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»Bis auf morgen«, war Schachs Abschiedswort gewesen, aber er kam nicht. Auch am zweiten und dritten Tage nicht. Victoire suchte sich's zurechtzulegen, und wenn es nicht glücken wollte, nahm sie Lisettens Brief und las immer wieder die Stelle, die sie längst auswendig wußte. ›Du darfst Dich, ein für allemal, nicht in ein Mißtrauen gegen Personen hineinleben, die durchaus den entgegengesetzten Anspruch erheben dürfen. Und zu diesen Personen, mein' ich, gehört Schach. Ich finde, je mehr ich den Fall überlege, daß Du ganz einfach vor einer Alternative stehst und entweder Deine gute Meinung über S. oder aber Dein Mißtrauen gegen ihn fallen lassen mußt.‹ Ja, Lisette hatte recht, und doch blieb ihr eine Furcht im Gemüte. ›Wenn doch alles nur . . . ‹ Und es übergoß sie mit Blut.
Endlich am vierten Tage kam er. Aber es traf sich, daß sie kurz vorher in die Stadt gegangen war. Als sie zurückkehrte, hörte sie von seinem Besuch; er sei sehr liebenswürdig gewesen, habe zwei-, dreimal nach ihr gefragt und ein Bukett für sie zurückgelassen. Es waren Veilchen und Rosen, die das Zimmer mit ihrem Dufte füllten. Victoire, während ihr die Mama von dem Besuche vorplauderte, bemühte sich, einen leichten und übermütigen Ton anzuschlagen, aber ihr Herz war zu voll von widerstreitenden Gefühlen, und sie zog sich zurück, um sich in zugleich glücklichen und bangen Tränen auszuweinen.
Inzwischen war der Tag herangekommen, wo die »Weihe der Kraft« gegeben werden sollte. Schach schickte seinen Diener und ließ anfragen, ob die Damen der Vorstellung beizuwohnen gedächten? Es war eine bloße Form, denn er wußte, daß es so sein werde.
Im Theater waren alle Plätze besetzt. Schach saß den Carayons gegenüber und grüßte mit großer Artigkeit. Aber bei diesem Gruße blieb es, und er kam nicht in ihre Loge hinüber, eine Zurückhaltung, über die Frau von Carayon kaum weniger betroffen war als Victoire. Der Streit indessen, den das hinsichtlich des Stücks in zwei Lager geteilte Publikum führte, war so heftig und aufregend, daß beide Damen ebenfalls mit hingerissen wurden und momentan wenigstens alles Persönliche vergaßen. Erst auf dem Heimweg kehrte die Verwunderung über Schachs Benehmen zurück.
Am andern Vormittage ließ er sich melden. Frau von Carayon war erfreut, Victoire jedoch, die schärfer sah, empfand ein tiefes Unbehagen. Er hatte ganz ersichtlich diesen Tag abgewartet, um einen bequemen Plauderstoff zu haben und mit Hilfe desselben über die Peinlichkeit eines ersten Wiedersehens mit ihr leichter hinwegzukommen. Er küßte der Frau von Carayon die Hand und wandte sich dann gegen Victoiren, um dieser sein Bedauern auszusprechen, sie bei seinem letzten Besuche verfehlt zu haben. Man entfremde sich fast, anstatt sich fester anzugehören. Er sprach dies so, daß ihr ein Zweifel blieb, ob er es mit tieferer Bedeutung oder aus bloßer Verlegenheit gesagt habe. Sie sann darüber nach, aber ehe sie zum Abschluß kommen konnte, wandte sich das Gespräch dem Stücke zu.
»Wie finden Sie's?« fragte Frau von Carayon.
»Ich liebe nicht Komödien«, antwortete Schach, »die fünf Stunden spielen. Ich wünsche Vergnügen oder Erholung im Theater, aber keine Strapaze.«
»Zugestanden. Aber dies ist etwas Äußerliches und beiläufig ein Mißstand, dem ehestens abgeholfen sein wird. Iffland selbst ist mit erheblichen Kürzungen einverstanden. Ich will Ihr Urteil über das Stück.«
»Es hat mich nicht befriedigt.«
»Und warum nicht?«
»Weil es alles auf den Kopf stellt. Solchen Luther hat es Gott sei Dank nie gegeben, und wenn ein solcher je käme, so würd er uns einfach dahin zurückführen, von wo der echte Luther uns seinerzeit wegführte. Jede Zeile widerstreitet dem Geist und Jahrhundert der Reformation; alles ist Jesuitismus oder Mystizismus und treibt ein unerlaubtes und beinah kindisches Spiel mit Wahrheit und Geschichte. Nichts paßt. Ich wurde beständig an das Bild Albrecht Dürers erinnert, wo Pilatus mit Pistolenhalftern reitet, oder an ein ebenso bekanntes Altarblatt in Soest, wo statt des Osterlamms ein westfälischer Schinken in der Schüssel liegt. In diesem seinwollenden Lutherstück aber liegt ein allerpfäffischster Pfaff in der Schüssel. Es ist ein Anachronismus von Anfang bis Ende.«
»Gut. Das ist Luther. Aber, ich wiederhole, das Stück?«
»Luther ist das Stück. Das andre bedeutet nichts. Oder soll ich mich für Katharina von Bora begeistern, für eine Nonne, die schließlich keine war?«
Victoire senkte den Blick, und ihre Hand zitterte. Schach sah es, und über seinen Fauxpas erschreckend, sprach er jetzt hastig und in sich überstürzender Weise von einer Parodie, die vorbereitet werde, von einem angekündigten Proteste der lutherischen Geistlichkeit, vom Hofe, von Iffland, vom Dichter selbst, und schloß endlich mit einer übertriebenen Lobpreisung der eingelegten Lieder und Kompositionen. Er hoffe, daß Fräulein Victoire noch den Abend in Erinnerung habe, wo er diese Lieder am Klavier begleiten durfte.
All dies wurde sehr freundlich gesprochen, aber so freundlich es klang, so fremd klang es auch, und Victoire hörte mit feinem Ohr heraus, daß es nicht die Sprache war, die sie fordern durfte.
Sie war bemüht, ihm unbefangen zu antworten, aber es blieb ein äußerliches Gespräch, bis er ging.
Den Tag nach diesem Besuche kam Tante Marguerite. Sie hatte bei Hofe von dem schönen Stücke gehört, ›das so schön sei, wie noch gar keins‹, und so wollte sie's gerne sehen. Frau von Carayon war ihr zu Willen, nahm sie mit in die zweite Vorstellung, und da wirklich sehr gekürzt worden war, blieb auch noch Zeit, daheim eine halbe Stunde zu plaudern.
»Nun, Tante Marguerite«, fragte Victoire, »wie hat es dir gefallen?«
»Gut, liebe Victoire. Denn es berührt doch den Hauptpunkt in unserer gereinigten Kürche.«
»Welchen meinst du, liebe Tante.«
»Nun den von der chrüstlichen Ehe.«
Victoire zwang sich, ernsthaft zu bleiben, und sagte dann: »Ich dachte, dieser Hauptpunkt in unserer Kirche läge doch noch in etwas anderem, also z. B. in der Lehre vom Abendmahl.«
»O nein, meine liebe Victoire, das weiß ich ganz genau. Mit oder ohne Wein, das macht keinen so großen Unterschied; aber ob unsere prédicateurs in einer sittlich getrauten Ehe leben oder nicht, das, mein Engelchen, ist von einer würklichen importance.«
»Und ich finde, Tante Marguerite hat ganz recht«, sagte Frau von Carayon.
»Und das ist es auch«, fuhr die gegen alles Erwarten Belobigte fort, »was das Stück will und was man um so deutlicher sieht, als die Bethmann würklich eine sehr hübsche Frau ist. Oder doch zum wenigsten viel hübscher, als sie würklich war. Ich meine die Nonne. Was aber nichts schadet, denn er war ja auch kein hübscher Mann, und lange nicht so hübsch als er. Ja, werde nur rot, meine liebe Victoire, so viel weiß ich auch.«
Frau von Carayon lachte herzlich.
»Und das muß wahr sein, unser Herr Rittmeister von Schach ist würklich ein sehr angenehmer Mann, und ich denke noch ümmer an Tempelhof und den aufrechtstehenden Ritter . . . Und wißt ihr denn, in Wülmersdorf soll auch einer sein, und auch ebenso weggeschubbert. Und von wem ich es habe? Nun? Von la petite princesse Charlotte.«