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Schach und Victoire
Es war kurz nach diesem Diner beim Prinzen, daß in Berlin bekannt wurde, der König werde noch vor Schluß der Woche von Potsdam herüberkommen, um auf dem Tempelhofer Felde eine große Revue zu halten. Die Nachricht davon weckte diesmal ein mehr als gewöhnliches Interesse, weil die gesamte Bevölkerung nicht nur dem Frieden mißtraute, den Haugwitz mit heimgebracht hatte, sondern auch mehr und mehr der Überzeugung lebte, daß im letzten immer nur unsre eigene Kraft auch unsre Sicherheit beziehungsweise unsre Rettung sein werde. Welche andre Kraft aber hatten wir als die Armee, die Armee, die, was Erscheinung und Schulung anging, immer noch die friderizianische war.
In solcher Stimmung sah man dem Revuetage, der ein Sonnabend war, entgegen.
Das Bild, das die Stadt vom frühen Morgen an darbot, entsprach der Aufregung, die herrschte. Tausende strömten hinaus und bedeckten vom Halleschen Tor an die bergansteigende Straße, zu deren beiden Seiten sich die »Knapphänse«, diese bekannten Zivilmarketender, mit ihren Körben und Flaschen etabliert hatten. Bald danach erschienen auch die Equipagen der vornehmen Welt, unter diesen die Schachs, die für den heutigen Tag den Carayonschen Damen zur Disposition gestellt worden war. Im selben Wagen mit ihnen befand sich ein alter Herr von der Recke, früher Offizier, der, als naher Anverwandter Schachs, die Honneurs und zugleich den militärischen Interpreten machte. Frau von Carayon trug ein stahlgraues Seidenkleid und eine Mantille von gleicher Farbe, während von Victoirens breitrandigem Italienerhut ein blauer Schleier im Winde flatterte. Neben dem Kutscher saß der Groom und erfreute sich der Huld beider Damen, ganz besonders auch der ziemlich willkürlich akzentuierten englischen Worte, die Victoire von Zeit zu Zeit an ihn richtete.
Für elf Uhr war das Eintreffen des Königs angemeldet worden, aber lange vorher schon erschienen die zur Revue befohlenen, altberühmten Infanterieregimenter Alt-Larisch, von Arnim und Möllendorf, ihre Janitscharenmusik vorauf. Ihnen folgte die Kavallerie: Garde du Corps, Gensdarmes und Leibhusaren, bis ganz zuletzt in einer immer dicker werdenden Staubwolke die Sechs- und Zwölfpfünder heranrasselten und -klapperten, die zum Teil schon bei Prag und Leuthen und neuerdings wieder bei Valmy und Pirmasens gedonnert hatten. Enthusiastischer Jubel begleitete den Anmarsch, und wahrlich, wer sie so heranziehen sah, dem mußte das Herz in patriotisch stolzer Erregung höher schlagen. Auch die Carayons teilten das allgemeine Gefühl und nahmen es als bloße Verstimmung oder Altersängstlichkeit, als der alte Herr von der Recke sich vorbog und mit bewegter Stimme sagte: »Prägen wir uns diesen Anblick ein, meine Damen. Denn glauben Sie der Vorahnung eines alten Mannes, wir werden diese Pracht nicht wiedersehen. Es ist die Abschiedsrevue der friderizianischen Armee.«
Victoire hatte sich auf dem Tempelhofer Felde leicht erkältet und blieb in ihrer Wohnung zurück, als die Mama gegen Abend ins Schauspiel fuhr, ein Vergnügen, das sie jederzeit geliebt hatte, zu keiner Zeit aber mehr als damals, wo sich zu der künstlerischen Anregung auch noch etwas von wohltuender politischer Emotion gesellte. »Wallenstein«, die »Jungfrau«, »Tell« erschienen gelegentlich, am häufigsten aber Holbergs »Politischer Zinngießer«, der, wie Publikum und Direktion gemeinschaftlich fühlen mochten, um ein erhebliches besser als die Schillersche Muse zu lärmenden Demonstrationen geeignet war.
Victoire war allein. Ihr tat die Ruhe wohl, und in einen türkischen Shawl gehüllt, lag sie träumend auf dem Sofa, vor ihr ein Brief, den sie kurz vor ihrer Vormittagsausfahrt empfangen und in jenem Augenblicke nur flüchtig gelesen hatte. Desto langsamer und aufmerksamer freilich, als sie von der Revue wieder zurückgekommen war.
Es war ein Brief von Lisette.
Sie nahm ihn auch jetzt wieder zur Hand und las eine Stelle, die sie schon vorher mit einem Bleistiftsstrich bezeichnet hatte: »... Du mußt wissen, meine liebe Victoire, daß ich, Pardon für dies offne Geständnis, mancher Äußerung in Deinem letzten Briefe keinen vollen Glauben schenke. Du suchst Dich und mich zu täuschen, wenn Du schreibst, daß Du Dich in ein Respektsverhältnis zu S. hineindenkst. Er würde selber lächeln, wenn er davon hörte. Daß Du Dich plötzlich so verletzt fühlen, ja, verzeihe, so pikiert werden konntest, als er den Arm Deiner Mama nahm, verrät Dich und gibt mir allerlei zu denken, wie denn auch andres noch, was Du speziell in dieser Veranlassung schreibst. Ich lerne Dich plötzlich von einer Seite kennen, von der ich Dich noch nicht kannte, von der argwöhnischen nämlich. Und nun, meine teure Victoire, hab ein freundliches Ohr für das, was ich Dir in bezug auf diesen wichtigen Punkt zu sagen habe. Bin ich doch die ältere. Du darfst Dich ein für allemal nicht in ein Mißtrauen gegen Personen hineinleben, die durchaus den entgegengesetzten Anspruch erheben dürfen. Und zu diesen Personen, mein ich, gehört Schach. Ich finde, je mehr ich den Fall überlege, daß Du ganz einfach vor einer Alternative stehst und entweder Deine gute Meinung über S. oder aber Dein Mißtrauen gegen ihn fallenlassen mußt. Er sei Kavalier, schreibst Du mir, ›ja, das Ritterliche‹, fügst Du hinzu, ›sei so recht eigentlich seine Natur‹, und im selben Augenblicke, wo Du dies schreibst, bezichtigt ihn Dein Argwohn einer Handelsweise, die, träfe sie zu, das Unritterlichste von der Welt sein würde. Solche Widersprüche gibt es nicht. Man ist entweder ein Mann von Ehre, oder man ist es nicht. Im übrigen, meine teure Victoire, sei gutes Mutes, und halte Dich ein für allemal versichert, Dir lügt der Spiegel. Es ist nur eines, um dessentwillen wir Frauen leben, wir leben, um uns ein Herz zu gewinnen, aber wodurch wir es gewinnen, ist gleichgiltig.«
Victoire faltete das Blatt wieder zusammen. »Es rät und tröstet sich leicht aus einem vollen Besitz heraus; sie hat alles, und nun ist sie großmütig. Arme Worte, die von des Reichen Tische fallen.«
Und sie bedeckte beide Augen mit ihren Händen.
In diesem Augenblick hörte sie die Klingel gehen, und gleich danach ein zweites Mal, ohne daß jemand von der Dienerschaft gekommen wäre. Hatten es Beate und der alte Jannasch überhört? Oder waren sie fort? Eine Neugier überkam sie. Sie ging also leise bis an die Tür und sah auf den Vorflur hinaus. Es war Schach. Einen Augenblick schwankte sie, was zu tun sei, dann aber öffnete sie die Glastür und bat ihn einzutreten.
»Sie klingelten so leise. Beate wird es überhört haben.«
»Ich komme nur, um nach dem Befinden der Damen zu fragen. Es war ein prächtiges Paradewetter, kühl und sonnig, aber der Wind ging doch ziemlich scharf ...«
»Und Sie sehen mich unter seinen Opfern. Ich fiebre, nicht gerade heftig, aber wenigstens so, daß ich das Theater aufgeben mußte. Der Shawl (in den ich bitte mich wieder einwickeln zu dürfen) und diese Tisane, von der Beate wahre Wunder erwartet, werden mir wahrscheinlich zuträglicher sein als ›Wallensteins Tod‹. Mama wollte mir anfänglich Gesellschaft leisten. Aber Sie kennen ihre Passion für alles, was Schauspiel heißt, und so hab ich sie fortgeschickt. Freilich auch aus Selbstsucht; denn daß ich es gestehe, mich verlangte nach Ruhe.«
»Die nun mein Erscheinen doch wiederum stört. Aber nicht auf lange, nur gerade lange genug, um mich eines Auftrags zu entledigen, einer Anfrage, mit der ich übrigens leicht möglicherweise zu spät komme, wenn Alvensleben schon gesprochen haben sollte.«
»Was ich nicht glaube, vorausgesetzt, daß es nicht Dinge sind, die Mama für gut befunden hat, selbst vor mir als Geheimnis zu behandeln.«
»Ein sehr unwahrscheinlicher Fall. Denn es ist ein Auftrag, der sich an Mutter und Tochter gleichzeitig richtet. Wir hatten ein Diner beim Prinzen, cercle intime, zuletzt natürlich auch Dussek. Er sprach vom Theater (von was andrem sollt er) und brachte sogar Bülow zum Schweigen, was vielleicht eine Tat war.«
»Aber Sie medisieren ja, lieber Schach.«
»Ich verkehre lange genug im Salon der Frau von Carayon, um wenigstens in den Elementen dieser Kunst unterrichtet zu sein.«
»Immer schlimmer, immer größere Ketzereien. Ich werde Sie vor das Großinquisitoriat der Mama bringen. Und wenigstens der Tortur einer Sittenpredigt sollen Sie nicht entgehen.«
»Ich wüßte keine liebere Strafe.«
»Sie nehmen es zu leicht ... Aber nun der Prinz ...«
»Er will Sie sehen, beide, Mutter und Tochter. Frau Pauline, die, wie Sie vielleicht wissen, den Zirkel des Prinzen macht, soll Ihnen eine Einladung überbringen.«
»Der zu gehorchen Mutter und Tochter sich zu besondrer Ehre rechnen werden.«
»Was mich nicht wenig überrascht. Und Sie können, meine teure Victoire, dies kaum im Ernste gesprochen haben. Der Prinz ist mir ein gnäd'ger Herr, und ich lieb ihn de tout mon cœur. Es bedarf keiner Worte darüber. Aber er ist ein Licht mit einem reichlichen Schatten oder, wenn Sie mir den Vergleich gestatten wollen, ein Licht, das mit einem Räuber brennt. Alles in allem, er hat den zweifelhaften Vorzug so vieler Fürstlichkeiten, in Kriegs- und in Liebesabenteuern gleich hervorragend zu sein, oder es noch runder herauszusagen, er ist abwechselnd ein Helden- und ein Debauchenprinz. Dabei grundsatzlos und rücksichtslos, sogar ohne Rücksicht auf den Schein. Was vielleicht das allerschlimmste ist. Sie kennen seine Beziehungen zu Frau Pauline?«
»Ja.«
»Und ...«
»Ich billige sie nicht. Aber sie nicht billigen ist etwas andres als sie verurteilen. Mama hat mich gelehrt, mich über derlei Dinge nicht zu kümmern und zu grämen. Und hat sie nicht recht? Ich frage Sie, lieber Schach, was würd aus uns, ganz speziell aus uns zwei Frauen, wenn wir uns innerhalb unsrer Umgangs – und Gesellschaftssphäre zu Sittenrichtern aufwerfen und Männlein und Weiblein auf die Korrektheit ihres Wandels hin prüfen wollten? Etwa durch eine Wasser – und Feuerprobe. Die Gesellschaft ist souverän. Was sie gelten läßt, gilt, was sie verwirft, ist verwerflich. Außerdem liegt hier alles exzeptionell. Der Prinz ist ein Prinz, Frau von Carayon ist eine Witwe, und ich... bin ich.«
»Und bei diesem Entscheide soll es bleiben, Victoire?«
»Ja. Die Götter balancieren. Und wie mir Lisette Perbandt eben schreibt: ›Wem genommen wird, dem wird auch gegeben.‹ In meinem Falle liegt der Tausch etwas schmerzlich, und ich wünschte wohl, ihn nicht gemacht zu haben. Aber andrerseits geh ich nicht blind an dem eingetauschten Guten vorüber und freue mich meiner Freiheit. Wovor andre meines Alters und Geschlechts erschrecken, das darf ich. An dem Abende bei Massows, wo man mir zuerst huldigte, war ich, ohne mir dessen bewußt zu sein, eine Sklavin. Oder doch abhängig von hundert Dingen. Jetzt bin ich frei.«
Schach sah verwundert auf die Sprecherin. Manches, was der Prinz über sie gesagt hatte, ging ihm durch den Kopf. Waren das Überzeugungen oder Einfälle? War es Fieber? Ihre Wangen hatten sich gerötet, und ein aufblitzendes Feuer in ihrem Auge traf ihn mit dem Ausdruck einer trotzigen Entschlossenheit. Er versuchte jedoch, sich in den leichten Ton, in dem ihr Gespräch begonnen hatte, zurückzufinden, und sagte: »Meine teure Victoire scherzt. Ich möchte wetten, es ist ein Band Rousseau, was da vor ihr liegt, und ihre Phantasie geht mit dem Dichter.«
»Nein, es ist nicht Rousseau. Es ist ein anderer, der mich mehr interessiert.«
»Und wer, wenn ich neugierig sein darf?«
»Mirabeau.«
»Und warum mehr?«
»Weil er mir nähersteht. Und das Allerpersönlichste bestimmt immer unser Urteil. Oder doch fast immer. Er ist mein Gefährte, mein spezieller Leidensgenoß. Unter Schmeicheleien wuchs er auf. ›Ah, das schöne Kind‹, hieß es tagein, tagaus. Und dann eines Tags war alles hin, hin wie... wie...«
»Nein, Victoire, Sie sollen das Wort nicht aussprechen.«
»Ich will es aber und würde den Namen meines Gefährten und Leidensgenossen zu meinem eigenen machen, wenn ich es könnte. Victoire Mirabeau de Carayon, oder sagen wir Mirabelle de Carayon, das klingt schön und ungezwungen, und wenn ich's recht übersetze, so heißt es Wunderhold.«
Und dabei lachte sie voll Übermut und Bitterkeit. Aber die Bitterkeit klang vor.
»Sie dürfen so nicht lachen, Victoire, nicht so. Das kleidet Ihnen nicht, das verhäßlicht Sie. Ja, werfen Sie nur die Lippen – verhäßlicht Sie. Der Prinz hatte doch recht, als er enthusiastisch von Ihnen sprach. Armes Gesetz der Form und der Farbe. Was allein gilt, ist das ewig Eine, daß sich die Seele den Körper schafft oder ihn durchleuchtet und verklärt.«
Victoirens Lippen flogen, ihre Sicherheit verließ sie, und ein Frost schüttelte sie. Sie zog den Shawl höher hinauf, und Schach nahm ihre Hand, die eiskalt war, denn alles Blut drängte nach ihrem Herzen.
»Victoire, Sie tun sich unrecht; Sie wüten nutzlos gegen sich selbst und sind um nichts besser als der Schwarzseher, der nach allem Trüben sucht und an Gottes hellem Sonnenlicht vorübersieht. Ich beschwöre Sie, fassen Sie sich und glauben Sie wieder an Ihr Anrecht auf Leben und Liebe. War ich denn blind? In dem bittren Wort, in dem Sie sich demütigen wollten, in eben diesem Worte haben Sie's getroffen, ein für allemal. Alles ist Märchen und Wunder an Ihnen; ja Mirabelle, ja Wunderhold!«
Ach, das waren die Worte, nach denen ihr Herz gebangt hatte, während es sich in Trotz zu waffnen suchte.
Und nun hörte sie sie willenlos und schwieg in einer süßen Betäubung.
Die Zimmeruhr schlug neun, und die Turmuhr draußen antwortete. Victoire, die den Schlägen gefolgt war, strich das Haar zurück und trat ans Fenster und sah auf die Straße.
»Was erregt dich?«
»Ich meinte, daß ich den Wagen gehört hätte.«
»Du hörst zu fein.«
Aber sie schüttelte den Kopf, und im selben Augenblicke fuhr der Wagen der Frau von Carayon vor.
»Verlassen Sie mich... Bitte.«
»Bis auf morgen.«
Und ohne zu wissen, ob es ihm glücken werde, der Begegnung mit Frau von Carayon auszuweichen, empfahl er sich rasch und huschte durch Vorzimmer und Korridor.
Alles war still und dunkel unten, und nur von der Mitte des Hausflurs her fiel ein Lichtschimmer bis in Nähe der obersten Stufen. Aber das Glück war ihm hold. Ein breiter Pfeiler, der bis dicht an die Treppenbrüstung vorsprang, teilte den schmalen Vorflur in zwei Hälften, und hinter diesen Pfeiler trat er und wartete.
Victoire stand in der Glastür und empfing die Mama.
»Du kommst so früh. Ach, und wie hab ich dich erwartet!«
Schach hörte jedes Wort. »Erst die Schuld und dann die Lüge«, klang es in ihm. »Das alte Lied.«
Aber die Spitze seiner Worte richtete sich gegen ihn und nicht gegen Victoire.
Dann trat er aus seinem Versteck hervor und schritt rasch und geräuschlos die Treppe hinunter.