Theodor Fontane
Grete Minde
Theodor Fontane

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

Jacob Mindes Tod

Und wirklich, es war, als ob Grete recht behalten sollte. Weder des Umherirrens im Walde noch des heftigen Streites, der den Tag beschlossen, wurde von Trud irgend noch erwähnt; allem Anscheine nach auch gegen Gigas nicht, der sonst kaum ermangelt haben würde, von dem graden Pfade des Rechts und von dem »Irrpfad in der Wildnis« zu sprechen. Aber solche Predigt unterblieb, und die Sommermonate vergingen ruhiger als irgendeine Zeit vorher. Aller Groll schien vergessen, und Grete, die, nach Art leidenschaftlicher Naturen, ebenso rasch zu gewinnen als zu reizen war, gewöhnte sich daran, in den Stunden, wo Gerdt außerhalb des Hauses seinen Geschäften nachging, in Truds Schlafzimmer zu sitzen und ihr vorzuplaudern oder vorzulesen, was sie besonders liebte. Und wenn Regine den Kopf schüttelte, sagte sie nur: »Du bist eifersüchtig und kannst sie nicht leiden. Aber sie meint es gut, und es war auch nicht recht, daß wir in den Wald gingen.«

So kam der Einsegnungstag, Ende September, und den Sonntag darauf war Abendmahl, an dem alle Mitglieder des Hauses teilnahmen. Alle zeigten sich in gehobener Stimmung, der alte Jacob Minde aber, trotzdem er nur mit Mühe den Kirchgang gemacht hatte, war mitteilsamer denn seit lange, plauderte viel von seiner Jugend und seinem Alter und sprach auch abwechselnd und ohne Scheu von Gerdts und von Gretens Mutter, als ob kein Unterschied wäre. Trud und Gerdt sahen dabei einander an, und was in ihren Blicken sich ausgesprochen hatte, das sollte sich anderntags bestätigen. Denn in aller Frühe schon lief es durch die Stadt, daß der alte Ratsherr auf den Tod liege, und als um die sechste Stunde der Schein der niedergehenden Sonne drüben an den Häuserfronten glühte, bat er Reginen, daß sie die Vorhänge zurückschieben und die Kinder rufen solle. Und diese kamen, und Grete nahm seine Hand und küßte sie. Gleich darauf aber winkte der Alte seine Schwieger zu sich heran und sagte: »Ich lege sie dir ans Herz, Trud. Erinnere dich allezeit an die Mahnung des Propheten: ›Laß die Waisen Gnade bei dir finden.‹ Erinnere dich daran und handle danach. Versprich es mir und vergiß nicht diese Stunde.« Trud antwortete nicht, Grete aber warf sich auf die Knie und schluchzte und betete, und ehe sie ihren Kopf wieder aufrichtete, war es still geworden in dem kleinen Raum.

 

Am dritten Tage danach stand der alte Minde hoch aufgebahrt in Sankt Stephan, der tangermündischen Hauptkirche, die, nach Art mittelalterlicher Gotteshäuser, hart am Rande der Stadt gelegen war. Auf dem Altar brannten die großen Kerzen, und ringsumher saßen die Ratmannen der Stadt, obenan der alte Peter Guntz, der nicht geglaubt hatte, seinen so viel jüngeren Freund überleben zu müssen. Keiner fehlte; denn die Mindes waren das älteste Geschlecht und das vornehmste, wirkliche Kaufherren, und seit Anbeginn im Rate der Stadt. In nächster Nähe des Sarges aber standen die Leidtragenden. Gerdt sah vor sich hin, stumpf wie gewöhnlich, während Trud und Grete, schwarz und in wollene Stoffe gekleidet, zum Zeichen ihrer tiefsten Trauer bis über Kinn und Mund hinauf hohe weiße Tücher trugen, die nur den Oberkopf frei ließen. Grete, kaum fünfzehn Jahr, sah um vieles älter aus, als sie war, und alles Kindliche, das ihre Erscheinung bis dahin gehabt hatte, schien mit diesem Tage von ihr gewichen.

Die Orgel spielte, die Gemeinde sang, und als beide schwiegen, trat Gigas aus der Sakristei und schritt auf die Altarstufen zu. Er schien noch ernster als gewöhnlich, und sein Kopf mit dem spärlichen weißen Haar sah unbeweglich über die hohe Radkrause hinweg. Und nun begann er. Erst hart und herbe, wie fast immer die Strenggläubigen, wenn sie von Tod und Sterben sprechen; als er aber das Allgemeine ließ und vom Tod überhaupt auf diesen Toten kam, wurd er warm und vergaß aller Herbigkeit. Er, dessen stummes Antlitz hier spräche, so hob er mit immer eindringlicher werdender Stimme an, sei ein Mann gewesen wie wenige, denn er habe beides gehabt, den Glauben und die Liebe. Da sei keiner unter ihnen, an dem er seine Liebe nicht betätigt habe; der Arme habe seine Mildtätigkeit, der Freund seine Hülfe, die Bürgerschaft seinen Rat erfahren, und seine klugen und feinen Sitten seien es gewesen, die bis nach Lübeck und bis in die Niederlande hin das Ansehen der Stadt auf die jetzige Höhe gehoben hätten. Dies wüßten alle. Aber von seinem Glauben und seiner Glaubensfestigkeit wisse nur er. Und wenn schon jeder in Gefahr stehe, Unkraut unter seinem Weizen aufschießen zu sehen, so habe doch diese Gefahr keinem so nahe gestanden wie diesem Toten. Denn nicht nur, daß er eine Reihe von Jahren unter den Bekennern der alten Irrlehre gelebt, die bedrohlichste Stunde für das Heil seiner Seele sei die Stunde seiner zweiten Eheschließung gewesen. Denn die Liebe zum Weibe, das sei die größte Versuchung in unsrer Liebe zu Gott. Aber er hab ihr widerstanden und habe nicht um irdischen Friedens willen den ewigen Frieden versäumt. In seinem Wandel ein Vorbild, werde sich die selige Verheißung, die Christus der Herr auf dem Berg am Galiläischen Meer gegeben, dreifach an ihm erfüllen. Sei er doch friedfertig und sanftmütig gewesen und reinen Herzens.

Und nun sangen sie wieder, während die Träger den Toten aufhoben und ihn das Mittelschiff entlang aus der Kirche hinaus auf den Kirchhof trugen. Denn ein Grab im Freien war sein Letzter Wille gewesen. Draußen aber, unter alten Kastanienbäumen, deren Laub sich herbstlich zu färben anfing, setzten sie den Sarg nieder, und als er hinabgelassen und das letzte Wort gesprochen war, kehrten alle heim, und Trud und Gerdt schritten langsam die Straße hinunter, bis an das Mindesche Haus, das nun ihre war. Nur Grete war geblieben und huschte heimlich in die Kirche zurück und setzte sich auf die Bahre, die noch an alter Stelle stand. Sie wollte beten, aber sie konnte nicht und sah immer nur Trud, so herb und streng, wie sie sie früher gesehen hatte, und fühlte deutlich, wie sich ihr das Herz dabei zusammenschnürte. Und eine Vorahnung überkam sie wie Gewißheit, daß Regine wohl doch recht gehabt haben könne. So saß sie und starrte vor sich hin und fröstelte. Und nun sah sie plötzlich auf und gewahrte, daß das Abendrot in den hohen Chorfenstern stand und daß alles um sie her wie in lichtem Feuer glühte: die Pfeiler, die Bilder und die hochaufgemauerten Grabsteine. Da war es ihr, als stünde die Kirche rings in Flammen, und von rasender Angst erfaßt, verließ sie den Platz, auf dem sie gesessen, und floh über den Kirchhof hin.

In den engen Gassen war es schon dunkel geworden, der rote Schein, der sie geängstigt, schwand vor ihren Augen, und ihr Herz begann wieder ruhiger zu klopfen. Als sie aber den Flur ihres Hauses erreicht hatte, stieg sie zu Reginen hinauf und umarmte sie und küßte sie und sagte: »Regine, nun bin ich ganz allein. Eine Waise!«


 << zurück weiter >>