Theodor Fontane
Der Stechlin
Theodor Fontane

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Neuntes Kapitel

Rex und Czako ritten ab; Fritz führte Woldemars Pferd am Zügel. Aber weder die Schmargendorf noch die Triglaff erwiesen sich, als die beiden Herren fort und die drei Damen samt Woldemar in die Wohnräume zurückgekehrt waren, irgendwie beflissen, das Feld zu räumen, was die Domina, die wegen zu verhandelnder diffiziler Dinge mit ihrem Neffen allein sein wollte, stark verstimmte. Sie zeigte das auch, war steif und schweigsam und belebte sich erst wieder, als die Schmargendorf mit einem Male glückstrahlend versicherte: jetzt wisse sie's; sie habe noch eine Photographie, die wolle sie gleich an Herrn von Czako schicken, und wenn er dann morgen mittag von Cremmen her in Berlin einträfe, dann werd' er Brief und Bild schon vorfinden und auf der Rückseite des Bildes ein »Guten Morgen, Vielliebchen«. Die Domina fand alles so lächerlich und unpassend wie nur möglich, weil ihr aber daran lag, die Schmargendorf loszuwerden, so hielt sie mit ihrer wahren Meinung zurück und sagte: »Ja, liebe Schmargendorf, wenn Sie so was vorhaben, dann ist es allerdings die höchste Zeit. Der Postbote kann gleich kommen.« Und wirklich, die Schmargendorf ging, nur die Triglaff zurücklassend, deren Auge sich jetzt von der Domina zu Woldemar hinüber und dann wieder von Woldemar zur Domina zurückbewegte. Sie war bei dem allem ganz unbefangen. Ein Verlangen, etwas zu belauschen oder von ungefähr in Familienangelegenheiten eingeweiht zu werden, lag ihr völlig fern, und alles, was sie trotzdem zum Ausharren bestimmte, war lediglich der Wunsch, solchem historischen Beisammensein eine durch ihre Triglaffgegenwart gesteigerte Weihe zu geben. Indessen schließlich ging auch sie. Man hatte sich wenig um sie gekümmert, und Tante und Neffe ließen sich, als sie jetzt allein waren, in zwei braune Plüschfauteuils (Erbstücke noch vom Schloß Stechlin her) nieder, Woldemar allerdings mit äußerster Vorsicht, weil die Sprungfedern bereits jenen Altersgrad erreicht hatten, wo sie nicht nur einen dumpfen Ton von sich zu geben, sondern auch zu stechen anfangen.

Die Tante bemerkte nichts davon, war vielmehr froh, ihren Neffen endlich allein zu haben, und sagte mit rasch wiedergewonnenem Behagen: »Ich hätte dir schon bei Tische gern was Beßres an die Seite gegeben; aber wir haben hier, wie du weißt, nur unsre vier Konventualinnen, und von diesen vieren sind die Schmargendorf und die Triglaff immer noch die besten. Unsre gute Schimonski, die morgen einundachtzig wird, ist eigentlich ein Schatz, aber leider stocktaub, und die Teschendorf, die mal Gouvernante bei den Esterhazys war und auch noch den Fürsten Schwarzenberg, dessen Frau in Paris verbrannte, gekannt hat, ja, die hätt' ich natürlich solchem feinen Herrn wie dem Herrn von Rex gerne vorgesetzt, aber es ist ein Unglück, die arme Person, die Teschendorf, ist so zittrig und kann den Löffel nicht recht mehr halten. Da hab' ich denn doch lieber die Triglaff genommen; sie ist sehr dumm, aber doch wenigstens manierlich, so viel muß man ihr lassen. Und die Schmargendorf...«

Woldemar lachte.

»Ja, du lachst, Woldemar, und ich will dir auch nicht bestreiten, daß man über die gute Seele lachen kann. Aber sie hat doch auch was Gehaltvolles in ihrer Natur, was sich erst neulich wieder in einem intimen Gespräch mit unserm Fix zeigte, der trotz aller Bekenntnisstrenge (die selbst Koseleger ihm zugesteht) an unserm letzten Whistabend Äußerungen tat, die wir alle tief bedauern mußten, wir, die wir die Whistpartie machten, nun schon ganz gewiß, aber auch die gute, taube Schimonski, der wir, weil sie uns so aufgeregt sah, alles auf einen Zettel schreiben mußten."

»Und was war es denn?«

»Ach, es handelte sich um das, was uns allen, wie du dir denken kannst, jetzt das Teuerste bedeutet, um den ›Wortlaut‹. Und denke dir, unser Fix war dagegen. Er mußte wohl denselben Tag was gelesen haben, was ihn abtrünnig gemacht hatte. Personen wie Fix sind sehr bestimmbar. Und kurz und gut, er sagte: das mit dem ›Wortlaut‹, das ginge nicht länger mehr, die ›Werte‹ wären jetzt anders, und weil die Werte nicht mehr dieselben wären, müßten auch die Worte sich danach richten und müßten gemodelt werden. Er sagte ›gemodelt‹. Aber was er am meisten immer wieder betonte, das waren die ›Werte‹ und die Notwendigkeit der ›Umwertung‹.«

»Und was sagte die Schmargendorf dazu?«

»Du hast ganz recht, mich dabei wieder auf die Schmargendorf zu bringen. Nun, die war außer sich und hat die darauffolgende Nacht nicht schlafen können. Erst gegen Morgen kam ihr ein tiefer Schlaf, und da sah sie, so wenigstens hat sie's mir und dem Superintendenten versichert, einen Engel, der mit seinem Flammenfinger immer auf ein Buch wies und in dem Buch auf eine und dieselbe Stelle.«

»Welche Stelle?«

»Ja, darüber war ein Streit; die Schmargendorf hatte sie genau gelesen und wollte sie hersagen. Aber sie sagte sie falsch, weil sie sonntags in der Kirche nie recht aufpaßt. Und wir sagten ihr das auch. Und denke dir, sie widersprach nicht und blieb überhaupt ganz ruhig dabei. ›Ja‹, sagte sie, ›sie wisse recht gut, daß sie die Stelle falsch hergesagt hätte, sie habe nie was richtig hersagen können; aber das wisse sie ganz genau, die Stelle mit dem Flammenfinger, das sei der 'Wortlaut' gewesen.‹«

»Und das hast du wirklich alles geglaubt, liebe Tante? Diese gute Schmargendorf! Ich will ihr ja gerne folgen; aber was ihren Traum angeht, da kann ich beim besten Willen nicht mit. Es wird ihr ein Amtmann erschienen sein oder ein Pastor. Dreißig Jahre früher wär' es ein Student gewesen.«

»Ach, Woldemar, sprich doch nicht so. Das ist ja die neue Façon, in der die Berliner sprechen, und in dem Punkt ist einer wie der andre. Dein Freund Czako spricht auch so. Du mokierst dich jetzt über die gute Schmargendorf, und dein Freund, der Hauptmann, so viel hab' ich ganz deutlich gesehen, tat es auch und hat sie bei Tische geuzt.«

»Geuzt?«

»Du wunderst dich über das Wort, und ich wundre mich selber darüber. Aber daran ist auch unser guter Fix schuld. Der ist alle Monat mal nach Berlin rüber, und wenn er dann wiederkommt, dann bringt er so was mit, und wiewohl ich's unpassend finde, nehm' ich's doch an und die Schmargendorf auch. Bloß die Triglaff nicht und natürlich die gute Schimonski auch nicht, wegen der Taubheit. Ja, Woldemar, ich sage ›geuzt‹, und dein Freund Czako hätt' es lieber unterlassen sollen. Aber das muß wahr sein, er ist amüsant, wenn auch ein bißchen auf der Wippe. Siehst du ihn oft?«

»Nein, liebe Tante. Nicht oft. Bedenke die weiten Entfernungen. Von unsrer Kaserne bis zu seiner, oder auch umgekehrt, das ist eine kleine Reise. Dazu kommt noch, daß wir vor unserm Halleschen Tor eigentlich gar nichts haben, bloß die Kirchhöfe, das Tempelhofer Feld und das Rotherstift.«

»Aber ihr habt doch die Pferdebahn, wenn ihr irgendwohin wollt. Beinah muß ich sagen leider. Denn es gibt mir immer einen Stich, wenn ich mal in Berlin bin, so die Offiziere zu sehen, wie sie da hinten stehen und Platz machen, wenn eine Madamm aufsteigt, manchmal mit 'nem Korb und manchmal auch mit 'ner Spreewaldsamme. Mir immer ein Horreur.«

»Ja, die Pferdebahn, liebe Tante, die haben wir freilich, und man kann mit ihr in einer halben Stunde bis in Czakos Kaserne. Der weite Weg ist es auch eigentlich nicht, wenigstens nicht allein, weshalb ich Czako so selten sehe. Der Hauptgrund ist doch wohl der, er paßt nicht so ganz zu uns und eigentlich auch kaum zu seinem Regiment. Er ist ein guter Kerl, aber ein Äquivokenmensch und erzählt immer Nachmitternachtsgeschichten. Wenn man ihn allein hat, geht es. Aber hat er ein Publikum, dann krabbelt es ihn ordentlich, und je feiner das Publikum ist, desto mehr. Er hat mich oft in Verlegenheit gebracht. Ich muß sagen, ich hab' ihn sehr gern, aber gesellschaftlich ist ihm Rex doch sehr überlegen.«

»Ja, Rex; natürlich. Das hab' ich auch gleich bemerkt, ohne mir weiter Rechenschaft darüber zu geben. Du wirst es aber wissen, wodurch er ihm überlegen ist.«

»Durch vieles. Erstens, wenn man die Familien abwägt. Rex ist mehr als Czako. Und dann ist Rex Kavallerist.«

»Aber ich denke, er ist Ministerialassessor.«

»Ja, das ist er auch. Aber nebenher, oder vielleicht noch darüber hinaus, ist er Offizier, und sogar in unsrer Dragonerbrigade.«

»Das freut mich; da ist er ja so gut wie ein Spezialkamerad von dir.«

»Ich kann das zugeben und doch auch wieder nicht. Denn erstens ist er in der Reserve, und zweitens steht er bei den zweiten Dragonern.«

»Macht das 'nen Unterschied?«

»Gott, Tante, wie man's nehmen will. Ja und nein. Bei Mars-la-Tour haben wir dieselbe Attacke geritten.«

»Und doch...«

»Und doch ist da ein gewisses Je ne sais quoi.«

»Sage nichts Französisches. Das verdrießt mich immer. Manche sagen jetzt auch Englisches, was mir noch weniger gefällt. Aber lassen wir das; ich finde nur, es wäre doch schrecklich, wenn es so bloß nach der Zahl ginge. Was sollte denn da das Regiment anfangen, bei dem ein Bruder unsrer guten Schmargendorf steht? Es ist, glaube ich, das hundertfünfundvierzigste.«

»Ja, wenn es so hoch kommt, dann vertut es sich wieder. Aber so bei der Garde...«

Die Domina schüttelte den Kopf. »Darin, mein lieber Woldemar, kann ich dir doch kaum folgen. Unser Fix sagt mitunter, ich sei zu exklusiv, aber so exklusiv bin ich doch noch lange nicht. Und solch Verstandesmensch, wie du bist, so ruhig und dabei so ›abgeklärt‹, wie manche jetzt sagen, und Gott verzeih' mir die Sünde, auch so liberal, worüber selbst dein Vater klagt. Und nun kommst du mir mit solchem Vorurteil, ja, verzeih mir das Wort, mit solchen Überheblichkeiten. Ich erkenne dich darin gar nicht wieder. Und wenn ich nun das erste Garderegiment nehme, das ist ja doch auch ein erstes. Ist es denn mehr als das zweite? Man kann ja sagen, so viel will ich zugeben, sie haben die Blechmützen und sehen aus, als ob sie lauter Holländerinnen heiraten wollten... Was ihnen schon gefallen sollte.«

»Den Holländerinnen?«

»Nun, denen auch«, lachte die Tante. »Aber ich meinte jetzt unsre Leute. Mißverstehe mich übrigens nicht. Ich weiß recht gut, was es mit den großen Grenadieren auf sich hat; aber die andern sind doch ebenso gut, und Potsdam ist doch schließlich bloß Potsdam.«

»Ja, Tante, das ist es ja eben. Daß sie noch immer in Potsdam sind, das macht es. Deshalb ist es nach wie vor die ›Potsdamer Wachtparade‹. Und dann das Wort ›erstes‹ spielt allerdings auch mit. Ein alter Römer, mit dessen Namen ich dich nicht behelligen will, der wollte in seinem Potsdam lieber der Erste als in seinem Berlin der Zweite sein. Wer der Erste ist, nun, der ist eben der Erste, und als die andern aufstanden, da hatte dieser ›Erste‹ schon seinen Morgenspaziergang gemacht und mitunter was für einen! Sieh, als das zweite Garderegiment geboren wurde, da hatten die mit den Blechmützen schon den ganzen Siebenjährigen Krieg hinter sich. Es ist damit wie mit dem ältesten Sohn. Der älteste Sohn kann unter Umständen dümmer und schlechter sein als sein Bruder, aber er ist der älteste, das kann ihm keiner nehmen, und das gibt ihm einen gewissen Vorrang, auch wenn er sonst gar keinen, Vorzug hat. Alles ist göttliches Geschenk. Warum ist der eine hübsch und der andere häßlich? Und nun gar erst die Damen. In das eine Fräulein verliebt sich alles, und das andre spielt bloß Mauerblümchen. Es wird jedem seine Stelle gegeben. Und so ist es auch mit unserm Regiment. Wir mögen nicht besser sein als die andern, aber wir sind die ersten, wir haben die Nummer eins.«

»Ich kann da beim besten Willen nicht recht mit, Woldemar. Was in unsrer Armee den Ausschlag gibt, ist doch immer die Schneidigkeit.«

»Liebe Tante, sprich, wovon du willst, nur nicht davon. Das ist ein Wort für kleine Garnisonen. Wir wissen, was wir zu tun haben. Dienst ist alles, und Schneidigkeit ist bloß Renommisterei. Und das ist das, was bei uns am niedrigsten steht.«

»Gut, Woldemar; was du da zuletzt gesagt hast, das gefällt mir. Und in diesem Punkte muß ich auch deinen Vater loben. Er hat vieles, was mir nicht zusagt, aber darin ist er doch ein echter Stechlin. Und du bist auch so. Und das hab' ich immer gefunden, alle, die so sind, die schießen zuletzt doch den Vogel ab, ganz besonders auch bei den Damen.«

Dies »bei den Damen« war nicht ohne Absicht gesprochen und schien auf das bis dahin vorsichtig vermiedene Hauptthema hinüberführen zu sollen. Aber ehe die Tante noch eine direkte Frage stellen konnte, wurde der Rentmeister gemeldet, der ihr in diesem Augenblicke sehr ungelegen kam. Die Domina wandte sich denn auch in sichtlicher Verstimmung an Woldemar und sagte: »Soll ich ihn fortschicken?«

»Es wird kaum gehen, liebe Tante.«

»Nun denn.«

Und gleich darnach trat Fix ein.


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