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Christoph V. hatte es eilig, das Hemd anzulegen, von dem er seine Genesung erhoffte. Er ließ Herrn von Vierblatt, seinen Oberstallmeister, und Herrn von Waldteufel, seinen Staatssekretär, kommen und beauftragte sie, es so schnell wie möglich herbeizuschaffen. Es ward vereinbart, daß sie über den Gegenstand ihrer Nachforschungen das tiefste Schweigen wahren sollten. Es war nämlich zu befürchten, daß, wenn das Publikum erführe, welche Art von Heilmittel dem König frommte, eine Menge von Unglücklichen, insbesondere die Allerunglücklichsten und die vom Elend am meisten Bedrückten, in Erwartung einer Belohnung ihr Hemd anbieten würden. Auch befürchtete man, daß die Anarchisten vergiftete Hemden schickten.
Die beiden Edelleute glaubten, daß sie sich das Heilmittel des Doktors Rodrigo im Schlosse selbst verschaffen könnten, und stellten sich an ein Guckfenster, vor dem man die Höflinge vorüberschreiten sah. Die, welche sie erblickten, hatten ein mageres Gesicht, eine verdrossene Miene. Sie trugen ihre Leiden auf dem Gesicht geschrieben: sie verzehrten sich in dem Wunsche nach einer Stellung, einem Orden, einem Vorrecht, einem Brillantknopf. Doch als sie in die Prunkgemächer hinabgingen, fanden Vierblatt und Waldteufel den Herrn von Hayn in einem Lehnstuhl schlafend, die Lippen bis zu den Backenknochen hochgezogen, die Nasenlöcher weit geöffnet, die Backen rund und strahlend wie zwei Sonnen, die Brust ebenmäßig, den Bauch rhythmisch und friedlich, die ganze Gestalt Freude ausströmend, von der glänzenden Wölbung des Schädels bis zu den Zehen, die, auseinandergespreizt wie die Beine, in leichten Schnallenschuhen steckten.
Bei diesem Anblick sagte Vierblatt: »Suchen wir nicht länger. Sobald er erwacht ist, wollen wir ihn um sein Hemd bitten.«
Alsbald rieb sich der Schläfer die Augen, reckte sich und blickte kläglich um sich. Seine Mundwinkel senkten sich, seine Backen fielen ein, seine Augenlider hingen herab wie Wäsche an den Fenstern der Armen; seine Brust atmete seufzend; sein ganzes Wesen drückte Verdruß, Sehnsucht und Enttäuschung aus.
Als er den Oberstallmeister und den ersten Staatssekretär erkannte, sagte er: »Ach, meine Herren, ich träumte etwas Schönes. Ich träumte, der König habe mich zum Marquis von Hayn gemacht. Ach, es ist nur ein Traum, und ich weiß, die Absichten des Königs sind ganz entgegengesetzt.«
»Weiter«, sagte Herr von Waldteufel. »Es ist schon spät; wir haben keine Zeit zu verlieren.«
In der Galerie begegneten sie einem Mitglied des Oberhauses, das die Welt durch seine Charakterstärke und die Tiefe seines Geistes in Staunen setzte. Auch seine Feinde erkannten seine Selbstlosigkeit, seine Offenheit und seinen Mut an. Man wußte, daß er seine Memoiren schrieb, und ein jeder schmeichelte ihm, in der Hoffnung, in den Augen der Nachwelt eine vorteilhafte Rolle darin zu spielen.
»Vielleicht ist er glücklich«, sagte Waldteufel.
»Fragen wir ihn«, riet Vierblatt.
Sie traten auf ihn zu, wechselten ein paar Worte mit ihm und brachten das Gespräch auf das Glück. Dann stellten sie die Frage, die ihnen am Herzen lag.
»Reichtum und Ehre lassen mich kalt«, antwortete er, »und die Neigungen, selbst die rechtmäßigsten und natürlichsten, das Familienleben, die Reize der Freundschaft, füllen mein Herz nicht aus. Meine Hingabe gilt dem öffentlichen Wohle, und das ist die unglücklichste aller Leidenschaften und die Liebe mit den größten Hindernissen.
Ich war Minister; ich weigerte mich, mit den Staatsgeldern und dem Blut unserer Soldaten Unternehmungen zu unterstützen, die Freibeuter und Krämer zu ihrem eigenen Profit und zum öffentlichen Schaden organisiert hatten. Ich lieferte Heer und Flotte nicht den Lieferanten aus, und ich fiel durch die Verleumdungen aller dieser Schurken, die mir unter dem Beifall der stumpfen Menge vorwarfen, die geheiligten Interessen und den Ruhm meines Vaterlandes verraten zu haben. Gegen die vornehmen Banditen hat niemand mich unterstützt. Wenn man sieht, aus wieviel Dummheit und Feigheit die Volksmeinung besteht, so sehnt man die absolute Monarchie zurück. Die Schwäche des Königs bringt mich zur Verzweiflung; die Kleinheit der Großen ist mir ein schrecklicher Anblick; die Unfähigkeit und Unredlichkeit der Minister, die Unwissenheit, Niedrigkeit und Käuflichkeit der Volksvertreter erfüllen mich abwechselnd mit Verblüffung und Wut. Um die Schmerzen zu lindern, die ich tagsüber erdulde, schreibe ich sie des Nachts nieder und breche so die Bitterkeit aus, von der ich mich nähre.«
Vierblatt und Waldteufel zogen den Hut vor dem edlen Mitglied des Oberhauses und gingen weiter. Nach wenigen Schritten standen sie einem anscheinend buckligen Zwerg gegenüber, denn man sah seinen Rücken über seinen Kopf weg. Er hatte eine affektiert zierliche Art zu gehen.
»Es hat keinen Zweck, sich an ihn zu wenden«, sagte Vierblatt.
»Wer weiß?« erwiderte Waldteufel.
»Glauben Sie mir«, entgegnete der Oberstallmeister, »ich kenne ihn; ich bin sein Vertrauter. Er ist mit sich zufrieden und völlig selbstgenügsam, und er hat seine Gründe dazu. Dieser kleine Bucklige ist der Verzug aller Weiber. Damen vom Hofe, aus der Stadt, Schauspielerinnen, Bürgermädchen, galante Dämchen, Gefallsüchtige, Prüde, Betschwestern, die Stolzesten und Schönsten liegen ihm zu Füßen. Um sie zu befriedigen, ruiniert er sein Leben und seine Gesundheit; er ist schwermütig geworden und trägt den Schmerz, ein Glücksbringer zu sein.«
Die Sonne ging unter, und in der Meinung, daß der König heute nicht mehr erscheine, räumten die letzten Höflinge die Gemächer des Schlosses.
»Ich gäbe gern mein Hemd her«, sagte Vierblatt. »Ich bin, wie ich wohl sagen kann, glücklich veranlagt, murre nie, ich esse, trinke und schlafe gut. Man macht mir Komplimente über mein blühendes Aussehen; man findet mein Gesicht angenehm; und über mein Gesicht habe ich in der Tat nicht zu klagen. Doch in der Blase fühle ich eine Hitze und Schwere, die mir das Leben vergällt. Heute morgen habe ich einen Stein von der Größe eines Taubeneies ausgeschieden. Ich fürchte, mein Hemd ist dem König nichts wert.«
»Ich gäbe gern meines«, sprach Waldteufel. »Doch auch ich habe meinen Stein, nämlich meine Frau. Ich habe die häßlichste und boshafteste Kreatur geheiratet, die je gelebt hat, und obwohl ich weiß, daß die Zukunft in Gottes Hand liegt, setze ich kühnlich hinzu: auch die boshafteste und häßlichste, die je leben wird; denn die Wiederkehr eines solchen Originals ist so unwahrscheinlich, daß man sie praktisch als unmöglich bezeichnen kann. Es gibt Würfe, die der Natur nicht zweimal gelingen . . .«
Und diesen peinlichen Gegenstand verlassend: »Vierblatt, mein Freund, wir waren nicht bei Verstand. Nicht am Hofe noch bei den Mächtigen dieser Welt muß man einen Glücklichen suchen.«
»Sie reden wie ein Philosoph«, erwiderte Vierblatt. »Sie drücken sich aus wie der Lump, der Rousseau. Sie haben unrecht. Es gibt ebenso viele, die glücklich sind und das Glück verdienen, in den Königsschlössern und Adelspalästen wie in den Literatenkaffees und in den Kneipen, wo die Arbeiter verkehren. Wenn wir heute unter diesem Dache keinen fanden, so war es wegen der späten Stunde und weil wir kein Glück hatten. Gehen wir heute abend zum Spiel bei der Königin, da wird es uns besser gelingen.«
»Einen Glücklichen an einem Spieltische finden!« rief Herr von Waldteufel aus. »Das heißt soviel, wie ein Perlenkollier in einem Rübenfeld finden und eine Wahrheit im Mund eines Staatsmannes! . . . Der spanische Botschafter gibt heute abend ein Fest; die ganze Gesellschaft wird da sein. Gehen wir auch hin; dort werden wir unschwer die Hand auf ein gutes und geeignetes Hemd legen.«
»Bisweilen ist es mir passiert«, sagte Vierblatt, »daß ich die Hand auf das Hemd einer glücklichen Frau legte. Und zwar mit Vergnügen. Doch unser Glück war nur von kurzer Dauer. Wenn ich so zu Ihnen rede, so geschieht es nicht, um zu prahlen (es war wirklich nicht der Rede wert), noch um vergangenes Glück zurückzurufen, denn es kann wiederkehren, und im Gegensatz zu dem Sprichwort hat jedes Alter das gleiche Glück. Meine Absicht ist eine ganz andere; sie ist ernster und tugendhafter und bezieht sich unmittelbar auf den hohen Auftrag, den wir beide haben: ich möchte Ihnen einen Gedanken unterbreiten, der mir soeben eingefallen ist. Meinen Sie nicht, Waldteufel, daß der Doktor Rodrigo, als er das Hemd eines Glücklichen verordnete, diesen Ausdruck im allgemeinen Sinne gebrauchte, daß er die ganze Gattung Mensch meinte, ohne Ansehen des Geschlechts, und daß er sowohl das Hemd einer Frau wie das eines Mannes darunter verstand? Was mich betrifft, so neige ich zu dieser Auffassung, und wenn Sie der gleichen Ansicht sind, so könnten wir das Gebiet unserer Nachforschungen ausdehnen und unsere Chancen mehr als verdoppeln; denn in einer eleganten, geordneten Gesellschaft wie der unseren sind die Frauen glücklicher als die Männer. Wir tun für sie, was sie für uns nicht tun. Waldteufel, wenn die Aufgabe derart erweitert ist, könnten wir uns darein teilen. So könnte ich zum Beispiel von heute abend bis morgen früh nach einer glücklichen Frau suchen, während Sie nach einem glücklichen Manne suchen. Sie werden zugeben, mein Freund, daß das Hemd einer Frau eine zarte Sache ist. Ich habe einmal eines angefaßt, das sich durch einen Ring ziehen ließ; der Batist war feiner als Spinneweben. Und was sagen Sie von dem Hemd, mein Freund, das eine Dame vom französischen Hofe zur Zeit der Marie Antoinette beim Balle zusammengerollt in ihrer hohen Frisur trug? Es wäre doch sehr hübsch, meine ich, wenn wir dem König, unserm Herrn, ein schönes Batisthemd mit Einsätzen, Volants aus Valenciennespitzen und mit schimmernden rosa Schulterbändern anbrächten, leicht wie ein Hauch, nach Iris und Liebe duftend.«
Doch Waldteufel protestierte heftig gegen diese Art, die Verordnung des Doktors Rodrigo aufzufassen.
»Wo denken Sie hin, Vierblatt!« rief er aus. »Ein Frauenhemd würde dem König nur ein Frauenglück verschaffen, das ihm zu Elend und Schande gereichte. Ich will hier nicht untersuchen, Vierblatt, ob die Frau befähigter zum Glück ist als der Mann. Es ist hier weder der Ort noch die Zeit dazu: es ist Essensstunde. Die Physiologen schreiben der Frau eine feinere Sensibilität zu als unsereinem; doch das sind transzendente Allgemeinheiten, die über die Köpfe hinweggehen und niemanden treffen. Ich weiß nicht, ob unsere höfische Gesellschaft – wie Sie anzunehmen scheinen – dem Glück der Frauen günstiger ist als dem der Männer. Ich sehe in unsern Kreisen, daß sie weder ihre Kinder erziehen noch ihren Haushalt leiten, daß sie nichts wissen, nichts tun und vor Langweile sterben. Sie verzehren sich einzig darin zu glänzen: das ist das Los eines Kerzenlichtes; ich weiß nicht, ob es beneidenswert ist. Aber darum handelt es sich hier nicht. Vielleicht gibt es eines Tages nur noch ein Geschlecht; vielleicht gibt es ihrer drei oder sogar mehr. In diesem Falle wird die sexuelle Moral reicher und mannigfaltiger sein. Einstweilen haben wir zwei Geschlechter; es ist viel von dem einen in dem andern, viel vom Mann im Weibe und viel vom Weib im Manne. Immerhin sind sie deutlich unterschieden; sie haben jedes seine Natur, seine Sitten und Gesetze, seine Freuden und Leiden. Wenn Sie das Glück unseres Königs weibisch machen, mit welch eisigem Blick wird er fortan Frau von Huhn ansehen ? . . . Ja, vielleicht wird er schließlich durch seine Hypochondrie und Weichlichkeit die Ehre unseres ruhmreichen Vaterlandes aufs Spiel setzen. Wollen Sie das vielleicht, Vierblatt?
Sehen Sie sich in der Galerie des Königlichen Schlosses den Gobelin mit der Geschichte des Herkules an und beachten Sie, was diesem Helden geschah, der mit Hemden ein besonderes Pech hatte. Er zog aus Laune das der Omphale an und tat nun nichts weiter als Wolle spinnen. Dieses Schicksal bereitet Ihre Unüberlegtheit unserem erlauchten Monarchen.«
»Oh! Oh!« rief der Oberstallmeister aus. »Nehmen wir an, ich hätte nichts gesagt, und reden wir nicht mehr davon!«