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Wallensteins Antlitz

Vor dem Zelte des Generalissimus, das an beherrschender Stelle des Alten Berges errichtet war, hatte sich trotz der vorgerückten Nachtstunde eine erregte Gruppe höherer Offiziere gesammelt. Obwohl auch ein lautes Wort bei dem starken Winde, der sich rauschend durch die herbstlichen Wipfel wühlte, kaum den Weg durch das dickwandige, staubgraue Zeltleinen gefunden hätte, wurde die Unterhaltung leise und stockend geführt. Die schweren, von hundert Regennächten geschwärzten Taue, mit denen das Zelt an Baumstümpfen und mächtigen Föhrenstämmen verankert war, waren straff gespannt und scheuerten in beinah regelmäßigen Pausen knirschend und kreischend über das feuchte Holz.

»So gern ich's wüßte – wir werden's wohl niemals erfahren!«

Der Obristleutnant Wangler warf einen verweisenden Blick auf den Sprecher. »Du wirfst den Jungen voreilig zu den Toten, Bredow! So Gott will, erzählt er's uns noch einmal selber.« Er schwieg und schickte durch die lichtlose Nacht einen ingrimmigen Blick nach dem Fahnentuch über dem Zelte, das in diesem Augenblick laut klatschend, mit einem Ton, der einer kurzen, scharfen Lache nicht unähnlich war, gegen die feuchte Stange schlug.

»Der Junge ist so brav, daß er solchen Tod verdient hat. Gott schenk' ihm kein Krüppeldasein!« verteidigte sich Obrist von Bredow und scheuerte die kleinen Finger zornig an seinem Koller.

Was die Herren bewegte, war ein Vorfall, der leicht die verhängnisvollsten Folgen für die kaiserlichen Waffen hätte haben können. Wallenstein hatte zwei Stunden zuvor nach seiner Art einen mitternächtigen Rundgang um die Vorposten gemacht. Nur der Obrist Mohr vom Wald und Wallensteins Leibwache Franz hatten ihn begleitet. Dabei hatte sich das Unerhörte ereignet: Wie die Drei eine Waldblöße überschreiten, versperrt der Junge, der einen halben Schritt vor dem Generalissimus geht, diesem mit einer scheinbar ungeschickten Wendung, plötzlich hart vor seinen Füßen stehen bleibend, den Weg. Mohr vom Wald gibt ihm unwirsch einen Stoß gegen die Schulter. »Vorwärts, Tölpel!« In diesen! Augenblick aber bricht Franz, mit einem tonlosen Seufzer rückwärts fallend, in die Knie, und wie der Generalissimus ihn auffängt und sich über ihn neigt, sieht er, daß dem Jungen das rote Blut in Bächen über das Antlitz strömt. Ringsum ist totenstille Nacht, vorher und nachher.

Auf eigenen Armen trägt Wallenstein den leblosen Jungen in sein Zelt zurück und sitzt in tiefem Nachsinnen an seinem Lager. Schweigend nimmt er aus des Medikus Händen einen flachrunden Stein, den dieser mit seinen Instrumenten aus der durchschlagenen Schläfe des Jungen herausgräbt. Er schickt selbst den Obristen Mohr vom Wald aus dem Zelt und bleibt allein und unbeweglich in stummem Brüten an dem Sterbelager zurück. –

»Kaum die Hand vor den Augen konnte man sehen,« versicherte Mohr vom Wald den Kameraden zum zehnten Male. »Wie soll der Junge einen Menschen gesehen haben, der aus sicherem Versteck und einer Entfernung von zweifellos mehr als dreißig Schritt sein Mordgeschoß schleudert! Und wer richtet in stockdunkler Nacht eine so winzige Waffe mit so unfehlbarer Sicherheit auf den General? Ich versichere, ich habe vorher und nachher keinen Schritt, kein Knacken in den Zweigen, kein menschliches Atemholen gehört. Und doch schob sich der Junge im entscheidenden Augenblick so rasch und selbstverständlich vor den General, als war's eine Figur im Tanze, die er auszuführen hätte. War das Zufall? War's Absicht? Und wäre das Unmögliche möglich, und er hätte den Feind gewittert – denn ein Sehen war unmöglich –, woher wußte er die Bahn des Geschosses so auf den Zoll zu berechnen? Rätsel über Rätsel! und der Junge löst's uns nicht mehr auf, Wangler. Der sieht den Morgen nimmer.« Die Herren schwiegen.

Jetzt wurde der Türvorhang des Zeltes von unsichtbarer Hand bewegt. Mit zwei raschen Schritten trat Mohr vom Wald dem Generalissimus dienstbereit entgegen und hielt die vor Nässe brettartig steife Leinwand in die Höhe. Die Offiziere sahen, wie Wallenstein noch einmal zurücktrat, dem Arzt einen Wink gab und dem leblos Daliegenden mit der Hand abschiednehmend leicht durch die blutigen Locken fuhr. Dann verließ er lautlos das Zelt.

Vor seinen Offizieren blieb er stehen und betrachtete sie mit einem nachdenklichen Blick. Dann begann er zögernd und leise zu reden, indem er scheinbar gedankenlos auf das Blut an seiner rechten Hand niedersah. »Ja, Herren, darüber zu grübeln, fruchtet nichts. Zufall? Absicht? Was heißt das? Blind oder sehend – es war Bestimmung, daß er's tat.«

Er schwieg und sah angespannt auf die ernsten Gesichter seiner Offiziere, deren Gespräch er, ohne es zu kennen, an dem Punkte aufnahm, wo sie es liegen gelassen hatten. Wer Wallensteins Gesicht kannte, der sah ihm jetzt an, daß er noch ein Letztes unausgesprochen zurückhielt, das er doch aussprechen mußte. Er hob kaum die Lippen, als er leise, aber mit Festigkeit weiter sprach. »Ich wußte das. Seit langem. Immer.« Er schwieg und griff in das feuchte Laub einer jungen Buche, das er zwischen den Fingern der rechten Hand zusammenpreßte. Scheinbar gedankenlos blickte er auf die rötlich niedertröpfelnde Feuchtigkeit und trocknete die Hand in den bauschigen Falten seines Rockes.

Niemand wagte die Gedanken des Generalissimus zu unterbrechen. Die Herren standen, ohne sich zu rühren. Wallensteins Augen gingen von einem zum andern. Er fuhr fort zu reden.

»Ich will den Herren sagen, wie ich den Burschen auflas oder, wenn man das weiß, warum ich ihn mir vom Galgen schnitt und als Leibwache annahm.

Der Junge war ein Nürnberger Kaufherrnsohn. Sein Vater hatte durch fünfzig lange Werkeljahre den Weg von der Armut zum Wohlstand ausgemessen und in weniger als fünfzig Tagen den Weg zum Bettelstab zurückgefunden. Der die Schuld daran trug, war ich, oder der Schwede, oder der Soldat, oder der Krieg. Fünfzig Jahre, in denen die Gedanken ums Geld gehen, wie der Pfaff um den Altar, haben mehr Macht über ein Herz, als ein Soldat zu denken vermag. In dem Nürnberger ging mit dem reichen Mann zur selben Stunde der Mensch zu schanden. Was übrig blieb, war ein rachgieriges, beutelüsternes Raubtier, das auf der Fährte der Soldaten lag, die Todwunden abwürgte, die Toten auszog, Versprengte und Vorposten aus dem Hinterhalt niederriß und mit Wolfsgier zusammenraubte, was er erraffen konnte. Das war der Vater des Franz.

Weiß ein Soldat heute, was das in einem Nürnberger Kaufherrnhause heißt oder hieß: Sohn und Vater? Das heißt: Gehorchen und Befehlen, Hund und Herr, Mensch und Gott – je nachdem der Vater ist.

Der gebietende Gott und der gehorsamende Mensch, das waren der Kaufherr und sein Sohn, ehe der Zusammenbruch kam, Hund und Herr, das war Franz und sein Vater nach dem Zusammenbruch. Ein reißender Hund, der auf einen Wink des Vaters jeden Soldaten anfiel und an der Kehle niederriß, ein Hund, der auf einen Pfiff parierte und jeden Fehlsprung mit Mißhandlungen büßte, ein verwilderter, halbtoller Hund in den Händen eines Strauchdiebes – das war der Junge durch Tage und Wochen.

Eines Tages war der Alte meinen Arkebusiern in die Falle gegangen, die dem reißenden Wolf seit langem aufpaßten. Der Junge wollt' ihn herausbeißen und geriet selbst in die Eisen.

Meine Burschen machten wenig Federlesens mit dem Gesindel. Vor den Augen des Jungen beugten sie zwei junge Fichten zusammen, schnürten dem Alten Arm und Fuß hüben und Arm und Fuß drüben an den Stamm und ließen die Bäume empor- und auseinanderschnellen. Dann fielen sie über den Jungen her, um ihn dem Alten nachzusenden.

In dem Augenblick trat ich aus dem Gehölz, und wie ich die Gruppe sah, blieb ich stehen.

Da hob der Bursche den Kopf, und ich blickte in ein Gesicht, das starr und gleichgültig wie eine Maske war. Mit eins aber wurden die Augen des Jungen weit und groß und hafteten mit einem Blick in den meinen, der mich erschütterte. Und nun goß sich über Stirn und Antlitz bis über den Hals eine tiefe, brennende Röte, indes der Blick wie in verzehrender Scham den Boden suchte.

Ihr Herren, von allem Unbegreiflichen, was ich auf Erden gesehen, ist mir diese Scham eines halbvertierten Burschen vor einem fremden Menschenantlitz das Unbegreiflichste. Was sah er? Wen sah er? Wen glaubte er zu sehen?

Ich trat rasch auf ihn zu. »Kennst du mich, Bursch?«; herrschte ich ihn an. Er stand niedergeschlagenen Auges wie ein verschämtes Weib vor mir, und ein Zittern flog ihm durch alle Glieder. Zwei Knechte hielten ihn mit Mühe, als er sich mit jähem Ruck losriß und den Kopf gegen den nächsten Baumstamm zu schmettern suchte.

Da befahl ich, ihn an Armen und Füßen zu schließen und in mein Zelt zu bringen.

Zwei Tage und zwei Nächte mußte ich den Rasenden gegen sich selbst schützen lassen, erst in der dritten Nacht zerschmolz seine letzte Kraft in einem Weinkrampf, der Leib und Seele lösen zu wollen schien. In dieser Nacht hat er sich mir entdeckt.

Der Junge hatte mich nie vorher gesehen, weder im Leben noch im Bilde. Nicht einmal als Feldherr war ich kenntlich an jenem Tage. Ich trug ein schäbiges, braunes Wams wie der geringste Dragoner. Was den Jungen erschütterte, war nichts als der durch Wochen und Monde entbehrte und vergessene Anblick eines Menschenantlitzes. Ihm war zumute – ich brauche seine eigenen Worte – wie Adam, als er nach dem Sündenfall das Angesicht des Herrn sah. Er hatte den vollen Vorgeschmack der Scham, die die Seele durchfriert, wenn sie am jüngsten Tage nackt vor Gott steht. Ihm war, als fühle er zum ersten Male nach so viel tauben und toten Jahrhunderten die eigene Seele und zugleich die furchtbare Notwendigkeit ihres unwiederbringlichen Verlustes. Wiedergeburt und Gericht in einem erschütternden Augenblick. Was war Leben und Tod vor dieser Scham, die Leib und Seele verzehrte und ihm, der das Erröten kaum aus Kindertagen kannte, alles Blut rot über Hals und Antlitz goß!

Ihr Herren, habe ich jemals einen Blick in Gottes geheimste Werkstatt getan, so war es in jener Stunde, da sich dieses Knaben Seele an der meinen entzündete oder wieder entzündete wie ein Licht an der Fackel. In der Herzkammer der Welt habe ich gestanden in jener Stunde, so wahr Gott lebt. Denn in der Stunde maß ich die Tiefe einer Menschenseele und fühlte etwas wie einen Abglanz der seelenschaffenden Urkraft in mir. Kein Wunder aber ist größer und kein Rätsel unauflöslicher. Alles was später und heute geschah, ist aus jener Quelle geflossen, und mich gelüstet nicht zu wissen, wie das geschah, denn ich weiß das Warum ...«

Wallenstein schwieg. Seine Offiziere standen um ihn und erwogen die widersprechendsten Gedanken in ihren Köpfen. Und der Generalissimus wußte mit einmal, daß er zu Ungläubigen geredet hatte, denen seine Worte die Fäden der Geschehnisse noch unentwirrbarer verwirrt hatten, statt sie zu lösen. Ein schmerzlicher Zug trat in sein Gesicht. Plötzlich empfand er, daß er von der Seite voll und scharf gemustert wurde. Er wandte den Kopf, und seine Blicke senkten sich in die des Obristen Mohr vom Wald.

Mohr vom Wald glaubte, in dieser Stunde Wallensteins Antlitz zum ersten Male zu sehen. Und es durchschauerte ihn der Gedanke, daß in diesem Augenblick die geheimnisvolle Macht, die einst die Seele des im Zelte verblutenden Knaben durchflutet hatte, auch von ihm Besitz nahm. Er glaubte den Jungen zu verstehen.

Daß er das nie so gesehen hatte: dieses kampfzerwühlte, starrlebendige Antlitz war wie die gestaltenreife Erde, die klare Stirn, die über starken Brauen und leicht gehöhlten Schläfen mit edlem Schwung ansetzte und in einer großen und erhabenen Linie emporstieg, war wie der klare Himmel über ihm, und Stirn und Antlitz, Himmel und Erde, alle Größe und Kühnheit irdischer und überirdischer Kraft schmolz in der tiefen Glut seiner herrlichen schwarzen Augen zu einer unlöslichen, wunderbaren Einheit zusammen. – Mohr vom Wald glaubte die Seelendienstbarkeit des sterbenden Knaben zu verstehen, ohne sie ausdenken zu können.

Als Wallensteins Blick dem seines Obristen begegnete, wich die schmerzliche, verachtungsvolle Trauer, die sich über seine Züge gebreitet hatte, dem lebendigen Ausdruck eines tiefen Glückes. Er ergriff wortlos die Hand des anderen und hielt sie sekundenlang in der seinen. –

Da hob der Medikus den Zeltvorhang und winkte. Wallenstein wandte sich rasch um und trat in das Zelt. Der Knabe tat seinen letzten Seufzer, ohne noch einmal zu sich selbst zu kommen.

Langsam zerstreuten sich die Offiziere und suchten ihr Lager auf. Nur Mohr vom Wald blieb in tiefem Sinnen zurück. Eine Menschenseele, deren Sendung erfüllt war, hatte den Weg in den Ursprung des Seins zurückgefunden. Das glaubte er zu fühlen. Aber nur mit dem aufwühlenden Schmerze einer ratlosen Ungewißheit vermochte er dem Ziel der Sendung jenes Großen nachzudenken, an den er erst heute zu glauben gelernt hatte.

Die Nacht hatte sich aufgehellt, und das Mondlicht begann über den grauen, sturmzerrissenen Wolkensäumen aufzublühen wie milchweißer Flieder über altem Gemäuer.


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