen erörtert: Warum boten die Wrights ihre Erfindung zuerst, unter Vermittlung des Hauptmanns Ferber, der französischen Regierung an? Diese Frage war wirklich begründet, und die Unmöglichkeit, sie zu beantworten, nährte das nun einmal schon vorhandene Mißtrauen.
Daß sie nicht beantwortet werden konnte, lag wieder an den Brüdern Wright selbst, die sich einerseits wohl zum Schweigen darüber verpflichtet fühlten, andererseits aber auch wohl befürchteten, durch Offenbarung der wirklichen Zusammenhänge ihre geschäftlichen Aussichten zu beeinträchtigen.
In Wahrheit nämlich hatten sie keineswegs zuerst mit Frankreich Fühlung aufgenommen. Viel zu gewissenhaft und gerade, auch in geschäftlichen Dingen, und vor allem viel zu sehr Amerikaner, hätten sie das einfach nicht fertig gebracht. Sie waren vielmehr jenen Weg gegangen, der ihnen von vornherein als der einzig mögliche und richtige erschienen war. Schon im Januar 1905, also lange vor dem ersten Briefwechsel mit dem französischen Hauptmann Ferber, hatten die Brüder Wright über ihr Dayton-Kongreßmitglied R. M. Nevin in Washington angefragt, ob die amerikanische Regierung für den von ihnen gebauten Flugapparat Interesse habe. Die Antwort war eine ebenso höfliche wie kühle Ablehnung, die mit den Worten schloß, daß die Flugmaschine der Gebrüder Wright es noch nicht zu jenem Maß von Vollkommenheit und praktischer Leistungsfähigkeit gebracht habe, die man fordern müsse, und daß man anheimstelle, erneut an die Regierung heranzutreten, sobald der Apparat vollkommener geworden sei. In einem Zeitpunkt also, als noch niemand anders sich länger als ein paar Sekunden in der Luft zu halten vermochte, als die Wrights noch die ersten waren, die überhaupt den Gedanken eines sich aus eigener Kraft bewegenden, eines motorisierten Flugzeuges in die Tat umgesetzt hatten, verlangte man einen Apparat mit Eigenschaften, die sich wahrscheinlich doch erst im Laufe einer langjährigen Entwickelung würden erreichen lassen.
Trotz dieser unbilligen Forderungen richteten die Wrights noch einmal, am 9. Oktober 1905 – also am selben Tage, an dem sie nach Frankreich an den dortigen Hauptmann Ferber schrieben –, ein Angebot an die amerikanische Regierung, diesmal auf besondere Bitte ihres Freundes und Beraters Chanute. Sie machten in aller Kürze präzise Angaben, beriefen sich auf ihre Ausführungen im Januar und erklärten, daß sie sich bei ihren Preisforderungen nach den Ergebnissen richten würden, die die Maschine bei ihrem Probeflug zeitigen würde. Etwas vorweggreifend – aber das sprach schließlich nur für das Vertrauen, das sie selbst ihrer Erfindung und der Möglichkeit zur Steigerung der Leistungen ihres Flugapparates entgegenbrachten – erklärten sie zum Schluß, daß sie auch bereit seien, einen Kontrakt über den Bau von Maschinen abzuschließen, die mehr als eine Person trügen, also neben dem Piloten noch einen oder gar mehrere Fahrgäste.
Auf dieses erneute Angebot erhielten sie wiederum eine negative Antwort, die fast wörtlich mit der ersten Entscheidung übereinstimmte.
Es war klar, daß dieser Schriftwechsel nicht gerade sehr ermutigend auf die Brüder wirken konnte. »Es ist immer unser Bestreben gewesen«, äußerte sich Wilbur Wright in diesem Zusammenhang, »unsere Fabrikate, die Fahrräder, an solche Leute zu verkaufen, die nach ihnen verlangten, und nicht zu versuchen, sie jenen aufzuschwatzen, die sie nicht haben wollten.« Und sogar Chanute verlor für einige Augenblicke die weise Abgeklärtheit seines Alters und tobte: »Die Leute da oben, das ist weiter nichts als ein Haufen ausgewachsener Esel!«
Mit Eseln ist natürlich schwer verhandeln. Und die Brüder ließen die ganze Angelegenheit zunächst auf sich beruhen, während sie um so eifriger und nun, wie sie sich sagen durften, mit vollkommen unbelastetem Gewissen die über Hauptmann Ferber mit den französischen Stellen angebahnten Verhandlungen weitertrieben. Einmal versuchte ein gewisser Cabot in Boston, militärische Stellen der USA, vor allem den General Crozier, für die Erfindung der Brüder Wright zu interessieren, er plante sogar, sich selbst finanziell an den Bestrebungen der Wrights auf Verbesserung ihres Flugapparates zu beteiligen. Aber General Crozier entschied, die Wrights hätten ein Angebot der Regierung erhalten – was, wie wir sahen, keineswegs der Fall war –, und es läge nun an ihnen, sich zu entscheiden. So verlief auch diese Sache im Sande.
Noch einmal kam es, im Frühjahr 1907, zu einem kurzen Briefwechsel zwischen den Wrights und Washington, der diesmal durch Vorstellungen eines New Yorker Kongreß-Mitgliedes bei dem Präsidenten Roosevelt hervorgerufen worden war. Der Regierung war natürlich innerhalb der langen, inzwischen vergangenen Zeit dies und jenes, mindestens gerüchtweise, zu Ohren gedrungen, was mit den Verhandlungen der Wrights mit französischen und auch englischen amtlichen Stellen zusammenhing, und man begann langsam unruhig zu werden. Mindestens wollte man doch einmal sehen, was an der Geschichte wirklich dran war. So änderte sich wenigstens der Ton der an die Wrights gerichteten Briefe, und man tat nicht mehr so, als wären die Brüder mittellose, arme Bittsteller, die ihr Geld in sinnlosen Experimenten vergeudet hatten und nun von der Regierung der Vereinigten Staaten Hilfe und Rettung erhofften. Aber zu einem wirklichen Ergebnis führten auch diese gegenseitigen Fühlungnahmen zunächst nicht, die von den Wrights vorgebrachten Forderungen erschienen zu hoch, und so wurde neuerlich alles wieder vertagt, zumal die Brüder inzwischen nach Europa gereist waren.
Während dieser Reise – »Wie gut, daß ich nicht Französisch kann«, sagte Wilbur Wright einmal scherzhaft, »es erspart eine Menge leeres Geschwätz!« – trafen sich die Wrights auch mit Frank S. Lahm, der sie in sein Haus einlud. Hier machten die beiden Amerikaner die Bekanntschaft des Sohnes, Frank P. Lahm, der aktiver Leutnant in der amerikanischen Armee war und das starke Interesse seines Vaters für alle Probleme der Fliegerei teilte. Dieser noch junge Offizier, der leidenschaftlich das Flugwesen und dessen ungeheure Möglichkeiten bejahte und uneingeschränkt an die Wrights und deren Leistungen glaubte, wurde wenig später an das Kriegsministerium in Washington versetzt. Überwiegend auf die Initiative von Lahm war es gewiß zurückzuführen, daß die amerikanische Regierung endlich aus ihrer bisherigen zögernden Zurückhaltung herausging und über den »Ordnance Board« ein Ausschreiben für Flugmaschinen oder Aeroplane, wie man damals noch allgemein sagte, ergehen ließ. Endlich doch begriff man, daß, sofern es wirklich gelänge, brauchbare Flugzeuge mit Motorantrieb, unabhängig von Wind und Wetter, zu schaffen, dies der Menschheit die fast völlige Kontrolle der Luft geben würde, wie sie im Laufe einer Jahrtausende währenden Entwicklung bereits zu Wasser und zu Lande erreicht war. Ein solches Flugzeug – aber die Wrights hatten es schon gebaut, nur daß man es. ihnen nicht glauben wollte! – würde den Wert von ungezählten Millionen Dollar in sich verkörpern und die epochemachendste Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts werden, würde sowohl das gesamte Transportwesen als auch die Kriegführung revolutionierend beeinflussen. Als Preis waren für ein Flugzeug, das die Bedingungen restlos erfüllte, 25 000 Dollars ausgesetzt. Zu den für die damalige Zeit keineswegs einfachen Bedingungen gehörte unter anderem ein non-stop-Flug von 64,30 Kilometern, das sind rund vierzig englische Meilen, innerhalb einer Stunde. Für jede Meile weniger innerhalb einer Stunde sollten 10 Prozent vom Preise abgezogen werden, für jede Meile mehr würde der Preis um 10 Prozent erhöht werden. Bei einer Geschwindigkeit von weniger als sechsunddreißig englischen Meilen würde die Maschine nicht abgenommen werden. Eine weitere Bedingung war, daß das Flugzeug auch in der Lage sein müsse, neben dem Flugzeugführer, dem Piloten, noch eine zweite Person zu tragen.
Zur Überraschung aller beteiligten Kreise gingen auf dieses Ausschreiben mehr als vierzig Angebote bzw. Meldungen ein. Die meisten der sich Meldenden erwiesen sich freilich sofort als bloße Aufschneider und Phantasten, als Menschen also jener Art, unter die man auch die Wrights einzureihen bisher gewohnt gewesen war.
Selbstverständlich ergriffen die Wrights sofort die Chance, endlich das gegen sie und ihre Leistungen immer noch bestehende Mißtrauen zu beseitigen. Sie waren praktisch seit dem Oktober 1905 nicht mehr geflogen, hatten nur zäh und unverdrossen an der Verbesserung ihres Flugzeugs und der Maschine selbst gearbeitet. Die Abnahmeprüfungen und die Übergabe des den Bedingungen entsprechenden Apparates sollten zwar erst ab Ende August stattfinden, und zwar bei Fort Myer im Staate Virginia, nahe Washington, wo die Regierung ein geeignetes Gelände ermittelt zu haben glaubte; aber schon im April begannen die Brüder mit den vorbereitenden Übungen auf der Huffman-Farm.
Wie ungläubig sich noch immer die breitere Öffentlichkeit und auch die Presse zu dieser ganzen Frage verhielten, mag folgendes erweisen: Fast genau um dieselbe Zeit, als die Brüder Wright mit ihren Übungsflügen begannen, erschien ein neuer Roman des sehr bekannten Erzählers und Dichters H. G. Wells, betitelt: »Tono Bungay«. In diesem Roman ließ der Dichter seinen Helden einen Flugapparat nach dem System des Wright'schen Aeroplans bauen. Dies veranlaßte einige ernst zu nehmende Kritiker, in ihren Besprechungen einen Vorwurf daraus zu machen, daß er »so phantastische Dinge« in einen sonst durchaus glaubwürdigen Roman eingearbeitet hätte!
Die ersten längeren Flüge begannen zu Anfang Mai 1908. Hatten sich im Jahre 1905 die Versuche der Wrights sozusagen unter Ausschluß der Öffentlichkeit abgespielt, so war mittlerweile ihr Name doch immer bekannter geworden. Das Ausschreiben des Ordnance Board, viel kritisiert und teilweise belacht in der von Sachkunde nicht getrübten Öffentlichkeit, hatte zu seinem Teil dazu beigetragen, das Interesse zu wecken. So war es nicht weiter erstaunlich, daß diesmal schon allerhand Reporter und sonstige Presseleute, aber auch andere Interessenten aller Art auf dem Gelände herumwimmelten. Sie waren mit Kameras und mit Stoppuhren gekommen, um die fliegenden Brüder – falls sie wider alles Erwarten wirklich fliegen sollten! – zu photographieren und die Zeiten, die sie in der Luft verbrachten, genauestens zu messen. Aber kaum war das Unwahrscheinliche, das ganz und gar Märchenhafte zur unabstreitbaren Wahrheit geworden, kaum vollführten bald Wilbur, bald Orville Wright hoch über ihren Köpfen ihre eleganten, sicheren Wendungen und Schleifen, da vergaßen die Herren von der Presse in der Erregung über dieses Erlebnis ihre Uhren und ihre Kameras, ja, sie vergaßen alles und sich selbst dazu und hingen nur noch gebannt an diesem Wunderding oben in der Luft, dessen Motoren- und Propellerlärm wie aus Weltraums Tiefen an ihre Ohren drang.
Schon acht Tage später sahen sie dann etwas, was bisher noch kein menschliches Auge geschaut hatte: ein Flugzeug, das zwei Menschen trug! Pilot und Passagier, das war ja eine der Bedingungen für das Ausschreiben, und nun flog erst Wilbur, dann Orville Wright mit einem gewissen Charles W. Furmas, der also als der erste Flugzeugpassagier der Welt zu gelten hat.
Nach diesen von vielen Zuschauern und nicht zuletzt zahlreichen Vertretern der Presse bezeugten Flügen in Kitty Hawk begann man in immer weiteren Kreisen auch in USA einzusehen, daß vielleicht doch etwas dran sein könne, an dieser ganzen Fliegerei. Und trotzdem brachten viele, auch größere, Zeitungen darüber noch immer keine Zeile.
Die beiden Brüder beschlossen nun, um gleichsam zwei Eisen im Feuer zu haben, eine Art Arbeitsteilung. Während Wilbur, der ältere, nach Frankreich gehen und dort, im Interesse der Propagierung ihrer Erfindung, Schauflüge veranstalten sollte – den einen Apparat hatten sie zu diesem Zwecke bereits vor geraumer Zeit nach Le Havre verfrachtet –, sollte Orville zunächst in Kitty Hawk seine Versuche und Übungen fortsetzen und dann sich in Fort Myer zum vorgesehenen Termin für die Abnahme melden und bereitstellen.
Orville Wright traf Ende August im Fort ein und vollbrachte am 3. September seinen ersten Flug. Bedenkt man, daß hier, auf dem vorgesehenen Gelände, sich eine verhältnismäßig leicht erreichbare Gelegenheit bot, das Wunder des Jahrhunderts zu sehen, dann war die Zuschauermenge eigentlich gering. Der junge Roosevelt, der Sohn des Präsidenten, schätzte sie auf noch nicht tausend.
Als Orville nach dem gelungenen Flug endlich landete, war es diesmal an ihm, überrascht zu sein. Es befanden sich auch ein paar »hartgekochte« Zeitungsleute auf dem Fluggelände, Männer, die viel erlebt und gesehen hatten und denen so leicht nichts zu imponieren vermochte. Sie stürzten auf den Aussteigenden zu, versuchten ihn zu umarmen, und gleichzeitig liefen Tränen der Ergriffenheit und Erschütterung über dies nie vordem erlebte Schauspiel über ihre Wangen.
Noch ehe das Flugzeug gelandet war, hatte sich übrigens einer dieser Berichterstatter mit dem gleichfalls anwesenden Professor Simon Newcomb unterhalten. Es war Newcomb gewesen, der noch zwei, drei Jahre vorher überzeugend nachgewiesen hatte, daß menschliches Fliegen mit Hilfe eines technischen Apparates niemals möglich sein würde.
»Nun, Herr Professor«, hatte der Reporter gefragt, »was meinen Sie wohl? Wird nicht der Passagierflug die nächste Etappe der Entwicklung sein?«
»Unsinn«, war die Antwort gewesen. »Kein Flugzeug wird jemals das Gewicht einer zweiten Person neben dem Piloten tragen können!«
Newcomb hätte vorsichtiger sein müssen in seinen Voraussagen. Aber er hatte nichts zugelernt. Und er wußte noch nicht, daß vier Monate vorher, am 14. Mai, die Brüder Wright bereits in Kitty Hawk abwechselnd mit einem Passagier gestartet waren.
Am 10. September überbot Orville Wright den eigenen, am Tage vorher aufgestellten Zeitrekord mit einer Stunde, fünf Minuten und fünfundzwanzig Sekunden. Mit 200 Fuß Höhe entfernte er sich zugleich so weit von der Erdoberfläche, wie nie ein Mensch zuvor. Heute, wo sich Flugzeuge bis in den Bereich der Stratosphäre hinaufschwingen und fast mühelos Erdteile und Ozeane überqueren, muten diese Zahlen natürlich äußerst gering an. Aber überall, wo es um etwas grundsätzlich Neues geht, muß man sich bemühen, die ersten Erfolge mit den Augen der Zeit zu sehen, in der sie erreicht wurden – nur dann vermag man den Leistungen der Pioniere auf allen Gebieten menschlichen Wissens, menschlichen Fortschritts gerecht zu werden.
Genau acht Tage später gab es einen tragischen Zwischenfall. Orville Wright hatte auf eigenen Wunsch des Leutnants Thomas Selfridge diesen als Passagier bei einem Übungsflug mitgenommen. Das Flugzeug befand sich noch nicht länger als drei oder höchstens vier Minuten in der Luft und hatte sich gerade bis zu einer Höhe von etwa 125 Fuß hinaufgeschraubt, als ein seltsames und gänzlich ungewohntes Geräusch am Motor oder an den Propellern Orville Wright zusammenschrecken ließ. Die Ursache dieses Geräusches konnte er nicht ohne weiteres erkennen, aber es war klar, daß da irgendetwas nicht in Ordnung war. Der Apparat geriet in trudelnde Bewegungen und wollte dem Steuer nicht mehr gehorchen. Einmal fing er sich noch, und Wright durfte hoffen, im Gleitflug bei abgestelltem Motor niedergehen zu können. Doch wenig später verlor er völlig die Herrschaft über die Maschine die nun aus etwa fünfundzwanzig Fuß Höhe zu Boden stürzte.
Die Herbeistürzenden zogen Wright und seinen Passagier bewußtlos unter den Trümmern der Maschine hervor. Selfridge war schwer verletzt, er hatte sich beim Aufprall an dem Gestänge des Flugzeuges einen Schädelbruch zugezogen, dem er wenige Stunden später erlag. Orville war glücklicher davon gekommen, mit Bruch des linken Beines und vier gebrochenen Rippen. So nahm man jedenfalls damals an. Erst zwölf Jahre später stellte es sich bei einer gleichsam zufällig und aus ganz anderen Gründen angefertigten Röntgenaufnahme heraus, daß er sich auch den Hüftknochen gebrochen hatte. Zwölf Jahre hindurch hatte er es nicht gewußt, hatte er keine Beschwernisse gehabt, die auf eine solche Verletzung hindeuteten.
Und erst jetzt, nachdem das Fliegen mit einem motorisierten Flugzeug das erste Todesopfer gefordert hatte, öffneten die Zeitungen den Vorführungen bei Fort Myer ihre ersten Seiten – bisher waren alle Berichte darüber irgendwo hinten auf der sechsten oder siebenten Seite erschienen und fast erdrückt worden von Meldungen über Verbrechen aller Art, über mehr oder weniger belanglose Ereignisse lokalen Charakters und Ähnliches. Man hatte immer noch nicht ganz ernst genommen, was sich doch so nahe von Washington begab.
Der schwere Unfall traf Orville Wright und auch seinen mittlerweile schon seit Monaten in Europa weilenden und wirkenden Bruder auch in anderer Beziehung hart. Gewiß: daß geschehen konnte, was geschehen war, lag nicht an einem Konstruktionsfehler, es ergab sich vielmehr, daß der eine Propeller in der Längsrichtung gebrochen war, daß also lediglich ein Materialfehler vorlag. Aber die bösen Knochenverletzungen Orville Wrights fesselten ihn doch für lange Zeit ans Krankenlager, so daß die Fortsetzung der Abnahmeflüge unterbrochen werden mußte. Gewiß: die amerikanischen Regierungsstellen waren einsichtig und verständig genug, hier höhere Gewalt als vorliegend anzusehen, und sie setzten keinen festen Termin für die Wiederaufnahme der Flüge an. Trotzdem litt Orville Wright schwer unter dieser unerwarteten und nicht vorausgesehenen Verzögerung, und das Einzige, was ihn zu trösten vermochte, waren die immer aufregenderen, immer erfreulicheren Berichte, die von jenseits des Großen Teiches, von Europa her, herüberdrangen und bald in allen Zeitungen des Landes willige Aufnahme fanden.