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Während Frau Lourmel sich mit ihrer Tochter an dem einsamen Strand, einige Kilometer von Avranches entfernt, in einem kleinen, grauen Haus mit Strohdach einrichtete, begab sich Remi frohgemut und von der salzigen Meeresluft angeregt mit seinem Malkasten auf einen Jahrmarkt in der Umgegend.
Er hatte nur noch vierzehn Franks und siebzig Centimes, aber er war jetzt wenigstens im Besitz von Schuhen. Reihenweise standen die Karren an den Zugängen des Platzes. Unter den Bäumen herrschte ein großes Durcheinander von hochroten Köpfen und blonden Bärten, von Kälberrücken, an denen der Kot sich abschuppte, von Hörnern, Rüsseln, schimmernden Kruppen und weißen Hauben. Das Quietschen der Schweine, die von den Wagen gezerrt wurden, beherrschte das verworrene Getöse von Mensch und Vieh.
Während die Frauen mit goldenen Ketten über den baumwollenen Halstüchern, steif und starr in ihren glatten Röcken, neben den Karren standen und scharf aufpaßten, schlossen die Männer in den bauschigen blauen Blusen beim Apfelmost die Geschäfte ab, drinnen in der Schankstube, die voller Fliegen war.
Remi ging unter dem Stechpalmenzweig in die Schankstube hinein und ließ sich mit Papier und Bleistiften an einem der Tische nieder.
Er zeichnete ein Portrait, dann ein zweites und ein drittes, und schließlich der Reihe nach alle Bauern, die ihn anstarrten. Er verlangte einen Frank für jedes Portrait. Aber die Börsen lockerten sich nicht.
»Holt eure Liebsten herbei,« sagte der Künstler. »Ich werde sie zeichnen.«
Die Menge geriet in Bewegung; einige besonders lustige Burschen zerrten eine dralle Dirne vor. Sie war purpurrot, fast violett, und lachte über das ganze Gesicht. Remi verfertigte eine Skizze, auf der das Mädchen an ihrer Haube und an ihrem Kreuz zu erkennen war.
Einer der fröhlichen Kumpane holte aus seinem Wollstrumpf das blanke Geldstück für den Maler hervor und barg das säuberlich zusammengefaltete Blatt unter seinem Fuhrmannskittel.
Man war der Ansicht, daß der fremde Künstler die Ähnlichkeit gut treffe, und Remi zog mit einigen blanken Geldstücken von dannen. Er übernachtete in der bescheidensten Herberge jenes Dorfes, in dem Frau Lourmel sich niedergelassen hatte, und erschien am andern Morgen am helleuchtenden Strand, wo die bunten Kabinen neben einander aufgereiht waren.
Tiefblau war das Meer am Horizont; es stieg langsam und verebbte auf dem Sand in öligen, grünen, mit weißem Schaum gesäumten Wellen.
Ein feuchter, milder Himmel, dieser schmeichlerische, tückische Himmel, der die zarte Haut der Städter verbrennt, wölbte sich über dem kreisförmigen Horizont. Der leichte Wind, der von der offenen See herüberwehte, spielte neckisch mit den Toiletten der Pariserinnen.
Schlanke Frauen im Badekostüm, das Haar in einer Wachstuchhaube, liefen den Wellen entgegen. Remi sah Fräulein Lourmel, deren Schleier im Winde flatterte.
Er wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen, aber an der Biegung eines schmalen Weges, der sich am Strand verlor, sah er Herrn Sarriette auftauchen, Herrn Sarriette mit seinem weißen Backenbart und seinem Regenschirm.
»Guten Morgen, Herr Sarriette,« sagte er zu dem überraschten alten Herrn.
Nach Verlauf einer kleinen Viertelstunde waren sie die besten Freunde.
»Ich liebe die alten Bauten,« sagte Herr Sarriette. »So wie Sie mich hier sehen, habe ich mich drei Wochen lang damit beschäftigt, alle Mauern der Abtei des Mont Saint-Michel zu messen. Aus einer mir eigentümlichen Gewohnheit habe ich mich meines Regenschirms bedient, um die Maße zu nehmen. Die Wälle sind im Querschnitt zweiundsiebzig Regenschirme hoch; die Säulen des Kirchenschiffs sind nicht weniger als siebenunddreißig Regenschirme, drei Griffe und zwei Zwingen lang.«
Herr Sarriette war entzückt, als er erfuhr, daß Remi Maler war. Sie verabredeten, die ganze Umgegend von Avranches gemeinsam zu erforschen. Herr Sarriette sollte die historischen Denkmäler messen und Remi dieselben skizzieren.
»Bitte, stellen Sie mich Frau Lourmel vor,« sagte Remi.
Der alte Herr stellte vor: »Herr Remi Sainte-Lucie, Sohn des einstigen Ministers von Haiti,« und Remi verneigte sich vor Frau Lourmel, die vor Überraschung stumm blieb, und vor dem jungen Mädchen, dessen Veilchenaugen sich weit öffneten, indes ihr Mund lächelte.
Am Abend desselben Tages lehnte Frau Lourmel mit ihrer Tochter am Fenster; sie atmeten die salzgetränkte Luft ein und blickten nach dem Mond, der aus dem glitzernden Meere auftauchte.
»Aber mein Kind,« sagte Frau Lourmel, »wir wissen nichts über seine Familie, über seine Vermögensverhältnisse, über seinen Lebenswandel.«
»Aber Mama, ich liebe ihn,« rief das junge Mädchen in kühner Unschuld.
»Wie kannst du das sagen, Johanna?« erwiderte die Mutter. »Du kennst ihn doch nicht.«
Und Johanna, deren schöne Augen in schelmischer Zärtlichkeit erglänzten, erwiderte: »Mama, ich kenne ihn nicht, aber ich habe ihn wieder erkannt.«
Herr Alidor Sainte-Lucie, der seit zwölf Stunden in Paris weilte, hatte seinen Sohn noch nicht gesehen. Vergeblich hatte er am Bahnhof nach ihm Ausschau gehalten, vergeblich im Hotel auf ihn gewartet. Dieses Fernbleiben kränkte ihn; seine von der langen Reise erschütterten Nerven verspürten noch auf der friedlichen Hotelmatratze das Stampfen des Dampfers und das Rütteln des Schnellzuges. Unzufrieden wachte er auf. Das sonderliche Unbehagen, das auf seinen Gliedern lastete, quälte auch sein Gehirn.
In eine Droschke zurückgelehnt, die über die Pflastersteine der steilen Straßen ratterte, dachte er – schlecht gelaunt – über die Erziehung seines Sohnes nach, die Herr Godet-Laterrasse so energielos leitete. Vier Jahre waren verflossen, und Remi hatte das Baccalaureat immer noch nicht bestanden. Herr Sainte-Lucie hatte ein anderes Resultat erwartet, als er einen armen, aber überlegenen Menschen zum Mentor erwählte. Er hatte sich mehr von Herrn Godet-Laterrasse versprochen, der in den politisierenden Kaffees so beredt und so unerschütterlich war. Die Briefe, die er von dem Mentor erhielt, hatten ihn wegen ihre nichtssagende Hohlheit geärgert. Jetzt war er außerdem noch wütend auf Remi, weil dieser nicht an den Bahnhof gekommen war, den Vater zu umarmen und abzuholen, wie es sich gebührte. Der Duft von gebratenem Fisch reizte seine Geruchsnerven. Langsam stieg die Droschke die Anhöhe hinan, von einem mageren Gaul gezogen, der Kopf und Zunge hängen ließ und seinen Rücken ruhig der Peitsche darbot. Endlich hielt der Kutscher, ohne einen Ton verlauten zu lassen. Vor dem Wagenschlag stiegen die hundertsechzig Stufen der Passage Cotin zu steiler Höhe an. Herr Alidor verließ den Wagen und gab dem Kutscher ein Fünffranksstück. Der Kutscher, ein riesenhafter, staubbedeckter Kerl mit sinnigem Gesicht, steckte das Geldstück zwischen die Zähne, ohne einen Ton zu sagen. Dann begann eine lange stumme Szene. Langsam bewegte der Kutscher seinen ungeheuren Körper auf dem Sitz, wühlte in einer seiner vielen Taschen, zog einen Beutel halb hervor, hielt inne, um den unruhig gewordenen Gaul zu besänftigen, erforschte eine andere Tasche, fuhr einige Schritte weiter, um einem Lastwagen auszuweichen, dem er gar nicht im Wege war, kehrte die Taschen seiner roten Weste um und wies schließlich dem aufgebrachten Passagier sieben Sous vor. Das war alles, was er herausgeben konnte. Er hatte kein Kleingeld. Herr Alidor kehrte ihm wutschnaubend den Rücken und hörte noch, wie jener schimpfend auf sein Pferd lospeitschte.
Die tadellosen Lackschuhe kamen auf den klaffenden Steinen der Passage Cotin zu Schaden. Stufe für Stufe stiegen sie den steilen Pfad hinan, der an diesem Hochsommertag denkbar widerwärtige, verpestete Dünste ausströmte. Schließlich, nachdem er noch auf den glitschigen Stufen der Haustreppe ausgeglitten war, zog Herr Alidor an dem Glockenstrang, der über der vermoderten Türe hing. Nach einer ziemlich langen Stille öffnete sich die Tür ein wenig und ließ einen Kopf sehen, der mit einem bunten, halbseidenen Tuch umwickelt war. Jäh aus seinem Schlaf gerissen, war der höhere Mensch in aller Eile in eine Hose gefahren, die ein uralter, abbröckelnder Schmutz bedeckte. Feuchter Tabaksdunst lag schwer über dem Zimmer. Ein grünliches, vielfach gebrochenes Tageslicht drang mühselig durch die schmutzigen Scheiben. An den Wänden staken politische Karikaturen auf Stecknadeln. Der Waschtisch war mit zerfetzten und schmierigen Büchern beladen. Ein Stück Seife, ein Kamm und ein halbes Brötchen lagen neben Manuskripten und Wörterbüchern auf dem Schreibtisch. Dieses schmachvolle Elend offenbarte eine solche Gewöhnung an Unordnung und Faulheit, daß Herr Sainte-Lucie nach einem einzigen Blick über dieses Zimmer den Mentor besser kannte, als wenn er ihn zwanzig Jahre hindurch von Kaffeehaus zu Kaffeehaus begleitet hätte. Der unglückliche Kreole bemühte sich, durch eine würdige Haltung die Schmach seiner Wohnung auszumerzen.
»Entschuldigen Sie,« sagte er zu dem einstigen Minister, »daß ich Sie in der Unordnung der Zelle eines modernen Anachoreten empfangen muß.«
Sich aufrichtend, fügte er hinzu:
»Wir sind die Benediktiner des 19. Jahrhunderts!«
Und verstohlen ließ er Kamm und Brotreste, die seinen Arbeitstisch entwürdigten, in seinen Taschen verschwinden.
Herr Sainte-Lucie hätte in seinem Innersten erkennen müssen, daß er sich selbst getäuscht hatte, – daß er nicht getäuscht worden war.
Wie hätte wohl auch Herr Godet-Laterrasse jemanden täuschen können? Dieser dreckige Schlucker war erbarmungswürdig. Aber wenn es ein Gefühl gab, das Herrn Alidors Seele fremd war, so war es das Mitleid. Er konnte nur sich selbst verantwortlich machen, und das verzieh er dem unschuldigen Mentor am allerwenigsten. Vor Wut biß er die Lippen zusammen und seine Blicke wurden finster. Bald aber empfand er es als besonderen Genuß sich zu verstellen. Der starke Mann gab seiner Stimme einen sanften, fast schmeichlerischen Tonfall, um zu sagen:
»Mein lieber Godet, entschuldigen Sie, daß ich Sie so im Bett überrumpelt habe. (Welch einen Blick warf er auf jenes Möbel, das er höflicherweise ein Bett nannte!) Mein erster Besuch galt Ihnen. Wir wollen Remi überraschen, dem ich meine Ankunft mitteilte, der sich aber nicht weiter darum bekümmert hat. Ich will ihm ordentlich die Wahrheit sagen.«
Bei diesen Worten schüttelte ein Schauer des Entsetzens den Mentor, der, so hoch er auch den Kopf zurückwarf, immer über sich das rätselvolle Antlitz des Mulatten sah.
Er versuchte ein Lächeln und stammelte, er habe Remi für diesen Tag beurlaubt, der Student werde sicherlich einen Ausflug gemacht haben.
Der Unglückliche hatte nur einen Tag gewonnen. Er verbrachte ihn mit vergeblichem Suchen, das ihn völlig erschöpfte. Am nächsten Morgen, um acht Uhr, erschien Herr Sainte-Lucie wieder in der Zelle, die der Benediktiner des 19. Jahrhunderts ein wenig in Ordnung gebracht hatte. Er selbst erwartete Herrn Sainte-Lucie in weißer Krawatte und mit jenem stoischen Ausdruck, der ihm bei allen Zeremonien ein so bemerkenswertes Aussehen verlieh. Es quälte ihn nicht allein die Furcht vor dem einstigen Minister des Kaisers Soulouque. Sein geringer Kredit in der Wirtschaft der Impasse du Baigneur war erschöpft, und da er nur noch zwanzig Sous besaß, verzweifelte er an einem Ausweg. In die zweihundert Franks, die er jeden Monat am haitischen Konsulat erhob, wurde regelmäßig eine starke Bresche geschlagen durch die Anzahlungen, die er den verschiedenen Lieferanten machte. Denn er war ehrlich. Der Rest dieser Summe verblieb nie lang in seinen Händen. Gold auszustreuen war seine Lieblingsgeste.
Er folgte Herrn Sainte-Lucie in einem Übermaß von Unruhe, das ihn betäubte, blendete, vernichtete und allmählich sich in Gleichgültigkeit wandelte. Durch Herrn Alidors Stimme, die dem Kutscher Remis Adresse nannte, aus diesem Taumel aufgeschreckt, versuchte er, noch einige Stunden Zeit zu gewinnen. »Lieber Herr Sainte-Lucie,« sagte er, »wir können nicht damit rechnen, Remi jetzt anzutreffen; er wird erst nachmittags, zur gewohnten Stunde, zu Hause sein.«
Der mißtrauische Mulatte hegte den Verdacht, daß man ihm etwas verheimlichte. Es bereitete ihm beinahe Vergnügen, jede Verfehlung in seinem Gedächtnis zu notieren, und voll heuchlerischer Gutmütigkeit erwiderte er:
»Wohlan, gehen wir also frühstücken. Sie werden hungrig sein, Herr Godet.«
Sie frühstückten in einem Kaffee am Boulevard. Der Mentor konnte nicht essen und beobachtete mit Entsetzen, wie der riesenhafte Mulatte diese ungeheueren Fleischmassen verschlang, die ihn bei Kräften erhielten. Noch nie war ihm dieser Mann so groß und mächtig erschienen. Aus den Manschetten, die mit goldenen Knöpfen geschlossen waren, ragten riesige Arme und bronzene Muskeln hervor. Herr Alidor Sainte-Lucie sprach mit fast kindlicher Sanftmut. Die vertrauensvoll gesenkten Wimpern milderten das Funkeln der grausamen Augen. Und dieses Vertrauen erhöhte noch das Entsetzen des Mentors. Mit Zigarren und Likör wurde das Frühstück in die Länge gezogen.
Aber schließlich nahm es doch ein Ende. Und der Wagen, den ein Kellner herbeigeholt hatte, brachte Vater und Mentor nach der Rue des Feuillantines.
Herr Godet-Laterrasse hoffte auf ein Wunder. Er erwartete fast, daß eine gütige Vorsehung hätte Remi in sein Zimmer zurückgeführt und sie fänden ihn in seinen Tacitus vertieft.
Die Begrüßung der Hotelwirtin war vernichtend.
»Herr Remi ist nicht zurückgekehrt,« sagte sie. »Man muß die Polizei verständigen.«
Herr Alidor kreuzte die Arme und wandte sich zum Mentor. Sein mattbraunes Antlitz veränderte sich nicht, doch seine Lippen waren weiß und die Augen blutunterlaufen. Mit zusammengepreßten Zähnen und tiefen Kehllauten fragte er:
»Wo ist er? Sie haften mir für ihn!«
Dann streckte er seine kräftige Hand aus und packte den Arm des Mentors. Da sich kein Schlund auftat, um ihn hier, vor dem Hotelbureau, zu verschlingen – hob Herr Godet-Laterrasse sein Haupt und betrachtete das Treppenhaus. Noch in seinem Zusammenbruch blieb er erhaben.
Herr Sainte-Lucie warf einen Blick nach rückwärts, sah die auf einem Brett aufgereihten kupfernen Kerzenleuchter, die numerierten Schlüssel und die Annonce einer Likörhandlung – Dinge, die von europäischer Zivilisation zeugten.
Hätte er die steilen Abhänge einer Schlucht, die kahlen Hügel oder die Mangrovebäume seiner Insel um sich gesehen – er hätte höchstwahrscheinlich der unbändigen Lust nachgegeben und den Mentor erdrosselt. Er unterließ es aus Achtung vor den kontinentalen Sitten und begnügte sich zu sagen:
»Ich verlasse Sie nicht eher, bis Sie ihn gefunden haben.«
Jetzt begannen Kreuz- und Querfahrten im Wagen. Herr Godet-Laterrasse führte den stummen Mulatten. Er dinierte mit ihm in den luxuriösesten Restaurants, nahm das zuvorkommende Lächeln der Kellner in Empfang und aß die köstlichsten Speisen. Des Abends stieg er über weiche, die Schritte dämpfende Teppiche die Hoteltreppe empor, und der überlange Schatten seines unvermeidlichen Gefährten folgte an seiner Seite. Er betrat ein schönes Zimmer, dessen Tür hinter ihm verschlossen wurde und sich erst am nächsten Morgen wieder öffnete, um ihn in dieses prunkvolle, grausame Leben zurückzurufen. Eine Droschke wartete auf sie; sie rasten den ganzen Tag umher. Sie fuhren in den »Dürren Kater«. Virginia bekundete vor dem Vater großes Interesse für den Sohn. Sie erzählte, sie habe die Wäsche des Herrn Remi ausgebessert. Sie wäre für ihn durchs Feuer gegangen. Sie sei keine Frau wie so viele andere.
»Gehen Sie doch in die Morgue,« fügte sie mit einem schweren Seufzer hinzu.
Sie entfloh in die Küche; kurz darauf erschien sie wieder mit geröteter Nase, eine Träne im Auge zerdrückend, in der Hand eine Rechnung, die Herr Remi zu begleichen vergessen hatte.
Sie benützte die Gelegenheit und erinnerte Herrn Godet an die Kleinigkeit, die er ihr schuldig geblieben war.
Aber der Mann von Eisen hatte sein Portemonnaie vergessen. Er hatte übrigens den Kampf bereits aufgegeben. Diese fahrende Gefangenschaft erschöpfte ihn.
Vom »Dürren Kater« wurde er in Labannes Atelier geschleift. Der Bildhauer streichelte seinen goldschimmernden Bart und erklärte, er sei sich über das Sühnedenkmal für die Opfer der Tyrannei noch immer nicht klar. Er studiere die Flora der Antillen. Er zeigte Herrn Sainte-Lucie eine Staffelei, die unter aufgehäuften Bücherstößen halb verschwand.
»Das war die Staffelei Ihres Sohnes,« sagte der Bildhauer. »Der Bursche malte bereits mit der Geschicklichkeit eines Affen.«
»Mein Sohn ist Maler!« rief Herr Sainte-Lucie voll Erstaunen.
Und mit einer Geste, die ihm schon zur Gewohnheit geworden war, schob er den Mentor in den Wagen, der unten auf sie wartete.
Sie fuhren zur Polizeipräfektur; sie fuhren zu Dion, der unter zwei gekreuzten Floretts ein Gedicht verfaßte. Auf seinem Bücherschrank stand ein Totenkopf, mit einer schwarzen Spitzenmaske. Sie fuhren zu Mercier, der mit einer Hebamme zusammen hauste, einem grobknochigen, massiven Frauenzimmer von strotzender Gesundheit. Sie fuhren hinauf ins hinterste Batignolles, zu dem Atelier, wo Potrel seine Bilder malte. Sie fuhren zu einem Fräulein Marie und zu einem Fräulein Luise, die den einstigen Minister »Papa« nannte und mit ihm kokettierte.
Eines Tages, nach einem ausgezeichneten Frühstück, als der Wagen bereits in Sicht war, bat Herr Godet-Laterrasse Herrn Sainte-Lucie, er möge ihm wenigstens erlauben, seine Wohnung aufzusuchen und ein Hemd und ein Paar Socken zu holen. Ohne ihm auch nur zu antworten, befahl der Vater dem Kutscher, vor dem erstbesten Wäschegeschäft zu halten.
An jenem Tage fuhren sie auch zu Télémaque.
Miragoane, die es noch nie erlebt hatte, daß ein Wagen vor der Türe Ihres Herrn hielt, bellte voller Besorgnis. Und als Télémaque den einstigen kaiserlichen Minister aus dem Wagen steigen sah, erstarrte er vor Ehrfurcht und Entsetzen.
»Sie sind's, Mouché Sainte-Lucie!«
Dann schwieg er, und sein Mund blieb geöffnet.
Seine Blicke huschten heimlich nach dem Wagen, voller Angst, Soulouque könnte dort verborgen sein. In dieser Hinsicht beruhigt, begrüßte er Herrn Godet-Laterrasse mit einem Lächeln und stieg in den Keller hinab, um einige Flaschen Bier zu holen.
Während seiner Abwesenheit betrachtete Herr Sainte-Lucie das Portrait, das in goldenem Rahmen über dem Schanktisch prangte.
»Nicht wahr, Mouché Sainte-Lucie, das ist was Schönes?« sagte der Schwarze. »Mouché Ihr Sohn hat dieses Portrait von mir gemacht. Er ist ein Zauberer, Mouché Remi.«
Der Vater warf dem Mentor einen Blick zu aus giftverdunkelten Augen. Das war alles.
Als er von dem einstigen Minister erfuhr, daß Remi verschwunden war, dachte Télémaque lange nach. Seine Augen, halb geschlossen, waren wie die Augen eines schläfrigen Katers – schienen sich bei Miragoane Rat zu holen. Schließlich schüttelte er den Kopf und sagte mit heiligem Ernst:
»Mouché, die Liebe hat den Jüngling entführt. Die jungen Leute werden von der Liebe hin und her bewegt, wie Bruder Vadou, wenn er auf dem Schlangenkäfig tanzt. Eine alte Frau, die gut kochen kann, ist was Gutes. Aber ein schönes junges Mädchen ist auch was Gutes.«
Télémaque verstummte.
»Wissen Sie, wo mein Sohn ist?« fragte Herr Sainte-Lucie. »Ja, Mouché,« erwiderte Télémaque. »Er ist dort, wo das junge Mädchen ist.« Man fragte ihn, wo denn das junge Mädchen sei, von dem er sprach. »Ich weiß es nicht, Mouché,« antwortete er. Und er lächelte wie ein kleines Kind. Herr Sainte-Lucie konnte nichts weiter aus ihm herausbringen. Er stieß den Mentor mit seinem Paket Hemden und Socken in die Droschke und beschwor Télémaque, ihm alles mitzuteilen, was er über Remi in Erfahrung bringen konnte.
Télémaque hatte sein schwarzes Gewand angezogen. Er sah sehr gut aus in dem bürgerlichen Anzug, und der Hotelportier wies ihm ohne zu zögern die Ehrentreppe.
»Guten Tag, Mouché,« sagte er zu Herrn Alidor, den er in einem rosafarbenen Kittel und Kniehosen antraf.
»Ich weiß, wo Mouché Remi ist. Er ist dort, wo das junge Mädchen ist, und das junge Mädchen ist in Avranches sur mer.«
Dann erklärte er sich näher; er hatte bei verschiedenen Anlässen bemerkt, daß der junge Mann sich außerordentlich für Herrn Sarriette interessierte, einen Hausbesitzer in Courbevoie, und er hatte gedacht, es müsse wegen einem jungen Mädchen sein. Durch die Metzgerin und durch die Bäckerin brachte er in Erfahrung, Herr Sarriette, der nur mit wenig Menschen verkehrte, sei der Vormund eines jungen Mädchens, das mit seiner Mutter in der Rue des Feuillantines wohnte.
Dieses junge Mädchen sollte sehr hübsch sein. Und da Télémaque wußte, daß Herr Sarriette nach einem kleinen Dorf in der Nähe von Avranches gereist war, um sein Mündel dort zu besuchen, zweifelte er keinen Augenblick, daß auch Remi in Avranches war.
Er behauptete, nicht einmal Bruder Joseph, der Prophet, hätte besser raten können, selbst nach einem Tanz auf dem Schlangenkäfig.
Herr Sainte-Lucie lief zu dem Gefängnis des Mentors, der sich allmählich an dieses üppige und verblüffende Leben gewöhnt hatte, und gebot ihm, seine Koffer zu packen. Angesichts dieser grausamen Ironie erhob Herr Godet-Laterrasse seine Augen zum Plafond, diese rührenden Augen eines Pudels und eines Märtyrers. Man ließ ihm durch einen Kellner einige Taschentücher besorgen, dann rollte er an der Seite des Mulatten nach der Normandie.
Die beiden Reisenden brachten die Nacht in Avranches zu. Am nächsten Morgen versilberte ein sanftes Licht die sandige Bucht, von deren Hintergrund sich die braune, zackige Pyramide des Mont Saint-Michel abhob.
Herr Sainte-Lucie schleppte Herrn Godet-Laterrasse zu dem Fuhrwerk, das sie nach dem Badeort bringen sollte. Der einstige Minister warf sich in die Kutsche und verstaute seinen Gefangenen unter der Plane, zwischen zwei Kisten, deren Kanten ihm die Rippen eindrückten.
Ein lichtgrauer Himmel wölbte sich über dem Strand, als die Reisenden anlangten.
Herr Sainte-Lucie sperrte sein Opfer in ein Hotelzimmer ein.
Die Wirtin gab die Auskunft, daß Herr Remi in Begleitung von Herrn Sarriette mit seinem Malkasten nach den Klippen gewandert sei.
Und in der Tat, Herr Alidor war keine zehn Minuten gegangen, da sah er seinen Sohn, der in aller Ruhe die Felsen malte. Der Vater hatte gute Lust, ihn mit Stockschlägen zu traktieren, – und hätte ihn doch wieder am liebsten in seine Arme geschlossen.
Noch überlegte er, welchem Verlangen er nachgeben sollte, als Remi ihn erblickte und ihm um den Hals fiel.
Er war nicht mehr das große, mürrische Kind, das sein Vater vor vier Jahren verlassen hatte. Er war ein kräftiger Bursche, aufgeweckt und gut gelaunt. Er hatte einen offenen Blick, ein freundliches Lächeln.
»Welch ein Glück, daß du gekommen bist, Papa!« rief er aus.
»Ich wollte dir gerade schreiben. Herr Sarriette, den ich dir hiermit vorstelle, wird dich mit Frau Lourmel und ihrer Tochter bekannt machen.«
Herr Sarriette ließ die Klippen in Stich, die er mit seinem Regenschirm gemessen hatte, und grüßte.
Am Abend sodann, unter dem Gefunkel der unzähligen Sterne, bot Herr Sainte-Lucie mit all seiner kreolischen Grazie Frau Lourmel den Arm, um mit ihr am Strande zu promenieren.
Remi ging neben Johanna und beobachtete, wie die blauen Schatten der Nacht von den Wimpern des jungen Mädchens auf ihre runden Wangen hinabglitten.
Sie wandte ihm den Blick ihrer Augen zu, die so frisch waren wie vom Tau benetzte Veilchen, öffnete die Lippen, – im Strahl des Mondlichts schimmerten ihre Zähne – und sagte:
»Mama konnte durchaus nicht begreifen, warum Sie uns nachgereist sind, ohne Hut, in Pantoffeln und Hausjoppe. Aber ich habe gleich gewußt, daß Sie es taten, weil Sie mich heiraten wollten.«
Als Herr Alidor mit seinem Sohn allein war, sagte er halb zärtlich, halb schroff:
»Dieses junge Mädchen gefällt mir sehr gut. Du bist ihrer gar nicht wert. Ich hätte Frau Lourmel erzählen sollen, wie du dich in Paris aufgeführt hast, du liederlicher Kerl! Kannst du denn wenigstens malen?« Plötzlich schlug er sich an die Stirne. »Ach – dieser Idiot, der Godet, er ist ja immer noch in seinem Zimmer eingesperrt!«
Dieses Buch wurde im Herbst 1921 durch die Universitäts-Buchdruckerei von Dr. C. Wolf & Sohn in München gedruckt. 170 Exemplare wurden auf echtem Zanders Bütten abgezogen und vom Künstler signiert. Den Exemplaren I – L, die in einem handgearbeiteten Ganzlederband gebunden, wurde eine signierte Originalskizze von Rudolf Großmann beigegeben. Die Exemplare 1-120, ebenfalls auf echtem Zanders Bütten abgezogen und von dem Künstler signiert und nummeriert wurden in Ganzleder gebunden.