Theodor Fontane
Quitt
Theodor Fontane

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Vierunddreissigstes Kapitel

Lehnert ging in starkem Schritt auf das Vorwerk zu, bog aber, eh er heran war, nach rechts hin in einen Querpfad ein, der, in seiner Verlängerung, fast parallel mit der an Fort O'Brien vorüberführenden Schlucht ins Gebirge hinaufstieg. Oben wollt er dann den Kamm entlang gehen und von den höchsten Punkten aus Umschau halten. Er war von einem festen Vertrauen erfüllt, daß er Toby finden würde, wenn nicht unterwegs, was freilich das wünschenswerteste, so doch in Nähe der weit vorspringenden Felspartie, die, wegen der mit Vorliebe darauf nistenden Adler, schon von alter Zeit her den Namen Eagles Point führte. Jeder Punkt an dieser Stelle war ihm, nach den vielen gemeinschaftlichen Jagdausflügen der letzten Monate, ziemlich genau bekannt, was aber sein Vertrauen noch stärkte, war der Umstand, daß etwa tausend Schritt von Eagles Point entfernt, ein noch höherer Kegel aufragte, der kurzweg der Look-out hieß und nicht bloß wundervolle Fernblicke, sondern einen genauen und leichten Einblick in die nächstgelegenen Felspartien, am besten aber in die von Eagles Point gewährte. Von diesem Look-out aus mußt er Toby sehen oder ihn abrufen können, denn dieselbe klare Luft, die das Sehen erleichterte, trug auch den Schall fort. Er mußte ihn finden, und über den an Fort O'Brien vorüberführenden Weg wollt er dann mit ihm zurück ... Aber wenn er ihn nicht fand? Er mochte den Gedanken nicht ausdenken.

Es war um die siebente Stunde, daß er an der Stelle hielt, wo der Look-out-Kegel erst in mäßiger Schrägung, dann aber, einen Knick, eine Stufe machend, in beinah senkrechter Steile anstieg. Am Fuße der gesamten Felsmasse, Sockel wie Spitze, sprang ein Quell und fiel in einen ausgehöhlten Stein. Und hier bückte sich Lehnert, um zu trinken, und stieg dann den unteren Absatz bis zu dem Einknick hinauf. Er war müde geworden und hätte hier gern eine kleine Weile gerastet, um neue Kraft für die letzte und schwerste Strecke, den eigentlichen Kegel, zu sammeln; aber die Sonne stand schon tief, und so war denn keine Zeit mehr zu verlieren, wenn er noch, mit Hilfe des Tageslichts, einen leidlich guten Einblick in die Spalten und Klüfte haben wollte. So warf er denn die Jagdtasche beiseite, die ihm beim Klettern bloß hinderlich gewesen wäre, und stieg ohne Säumen höher hinauf, Uncas wollte mit. Es war aber zu steil und zu glatt für ihn, und unglücklich, seinem Herrn nicht folgen zu können, blieb er auf dem breiten Rande, den der Einknick bildete, zurück und legte sich mit vorgestreckten Pfoten neben die Jagdtasche. Daß er etwas zu hüten hatte, schien ihm ein Trost.

Der Aufstieg ging besser, als von Lehnert erwartet war. Die Steile zeigte sich freilich beträchtlich, aber überall waren Spalten und Risse, die dem Fuß einen Hallt gaben, und an mehr als einer Stelle stand Zwergholz und hier und da selbst ein Busch, daran er sich halten und mit nicht allzuviel Schwierigkeiten hinaufziehen konnte. Die ganze Höhe betrug keine hundert Fuß, und ehe fünf Minuten um waren, war er oben und genoß eines wundervollen Umblicks. Zur Linken, unmittelbar über dem Kamm, in einer Art Quer- oder Giebelstellung, stand der Sonnenball und goß seine Glut derart über die ganze lange Berglinie hin aus, daß beide Seiten des Kamms in einem hellen Lichte lagen. Weiter abwärts freilich herrschte schon Dämmerung, was übrigens nicht hinderte, daß Lehnert die weite Talmulde, bis zu den Shawnee-Hills hin, überblicken kannte. Das da drüben mußte Fort Holmes sein, und die vereinzelt aufblinkenden Lichter im Tal bezeichneten die Linie, wo die Bahn lief. Und zuletzt weilte sein Blick auf Notgat-Ehre. Da lag es. Das erste Haus, das war Obadjas, da wohnte Ruth, und er grüßte hinüber. Ja, einen Augenblick vergaß er fast, um was er hier war, und erst als er sich's wieder in die Seele zurückgerufen, rief er Tobys Namen. Aber nur das Echo antwortete.

So vergingen Minuten. Alles blieb still. Das über den Kamm hin ausgebreitete Licht erlosch, und Lehnert fühlte, daß es keinen Sinn mehr habe, auf seiner Felshöhe zu verweilen. Und so wollt er denn rasch wieder hinab, um wenigstens vor Beginn völliger Dunkelheit noch bis Eagles Point zu kommen, wo, wenn das Rufen vergeblich blieb, Uncas ihm Beistand leisten und in dem Gestrüpp umhersuchen konnte. Fand er ihn nicht, und seine frühere Zuversicht hatte ihn zu nicht kleinem Teil verlassen, so wollt er nach dem Vorwerk zurück und am andern Morgen von dort aus das Suchen erneuern. Ohne Toby nach Nogat-Ehre zurückzukehren erschien ihm unmöglich.

Er hatte sich die Stelle gemerkt, wo er aufgestiegen war, und an eben dieser Stelle wollt er auch – schon der ziemlich vielen Sträucher und Zwergbüsche halber – wieder zurück. Die waren ihm eine Hilfe, wenn er ins Gleiten und Glitschen kam. Und wirklich, es schien fast, als ob diese seine Vorsicht sich lohnen solle. Zwei-, dreimal, beim Ausrutschen, hatte er zufassen und sich halten können, auch der Gewehrkolben kam ihm mehr als einmal zupaß, und bis zu der Stelle hin, wo Uncas die Jagdtasche bewachte, waren keine dreißig Fuß mehr. Auch die Steile war hier geringer, und so gab er denn die Vorsicht auf, die er bis dahin geübt hatte. Freilich nicht zu seinem Heil. Denn mit einemmal kam er in ein halbes Stürzen, und weil zufällig kein Strauch mehr da war, dran er sich klammern konnte, schoß er, wie von einer Rutschbahn, mit aller Gewalt auf den Plateaurand nieder und mußte froh sein, unterwegs auf eine stumpfe Steinkante zu stoßen, die den Sturz einigermaßen aufhielt. In der Tat, die Erschütterung, als er auf dem Plateaurand ankam, war nicht allzu groß, ebensowenig empfand er einen Schmerz, und so stand er denn auf dem Punkt, sich zu dem den jähen Absturz hemmenden »Stein des Anstoßes« aufrichtig zu beglückwünschen, als er bei dem Versuche, sich aufzurichten, erkennen mußte, daß der Stein des Anstoßes wohl geholfen, aber doch noch mehr geschadet habe. Mit der Hüfte gegen den Stein fahrend, war der Hüftknochen aus dem Gelenk gesprungen. Er erhob sich mit äußerster Anstrengung, aber nur, um im selben Augenblick wieder zusammenzubrechen. Jetzt kamen auch Schmerzen, begleitet von einer schweren Ohnmacht, und als er nach einiger Zeit (er wußte nicht wie lange) wieder erwachte, standen schon die Sterne am Himmel.

Über sich die Sterne und unten die Lichter von Nogat-Ehre, sonst alles dunkel um ihn her. Dazu kam ein Frösteln. Er hing sich mühsam die neben ihm liegende Jagdtasche um und schob sich seitwärts bis an eine Stelle, wo ein Erlenbusch stand, verkrüppelt, mit halb am Boden ausgestrecktem Gezweig. Unter dies Gezweige kroch er. Es gab ihm Schutz gegen den Nachtwind; Uncas legte sich neben ihn, und die Wärme tat ihm wohl. Und als Mitternacht heran war, schlief er ein.

Er schlief mehrere Stunden, und die Sonne stand schon über dem Horizont, als er aufwachte. Die Schmerzen hatten nachgelassen, aber das Bewußtsein seiner Lage packte ihn jetzt mit doppelter Gewalt. Gewiß, daß man im Laufe des Tages nach ihm ausziehen, ja, daß Freund L'Hermite den ganzen Arapahostamm aufbieten werde, nach ihm zu suchen. Gewiß, gewiß. Und sie würden ihn auch finden. Aber wann? Bis dahin war es vielleicht um ihn geschehen. »Und wenn es so kommen soll, wenn kein Entrinnen, dann, du Vater im Himmel, mach es rasch laß es rasch vorüber sein.«

Das war das Morgengebet, mit dem er seinen Tag einleitete.

Die Sonne zog herauf, immer höher, und als es Mittag war, meldete sich Hunger und bald auch ein brennender Durst. Er durchsuchte die Jagdtasche nach etwas, das ihn erfrischen mochte, aber er fand nichts als etwas Brot, das ihm widerstand. Und so warf er's dem Hunde hin. Der aber winselte nur und kroch wieder zu Lehnert heran und leckte ihm die Hand.

Lehnert freute sich dieses Liebeszeichens und streichelte das schöne Tier. Und mit eins schoß es ihm durch den Kopf: »Uncas, du kannst mich retten, du bist klug.

Und nun höre gut zu. Sieh, wenn du jetzt nach Hause trabst, zu Ruth, zu Miss Ruth, hörst du, dann kannst du sie hierherführen, und dann finden sie mich und dann retten sie mich. Und nun auf!«

Uncas hatte jedes Wort verstanden, aber er schüttelte nur den Behang und streckte sich still wieder nieder und sah Lehnert an. Und dieser las aus dem treuen Auge mit Schrecken heraus: Ich bleibe.

»Geh, Uncas! Lauf! Fort!«

Und als alles nichts half, nahm er das Gewehr und stieß nach ihm. Und bald danach erhob sich Uncas auch wirklich und trabte langsam und ohne sich umzusehen den unteren und verhältnismäßig wenig steilen Teil der Felspartie hinab. Lehnert sah ihm nach, und ein Hoffnungsschimmer umleuchtete seine Stirn. Aber keine Viertelstunde, so war der Hund wieder da. Er war nur bis an den Quell gegangen und hatte getrunken, und kaum wieder frisch, war er auch frisch wieder in seiner Pflicht und seinem Vorhaben. Und kurzum, da war er wieder.

»Es soll also sein«, sagte Lehnert, über den plötzlich eine volle Ergebung in sein Schicksal kam. »Es ist Gottes Wille ... Komm, Uncas ... Es ist mir eine schöne Lehre, die du mir gibst: Treue halten und tun, was recht ist.«

Und er verfiel alsbald in ein fieberhaftes Träumen und wurd erst wieder wach, als ein Läuten aus dem Tale heraufdrang. Es war die Glocke, die sonst zum Gottesdienst läutete. »Sie wollen mir ein Zeichen geben. Und ich will ihnen antworten, so gut ich kann.«

Und dabei nahm er das neben ihm liegende Gewehr und schoß, und der Rauch zog am Gebirge hin, und das Echo trug den Schall immer weiter und weiter und vielleicht bis hinunter zu Tal.

Er horchte nach, bis es verklang. Und nun schwieg es, und im selben Augenblicke war es ihm, als höre er von weit her einen Ruf: »Hilfe.«

Wessen Stimme war das?

Er richtete sich auf und horchte noch einmal hinüber, und einen Moment überkam ihn der Gedanke, daß es Toby sein könne.

»Nein, es war ein anderer, der rief ... Gut ... Ich bin fertig ... Ich komme.«

Und nun fiel er mit dem Kopf auf das Lager zurück, das er sich gemacht hatte.


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