Walter Flex
Der Wanderer zwischen beiden Welten (1)
Walter Flex

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Nach dem Dienste, in stillen Abendstunden, zündeten wir die kleinen Lichter in den farbigen Papierlaternen unsrer Holzhütten an und plauderten oder lasen. Oft brannten uns die Kerzen dabei, ohne daß wir's merkten, nieder, und durch das Glasdach meines Sommerhäuschens, das ganz aus schlanken, moosverfugten Fichtenstämmchen gezimmert war, brach Mond und Sternenlicht über uns herein.

Dann lebten Goethes Lieder auf, oder Zarathustras trotzige Reden zerbrachen die Stille, oder aus den Versen des Neuen Testaments, das er gern griechisch las, floß die Schönheit ewiger Worte geruhig über uns hin. In solchen Stunden wachte in dem Soldaten der junge Gottesstudent auf, und seine Seele streifte, frei und leicht zwischen beiden Welten wandernd, dunklen Schönheiten und hellen Wahrheiten nach. »Im Gebete sollen wir nicht mit Gott, Gott soll mit uns kämpfen«, sagte er einmal. »Das Gebet ist ein Selbstgespräch mit dem Göttlichen in uns, es ist ein Gespräch mit dem Gotte und ein Kampf mit dem Menschen in uns um die Bereitschaft der Seele.«

Willfährigkeit gegen das Göttliche und Wehrfähigkeit gegen das Menschliche, das gab seinem Wesen Reife und Anmut. Was er unter Bereitschaft der Seele verstand, sprach er ein andermal aus: »Wenn es Sinn und Aufgabe des Menschenlebens ist, hinter die Erscheinung des Menschlichen zu kommen, dann haben wir durch den Krieg unser Teil am Leben mehr als andere dahin. Wenige sehen wie wir hier draußen so viel Hüllen sinken, wenige haben so viel Niederträchtigkeit, Feigheit, Schwachheit, Selbstsucht und Eitelkeit, wenige so viel Würde und schweigsamen Seelenadel gesehen wie wir. Wir können vom Leben nicht mehr fordern, als daß es sich uns entschleiert; darüber hinaus ist keine menschliche Forderung. Uns hat das Leben mehr als vielen gegeben, warten wir ruhig ab, ob es auch mehr von uns zu fordern hat!«

An Zarathustra gefiel ihm der schwingentragende Gedanke, daß der Mensch ein Ding sei, das überwunden werden muß. Immer war seine Seele auf der Streife nach dem Ewigen. Auch in Sachen seines Volkes scheute er sich nicht, der Vergänglichkeit ins Auge zu sehen. Menschen und Völker, beide waren ihm vergänglich und ewig zugleich. Darum liebte er mit Herzlichkeit Gottfried Kellers »Fähnlein der sieben Aufrechten« mit seinem unvergänglich schönen und rührenden Gespräch der Schweizer Bürger über den fernen Tod und die Hinterlassenschaft ihres Volkes. Die Klarheit und Lieblichkeit dieser schönsten Novelle hat uns unendlich oft erquickt und unsre Herzen fröhlich und unsre Lippen beredt gemacht wie junger Wein. Wenn dann mitten in dem Frühling bunter Bilder Meister Kellers nachdenkliches und geruhiges Wort vom Tode der Völker aufklang, dann war's, als ob eine dunkle, tiefe Glocke in der Stille zu tönen anhöbe, und unsre Herzen schwangen in dem Ewigkeitsklange mit: »Wie es dem Manne geziemt, in kräftiger Lebensmitte zuweilen an den Tod zu denken, so mag er auch in beschaulicher Stunde das sichere Ende seines Vaterlandes ins Auge fassen, damit er die Gegenwart desselben um so inbrünstiger liebe; denn alles ist vergänglich und dem Wechsel unterworfen auf dieser Erde. Oder sind nicht viel größere Nationen untergegangen, als wir sind? Oder wollt Ihr einst ein Dasein dahinschleppen wie der ewige Jude, der nicht sterben kann, dienstbar allen neu aufgeschossenen Völkern, er, der die Ägypter, die Griechen und Römer begraben hat? Nein! ein Volk, welches weiß, daß es einst nicht mehr sein wird, nützt seine Tage um so lebendiger, lebt um so länger und hinterläßt ein rühmliches Gedächtnis; denn es wird sich keine Ruhe gönnen, bis es die Fähigkeiten, die in ihm liegen, ans Licht und zur Geltung gebracht hat, gleich einem rastlosen Manne, der sein Haus bestellt, ehe denn er dahinscheidet. Dies ist nach meiner Meinung die Hauptsache. Ist die Aufgabe eines Volkes gelöst, so kommt es auf einige Tage längerer oder kürzerer Dauer nicht mehr an, neue Erscheinungen harren schon an der Pforte ihrer Zeit! So muß ich denn gestehen, daß ich alljährlich einmal in schlafloser Nacht oder auf stillen Wegen solchen Gedanken anheimfalle und mir vorzustellen suche, welches Völkerbild einst nach uns in diesen Bergen walten möge? Und jedesmal gehe ich mit um so größerer Hast an meine Arbeit, wie wenn ich dadurch die Arbeit meines Volkes beschleunigen könnte, damit jenes künftige Völkerbild mit Respekt über unsere Gräber gehe!« Ich sehe Ernst Wurche noch vor mir, wie er einmal das schmale Heftchen bei seiner schönsten Stelle sinken ließ und über den Rand der Seiten träumte. »Nur den Strohtod«, meinte er, »den möchte man seinem Volke gern erspart sehen. Aber fast alle Völker sind den Strohtod gestorben. Der Gedanke an den Heldentod eines Volkes ist nicht schrecklicher als der an den Schwerttod eines Menschen. Nur das Sterben ist häßlich bei Menschen und bei Völkern. Aber wenn ein Mann den tödlichen Schuß, der ihm das Eingeweide zerreißt, empfangen hat, dann soll keiner mehr nach ihm hinsehen. Denn was dann kommt, ist häßlich und gehört nicht mehr zu ihm. Das Große und Schöne, das heldische Leben ist vorüber. So muß es auch sein, wenn ein Volk in Ehren und in Größe seinen Todesstreich empfangen hat, – was danach kommt, darf niemand mehr seinem Leben zurechnen, es ist kein Teil davon . . . .« Aus seinen Worten klang so viel Jugend und Tapferkeit, daß ich am liebsten seine Hand gepackt und herzhaft geschüttelt hätte.

Die tiefe Ehrlichkeit, mit der er alles erlebte, ansah und überdachte, brachte ihn oft in einen fast drolligen Zorn, wenn wir eins der gutgemeinten und in Massen ins Volk geworfenen Bücher durchliefen, in denen dieser oder jener berühmte Publizist seine Eindrücke an der deutschen Front gesammelt hatte. Die rosa Schminke verdroß ihn, wo er sie sah. »Wenn man doch die Phrase von dem allgemeinen Heldentum der Masse lassen wollte,« sagte er einmal. »Als ob es nicht ebenso gut klänge, wenn man ehrlicher, ruhiger und wahrer von dem Vorherrschen des Sinnes für Pflicht, Gehorsam und Treue im Volk spräche. Helden sind Ausnahmen, sonst brauchte man nicht von ihnen zu reden.« Der Sinn für Schlichtheit saß ihm tief im Blute, Schönfärberei und Phrase war ihm verhaßt.

Diese Scheu vor der Oberflächlichkeit konnte ihn je nach der Umgebung einsilbig machen oder beredt. Und darum schien ihm das Zwiegespräch mit Recht die schönste Unterhaltung; denn kein andres Gespräch vermag so wie dieses ohne Sprunghaftigkeit ruhig in klare Tiefen zu steigen. Manches liebe und nachdenksame Wort, in stillen Nachtstunden von junger Menschenhand geschürft, ist mir seither ein Stück von der Habe des Herzens geworden. Keins aber leuchtet heller nach als jenes, mit dem er einmal an der Brustwehr seines Grabens ein nächtliches Gespräch über den Geist des Wandervogels schloß: » Rein bleiben und reif werden – das ist schönste und schwerste Lebenskunst.«

Die Wandervogeljugend und das durch ihren Geist verjüngte Deutschtum und Menschentum lag ihm vielleicht zutiefst von allen Dingen am Herzen, und um diese Liebe kreisten die wärmsten Wellen seines Blutes. Ihm, dem selber Leib und Seele frei und ebenmäßig zu natürlicher Schönheit wuchsen, schien die beste Erziehung zu sein, den jungen Baum leicht und geruhig wachsen zu lassen, sich seines Blühens zu freuen und ihm, wenn's not tat, einmal die Blätter zu waschen. Er verschloß seine Augen nicht vor häßlichen Auswüchsen der großen Jugendbewegung. »Aber«, meinte er, »die meisten Auswüchse kommen von dem sinnlosen Betasten und Beklopfen des jungen Holzes. Ein eingeschnürtes Stämmchen muß unnatürlich wuchern, auch wo es nicht will. Rührte man nicht immer und immer mit knöchernem Finger an das Feinste und Beste der werdenden Seele, an ihre Unbefangenheit, so würde ihr schönster Schmelz, die Bescheidenheit, nicht so oft zerstäuben. Wer die Kampflust der Jugend reizt, macht sie hochmütig und laut, und wer sie ungeschickt anfaßt, der macht sie häßlich. Natürliche Jugend ist immer bescheiden und gütig und dankbar für herzliches Gewähren, aber wer sich, ohne Ehrerbietung wecken zu können, ans Erziehen macht, soll sich nicht wundern, wenn er Frechheit und Grausamkeit weckt.«

Den Kampf der deutschen Jugend um das gute Recht ihres natürlichen Wachstums verfolgte er mit der gleichen inneren Leidenschaft wie das Ringen der Völker, das ihn nun seit Monaten in seinem Strudel umtrieb. Von seinem Leutnantsgehalt schickte er fleißig an die Wandervögel daheim auf Schule und Hochschule. »Denn die Kriegskassen der Jugend muß man füllen helfen«, lachte er. Und kamen dann Briefe mit ungelenken Buchstaben und schrägen, drängenden Zeilen, oder es kamen die gelben Hefte des »Wandervogels« mit ihren schwarzen Schattenbildern und bunten Fahrtenbriefen, dann trat ihm beim Lesen die Seele in die Augen. Auch seinen Geschwistern schickte er Geld »zum Wandern«, und immer wieder zog seine Seele, frohherzig lauschend, dem fernen Klang der unter einem Wirbel von Liedern wandernden Jugend nach. Er schaute lächelnd dem Kahne nach, der seine Geschwister mit ihrem gastfreundlichen Pfarrherrn durch den rosigen Abendfrieden der schimmernden Seebreite trug, und lachte sein leises, gutes Schelmenlachen, wenn die Posaune des Pfarrherrn sich vor den gläubigen, jungen Augen zur Seele des zarten Abendfriedens machte, einer gewaltigen Seele, die ihren leichten Körper dröhnen und beben machte.

Es kamen auch andere Briefe, die ihn still und einsilbig machten und ihm das Warten und Lauern hinter dem Drahtzaun zur Qual werden ließen. In Flandern und Galizien legten fremde Hände seine besten Fahrtgesellen ins Grab. »Ich habe so viele gute Freunde zu rächen –« stieß er einmal ingrimmig hervor. »Rächen –?« fragte ich. »Würden Sie selber gerächt sein wollen?« Er sah nachdenklich mit zusammengezogenen Brauen zu den russischen Gräben hinüber und antwortete langsam und vor innerer Bewegung an den Worten zerrend: »Nein. Ich nicht. Aber die Freunde . . . .« Ich nicht, aber die Freunde – da reckte sich Mensch neben Mensch in einem engen Herzen auf. Ich stand neben ihm und schwieg. Nach einer Weile schob er seinen Arm in meinen und sprach, indem er mir nah und fest ins Auge sah:

»Der Stahl, den Mutters Mund geküßt,
Liegt still und blank zur Seite.
Stromüber gleißt, waldüber grüßt,
Feldüber lockt die Weite! –«

Das ist doch schön, nicht wahr, mein Freund!« Und so machte sein junges Herz die heiße Eisenprobe auf das, woran es als gut und schön glaubte. Und zugleich gab es Dank und Freundschaft an ein anderes Herz, das ihm brüderlich nahe war.

Seine Freundschaft ließ er mehr spüren, als daß er sie aussprach. Er eröffnete sein und des andern Herz in dem gleichen, freien Vertrauen, ohne Dringlichkeit und Überschwang. Das erste Exemplar meines Kriegsbuches »Sonne und Schild« schenkte ich ihm, und als er's gelesen, sagte er nichts als: »Ihre Mutter möchte ich kennen lernen, Flex. Ich darf sie doch nach dem Kriege besuchen, nicht wahr?« – – –

Allmählich war der süßherbe Frühlingsgeruch alten Laubs und junger Erde in den schwülen Brodem sommerheißer Sümpfe und den Dunst abgeblühter Wasser übergegangen. Die jungen Krähen, die unsre Leute aus den Horsten der Föhrenwipfel zur Kurzweil heruntergeholt hatten, stolzierten längst groß, frech und struppig mit gestutzten Flügeln auf der Brustwehrkrone unsres Grabens entlang, krakeelten mit den Posten, hieben mit den dreisten Krummschnäbeln nach den blanken Mündungen der Gewehrläufe oder revidierten die Kochgeschirre und Trinkbecher bei den Ruhebänken der Mannschaften. Im heißen Sande sonnten sich Kreuzottern und Kupfernattern, die den Fröschen auf der kühlen Grabensohle nachstellten. Der wunde und ausgeholzte Wald strömte starken Harzgeruch aus. Die Sumpfwiesen wucherten von fettem Grün, und von den sonnentrocknen Moorbreiten schwelten rote Torfbrände durch die weißen Juninächte. Die Luft glimmerte und zitterte tagsüber von Sonne, und rasch heraufziehende Gewitter entluden sich krachend über den schwankenden Föhrenkronen.

Von Galizien grollten die Donner neuer gewaltiger Kämpfe herüber, und in die Riesenglieder der Hindenburgarmee, die in eiserner Ruhe erstarrt schienen, kam ein Recken und Strecken, bis die endlose Front von lärmendem Kampfgetöse erdröhnte. Wir lagen noch immer abwartend hinter unsren Verhauen, aber wir lauerten nur noch auf den Befehl zum Vorbrechen. Auf nächtlichen Streifzügen zum Feinde hatten wir schon Papierfahnen mit der schadenfrohen Nachricht vom Fall Przemysls und Lembergs an die russischen Drahtverhaue geheftet, und wir wußten, daß diese Meldungen auch für uns heute oder morgen zu Angriffsfanfaren werden mußten.

Aber ehe uns der wachsende Strom des großen Kampfes erfaßte und in seinen Strudeln fortriß, wurden uns noch ein paar klare, glückliche Tage geschenkt, deren Bild aus der Vergangenheit herüberleuchtet wie der Schimmer von fernen, schönen, hellspiegelnden Seen. Unsre Kompanie wurde zu Anfang des Juli auf fünf Tage aus den Gräben gezogen und kam unter Laubhütten und Zelten tiefer im Walde in Ruhestellung. Der Zufall wollte, daß in diese Zeit mein Geburtstag fiel, und der Freund half den Tag feiern, nicht mit vollen Gläsern und Liederlärmen, sondern in seiner Art mit Sonne, Wald und Wasser und dem Ewigkeitsklang uralt schöner Worte, die sich auf jungen Lippen verjüngten und beseelten. Der waffenlose, wolkenlose Feiertag des sechsten Juli wurde ganz ein Geschenk seines frischen Herzens an das meine. Als die Sonne am höchsten stand, gingen wir aus dem Schatten der roten Föhren zu den Nettawiesen hinunter. Die Sonne badete im tiefsten Blau des vom Nachtgewitter erfrischten Himmels und überspiegelte mit feuchtem Glanze die hellschimmernden Flußwindungen und den fern in stählernem Blau aufblendenden Schild des Sajno-Sees. Das Licht troff durch das vollsaftige Grün der strotzenden Pappeln und Weiden, und über dem wuchernden Gras der weiten Koppeln flimmerte die Luft und zitterte unter dem Atem der erwärmten Erde. Wir warfen die Kleider am Netta-Ufer ab und badeten. Mit dem Strome trieben wir in langen Stößen hinab, schwammen gegen den Strom zurück, daß sich uns das Wasser in frischem Anprall über die Schultern warf, und stürzten uns immer aufs neue von der sonnenheißen Holzbrücke, die gegen die Sohlen brannte, kopfüber in weitem Sprung in den Fluß. Auf dem Rücken trieben wir geruhig stromab und liefen auf dem lauen Sande am Schilfufer zurück. Im buntwuchernden Wiesenkraut ließen wir uns von Sonne und Wind trocknen, und die leisen, zitternden Sonnenwellen rannen gleichmäßig durch Luft und Sand und Menschenleib und durchgluteten alles Lebendige mit trunkener Kraft und erschlaffender Freude.

Die Wiese schäumt von Blüten,
Der Wind singt drüber hin,
Den sonnenlichtdurchglühten
Leib bad' ich kühl darin.

Du freie Gottesschmiede,
Du lohe Sonnenglut,
Inbrünstiglich durchglühe
Leib, Seele, Herz und Blut!

Ins Glühen unermessen
Und Blühen eingewühlt
Will ich den Tod vergessen,
Der alle Erde kühlt.

Glüh', Sonne, Sonne, glühe!
Die Welt braucht soviel Glanz!
Blüh', Sommererde, blühe,
Ach blühe Kranz bei Kranz!

Geschützdonner grollte von fern herüber, aber die Welt des Kampfes, dem wir auf Stunden entrückt waren, schien traumhaft fern und unwahr. Unsre Waffen lagen unter den verstaubten Kleidern im Grase, wir dachten ihrer nicht. Eine große Weihe kreiste unermüdlich über der weiten schimmernden Tiefe grüner Koppeln und blauer Wasser; an ihr, deren schlanke Schwingen in weitem, prachtvollem Schwunge zu lässigem Schweben ausholten, hingen unsre Blicke. War es der Raubvogel, der die Seele des jungen Menschen neben mir emporriß in freier Gottesfreude? Der Wandervogel, der einst in deutschem Gotteshause eingesegnet worden war mit dem seiner Seele ebenbürtigen Spruch: »Die auf den Herren harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler!«, der junge Gottesstudent fühlte seiner Seele die Schwingen wachsen von jener ewigen Kraft, die »deinen Mund fröhlich macht, daß du wieder jung wirst wie ein Adler«, und frei und leicht hob er sich und den Freund empor über die hellen Tiefen der bunten Erde. Der junge Mensch stand schlank und hell auf dem blühenden Grunde, die Sonne ging schimmernd durch seine leichtgebreiteten Hände, und die Lippen, die so oft von Goethes Liedern überflossen, strömten den uralt heiligen Wohlklang der Psalmen Davids über den sonnentrunkenen Gottesgarten hin:

»Herr, mein Gott; du bist sehr herrlich!
Du bist schön und prächtig geschmückt!
Licht ist dein Kleid, das du anhast!
Du breitest aus den Himmel wie einen Teppich.
Du wölbest es oben mit Wasser.
Du fährst auf den Wolken wie auf einem Wagen
und gehest auf den Fittichen des Windes.
Du machst deine Engel zu Winden
und deine Diener zu Feuerflammen,
der du das Erdreich gründest auf seinem Boden,
daß es bleibt immer und ewiglich.
Die Ehre des Herrn ist ewig.
Der Herr hat Wohlgefallen an seinen Werken.
Er schauet die Erde an, so bebet sie . . . .
Ich will dem Herrn singen mein Leben lang
und meinen Gott loben, solange ich bin.
Meine Rede müsse dem Herrn wohlgefallen.
Ich freue mich des Herrn!«

Das ewige Preislied Gottes aus seiner Schöpfung ging über die reife, in ihren Tiefen erwärmte Erde hin. Der Wohlklang der jungen Stimme umlief wie ein tönendes Kristall den klaren Wein der ewigen Worte. Der ebenmäßige Mensch in seiner jungen Schlankheit stand selbst wie ein Dankesmal der Schöpfung in dem hellprangenden Gottesgarten, und von seinen frischen Lippen ging ein Hauch religiösen Frühlings über Erde und Menschen hin.

Über die weiten Koppeln hin stob der übermütige Galopp sattelloser Pferde. Stuten und Fohlen weideten auf den Nettawiesen. Im Wasser und an den grünen Ufern des Flusses wimmelte es von den hellen Leibern badender Soldaten, die lichten Breiten der Netta schäumten von Wasser, Sonne und ausgelassenem Lachen. Die ewige Schönheit Gottes prangte über dem weiten Gottesgarten und leuchtete als Sonne und Schild über dem hellen Bilde des Jünglings . . . .

Über den Lärm und Glanz aller Kämpfe und Siege hin glänzt das Bild dieser Stunde in mir nach als der stärkste Eindruck, den ich mit Seele und Sinnen im Leben empfangen habe.

Aber am Abend des Tages stand derselbe Mensch im grauen Waffenrock neben mir auf dem dunklen Hochstand im Wipfel einer Doppelfichte, von wo tagsüber unsre Baumposten das Kampfgelände mit Ferngläsern absuchten, und ließ spielend den roten Mond im hellen Stahl seines breiten Seitengewehrs spiegeln. Seine rechte Hand glitt in leiser Unruhe prüfend an der Schneide entlang, und Auge und Hand freuten sich, wie so oft, an der römischen Form der blanken Waffe. Mit leicht vorgestrecktem Kopfe horchte er nach dem Dunkel der russischen Gräben hinüber, über denen die wachsamen Leuchtkugeln stiegen und sanken. Hinter den schwarzen Holzhütten von Obuchowizna glomm die rote Glut eines Torfbrandes, und schwarzer Ruß flockte in Wolken über den fackelhellen Himmel. Wir sprachen, ins Dunkel der Riesenfichte geschmiegt, von den Kämpfen, denen wir entgegengingen. »Einen echten und rechten Sturmangriff zu erleben,« sagte der junge Leutnant neben mir, »das muß schön sein. Man erlebt vielleicht nur einen. Es muß doch schön sein.« Und schwieg wieder und blickte auf den breiten Stahl in seinen Händen nieder. Mit einmal legte er mir den Arm um die Schulter und rückte das helle Schwert vor meine Augen: »Das ist schön, mein Freund! Ja?« Etwas wie Ungeduld und Hunger riß an den Worten, und ich fühlte, wie sein heißes Herz den großen Kämpfen entgegenhoffte. Lange noch stand er so, ohne sich zu rühren, mit leicht geöffneten Lippen im heller werdenden Mondlicht, das über die breite Klinge in seinen hellen Händen floß, und schien auf etwas Fremdartiges, Großes und Feindseliges zu lauschen, das im Dunkel verhohlen war. Wie er so wach und durstig in eine nahe, waffenklirrende Zukunft hineinhorchte, schien er mir wie das lebendig gewordene Bild des jungen Knappen, der in der Nacht vor der Schwertleite ritterliche Wacht vor seinen Waffen hält.

An diese seltsame, dunkle Stunde wurde ich erinnert, als ich vor Weihnachten die Mutter des gefallenen Freundes in seiner Heimat besuchte. Nach einer Weile des Schweigens fragte sie mich leise: »Hat Ernst vor seinem Tode einen Sturmangriff mitgemacht?« Ich nickte mit dem Kopfe. »Ja, bei Warthi.« Da schloß sie die Augen und lehnte sich im Stuhle zurück. »Das war sein großer Wunsch,« sagte sie langsam, als freue sie sich im Schmerze einer Erfüllung, um die sie lange gebangt hatte. Eine Mutter muß wohl um den tiefsten Wunsch ihres Kindes wissen. Und das muß ein tiefer Wunsch sein, um dessen Erfüllung sie noch nach seinem Tode bangt. Oh, ihr Mütter, ihr deutschen Mütter! – –

Wißt ihr nun, ihr, die ihr diesen Tag nacherlebt habt, von dem ich redete, wißt ihr nun, was es heißt, Wandrer sein zwischen beiden Welten? . . .

In den letzten Tagen des Juli löste uns ein Landwehrregiment in den Gräben vor Augustowo ab. Mit übermütig vollen Herzen lasen wir den Ablösungsbefehl. Wenn auch das Marschziel geheim gehalten wurde, so wußten wir doch, es ging ins Gefecht, es wurde Ernst. Aber wir wollten nicht klanglos aus den liebgewordenen Wäldern marschieren. Auf einer ausgelassenen Abschiedspatrouille sagten wir nächtlicherweile den russischen Muschiks Lebewohl, mit denen wir so lange feindnachbarlich zusammen gehaust hatten. Mit roten und blauen Papierlaternen aus unsern Unterständen und langen Hakenstangen schlichen wir im Dunkel über den Kolnobach und krochen an die feindlichen Verhaue an. Dort schafften wir uns mit den flinken Handspaten im lockern Sande eine Kugeldeckung, hingen die bunten Lampen an die Stangenhaken und zündeten sie in tiefen Wühllöchern gleichzeitig an. Auf ein leises Kommando schwebten die hellen Laternen, rot und blau aufleuchtend, über den russischen Verhauen empor und standen dort festlich und feierlich still. Zugleich erhob sich, von einem Dutzend frischer Stimmen gesungen, die Wacht am Rhein und schwoll über die Russengräben hin. Die aus dem feindlichen Dunkel knatternden Salven taten den Sängern hinter ihren guten Sandhaufen wenig, nur daß hie und da einer lachend den Sand aus den Zähnen spuckte, den die über die Deckung streifenden Kugeln in den offenen Mund peitschten. Die blaue Lampe erlosch und fiel, von ein paar Kugeln zerfetzt, von der Stange. Aber die roten Laternen hielten sich um so wackerer, nur daß sie eben ein paarmal im Kugelwind schwankten und flackerten. Mählich wurde, während Gesang und Gelächter unbekümmert fortklangen, der ganze Russenwald rebellisch, aber je wütender aus den Gräben geschossen wurde, desto sicherer wußten wir, daß keine stärkere Patrouille gegen uns vorging, um den nächtlichen Unfug an den Stacheldrähten zu bestrafen. Leuchtkugeln flogen steilauf, hielten sich ein Weilchen flackernd in schwebender Helle, sanken nieder und erloschen blakend neben uns im Sande; sie wurden mit Hallo als Bereicherung des nächtlichen Feuerwerks begrüßt. Allmählich ließ das Schießen nach, und es war wohl an der Zeit, die kleine Patrouille zurückzunehmen, ehe sie von stärkeren russischen Kräften ausgehoben würde. Denn Verluste durfte der nächtliche Unfug nun einmal nicht kosten. Aber kaum wollte ich den Befehl zum Rückzug geben, da wälzte sich ein junger Kriegsfreiwilliger im Sande blitzschnell mit dem Gesicht nach mir herum und bettelte: »Herr Leutnant – Musketier sein's lust'ge Brüder!« Und eh' ich noch antworten konnte, fielen zehn Stimmen und mehr, sich vor Übermut überschlagend, in den Text des braven Soldatenlieds ein. Dagegen war nichts zu machen. Ich fügte mich und beschränkte mich darauf, die Augen wachsam spazieren zu lassen, während die guten Kerls Vers um Vers heruntertobten. Das neu einsetzende russische Feuer beruhigte mich zudem; die Russen schienen keine Lust zu haben, der frechen Gesellschaft, die ihnen vor der Nase lärmte, handgreiflich auf den Pelz zu rücken. Das längste Lied nimmt einmal ein Ende, auch ein Soldatenlied. Aber meine Hoffnung erwies sich als trügerisch, denn nach dem »lustigen Musketier« schien meinen grauen Jungs das Lied von der »finsteren Mitternacht« als unabweisliches Bedürfnis. »Herr Leutnant – Steh' ich in finstrer Mitternacht! –?« Mochte vernünftig sein, wer wollte angesichts solcher Schuljungenlustigkeit nach zwölf Kriegsmonaten! Ich blieb bäuchlings im Sande liegen und lachte, während meine Kerls immer wütender sangen und Sand spuckten. Zwei rote Papierlaternen hielten sich unvergleichlich trotz alles Flackerns und Baumelns. Aber alles muß einmal ein Ende nehmen, und so setzte ich allen weiteren Programmvorschlägen ein eisernes Nein entgegen und ließ die Leute einzeln bis zur nächsten Wiesenschlenke zurückkriechen, wo wir uns in Deckung sammeln konnten. Nach weiteren hundert Metern sprangen wir auf und machten, daß wir über den Bach zurückkamen. Gottlob, es bekam keiner etwas ab trotz der Abschiedsgrüße, die fleißig hinter uns dreinpfiffen. In unseren Gräben mußten wir noch einmal über das sorgenvolle Gesicht des Kompanieführers lachen, der bereits dem Unterabschnittskommandeur telephonisch das Auftauchen roter Signallichter in der russischen Stellung gemeldet hatte und nun etwas verdutzt unsere Patrouillenmeldung entgegennahm. Viel Zweck hatte der übermütige Streich nicht, aber es war doch ein hübsches Zeichen für den Geist, mit dem unsre Leute nach wochenlangem Stilliegen in den Bewegungskrieg gingen.

Andern Tags erwarteten wir die Ablösung. Noch einmal streiften wir zu zweit, den Mückenschleier unter der Feldmütze, durch den würzigen Harzduft und schweren Torfgeruch der Sumpfwälder und schlenderten bis zu den Nettawiesen. Am Waldrand im heißen Sand gelagert, hörten wir die Schnaken singen und die Spechte hämmern. Das keifende Geschwätz der Eichelhäher lärmte uns zu Häupten, und die schillernden Blauspiegel ihrer Flügel leuchteten blank zwischen den sonnenroten Stämmen auf, wie sie in ungeschicktem Schlingerflug von Lichtung zu Lichtung herauf- und hinunterstoben. Die papageienbunten Mandelkrähen schwangen sich über das dunkle Grün der Fichten und ließen die Sonne in ihrem farbigen Gefieder aufblenden. Fern hinter dem breiten Stahlschilde des Sajno-Sees verdämmerten im Sonnendunst des Horizonts violette Zichorienfelder und die weißen Teppiche üppig blühender Margaretenwiesen. Die blaue Netta gluckte leise aus prangendem Grün und buntem Schaumkraut herüber.

Am Spätabend rauschte und klirrte der Marsch der ablösenden Landwehrkompanie durch den stillgewordenen Wald. Mit den Unterständen und Gräben zugleich übernahmen die Landwehrleute von unsern Musketieren das lebendige Erbe der zahmen Krähen und halbflüggen Blauraken. Gute Wünsche herüber und hinüber, dann rückte die Kompanie ab. Im Waldesdunkel intonierte die Kompaniekapelle, deren Instrumente zumeist sehr sinnreich aus Blechbüchsen und Telephondraht hergestellt waren, das »O Deutschland, hoch in Ehren!«, und Gruppe um Gruppe fielen die Mannschaften ein. Unter Lachen und Singen ging es der ungewissen Zukunft entgegen.

Die Nacht verbrachten wir auf Stroh in den Russenkasernen von Augustowo. In den nächsten Tagen ging's über Suwalki nach Kalvarja weiter. Auf diesen ersten Märschen, die den im monatelangen Stellungskrieg eingerosteten Knochen der Leute recht sauer wurden, erwies sich der junge Wandervogel als frischer Helfer. Ohne viel Ermahnen, Schelten und Antreiben wußte er durch ein rasches Scherzwort hier und dort einen niederhängenden Kopf zu heben, während er mit leichtem, festem Schritt an der marschierenden Kolonne herauf- und herunterging. Bot ihm einer der berittenen Offiziere während des Marsches ein Pferd an, so schlug er's aus; als Zugführer marschierte er mit seinen Leuten. Von einem Gaul herunter, der ihm nicht zustand, die müden Gruppen anzutreiben, das lag ihm nicht. Etwas Festes und Festliches war immer in seinem Gang, das jeden gern nach ihm hinschauen ließ. Unweit Kalvarja wurden die Marschkolonnen des Bataillons von der russischen Artilleriebeobachtung bemerkt, und über die auf kurze Strecke eingesehene Straße fegten krachend die Sprengladungen berstender Schrapnells. Hart neben den ziehenden Kolonnen schleuderten einschlagende Granaten die schwarze Erde baumhoch empor und wühlten mächtige Trichter auf. Die Kompanien wichen dem Feuer in den Sumpfbruch rechts der Straße aus und zogen abseits außer Sicht im Wiesengrunde weiter den Türmen von Kalvarja entgegen. Noch sehe ich Ernst Wurche durch den Granatensegen von Kalvarja schreiten mit demselben geruhigen und aufrechten Gang, mit dem er die Steilhänge der Côtes Lorraines hinab, an ostpreußischen und polnischen Seen entlang und singend an der Spitze der zum Baden ziehenden Kompanie durch die Sonnenwälder von Augustowo gezogen war. Dieser Gang wurde um nichts hastiger. Das ruhige, feste, gleichsam befehlende Ausschreiten des jungen Leutnants geleitete die Kompanie in guter Ordnung durch die Feuerzone und verhinderte ein Auseinanderlaufen der Kolonnen in dem unbekannten und gefährdeten Gelände. Nach stundenlangem, erschöpfendem Marsch durch morastige Gründe und unwegsame Hänge bog die Kompanie wieder auf die große Straße ein. Neben dem triebhaften Vorwärtsziehen der müden grauen Masse klang der lebendige Schritt des jungen Führers über das Steinpflaster von Kalvarja.

Zwischen Kalvarja und Mariampol bezog das Regiment noch einmal feste Stellung, die von preußischer Landwehr ausgebaut war. Ein abscheulicher Fäulnisgeruch lag über den Lehmgräben, in denen trübes Grundwasser immer in tiefen Lachen und Pfützen stand. Unter dem Bodenbelag der Unterstände mußte das nachsickernde Wasser immer aufs neue ausgeschöpft werden. Jenseits der Brustwehr lag der ausgeworfene Schlamm in breiten, zähen Bächen. An der Luft und unter der Erde wimmelte es von Ungeziefer. Das Fliegengeschmeiß sammelte sich um jeden eßbaren Bissen in schwarzen Klumpen, und aus dem Deckbalkengefüge der Unterstände warfen uns die unermüdlich wuselnden Mäuse den trocknen Lehm auf Köpfe und Teller. Ernst Wurche, der in diesen Tagen seinen dritten Zug an einen Kameraden mit älterem Patent abgeben mußte, teilte mit mir ein enges Erdloch, in dem wir gerade auf zwei etagenförmig übereinander gebauten Pritschen schlafen konnten. Gegen die Mäuse eröffneten wir, wenn es zu toll wurde, mit unsern Pistolen von beiden Pritschen her nächtliche Feuerüberfälle, die sich mitunter zu wütendem Trommelfeuer steigerten. Wenn dann unsre Taschenlampen als Scheinwerfer über den Kampfplatz spielten, beleuchteten sie ein wüstes Trümmerfeld von Holzsplittern und Lehmbrocken, unter denen sich einmal sogar eine Mäuseleiche begraben fand. Die Höhlenluft, in der wir schliefen, wurde durch den Pulverschwaden, der das nächtliche Schlachtfeld deckte, weder besser noch schlechter. Im übrigen mieden wir nach Möglichkeit den Aufenthalt in dem unappetitlichen Loche, in dem wir uns trotz der von Wurche besorgten pomphaften Türinschrift »Stabsquartier des 2. Zuges« nicht heimisch fühlten. Bei Nacht wanderten wir durch den Graben und die Horchpostenlinie oder pirschten uns auf Patrouille an die russische Feldwache heran. Bei Tage nützten wir jedes Stündlein Sonne zum Faulenzen und Plaudern auf einer kärglichen Feldblumenwiese hinter den Gräben. Die flache Wiese war der einzige saubere Fleck, der uns in dem armseligen Lande, das sich um die »Leidensstadt« Kalvarja dehnt, erreichbar war. Aber sie hatte den Nachteil, daß man sie nur »liegend« bewohnen konnte. Vermaß man sich, aufrecht darauf zu wandeln, so pfiffen einem vom Russengraben her die Salven um die Ohren. Aber es war doch schön, sich auf dem blühenden Fleckchen zu strecken, die Hände unterm Kopf zu verschränken und in den blauen, sonnenheißen Himmel hinaufzusehen. Auf dieser Wiese haben der Freund und ich unsre letzten Plauderstündchen gehalten, zum letzten Male habe ich mich hier seines gedankenhurtigen und bildkräftigen Plauderns freuen dürfen . . . Goethes Lieder ließen uns die Armseligkeit der Umgebung vergessen, und oft rief uns erst der Kugelsegen, der uns beim Aufstehen begrüßte, wieder in die Wirklichkeit zurück.

In der ersten Frühe des 19. August hatte ich den Freund eben im Nachtdienst abgelöst, als ich vom Kompanieführer den Befehl erhielt, mit einer Patrouille die Stärke der feindlichen Grabenbesatzung nach Möglichkeit zu erkunden. Die Kämpfe um Kowno machten die Stellung des Gegners mit jedem Tage unhaltbarer, und es lag alle Ursache vor aufzupassen, ob er nicht einmal freiwillig bei Nacht und Nebel die Gräben räumte, um sich weiter rückwärts in günstigerer Lage aufs neue festzusetzen.

Mit einer Patrouille von zwei Gruppen fühlte ich vor. Es war schon fast heller Tag. und zunächst glaubte ich nicht, daß wir weit kommen würden. Denn gleich als wir uns über die Ausfallrampe der Brustwehr schwangen, pfiffen uns von drüben ein paar Kugeln um die Ohren, die uns bewiesen, daß noch Leben in dem Russengraben war, und zudem mußten wir fast den ganzen Weg in voller Sicht des Feindes zurücklegen. Aber sonderbar, je weiter wir vorgingen, desto zaghafter kamen die Schüsse vom gegnerischen Graben. Daß wir längst bemerkt waren, daran war kein Zweifel. Entweder hatten also die Russen in der Nacht die Stellung geräumt und nur ein paar Leute zurückgelassen, die durch fleißiges Schießen die Grabenbesatzung so lange wie möglich »markieren« sollten und denen es nun angesichts unsres Vorgehens rätlich schien, keine zu große Erbitterung in uns aufzuspeichern, oder aber man wollte uns herankommen lassen und in die Falle locken. Um herauszubekommen, welche der zwei Möglichkeiten wahrscheinlich sei, nahm ich mit meinen zwei Gruppen auf einem flachen Hügel Stellung, schoß ein paar Salven nach den russischen Gräben und ging dann im Kehrt ein Stückchen zurück, als wenn ich wieder in die eigene Stellung wollte. Ich sagte mir: wollten die Russen uns in die Falle locken und sehen nun, daß wir doch umkehren, so werden sie jetzt mit allen Gewehren feuern, um uns zusammenzuschießen, ehe wir ganz entkommen. Aber trotz der Kehrtschwenkung blieb es bei ein paar Schüssen, die bald von rechts, bald von links her über unsre Köpfe weggingen. Dadurch sicher gemacht, gingen wir wieder energisch gegen die russischen Verhaue vor. Gleichzeitig schickte ich einen Mann zurück an Leutnant Wurche, er möchte mir mit einer Handgranatengruppe möglichst rasch folgen. Ich wollte ihn in einem abgebrannten Gehöft kurz vor dem russischen Hindernis erwarten, dann in den Russengraben einbrechen und uns im Fall einer Überrumpelung mit den Nahkampfmitteln doch noch aus der Falle herauskämpfen. Es ging alles glatt ab. Auf ein verabredetes Zeichen brachen wir unter den verkohlten Bäumen vor und rissen die spanischen Reiter des russischen Hindernisses auseinander. Im Nu hatten die hartzupackenden Fäuste unsrer Leute eine Bresche gelegt, und wir sprangen über die Brustwehrkrone in den feindlichen Graben hinein. Im kritischen Augenblick des Vorbrechens schlug doch allen das Herz schneller, das merkte man an der Art, mit der die Hände der Leute in den Stacheldraht hineinfuhren. Im russischen Graben holte uns Ernst Wurche mit seiner Handgranatengruppe ein. Ein russischer Sergeant gab sich mit einer Gruppe gefangen. Wir schickten eine Gefechtsordonnanz an die Kompanie zurück, entwaffneten die Russen und schickten sie mit zwei Mann als Bedeckung dem vorauseilenden Melder nach. Einen Teil der Leute ließen wir zur weiteren Durchsuchung der Unterstände zurück und gingen mit dem Rest der Patrouille aufklärend gegen die zweite Stellung des Gegners vor. Die Gräben auf der beherrschenden Höhe 130 fanden wir leer, und auch die Gehöfte weiter rückwärts waren verlassen. Nur ansehnliche Batterien leerer Flaschen in den kahlen Stuben zeigten deutlich, wo die höheren Stäbe quartiert hatten. Auch aus der zweiten Stellung ging ein Melder an die Kompanie zurück. Wir selbst drangen unbehindert noch mehrere Kilometer bis über die Szeszupa vor, schossen uns mit einer Kosakenpatrouille herum und stellten fest, daß der Gegner auch in den Gräben am Flußufer noch nicht wieder Halt gemacht hatte. Danach war unsre Aufgabe gelöst, und wir suchten wieder Verbindung mit der Kompanie. Auf der Rückkehr zu unsern Gräben – wir fuhren mit einem für unser Gepäck requirierten Wagen zurück – trafen wir zwischen der ersten und zweiten Grabenlinie der Russen bereits aufklärende Dragoner, die auf Grund unserer Meldung vorgeschickt waren. Kurz danach stießen wir auf Infanteriepatrouillen und marschierende Kolonnen, und als wir persönlich dem Kompanieführer Meldung machten, gingen bereits Teile der Feldartillerie auf Balkenbrücken über unsre Gräben vor. Die ganze Division war in Bewegung. Unsre Leute strahlten. Die »Neunte« hatte als erste Kompanie den Abzug des Gegners erkundet. Darauf war jeder Mann der Kompanie stolz. Wir wurden mit einer Patrouille nochmals vorgeschickt, um an der Szeszupa-Brücke den Flußübergang zu decken. Aber die Brücke dröhnte schon unter marschierenden Kolonnen, Pferdehufen und Rädern. Kavallerie- und Infanteriepatrouillen fühlten bereits weit voraus vor. Wir warfen die Kleider ab, badeten im Flusse und erwarteten das Bataillon. Es war für Monate unser letztes Bad.

Der gefangene Sergeant hatte ausgesagt, daß sein Regiment weiter rückwärts an der Bahnlinie bei Krasna wieder feste Stellung bezogen habe. Diese Angabe erwies sich als richtig. Die Rückzugsstraße des Gegners, auf der wir alsbald vormarschierten, war von weggeworfenen Patronen besät und stellenweise in ihrer ganzen Breite tief aufgerissen und zerstört, um das Vorankommen unsrer Geschütze und Fahrzeuge zu hindern. Aber die Wälder längs der Straße hatten Stammholz genug. um die Gräben im Augenblick zu überbrücken. Im Walde kurz vor dem langgestreckten Dorfe Warthi krepierten die ersten russischen Schrapnells über der Straße, auf der unser Bataillon marschierte. Die Kompanien zogen sich in Gefechtsbereitschaft nach links in die den feindlichen Stellungen vorgelagerten Waldstücke und erwarteten den Angriffsbefehl. Unsere Artillerie fuhr auf und antwortete den russischen Geschützen. Ein paar Gehöfte zwischen uns und dem Gegner brannten wie Fackeln herunter.

Schon beim Abmarsch aus unsrer alten Stellung hatte Leutnant Wurche den Regimentsbefehl erhalten, der ihn zur zehnten Kompanie kommandierte. Während des Marsches war er noch mit mir zusammengeblieben, aber jetzt, als die Kompanien zum Gefecht auseinandergezogen wurden, eilte er mit kurzem Händedruck davon, um sich bei seinem neuen Kompanieführer zu melden. Während des Marsches war er einsilbig gewesen. Ich verstand ihn ganz. Es wurmte ihn, seinen Zug, seine Leute aus der Hand geben zu müssen. Darin fühlte er recht wie ein Künstler, der einen andern über eine angefangene Arbeit gehen lassen muß. Er war Soldat genug, darüber nicht viele Worte zu machen. Er wußte Großes und Kleines recht wohl zu unterscheiden. Das Kleine, das ihn anging, nahm er darum nicht weniger ernst, aber er sprach nicht darüber. So kam es, daß wir in unser erstes Gefecht nicht Seite an Seite vorsprangen. Zwei Züge der neunten Kompanie. darunter der meine, wurden zuerst eingesetzt. Es war nicht viel mehr als eine gewaltsame Erkundung. Gleich beim ersten Sprung unsrer hinter dem Waldrand entwickelten Schützenlinie ins offene Gelände fegte der Hagel der russischen Maschinengewehre ratternd gegen uns an und riß die ersten Lücken. In drei Sprüngen arbeitete ich mich mit meinen Leuten bis zu einer Ackerwelle vor, die uns wenigstens gegen Flankenfeuer Deckung gab. Der letzte Sprung kostete mich einen meiner braven Gruppenführer, den Gefreiten Begemann, der noch am Morgen auf unsrer Patrouille wacker und fröhlich unter den ersten in den russischen Graben hineingesprungen war. In den Ackerfurchen hinter uns jammerten Verwundete. Von unsrer kleinen Anhöhe aus konnten wir die russischen Gräben überschauen. Es waren wochenlang ausgebaute, schrapnellsichre Gräben hinter tiefen, doppelten Drahtverhauen, eine meisterhafte, schachbrettartige Anlage, die mit Maschinengewehren gespickt war und den Angreifer an jedem Punkte in ein verheerendes Flankenfeuer hineinzwang. Diese Stellungen waren von stürmender Infanterie ohne starke Artillerievorbereitung nicht einfach zu überrennen. Mit ein paar Gruppen dagegen anzulaufen, war unmöglich. Ich gab Befehl »Spaten heraus« und ließ meine Leute sich einschanzen. Dann schickte ich Gefechtsordonnanzen mit Meldung zurück und erhielt Befehl, mich bei Dunkelheit auf die Höhe der andern Kompanien zurückzuziehen. Als es dämmerte, gruben wir dem Gefreiten Begemann, den ein Herzschuß niedergestreckt hatte, in der vordersten Linie ein Grab. Die Kameraden in der Schützenlinie knieten auf und entblößten das Haupt. Ich sprach laut das Vaterunser. Ein paar russische Schrapnells barsten krachend über dem offenen Grabe. Wir schlossen das Grab, legten Helm und Seitengewehr auf den flachen Hügel und schickten drei Ehrensalven darüber hin gegen die russischen Gräben. Dann zogen wir uns auf die Höhe des Bataillons zurück. Hinter den niederbrennenden Bauernhöfen hoben die Kompanien Gräben aus und erwarteten in Bereitschaftsstellung den Morgen.


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