Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Unser Herzogsschloß auf der Höhe war länger als ein Menschenalter hindurch ein leerstehendes Gehäus über einer Gruft. Auf dem Vorwerk, das ihm als Wirtschaftshof gedient hatte und das einen Büchsenschuß entfernt am Flußrande lag, waltete dagegen währenddessen ein stillfrohes Leben: der alte Talhof hieß dazumal Klösterleys Gut und heißt heute noch so, wiewohl die Bewohner einen anderen Namen tragen.

Der Herzog, mit welchem die Linie erlosch, hatte auf diesem Vorwerke eine Mustermeierei in holländischem Stil errichtet. Die Leute nannten sie ihres guten Johann Puppe. Hatte er doch so gern etliche Sommerwochen in dem Hause gewohnt, das, gleichfalls neu erbaut, ländlichen Ansehens, aber massiv und geräumig war. Hinter demselben zog sich der Hof bis zum Fuß des bewaldeten Schloßberges; auf der Hochfläche breiteten sich die dem Gute eigenen Äcker, während dessen Hauptbetrieb auf dem üppigen Wiesenwuchs zu beiden Seiten des Gehöftes beruhte.

Die gegenwärtigen Besitzer hatten die Wirtschaft verpachtet; ihr außerhäusliches Bereich beschränkte sich auf ein Gartenstück, in welches der umfängliche Vorhof umgewandelt worden war. Die Landstraße führte an ihm vorüber, jenseits derselben fiel das Ufer steil ab zum raschbewegten Flusse.

Der Ausblick auf seine Windungen inmitten des frischgrünen Auenbettes gewährt heute ein erquickendes Landschaftsbild; dazumal sperrte es nach drei Seiten – wie nach der vierten das Haus – eine mannshohe Umfassungsmauer, mit Spalierobst und Beersträuchen bezogen, und über der Mauer ein noch höheres dichtes Drahtgeflecht, das in scharfe Spitzen auslief. Eine Schutzwehr gegen geschmeidige Tückebolde, welche von den Häusern der Vorstadt her in dem Revier ihr Wesen treiben konnten; da solches Treiben in Gartenanlagen aber gemeinhin nicht für ein Unwesen gehalten wird, das Merkzeichen von etwas Absonderlichem innerhalb des Geheges. Man sah dieses in einen Käfig verwandelt, wennschon in einen blühenden und in einen klangerfüllten Käfig. Denn die kleinen Waldsänger hatten die sichere Herberge weislich ausgespürt; fanden sie außer ein paar uralten Linden auch nur Fruchtbäume in ihr, so heimsten und musizierten sie doch in den Zweigen wie nirgend sonst in der Gegend, vom zirpenden Zaunkönig an bis zur Altmeisterin Nachtigall.

Wie aber bezeugten erst Grund und Boden einen schonenden Sinn und eine pflegende Hand! In weitem Umkreis fand man kein gedeihlicheres Fleckchen Erde als Klösterleys Gartenstück. Goldgelbe Kieswege teilten es linealgerecht in vier gleich große Beete, deren Mittelraum schachbrettartig, je eines um das andere, würzige Erdbeeren und den zartesten Spargel trug. Auf dem Rabatteneinfaß aber blühten hinter einem Saum von Lavendel und Federnelken, zwischen Stämmchen von auserlesenem Franzobst in bunter Reihe Blumen, die alle gar sinnige deutsche Namen trugen, wie man sie heute jedoch fast nur noch in unseren Bauerngärten findet: Brennende Liebe und Braut in Haaren, Kaiserkronen, steifwürdiger Hahnenkamm, Studentenblumen und rötlicher Türkenbund, Rittersporn, wohlriechendes Mutterkraut, Jehovablümchen, Tausendschön, Vergißmeinnicht, und wie viele andere, die ich seitdem nicht wieder blühen sah. Die Lauben in den vier Ecken beschattete lenz- oder herbstblühendes Jelängerjelieber, bunte Wicken wanden sich duftmischend um die Rosenstöcke. Denn die Rose war freilich Gartenkönigin damals so gut, wie sie es heute ist, nur daß sie heute vornehmeren Rassen aus der Fremde entstammt und die stolzeste jener Zeit, die Zentifolie, unseren Anlagen so selten eine Zierde geblieben ist, wie die schlanke, weiße Lilie, deren keusche Schöne sich nicht zu Abarten umbilden läßt. Ich kann mir nicht helfen: der Flor der Alten heimelte mich traulicher an, als alle Pracht der Verbenen, Gloxinien, Fuchsien, Phlox, Amaryllis, und wie sie sonst noch heißen, die Fremdlinge, welche heute in Klösterleys Garten, gleich hundert ähnlichen, sich gruppenweis vom glattgeschorenen Rasenteppich abheben. Freilich war ich jung, als ich jenen Flor blühen sah, und alles Heimatsgefühl stammt aus der Jugend.

Die weitläufige Schilderung dieser Gartenanlage hat schon erraten lassen, daß der Titelheld meiner Geschichte wieder einmal dem Raritätenschatze meiner Großmutter entnommen ist, aus welchem ich schon mehr als ein verblaßtes Bildnis aufzufrischen mich unterfing. Dankbarer allerdings würde es sein, Originale der Gegenwart zu porträtieren, und kein Zweifel, daß es in ihr interessantere Personen und packendere Zustände zu schildern gibt. Wessen Auge nur scharf genug wäre, in dem weitgespannten Horizont ein Einzelndasein zu unterscheiden; wessen Ohr nur fein genug, in dem lauten Getriebe einen Naturlaut zu erhorchen! Wer in der allgemeinen Hast nur Muße fände, einen Herzensgrund aufzuschüren! Mit der Flucht des Sturmwindes sausen die Erscheinungen vorüber, der elektrische Funken trägt in Blitzesschnelle jede Neuigkeit von Pol zu Pol; die sinnigsten Offenbarungen, Liebesschwüre selbst, für deren Flüstern einstmals keine Laube heimlich genug war, erschallen aus verlöteten Kästen tausend Meilen weit über Land und Meer. Die Menschen stehen in Gruppen wie die Blumen der Gärten, sogar nach dem Farbenspiel gesondert: Parteien hier, Bataillone dort; auch unser altes, stilles Schloß ist Kaserne geworden. Wo ein Führer den Haufen um Haupteslänge überragt, muß er, nach optischen wie diplomatischen Gesetzen, dem Perspektiv eines Geschichts- oder Geschichtenerzählers der Zukunft überlassen bleiben. Aus verworrener Überfülle wendet der leere Blick sich rückwärts in blaue Fernen.

Die Zeit, in welcher die gelbe Kutsche noch sechs Stunden an der Meile fuhr, wo ein aus- oder einsteigender Passagier ein Stadtereignis bildete, die Zeit, in welcher der Enkel noch Muße und Laune hatte, die Erlebnisse seiner Altvorderen, soweit irgend die Tradition reichte, nachzuleben wie ein persönliches Geschick, wo die Weltkunde im Zentrum der Heimat begann und häufig genug in deren Peripherie auch endete; die Zeit, aus welcher meine Großmutter mich mit Problemen gleich dem des Katzenjunkers unterhielt: ich will diese Zeit beileibe nicht schlechthin die gute nennen, die gute nicht einmal für einen Erzähler; aber für einen Erzähler von meinem bescheidenen Kaliber ist sie die beste.

Die Großmutter und ihr Schwiegervater, dessen vereinsamtem Hause sie als Witwe des einzigen Sohnes vorstand, nannten sich mit dem Junker und seiner Mutter – das waren eben die Besitzer von Klösterleys Gut – Herr Vetter und Frau Muhme, die beiden jüngeren sogar vertraulich Vetterchen und Mühmchen, wiewohl ich einer Verwandtschaft der beiden Familien, es sei denn von Adam her, nicht habe auf die Spur kommen können. Denkbar wäre eine solche indessen; denn die Haller wie die Klösterley waren Stadtkinder, und der letzteren Junkertum stammte keineswegs aus Ritterzeiten; hätten im Gegenteil die einen sich über die andern erheben wollen, so würden, bis auf die jüngste Generation, die erbangesessenen Haller die dazu Berechtigten gewesen sein. Des Junkers Vater und mein Urgroßvater, wenngleich Zeitgenossen und erste Schulgenossen, scheinen indessen von einem Blutszusammenhang so wenig wie ich etwas gewußt, oder Lust, ihn aufzusuchen, gespürt zu haben; sie waren eben auseinander, richtiger gesagt, gar nicht aneinander gekommen.

Das Verhältnis datierte erst aus des Junkers Zeit. Sie nannten es Freundschaft, die ja im Volksmunde heute noch soviel wie Verwandtschaft bedeutet. Bei den beiden Quasivettern bedeutete sie, modern ausgedrückt, Sympathie, und zwar Sympathie zunächst nicht einmal für einander, sondern für einen Dritten, Längstverblichenen: die gemeinsame Verehrung des bereits erwähnten letzten Herzogs, unseres guten Johann. Der Junker, wiewohl er ihn nicht mehr persönlich gekannt, hatte zu solcher nachträglichen Verehrung allerdings einen starken besonderen Grund. Seine Familie schuldete dem Hochseligen Großes: eine kaum dagewesene Erhebung, das Adelsdiplom, schließlich das Erbe des reichen Talgutes.

Es soll bei dieser Gelegenheit von vornherein erwähnt werden, daß jenerzeit über diese absonderlichen Gunstbezeugungen in Hofkreisen, und selbst in bürgerlichen, gar Ärgerliches gemunkelt worden ist. Der Ehrenmann Haller jedoch war weder ein Horcher noch ein Schwätzer, sein Schwiegertöchterchen aber, die beides ein wenig war, hatte dazumal die Kinderschuhe noch nicht ausgetreten und nur läuten, nicht zusammenschlagen gehört; bald darauf aber hatte die Bekanntschaft mit den Benefiziaten, ja, ihr bloßer Anblick, die Lästerzungen und selbst die Neidhammel zum Schweigen gebracht.

Bei meinem Urgroßvater, der den Hochseligen noch gekannt, war dahingegen die Verehrung, ohne jegliche Beimischung von Dankbarkeit für persönliche Wohltat, ein reines Liebesopfer; und zwar nicht, wenigstens nicht zunächst, weil der Verehrte in der Tat ein so tapferer und gütiger Herr wie selten einer, sondern weil er sein Herr, sein besonderer Herr gewesen war. Der neue kurfürstliche Landesvater hat schwerlich einen loyaleren Untertanen gehabt als den alten Haller; hätte dieser das stramme preußische Regiment noch erlebt, er würde sich auch ihm ohne Murren unterworfen haben. Alle Obrigkeit ist ja von Gott. Sein ganzes Herz aber hing bis zum Tode an dem Herrn, dem er in seiner Jugend gehuldigt hatte. Wohl stand über demselben dazumal noch Kaiser und Reich; allein das Hemd dünkte dem braven Bürger näher als der ziemlich schlotternde Rock. Wie gleichzeitig die Preußen ihren Alten Fritz, wie späterhin die Franzosen ihren Kleinen Korporal, so feierte er in dem guten Johann seinen eigenen Helden.

An wehmütigen Erinnerungstagen, oder etwa heimgekehrt vom Grabgeleit eines werten Mitbürgers, saßen die beiden Vettern regelmäßig noch ein Stündchen in der Hallerschen Ladenstube beieinander. Wie selbstverständlich holte der Ältere dann aus dem hochbeinigen Pult ein Foliowerk, in schwarzen Samt gebunden und mit silbernen Krampen geschlossen, dem die alte Familienbibel als Postament diente; der Jüngere aber trug darauf mit bewegter Stimme einen Abschnitt vor aus dem »Hochverdienten Ehren- und Liebesdenkmahl des weyland durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Herrn« und so weiter. Sei es nun die Lob- und Trauerrede, welche bei den hochfürstlichen Exequien in der Schloßkapelle von dem herzoglichen Geheimderat und Oberhofmeister gehalten worden war und in welcher er die hohe leidtragende Versammlung – mein Urgroßvater, als Bürgerlicher, hatte leider nicht zu ihr gehört – in Staunen versetzte durch die früher niemals an ihm wahrgenommene klassische Gelehrsamkeit, mit welcher er dartat, »daß alles auf Erden vergänglich sei, daß der größte Monarch sterben müsse wie der gemeine Mann, daß ein tugendhafter Vespasianus, welchen man das Vergnügen des menschlichen Geschlechts nennete, in die Verwesung übergegangen sei gleich dem lasterhaften Heliogabalus«, und derlei Exempel mehr, viele Seiten lang. Oder sei es auch nur die städtische Trauerkantate, oder eines der Carmina und Epicedia, in welchen die unterschiedlichen allerhöchsten Familienglieder, sowie geistlichen und weltlichen Landesbehörden ihren unvergänglichen Schmerzgefühlen Luft machten.

An die weihevollste Lebensstunde, an das höchste außerhäusliche Lebensereignis wurde der alte Haller aber allemal gemahnt, wenn die Reihe der Vorlesung an die Gedächtnispredigt kam, welche der weiland Herr Superintendent und Beichtvater der hochseligen Durchlaucht – wie er auch der des noch lebenden allergetreuesten von Dero Untertanen gewesen – in der städtischen Pfarrkirche gehalten hatte. Ein Meisterstück der Beredsamkeit, in drei fremde Sprachen übersetzt! Mein Urgroßvater hatte es mit angehört und seitdem so oft wieder gelesen, daß er es vom ersten bis zum letzten Worte auswendig wußte; bei jedem freundvetterlichen Vortrage aber leuchteten seine Augen voll Begeisterung, als ob er eine große Neuigkeit oder eine ewige Wahrheit vernähme; er wiegte oder neigte sein schönes, weißes Haupt, und die Lippen murmelten die bedeutungsvollsten Stellen nach. So zum Beispiel:

»Dem Demetrio von Athen wurden dreihundertsechzig Ehrensäulen aufgerichtet. Glauben Sie aber, hochverehrte Anwesende, daß diese Anzahl hinreichend sein würde, wenn wir eine jegliche Heldentat unseres teuersten Herzogs mit einer Ehrensäule verewigen wollten? Ich meine nicht.«

Der alte Haller schüttelte und flüsterte: Nein!

»Das Königreich Ungarn, Polen, Italien, die Niederlande, der größte Teil Deutschlands hat Seiner Heldentaten so viele aufzuweisen, daß es unmöglich wäre, dieselben nur nachzuzählen. Genung, daß ich den allgemeinen Beifall selber der Feinde vor mich habe, wenn ich behaupte: unser teuerer Herzog ist einer der größten Soldaten und Generale der Welt gewesen.«

Der alte Haller nickte und rief mit Begeisterung: Ja, ja!

Im weiteren Vortrag hieß es:

»Die größte Kunst aber, an welcher die unüberwindlichsten Kriegsleute bis an ihr Ende zu lernen haben, ist die Überwindung unserer selbst. Unser Herr hat sie als ein Held und Meister geübt.«

Auch des Junkers Stimme senkte und sein Blick hob sich nach der Höhe, wo der verklärte Held und Überwinder in der Gruft seiner Väter ruhte, wenn er an diese Stelle gelangte. Und doch ahnte er wahrscheinlich nicht, was der Beichtiger vielleicht gewußt, welche Bedeutung sie für ihn im besonderen hatte. Er empfand nur die Freude – und es gibt ja wenig reinere –, einen edlen Menschen als Wohltäter zu verehren.

Wie warm flossen nun aber die Tränen beider, des Vorlesers wie des Hörers, bei der Schilderung der letzten Lebensstunden des geliebten Herrn. Ein kurzes Krankenlager, ein freudig bewußtes Sterben im Glauben an eine selige Ewigkeit: »Ich bin schon bei Gott – bei Gott – bei Gott!« waren seine letzten Worte gewesen. Und nach diesen Worten wurde, wennschon die Predigt längst noch nicht zu Ende war, der Folioband leise geschlossen, die beiden Freunde drückten sich schweigend die Hand, und der Junker kehrte heim, das Bild eines hohen Menschen vor der Seele. Der alte Haller aber saß noch eine lange Weile mit gefalteten Händen und murmelte aus dem Trauersang seines großen Namensvetters die Strophe:

»Vollkommenster, den ich auf Erden so viel und nicht genung geliebt,
Wie liebenswürdig mußt du werden, wenn dich ein himmlisch Licht umgibt« usw.

Ich bin überzeugt: in seiner letzten Stunde hat der Schluß dieser Strophe, wenn auch den Lippen jeder Ton entschwunden war, seine Seele freudig gestimmt.

Junker Lorenz war in noch unbewußtem kindlichem Alter, als vaterlose Waise, mit seiner Mutter nach dem ererbten Gute übersiedelt. Der Vater hatte auf einem auswärtigen Posten Jahr und Tag nach dem Tode seines fürstlichen Gönners durch einen Sturz mit dem Pferde ein jähes Ende gefunden. Er soll von Natur ein in sich gekehrter Mann gewesen und je mehr und mehr geworden sein. Einen »Kalmäuser« nannte ihn meine Großmutter, die ihn nur von Angesicht und Hörensagen gekannt; aber auch die, welche ihm näher gestanden hatten, nannten ihn ebenso; der Name war landläufig für ihn geworden, wobei man denn freilich nichts weniger als an einen Betbruder und neumodischen Pietisten, oder gar an einen katholischen Mönch der strengsten Regel, einen Heiligen vom Berge dachte, sondern einfach an einen kopfhängerischen Grübelfang, einen Sonderling und gallsüchtigen Melancholikus. Heute würden wir ihn vielleicht einen Pessimisten nennen. Denn Arten wie Unarten sterben ja nicht aus, und auch der Mißmut ändert nur den Namen je nach den Objekten des Zeitwandels, die ihn reizen. Im übrigen rühmte man Herrn von Klösterley als exemplarisch in seinem Amt und als einen Tugendspiegel.

Ein korrekter Kalmäuser, war er bis über das Schwabenalter hinaus Junggesell geblieben und groß daher das Verwundern seiner Landsleute bei der Kunde, daß er nach seiner Versetzung in einen anderen Bezirk sich endlich dennoch auf seine Mannespflicht besonnen und ein Weib genommen habe. Näheres ließ sich auf zwölf Meilen Entfernung nicht ermitteln. Er selbst kam nicht wieder in unsere Stadt, und seine Gattin erst als Witwe.

Wie viel größer als bei der Post von der späten Hochzeit und dem frühen Ende des einstigen Mitbürgers war nun aber das allgemeine Staunen beim Bekanntwerden der neuen Mitbürgerin. Das sollte eine Ehefrau gewesen sein, eine Witfrau sein und Mutter? Das war ja nur ein halbwüchsiges Mädchen, nicht viel mehr als ein Kind! Wie die ältere Schwester ihres Söhnchens sah sie aus, und je mehr das Söhnchen zum Sohn heranwuchs, wie seine Zwillingsschwester, so frohäugig, zierlich und rosigen Angesichts. Man hatte zu Herzogs Zeiten bei Hofe wohl Schönere gesehen, aber in Stadt und Pflege keinen Augentrost ihresgleichen. Leider sah man sie nur selten, denn umgänglicher Natur schien sie so wenig wie ihr seliger Eheliebster, der Kalmäuser. Sie floh die Menschen zwar nicht, wie er es getan, aber sie suchte solche auch nicht, wennschon es ihr an standesgemäßem Verkehr und sogar an Freiern unter den jungen Edelleuten des Landes nicht gefehlt haben würde. Sie hatte genug an ihrem Sohn; welcher Stiefvater würde für seine Schwachheit Schonung gehabt haben wie sie? Obgleich eine Hochwohlgeborene, hielt sie sich, nach bürgerlicher Witfrauen Art und Pflicht, still hinter dem hohen Drahtgeflecht ihres Gutes, und nur in einem einzigen, freilich selbst zu Herzogs Zeiten unerlebten Treiben wich sie von dem guten alten Herkommen ab: die kindliche Dame war eine Amazone! Schon als Junker Lorenz noch ihr Söhnchen hieß, trabte sie an seiner Seite auf einem flinken, englischen Pferdchen stundenlang in das Weite; niemals jedoch, wie später ihr Sohn es liebte, unter Allerwelts Augen innerhalb der Mauern der Stadt, sondern seitab ihres Gutes in Aue und Forst, wo nur selten ein Ackerwirt oder Jäger ihr begegnete; wem es aber auch geschah, hoch oder gering, ob sie zu Roß war oder bescheiden zu Fuß, dem lächelte sie freundlich zu, dem Geringsten am freundlichsten.

Der alte Haller als anerkanntester Kaufherr der Stadt hatte von vornherein Gelegenheit gehabt, der unerfahrenen jungen Witwe bei der Anlage ihres Vermögens einen Dienst zu erweisen, und blieb auch fernerhin ihr wie ihres Sohnes geschäftlicher Heber und Leger. Auf diese Gefälligkeit gründete sich die Bekanntschaft, welche im Verlauf zur Vetternschaft erwachsen sollte. Das Hallersche Haus betrat die Dame nur bei besonderen Gelegenheiten; traf sie jedoch am dritten Ort mit dem alten Herrn oder seiner Schwiegertochter zusammen, so drückte sie ihnen dankbar, als eine Verpflichtete, die Hand, erfreute sie auch häufig durch einen Blumenstrauß oder einen Korb köstlichen Obstes aus ihrem Garten. Dabei blieb es, auch als ihr Lorenz zum Junker herangereift war; ein so zweiseliges Verhältnis zwischen Mutter und Sohn war nimmer erlebt worden; wie Brautleute, so zart gingen sie miteinander um; wie Eheleute, so innig schienen sie durch einander und nur durch einander beglückt.

Und so bis in der Mutter Matronenalter hinein. Die Jahre glitten fast spurlos über die kindlichen Züge; färbten die goldenen Löckchen sich allmählich auch silbern, die Rosenblüte der Wangen dauerte, wie in der Jugend, das holdselige Wesen hörte nicht auf, den Augen und den Herzen wohlzutun. Man öffnete die Fenster und trat unter die Türen, wenn die Dame Sonntags früh, anfänglich ihr Söhnchen an der Hand, später ihren Sohn am Arm, durch die lange Vorstadt nach dem Gotteshause ging; beide gefällig in helle Farben gekleidet; der Junker auch nach der Mode mit Haarbeutel und goldbordiertem Dreispitz, in gesticktem Seidenhabit, Eskarpins, weißseidenen Strümpfen und Schnallenschuhen; die Dame dagegen nicht in der steifen, bauschigen Tracht der Zeit und ohne Puder in den Locken.

Sie schritten dann niemals auf dem schmalen, sonnabendlich rein gefegten Bürgersteige, sondern in der Mitte der Straße, so hoch Schnee oder Morast sich auf derselben gehäuft haben mochten. Und man wußte ja auch recht gut, aus welchem Grunde das geschah, nach welchen Tückebolden die holde Frau zwischen freundlichem Blicken und Nicken mit ängstlicher Scheu umherschaute. Man kannte ja die Schwachheit, welche sie zu schonen hatte; und da war wohl keiner, der ihre Mutterpflicht nicht zu erleichtern und jegliches Fährnis aus dem Wege zu räumen gesucht hätte. »Husch, husch!« ging es von Haus zu Haus, sooft man Dame Klösterley und ihren Junker von weitem kommen sah.

Nach dem Gottesdienste nahm regelmäßig das Paar den Heimweg in weitem Bogen bergan und wieder bergab, an dem verödeten Herzogsschlosse vorüber. Mit gefalteten Händen weilte es ein Vaterunser lang vor der Kapellentür, hinter welcher der Wohltäter der Familie bei seinen Vätern ruhte. An seinem Geburts- und Sterbetage ließen sie sich auch die Kapelle öffnen, stiegen in die Gruft hinab und legten auf seinen Sarg einen Kranz, den sie aus den schönsten Blumen ihres Gartens gewunden hatten. Die Mutter weinte dann still vor sich hin, sah ernst und blaß aus, wie sonst nie. Sie sprach selten von dem seligen Herrn; aber sie hatte ihn ja noch gekannt, und der Sohn begriff, daß die dankbare Liebe zu einem Segenspender von einem, der mit ihm gelebt hat, doch noch weit tiefer und wärmer als von einem Nachgeborenen empfunden wird. Der Sohn ehrte ihre stillen Tränen, ohne ihrem besonderen Ursprung nachzuforschen, er wußte ja wohl auch, daß sie noch einem anderen Heimgegangenen galten, den er selbst nicht gekannt.

Schweigend gingen sie darauf über den einsamen Schloßberg nach Hause; hatten sie aber endlich ihren Garten erreicht, da wehte frischer Lebensodem, da zauberte des Sohnes verdoppelte Zärtlichkeit die Blüte der Freude auf die Wangen der Witwe zurück. Sie hatte ja noch ihn und alles in ihm! Und er fühlte sich ja so reich durch ihre Liebe, war so gut und frohgemut, daß es auf der weiten, schönen Gotteswelt keinen glücklicheren Menschen als ihren Lorenz gegeben haben würde, wenn – ja wenn nicht seine Schwachheit gewesen wäre.

Ach, diese Schwachheit! Wer hätte sie denn nicht ausgespürt, trotz seiner zurückgezogenen Lebensweise? Und das war ja eben das Elend, daß alle Welt sie ausgespürt, daß er darob zum Kinderspott geworden! Als Geheimnis hätte das Kreuz sich allenfalls tragen lassen, wie so viele Menschen das ihre im verborgenen tragen. Die Leute hätten ja aber wahrlich Schwachköpfe sein müssen, wenn sie nicht klärlich eingesehen hätten, weshalb der Junker hinter einem Drahtgeflechte wie ein Vogel im Käfig aufgezogen worden war? weshalb kleine Spielkameraden ihn wohl besuchten, niemals hinwiederum er jedoch einen von ihnen? Der hochselige Herzog hatte treffliche Schulen und sogar ein Gymnasium in unserer Stadt errichtet, der kleine Lorenz aber war in keiner derselben, sondern von einem gelehrten Informator im Hause unterrichtet worden; die Mutter hatte ihn auch späterhin nicht, seinem Stande gemäß, in das kurfürstliche Pagen- oder Kadettenkorps einreihen lassen; da er jedoch brannte, Jugendblut und Mut zu dokumentieren wider Türken, Franzosen oder Preußen, trat er als Junker in ein Regiment. Türken, Franzosen und sogar der Preuße verhielten sich aber leider zu jener Zeit ruhig wie die Lämmer, und nach dem ersten großen Friedenslager forderte und erhielt der Junker seinen Abschied. Er zog nunmehr auf die Universität, bald aber kehrte er wieder zurück; er ging auf Reisen, kaum aber fort, war er wieder heim, um hinter seinem umgitterten Blumengarten der Junker von Klösterley zu werden – und weiter nichts; das Musterbild eines Sohnes, ein guter, braver, aber – einsamer Mann, er, der so gern unter Menschen weilte, der die Menschen so lieb hatte, mit voller Hand in das Leben hätte greifen mögen und sich danach sehnte, die Welt in Nähe und Ferne anzuschauen.

Alles das weshalb?

Ach! – um nur das Nächstliegende – so klein es proportionell erscheinen mag, in Betracht zu ziehen, – ach, welchem Jüngling, welchem Mann vergeht wohl nicht die Lust, in eine Frühstücksstube zu treten und unter munteren Gästen einen Schoppen zu leeren, einer Damenvisite und sogar eines freundschaftlichen Besuches gar nicht zu gedenken –, wenn ein Diener vorausschreitend erst erspähen muß, ob die Luft auch von Unholden rein, und wenn dann von lachenden Lippen ein »Husch, husch!« durch Flur und Zimmer schwirrt? Wem kann es Freude sein, bei einem Meßbesuch in Leipzig, bei einem Karnevalsbesuch in Dresden in keinen Laden, kein Gasthaus treten zu können, ohne daß das sorgliche Mütterchen zuvor Umschau, mit dem Kaufherrn, dem Wirt Rücksprache gehalten, dem Markthelfer, dem Kellner ein Douceur in die Hand gedrückt hat, um nur ja einem Schreck- und Ärgernis vorzubeugen. Und so allerorten, allerwege, auf Schritt und Tritt das unvermeidliche »Husch, husch!« Die Schwachheit, die unselige Schwachheit, an welcher Doktoren und Philosophen zuschanden wurden, gegen welche weder Eisen noch Gold, in den Lebenssaft geführt, ihre alte Kraft bewährten, welcher kein Mondeszauber, kein heimlicher Spruch, noch Amulett, kein bannender Strich einer Totenhand, nichts, nichts am Himmel und auf Erden, nicht einmal Gewöhnung und vernünftiger Wille Einhalt taten.

Alle Welt weiß heutzutage, daß diese Schwachheit keine außerordentliche ist, ja, daß von allen sogenannten Idiosynkrasien keine häufiger gefunden und heftiger empfunden wird, als die unseres Junkers. Für dessen Mitbürger von dazumal aber war sie unerlebt und unerhört. Es gab Frauenzimmer, welche Frösche, Raupen und Maikäfer nicht sehen konnten; andere, welche laut aufkreischten, wenn ihnen eine Maus über die Füße lief. Nun ja, Frauenzimmer! Allein einen kerngesunden, instruierten, in allem übrigen Tun und Leiden als tapfer erprobten Mann sich einsperren, Reißaus nehmen zu sehen, nicht etwa vor einem scheußlichen Widerwart, sondern vor der zierlichsten aller vierbeinigen Kreaturen, dem gehätschelten Liebling Haus bei Haus, seine Manneswürde vor einem – Kätzchen verlieren zu sehen – –

Das Odium ist ausgesprochen, der Spottname erklärt: der Junker von Klösterley war ein Katzenfeind. Feind? Nein, Feind ist nicht das rechte Wort. Einen Feind haßt man: der Junker dachte nicht an Haß; er hätte die artigen Tierchen lieben mögen, insofern er sie nur nicht zu Gesicht bekam. Gegen einen Feind setzt man sich zur Wehr: der Junker brachte es gar nicht bis zur Wehr. Beim ersten Anblick tat er einen gellen Schrei, und dann verfiel er in Konvulsionen. Hände und Zähne krampften zusammen, an seinem rechten Ohr entbrannte blutrot ein Mal, das zuvor nicht sichtbar gewesen war, die Lippen färbten sich blau, die gelben Löckchen, wenn sie nicht ganz fest im Haarbeutel zusammengebunden waren, sträubten sich in die Höh, eiskalter Schweiß tropfte von seiner Stirn, und schließlich stürzte er, wo er eben ging oder stand, ohnmächtig zu Boden.

Männiglich und insonderheit weibiglich hat man den Ursprung des unheimlichen Wesens in einem »Versehen« der Mutter gesucht, als sie das Kind unter ihrem Herzen trug. Da Frau von Klösterley jedoch ihrer Muhme Haller – und durch deren Mund der gesamten Bürgerinnenschaft – beteuerte, daß sie von kleinauf eine Katzenfreundin gewesen sei und niemals einen Schrecken durch ihre Lieblinge erfahren habe, mußte man sich wohl oder übel, wie bei manchem anderen absonderlichen Schicksale, mit Gottes unerforschlichem Ratschlusse zufrieden geben. Man, das heißt die fremde, fernstehende Welt; nicht so jedoch das befreundete Mühmchen, das zwar nicht minder gottesfürchtigen Sinnes, aber von wissenschaftlichem Eifer und der Mutter der Weisheit höchlichst ergeben war. Bis in ihr letztes Stündlein hat sie über dem unergründlichen Spuk gegrübelt und nach seiner natürlichen Lösung sich den Kopf zerbrochen.

»Denn,« so höre ich die Selige heute noch sagen, »denn einen bösen Finger kriegt ein Mensch wohl aus heiler Haut; Schaden an seiner Seele nimmt er jedoch nur durch eine Verschuldung. Und einen Seelenschaden nenn ich es, wenn ein mit Verstand und Christentum begabtes männliches Wesen vor der artigsten Kreatur, die Vater Noah in seiner Arche gerettet hat, dermaßen einen Schauder verspürt, daß er darob zum Kinderspott und, um selbigem zu entgehen, zum Muttersöhnchen und Hagestolzen, zum Versifex und schier zum Einsiedel wird.«

Nun machte im fernerweitigen Redefluß die bedachtsame Frau sich zwar selbst den Einwand, daß der Herr Vetter diesen Schauder bereits als Wiegenkind verspürt und daß bei einem Wiegenkinde von Verschuldung nicht füglich die Rede sein könne. Die Erbsünde selbstverständlich abgerechnet, die sich indessen nur durch Ungebärdigkeit und Geschrei ohne Anlaß kund tue. Stehe denn aber nicht geschrieben, daß die Sünde der Väter heimgesucht werde an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied? Der Katzenschauder war ein Erbstück, die Buße für eine Elternsünde. Und da bei einer Mutter, welcher, was auch immer über ihre Vergangenheit gemunkelt worden sei, die helle Unschuld aus den Augen leuchte, an eine Versündigung nicht geglaubt werden dürfe, falle der dringlichste Verdacht auf den Vater, dessen Kalmäuserwesen von vornherein auf einen schaudererregenden Hintergrund schließen ließ.

Wahrlich! mein altes Großmütterchen, wahrlich, du hattest eine Witterung, um welche ein Historiker dich beneiden durfte. O, hättest du nur noch ein halbes Jahrhundert länger in diesem irdischen Dunkeltale mit deinem Laternchen wandeln dürfen, mindestens zu einem der unterschiedlichen Lebensrätsel – sämtlich von der Vettern- und Basenschaft aufgegeben – würdest du den Schlüssel gefunden haben!

Die Mutter des Junkers in ihrer holden Kindlichkeit scheint diesen Schlüssel dagegen niemals gesucht zu haben. Nachdem sie die Heilung der krankhaften Zufälle zu erhoffen aufgegeben hatte, begnügte sie sich, die Anlässe derselben nach Möglichkeit aus dem Wege zu räumen. Ein Seelenschaden kam ihr nicht in den Sinn, und als Körperschaden war er ja der einzige des geliebten Kindes. Wo aber fände sich der Mensch, der ohne jegliches Gebrechen oder Gebresten durch das Leben und aus demselben gegangen wäre? Der Sohn wurde durch seine »Schwachheit« zweifach ihr Herzenskind.

Daß das Herzenskind selbst, bei aller Gemütsheiterkeit, die es von seinem Mütterchen ererbt hatte, länger und schwerer als dieses gegen eine Notwendigkeit gekämpft hat, die seiner Mannes- und Menschenwürde, das heißt dem Bewußtsein freien Willens so bedenklich Eintrag tat, braucht wohl kaum versichert zu werden. Nach Art mancher gebildeten Zeitgenossen, die den Mangel eines auswärtigen Freundes, in dessen Busen sie ihre Seele brieflich ergießen durften, zu beklagen hatten, hat er sich selbst in einem Tagebuche abgespiegelt, das auf mich überkommen ist. Da äußere Erlebnisse nur spärlich zu verzeichnen waren, Wohl- oder Guttaten des Tageslaufs aber schamhaft übergangen wurden, beschäftigt die Jugendhälfte dieser Memorabilien sich fast ausschließlich mit dem rätselhaften Spuk seiner Aversion. Die Aufzählung seiner Befreiungsversuche, seiner Selbstschmähungen in Scherz und Ernst, seiner Auslegungen und Traumgespinste – zum Beispiel dessen von einer glückseligen Insel voller Palmen, weißer Lämmchen und lauter guter Menschen, von welcher jedoch jegliche Art oder Abart des friedenstörenden Geschlechts unerbittlich verbannt sein würde – soll dem Leser nicht zugemutet werden und nur eine Herzens- und Stilprobe vorgeführt, weil sie kurioserweise, als wäre plötzlich der Gedankenstrom in ein neues Bett gedrängt worden, den Abschluß der langen Reihe quälerischer Deutungsversuche bildet.

»Das,« so schreibt er, »das ist in der Tat eine merkwürdige Abhandlung, die der Rektor mir im Vertrauen mitgeteilt hat. Die Lehre von der Seelenwanderung ist mir ja so obenhin bekannt; aber die Auslegung, die Moral! ›Einem künftigen höheren Zustande kann der Mensch hienieden durch Weisheit und Tugend in die Hand arbeiten; von seinem niederigen Ursprung erlöst ihn kein Wille, kein Gesetz und keine Tat. Gott selbst kann nicht wider die Natur, sein Werk.‹ Ob der Mann wirklich ein Freimaurer ist? Ob sich wirklich in dieser Sekte Überlieferungen aus dem tropischen Morgenlande durch die Jahrtausende gezogen haben?

Ich las heute abend meiner lieben Mutter aus dem Hefte vor. Sie schüttelte langsam den Kopf; der Glaube schien ihr nicht zu gefallen. Nun freilich, diese Engelsseele wird ihren Ursprung sicher nicht aus niederen Ordnungen zu leiten haben. Vom Himmel hoch kam sie herab. Aber wie viele gibt es denn ihr gleich? Sie sah ernsthaft, ja traurig aus, wie sonst nur, wenn auf ihre lieben Toten, meinen armen Vater und unseren fürstlichen Wohltäter die Rede kommt. Um sie zu zerstreuen, suchte ich das Thema in das Scherzhafte zu ziehen. ›Ei!‹ so rief ich, meiner Laune den Zügel schießen lassend, ›ei, so wäre ja auch auf einmal meine verwunderliche Aversion in der natürlichsten Weise erklärt. Ich bin ein Mäuschen gewesen, von dessen Naschhaftigkeit Kater Murr oder Kätzin Miez deine Speisekammer, Mama, befreit hat. Am Ende gar ein häßlicher, alter Ratz.‹

Ich konnte vor Lachen nicht weiter; das liebe Mütterchen aber fuhr in die Höh mit purpurnen Wangen und einem entrüsteten Blick, wie ich ihn noch niemals aus ihren Augen leuchten gesehen. ›Halt ein, Lorenz!‹ rief sie, ›halt ein! Du lästerst Gott!‹

Ich streichelte ihre Wangen, und sie beruhigte sich nach und nach. ›Ich, mein Lorenz,‹ fuhr sie nach einer Weile, freundlich wie allezeit, fort, ›sollte ich als ein Gleichnis, wie ihr Dichter es ja liebt, dein Sonderwesen aus dem alten Heidenglauben erklären, würde ich mir dich als eine Lerche vorstellen, die Tagesbotin, die sich von allen Singenden am höchsten schwingt und die unversehens von einer grausamen Tatze bedroht ward, als sie friedsam ihr Nest in die Furche baute.‹ Sie schlang ihre Arme um meinen Kopf, und warme Tränen rieselten auf meine Stirn, aber ihre Lippen lächelten, als sie mit folgenden Worten ihre Rede schloß: ›Und dieses Gleichnis tröste dich, mein Sohn. Die da singen und sich schwingen, haben es auf der Tierstufe am höchsten gebracht, und die auf der Menschenstufe singen und sich schwingen, werden nur noch wenige Sprossen der Himmelsleiter zu erklimmen haben.‹«

Der Junker hat, wie bereits angedeutet, hinter dieses Gleichnis ein Punktum und einen dicken Strich gemacht, keinen ferneren Deutungs- oder Befreiungsversuch in seinen Memorabilien verzeichnet, sich niemals wieder einen Feigling, einen Hansnarren und Sklaven gescholten, niemals wieder über seinen Unstern geklagt. Er hielt sich, seiner Art gemäß, an das Singen und Sichschwingen. Und auch seiner Zeit gemäß.

Denn wie viel glücklicher war er daran, als sein Vater, der Kalmäuser, in dessen öder Jugendepoche, da die seine in eine Strömung fiel, in welcher das jahrhundertelang schlummernde deutsche Gemüt wie eine reife Blüte über Nacht ihre Knospenhülle sprengt, singend und sich schwingend der Welt verkündete: »Ich lebe noch, und ich werde leben!«

Sang er selbst auch nur zwitschernd mit, hinter seinen Tagebuchblättern versteckt, so hörte er es doch schwirren und schallen von allen Zweigen des deutschen Waldes; eine Freudigkeit, von welcher – aller künstlichen Trübsal zum Trotz – kein Heutiger sich eine Vorstellung macht, zog aus den Dichterherzen schwellend in das seine, und so ward er und blieb er in seinem blumigen Käfig, an der Hand seines Mütterchens zwar der letzte Klösterley, aber, seiner Schwachheit unerachtet, ein glückseliger Mann.

Beide wurden alt. Daß aber der Naturlauf sich rechtmäßig an ihnen vollziehe, mußte die Mutter zwei Jahrzehnte vor dem Sohne aus dem irdischen Frieden in den himmlischen scheiden. Sie entschlummerte lächelnd, wie sie gelebt, nachdem sie am Morgen noch einen Geburtstagskranz auf den Sarg des hohen Herrn, den sie ihren Wohltäter nannte, gelegt hatte.

Bei dieser so natürlichen und doch so ungeahnten Trennung hatte es nun freilich den Anschein, als ob man des Sohnes Namen gleichzeitig mit dem der Mutter in den Marmor der Pyramide über ihrem Hügel werde graben müssen. Man zweifelte lange, daß er sein Herzeleid überstände, seinen ersten und letzten großen Schmerz.

Und da war es denn ein Segen, daß der brave Haller, wiewohl ein Urgreis dazumal, doch noch so weit beiwege war, um sich des Geschäftlichen anzunehmen, da sonst in dem blühenden Anwesen alles darüber und darunter gegangen sein würde. Die Menschheit duldet nun einmal keine Betäubnis; dem Wehrlosen gegenüber erwacht der Räubertrieb.

Dieser neue, freiwillige Dienst, das Bedürfnis, Vertrauen zu hegen und Zuspruch zu empfangen, waren es nun recht eigentlich erst, welche aus der entfernten Vetternschaft eine nahe Freundschaft und einen fast täglichen Verkehr erwachsen ließen. Aber auch in allen anderen Häusern der Stadt, wenn man allmählich sich auch an des Junkers Schwachheit gewöhnt hatte, lernte man nun erst geflissentlich sie schonen, achtete genau des Stundenschlags, an welchem der trauernde Herr nicht mehr bloß wie früherhin auf dem sonntägigen Kirchengange, sondern vor jedem Tagesschluß des Weges kam, um eine Blumenspende auf den Hügel zu legen, über welchem im letzten Sonnenstrahl die Worte leuchteten:

»Selig sind, die reinen Herzens sind.«

Der nämliche goldene Spruch war in ein Medaillon graviert, das die Mutter bis nach dem letzten Atemzug auf ihrem Herzen getragen hatte und das nun auf dem ihres Sohnes ruhte. Beiden kaum bewußt, war er der Regulator ihres Lebens gewesen. Welche besondere Bedeutung er für die Mutter gehabt, mag der Sohn nach ihrem Tode wohl geahnt haben. Gesprochen darüber hat er nie.

So hatte die gesamte Gemeinde denn in aller Stille den mütterlichen Wachtdienst bei dem alten Waisenkinde übernommen. Lange bevor der Junker sich nahte, war Haus bei Haus das unliebsame »Husch, husch« verhallt, die Luft von Unholden rein; der Junker durfte getrost auf dem Bürgersteige schreiten. Wehe dem übermütigen kleinen Schusterjungen, der ihn mit einem »Miau« oder »Hiez, hiez« geneckt oder gar einen bedrohlichen Schabernack in das Werk gesetzt hätte; er würde des Meisters Knieriemen im Leben nicht vergessen haben. Die Großen grüßten aus den Fenstern, die Kleinen sprangen aus den Türen herbei, reichten eine Patschhand und ernteten aus des Junkers Tasche ein Zuckerbrot oder einen Bilderbogen. Aus dem Katzenjunker war Gutmann, der Kinderfreund, geworden; der lieblichste Wandel für jeden, der sich dem Greisenalter naht. Der Lebensring schließt dort, wo er begonnen.

Nachdem er seine guten, alten Augen geschlossen, fand man über sein erhebliches Barvermögen zugunsten milder Stiftungen verfügt; das vormalige Kammergut aber hatte er der Hallerschen Familie hinterlassen, wohl wissend, daß in ihr das Gedächtnis beider Testatoren liebreich gewahrt werden würde. Und es ist Generationen hindurch dankbar in ihr lebendig geblieben. Allein wessen Spur verlöschte nicht die Zeit? Auch die des letzten Klösterley würde einem späteren Hallerschen Enkel entschwunden sein, hätte eine besondere Fügung sie in gegenwärtigem Enkel nicht wieder aufgefrischt.

Viele, viele Jahre blieb das Gut verpachtet, in Garten und Wohnhaus aber alles unverändert und unverrückt, da beide nur anfänglich als Sonntagserholung, später als kurze Sommerfrische benutzt wurden. Neuerdings jedoch, wo eine zahlreiche Familie sich dauernd darin niederzulassen und auch den Wirtschaftsbetrieb in eigene Hand zu nehmen gedachte, wurde zum Zweck des Umbaues das Unterste zu oberst gekehrt, und es geschah bei dieser Räumerei, daß ein mächtiges Schreibpult, noch von dem Vater des Junkers stammend, aus den Fugen ging und ein Geheimfach offenbar wurde, dessen künstlicher Federdruck länger als ein Jahrhundert unentdeckt geblieben war. Recht eigentlich ein Kalmäuserkasten!

Er enthielt ein Manuskript, das, unzweifelhaft für die nächsten Hinterlassenen bestimmt, diesem Zwecke – vielleicht zugunsten ihres heiteren Friedens – entzogen worden, dem Enkel des forschlustigen Mühmchens aber eine so willkommene Enthüllung war, daß er sie einem weiteren Kreise mitzuteilen wagt, nachdem er ihr einleitend eine Skizze des Katzenjunkers vorangeschickt hat. Verstößt es auch gegen alle novellistische Regel, den Kiel aus dem Hafen nach der Quelle zurückzulenken, der Erzähler einer wahrhaftigen Geschichte wird sich solche Fahrt zu Berg vielleicht gestatten dürfen.

Der Verfasser mag die Schrift in bangen Stunden seines letzten Jahres aufgesetzt, jedesmal sorgfältig verschlossen haben und, wie der harsche Abbruch bezeugt, vor dem letzten Wort vom Tode überrascht worden sein.

Sie ist ihrem Wesen nach ein Anklageakt. Da er dem zuständigen heimlichen Gericht vorenthalten worden ist, sei er, wiewohl verjährt, unter Rubrik und Titel:

 

Gedankensünden eines Kalmäusers

dem öffentlichen Tribunal von heute zu mildem Spruch empfohlen.

I

Mein Vater war Kammerdiener bei Herzog Christian. Da sein Vater Schneider gewesen war, glaubte er es hoch gebracht zu haben; mit mir, seinem einzigen Sprossen, wollte er aber höher hinaus: in Amt und Würden. Bis in seine letzte Stunde träumte er von einem Geheimderat aus dem Stamme der Klösterley. Warum sollte sein Sohn im Herzoglichen nicht gradatim eine Karriere machen, wie er sie dessen Landsmann und ungefähren Altersgenossen, den Junker von Brühl, im Kurfürstlich-Königlichen bei kaum sprossendem Bart eitel lustig von Sprung zu Sprunge machen sah?

Im Pagendienst, wie das freiherrliche Hätschelkind allerhöchster Laune, konnte der Enkel des ehrsamen Schneidermeisters seinen Glückslauf freilich nicht antreten; sein Weg führte weniger vergnüglich durch das Alumnat einer vormaligen Klosterschule, und wennschon er anjetzo ein Fürstenschüler hieß, begann er im philosophischen Umgang mit den freiheitsstolzen Alten, dem er alldort, vom Hahnenruf bis das Talglicht ausgeblasen wurde, obzuliegen hatte, sich seines höfischen Ursprungs zu schämen. Ob er sich desselben auch geschämt haben würde, wenn sein Vater anstatt Kammerdiener eines Herzogs dessen Kammerherr gewesen wäre, soll ununtersucht bleiben; desgleichen der Beweggrund, welcher ihm die ehrsame Schneiderzunft seines Großvaters nicht weniger empfindlich machte als die väterliche Lakaienschaft. Ein römischer Bürger, nicht ein deutscher Bürgersmann war Christian Klösterleys jugendliches Traumgespinst.

Ich habe ein Menschenalter vor dir voraus, du, mein Weib, aus dessen reiner Hand dieses Vermächtnis dereinst in die eines, will's Gott! Glücklicheren als ich übergehen soll; und ich blicke auf ein Jahrhundert zurück, das in deutschen Landen aus den Aschenhaufen einstiger Kultur wenig andere Blüten treiben sah als die Giftblumen üppiger Hofeslust. Der Glaube an Fürstengröße und Fürstentugend hätte in unserem Volke ersticken müssen, wenn nicht – zugleich seine Schwäche und seine Stärke – die Gewohnheit der Untertänigkeit und der Trieb der Treue unausrottbar in ihm gewurzelt hätten. In mir waren beide erstickt. Ich sollte aber nicht ausleben, ohne zu einem großen Fürsten, welcher der Feind meines Landes war, in Bewunderung aufzublicken und vor einem tugendhaften Fürsten, den ich als meinen persönlichen Feind haßte, in reuevoller Zerknirschung meine Augen niederzuschlagen.

Die Erfahrung dieser späten reuevollen Ehrfurcht ist es, welche ich diesen Blättern anvertraue, gleichzeitig als Beichte für eine schwere, heimliche Schuld und als Dankeszoll für eine köstliche Gottesgabe. Gibt es doch keine größere Wohltat inmitten der Wehetaten des Lebens, keinen erhebenderen Trost für ein an Schöpfung und Schöpfer verzweifelndes Herz, als die Erkenntnis eines wahrhaft guten Menschen. Und ich weiß auch keine natürlichere Basis für die Verheißung unserer Unsterblichkeit. Denn wenn man die Masse der Menschheit sich so unverdrossen im Schlamme der niedrigsten Bedürfnisse wälzen sieht und jenes Bruchteil von ihr, welches das glückliche heißt, mit so viel Behagen im Blütenmoder seiner Lüste, da fragt man sich wohl in höhnendem Grimm, was denn eigentlich von diesen aufrechtschreitenden Bestien im Jenseit weiterleben soll? Der aber, welcher ohne Ermatten nach der Gottähnlichkeit strebt und, soweit es einem Irdischen gegeben ist, sie erreicht, der kann, nein, er kann nicht im Grabe aufgehört haben. Du lebst, mein Edler, du lebst in Gott!

Ich war ein fleißiger Schüler gewesen, allein schon dazumal kein fröhlicher Gesell. Ein in mich gekehrter Sinn soll, wie mein Vater es erklärte, mir eingeboren worden sein in meiner ersten Lebensstunde, die meiner Mutter letzte gewesen. Trauriges Eingebinde, wenn es eines war, und nicht vielmehr die mähliche Wirkung einer mutterlosen, liebelosen Kindheit; denn mein Vater war mit Hand und Sinn anderweitig zuviel beschäftigt, als daß ich mich ihm vertraulich hätte anschließen können.

Meiner Neigung nach hätte ich studiert, am liebsten Humaniora; allenfalls aber auch die Rechte, so kläglich es um das Recht jener Zeit bestellt war und leider heute noch ist. Mein Vater jedoch war keineswegs gewillt, jahrelang schwere Unkosten zu bestreiten, um einen Rektor oder Amtmann aus dem Ei der Wissenschaft kriechen zu lassen. Er hielt die Schnüre seines Säckels fest und hatte manchmal wohl mehr darin als der flottlebige Herr, dem er das Waschbecken füllte und die Perücke puderte. »Redet Geld, so schweigt die Welt«, lautete eines seiner Worte. Der Gelehrsamkeit war kostenfrei im Alumnat genuggetan, die Praxis erlernte sich in der Kanzlei. Wer, wie Christian Klösterley, der Taufpate eines Herzogs war und sich eines Fürsprechers erfreute, der tagsüber wie zu nachtschlafender Zeit in jeglicher Leibesnot und Lust alert auf der Lauer stand, um sein cæterum censeo zu Gehör zu bringen, der durfte wahrlich sich den akademischen Umweg und die Examina ersparen, ja er brauchte nicht einmal von Adel zu sein, um im Verwaltungswesen sich von Pöstchen zu Posten, von Söldchen zu Sold emporzuschwingen, allgemach als Herr Amtshauptmann dem Regimente näher und zu guter Letzt als Herr Geheimderat dem Throne am nächsten zu steigen. So mein Vater.

Ich entgegnete mit der Würde eines römischen Bürgers, daß Gunst nimmer Kunst ersetze, daß ich zum Höfling nicht das Zeug und nach Gnadenbrot kein Verlangen habe. Der Herr Vater lachte mich aus oder schalt mich auch einen Querkopf, einen alles Besserwisser und, wenn er ernstlich böse ward, einen Republikaner. Für gewöhnlich begnügte er sich indessen mit dem Kalmäuser, der also, von väterlichen Lippen stammend, mein stehender Spitzname geworden ist, wie ich zugestehen muß, mit Grund. Wir unterhandelten. Mein Vater war bei aller Geschmeidigkeit in seinem Amt ein eisenfester Mann, obendrein mein Erzeuger und Ernährer, – Eigenschaften, die ein Kalmäuser, wie überhaupt den Pflichtenpunkt, respektiert –; das Ende vom Liede demnach, daß der Zögling des Plutarch vor dem Meister der Toilettenkunst die Segel strich, froh genug, für seine Lehrjahre das Forstfach durchzusetzen. Man wohnte im Freien, und ich hatte in meiner wohlgelegenen Klosterschule die Natur lieben gelernt; man schaffte zumeist freilich am grünen Tisch, inzwischen doch aber auch im grünen Wald, regierte neben der Feder eine Waffe, hatte Muße, außer einem munteren Rößlein seinen Tacitus und Äschylos zu tummeln, und durfte in einsamer Freiheit die Schneider- und Lakaienabstammung vergessen. Bei meinem Vater mochte den Ausschlag die Betrachtung geben, daß von allen Allerhöchsten Passionen die Jagd die allerhöchste und deren Profession daher für eine Günstlingskarriere die ersprießlichste sei.

Ich schreibe nicht meinen Lebenslauf, sondern nur die Episode desselben, welche für euch wie für mich selbst die einzige bemerkenswerte ist. Es genügt daher zu sagen, daß ich ein Jahrzehnt hindurch, vom Schreiber bis zum Revisor aufwärts, in verschiedenen Oberforstmeistereien des Herzogtums, sonder Aufwand von Kunst noch Studium, mein Wesen trieb. Von Waldkultur war gar nicht, von Wildkultur wenig die Rede. Die Bäume wuchsen von selbst, die Tiere nährten sich auf dem bäuerlichen Acker, waren fruchtbar und mehreten sich. Meine Pflicht und Schuldigkeit beschränkte sich darauf, mit mehr oder minder gewissenhafter Buchung möglichst hohe Erträge von Holzschlägen und Wildhandel an die nimmersatte Hofkammer abzuliefern, den Wilddieben gehörig auf den Dienst zu passen, bei einem allerhöchsten Jagddivertissement den allerhöchsten Standort so ergiebig wie ungefährlich auszuwählen und die treibenden Fröner demgemäß zu dirigieren – sapienti sat.

Ob nun meine schreib- und rechenkünstlerische Beflissenheit darob zu rühmen ist oder lediglich das cæterum censeo meines väterlichen Kato: kurzum, nach einer zehnjährigen Schule im grünen Wald und am grünen Tisch wurde mir der Vorzug, an die Spitze der Hofkämmerei berufen zu werden; will sagen: bei dem Mißverhältnis der Durchlauchtigen Gemütsflut zu der konstanten Ebbe von Dero Schatulle auf einen schier desperaten Posten.

Warum ich ihn annahm? Warum Gracchus Sempronius sich zum Fürstendiener aus dem Grundtext erniedrigte? Aus geschmeichelter Eitelkeit ob Rangerhöhung und Titulatur? Aus dem für einen Römer so wenig wie für einen Deutschen unnatürlichen Verlangen, etwas mehr von der Welt als Wald und Wild kennen zu lernen? Ob aus hilflosem Erbarmen mit den unsinnig gefällten urwüchsigen Bäumen, meiner Herzenslust, und den verzweifelnd sich wehrenden jagdfrevelnden Bauern, meiner tagtäglichen Qual? Ob lediglich aus der Schwachheit eines Kalmäusers gegenüber väterlicher und landesväterlicher Autorität? – Gelten viele Gründe für einen Grund: – ich nahm an.

Der Forstrevisor Klösterley fungierte nunmehr als Serenissimi Geheimer Kämmerier, item Rechenknecht, schlug sich mit Advokaten und Juden herum, begleitete, wie ein unentbehrlicher Pudel den Blinden, richtiger ausgedrückt: als ein recht bärbeißiger Zerberus, seinen durchlauchtigen Herrn Paten auf Lust- und Vetternreisen, zu Revüen und Jagdpartien an verschiedene Höfe, die ein Klein-Versailles hießen, lernte alldort, wie am heimischen Hofe von Klein-Dresden und Klein-Warschau, »die Blüte der deutschen Menschheit« aus dem ff kennen, will sagen, weil aus bürgerlichem Abstand just aus der richtigen Sehweite, und wurde von Sonnenwende zu Sonnenwende immer gründlicher zum kalmäusernden Rebellen.

Ein Jahrzehent hielt ich auch diese dritte Lehrzeit aus, die unfruchtbarste von allen. Endlich aber schwollen Ekel und Galle bis zum Überlauf. Bei einem Anlaß, der nicht hierher gehört, setzte ich Serenissimus den Stuhl vor die Tür, das heißt meinen Stuhl vor die seine, und als er mir zu bleiben befahl, wurde ich grob. Eine der trefflichsten deutschen Eigenschaften, die Grobheit! Leider eignete sie mir nur bei einem hohen innerlichen Temperaturgrad. Ob aus Unverträglichkeit mit der eingepfropften klassischen Würde oder dem eingeborenen väterlichen Blut, bleibe wiederum dahingestellt.

Das freie Amerika, in welchem die englischen Republikaner Zuflucht und ein neues Vaterland gefunden hatten, begann jenerzeit in Deutschland die mißvergnügten Köpfe zu locken. Auch den meinen. Besser im Urwald mich mit wilden Rothäuten, als in fürstlichen Prunkgemächern mit den Launen überfeiner, insolventer Schuldner und den Forderungen insolenter Gläubiger zu Tode zu hetzen!

Ich war allenfalls noch jung genug für solch abenteuerndes Unterfangen, ein Mann in seinen besten Jahren, will sagen das Schwabenalter kaum überschritten. Mein Vater, kürzlich verblichen, hatte mir aus fürstlichen Salärs und Douceurs einen Spar- und Heckepfennig hinterlassen, der ein Vermögen genannt werden durfte. Ohne Geschwister und nahe Anverwandte, ohne Freunde, fehlten mir sogar die Gewohnheitsnachbarn, welche der Reformator der Bitte um das tägliche Brot einverleibt hat, welche aber für einen Schloßinsassen weiße Sperlinge sind. Vom Serenissimus abwärts bis zum Heiducken reckt man sich über die Köpfe der Unterstehenden hinweg zu den Zehenspitzen der Höherstehenden hinan, zu beiden Seiten ist kahler Raum. Ich für mein Teil war indes noch übler daran als die allgemeine Kategorie; denn verkehrte ich nicht wie sie mit einem meinesgleichen, so streckte ich mich auch nicht wie sie zu einem Häuptling empor. Ich war ein einsamer Mann, ledig jedes Bandes, jeder Pflicht.

Es soll an dieser Stelle bemerkt sein, daß ein Kalmäuser nicht notwendigerweise auch ein Misogyn oder Ehefeind sein muß. Ich zum wenigsten war es keineswegs. Dennoch hatte ich an Heiraten bisher niemals gedacht. Während meines Waldlebens fehlte mir wie die Gelegenheit, so der geziemende Platz für eine Frau; ein Bürgerlicher im Hofdienst aber bleibt naturgemäß Junggesell, und das jus hagestolziatus, wo es überhaupt oder zurzeit noch bestand, hätte für ihn außer Kraft gesetzt werden müssen. Die feinen Damen, die er stündlich vor Augen sieht, reizen sein Wohlgefallen nicht selten bis zum Verlangen; zum Weibe jedoch möchte er keines dieser Püppchen haben, selbst wenn es ihn als Notbehelf, für seinesgleichen, achten wollte. Die dagegen, welche seinesgleichen sind, gefallen ihm nicht, weil ihnen das gebricht, was ihn an den zierlichen Püppchen reizt. Dachte ich bei einem Gemahl auch durchaus nicht als Römer an eine Kornelia oder Portia, sondern als deutscher Mann an ein deutsches Weib – wo fand ich das Traumbild eines holden Naturkindes verwirklicht, das häuslichen Sinnes, doch ohne küchenrote Backen und aufgesprungene Hände seine Muttersprache in reinen Lauten redete? Um so besser, daß ich es nicht gefunden. Die Heimat im Urwald schickte sich für einen ledigen Mann, nicht für einen Familienvater.

Überaus verdrießlich wurde ich daher überrascht, als ich statt der Bestätigung meines Abschiedsgesuches – notabene ohne Pensionsbeanspruchung – einen neuen Dienstantrag erhielt. Man bot mir den Aufsichtsposten über die weitläufige nördliche Heidestrecke, welche, abgetrennt vom Herzogtum, das Apanagengut des noch einzigen fürstlichen Bruders bildete. Mochte von letzterem auch indirekt die Berufung ausgehen, direkt stand sie dem Landesherrn zu, ein Zeichen, daß er mir meinen galligen Ausfall nicht nachgetragen hatte. Gutherzig war ja Pate Serenissimus, wie die meisten leichtlebigen Leute es sind, und mein Irrtum nur, daß ich zu ehren, wohl gar zu bewundern verlangte, wo ich einfach hätte lieben sollen, und ein Examen rigorosum anstellte, wo ich zum Richter nicht berufen war. Ich galt für einen moralischen Mann, item bei Hofe, nahezu bis zum Gespött, für einen weißen Raben, und ich galt mir selbst dafür. Ist Tugendstolz denn aber löblicher oder auch nur erträglicher als die Eitelkeit der Welt?

War es nun eine Anwandlung dieser bescheidenen Selbsterkenntnis oder – wiederum ein Fragezeichen! – lediglich ein gesunder Instinkt, der über meine Verstimmung den Obsieg errang? Ein Kalmäuser ist naturgemäß eines Abenteurers Gegensatz. Ein Stückchen Urwald, wenn es auch nur Kiefernheide war, fand ich hier wie dort; die Klause in einem Jagdschlößchen paßte für einen, der seinen Horaz in der Brusttasche trug und mit dem Platon zu Bette ging, offenbar besser als die in einem Blockhause, zu dem er sich die Stämme erst eigenhändig hätte fällen müssen. Blieb ich auch ein Fürstendiener, ich wurde auf einem abgelegenen, einsamen Revier so ziemlich mein eigener Herr. »Versuch's erst mit dem heimischen Amerika; das über dem großen Wasser läuft dir nicht davon,« dachte ich. Und wie gedacht, so getan.

Ich hatte meine neue Welt seit Jahren nicht betreten, kannte sie aber gründlich von den Jagdfesten her, welche die seitdem verblichenen älteren apanagierten Prinzen ihrem herzoglichen Bruder alldort bereitet hatten, die Hauptjagden innerhalb seines gesamten Dominiums. Denn just weil nichts weniger als ein Paradiesgärtlein, war sie für einen Nimrod deutscher Nation das erwünschteste Beuterevier. Hoch- und Schwarzwild, Rot- und Damwild tummelten sich darin nach Herzenslust; an Hasen, Dachsen und Füchsen war kein Mangel; die Vogelpirsch lohnte bis zur Trappe und dann und wann, freilich ganz ausnahmsweise, zu dem verliebten Eremiten Auerhahn hinan, und wenn man auch nicht mehr, wie der Allerhöchste Herr Vetter in Polen, mit Wölfen und Bären aufzuwarten vermochte, so gab es doch noch hinreichend Wildkatzen, deren Erlegung zu einem Kampf auf Tod und Leben ausarten konnte. Aus düsterem Schlupfwinkel in die Tageshelle gescheucht, wütig von Ast zu Ast, von Wipfel zu Wipfel und, bei einem verzweifelten Sprung, nicht selten auf des Jägers Leib gehetzt, galten der Ritz der Krallen, der Geifer des Bisses für kaum minder verderblich als die eines toll gewordenen Hundes. Mit dem kostbaren Augenlicht mindestens hatte schon mancher seine wilde Jägerlust gebüßt. Aber was ist Jägerlust ohne Gefahr? In dem Vestibül des Heideschlößchens, meiner künftigen Residenz, mahnte ausgestopft mehr als ein Prachtexemplar dieser schönen Bestie, der einzigen unserer Zone, die sich einer Löwenverwandtschaft rühmen darf, – denn was bedeutet die zivilisierte Sippe, mit welcher wir hausfreundlich verkehren? – an des Menschen Herrschaft auch über das adligste Tiergeschlecht.

Unter dem gegenwärtig einzigen Nutznießer der Domäne, meinem neuen Gebieter, hatten diese größeren Jagdfestlichkeiten aufgehört. Noch niemals, soviel mir bekannt, war er in seine Residenz, die kleine Stadt, nach welcher die große Heide ihren Namen trägt, und demzufolge in das benachbarte Jagdschlößchen zu längerem Aufenthalt eingekehrt; seine militärischen Funktionen hielten ihn fern.

Als jüngster von fünf Brüdern, die sämtlich mit Nachkommenschaft gesegnet waren, war seine Apanage gering, und er hatte weise getan, fast von Kindesbeinen ab, sich mit Leib und Seele dem Waffenhandwerk zu ergeben. In verschiedenen deutschen wie außerdeutschen Herrendiensten stieg er gradatim zu Ansehen und Ehren, um schließlich im verwandten kurfürstlich-königlichen die höchste kriegerische Würde zu erreichen. Von Jahr zu Jahr mehrte jedoch sich sein Erbteil, und die Aussicht auf das allerhöchste rückte nahe und näher. Die Brüder starben bis auf den regierenden Herrn, die Bruderskinder bis auf den jüngsten von des letzteren Söhnen, unseren kleinen Erbprinzen.

Nun ja, es mag und wird ein Naturlauf gewesen sein, daß eine Reihe jugendkräftiger Männer rasch nacheinander dahingerafft, daß ein nachfolgendes Geschlecht schon im Knöspchenalter geknickt worden ist. Rotten die schwarzen Blattern denn nicht unseren jungen Nachwuchs aus in manchem Kirchspiel bis auf eines Jahrgangs letzten Sprossen? Fromme Seelenhirten nennen solches kindliche Sterben eine Geißel Gottes zur Strafe für elterliche Sündenschuld; aufgeklärte Volkswirtschaftslehrer nennen es eine weise Maßregel der Vorsehung, da ohne zeitweilige Seuchenherrschaft die Kriegsgeißel geschwungen werden müßte, um die überhandnehmende Bevölkerung auf eine Ziffer herabzudrücken, für welche der Boden Nahrung gewährt. Und die misera plebs gibt sich mit dem Entweder-Oder dieser Geißelung zufrieden und schätzt, als nun einmal unvermeidliche Blutsteuer, die Pockenfurie ihrer Kleinen, deren Heranbringen Mühsal heischt, für einen Gewinn gegenüber der Kriegsfurie der Herangewachsenen, welche die Mühsal erleichtern sollen. Für das Siechen und Sterben in unserem Prinzengeschlechte machte der Volksglaube nun aber eine greifbarere Geißel, als irgendeine böse Seuche war, verantwortlich; und ich selbst, wenn ich in unserer Herzogsgruft die lange Reihe kleiner Särge, in welchen die wohlgenährtesten und wohlgewartetsten Kinder des Landes gebettet lagen, überblickte, ich konnte den schlimmen Volksglauben nicht verdammlich finden. Wäre es denn das erstemal gewesen, daß man die unheilvollen Folgen einer schwächlichen Staatskunst – und eine solche nannte ich die vielfältige Zerstückelung des gemeinsamen Stammlandes – durch eine gewalttätige Staatskunst zu heilen suchte, so wie man durch ein sengendes Eisen eine Wunde heilt, die als Vätererbe einen Körper auszehrt? Was aber die Hand anbelangt, welche die Landesgeißel schwang, ei nun, ein Machiavell im großen wird freilich nicht in jedem Jahrhundert geboren, aber an Machiavelli im kleinen hat noch keines Mangel gelitten. Als kalmäusernder Republikaner teilte ich übrigens – dem natürlichen Mitleiden bei jedem Einzelfall zum Trotz – in betreff alles Prinzensterbens die Ansicht, welche Seelenhirten und Volksweise betreffs der gemeinen Kindheit verkündeten: für jede eingehende fürstliche Wucherpflanze fanden hundert darbende Nährpflanzen Raum und Bodenkraft. In gleichem Betracht erachtete ich es einen Landessegen, daß die Ehe des Prinzen, meines gegenwärtigen Herrn, kinderlos geblieben war und daß er, vor Jahr und Tag verwitwet, an eine zweite bis jetzt nicht zu denken schien.

Ich kannte ihn, wie unsereiner einen Prinzen kennen lernt; von seinen Besuchen am brüderlichen Hofe, von Jagdpartien und Lustlagern her. Die Welt pries ihn als einen tapferen Soldaten, sogar als einen bewährten General. Ich war Zeuge gewesen der Ehrenpforten, welche man ihm errichtete, der Lorbeeren, welche man ihm entgegentrug; es gab schwerlich einen europäischen hohen Ordensstern, der nicht an dem Firmamente seiner Brust geglänzt und den Neid seiner militärisch wenig berühmten Herren Brüder und Vettern erweckt hätte. Für die Gegenwart ist Kriegerruhm ja allemal der höchste. Aber derselbige ist kurzlebiger Natur. Eine schließliche Niederlage oder der verfehlte Kampfespreis löschen hundert erfochtene Siege aus, und nur die Taten der hehrsten Vaterlandsverteidiger, wie die der Staatengründer und Welteroberer, leben zu Segen oder Fluch in der Nachwelt fort. So großen Stils aber waren die Schlachten nicht, welche unser Herr als General und Generalissimus in dynastischem Interesse geschlagen hatte; keiner seiner Erfolge schwellte das Herz des deutschen Volkes, das nach seiner greulichen Zerfleischung vor hundert Jahren noch immer Frieden brauchte, nichts als Frieden. Schon das nächstfolgende Geschlecht würde wenig Redens und Rühmens von diesen Triumphen machen.

So dachte ich dazumal und, es soll gesagt sein, so denke ich heute noch über unseren Herrn als historische Person, heute, wo ich mich vor ihm wie ein Wurm im Staube krümme. Aber es ist ja auch nicht seine Feldherrnkunst, über welche ich in diesen Blättern zu berichten habe, sondern von einem Beispiel jener anderen, in welcher ich Zeuge seiner Meisterschaft geworden bin. Denn der Mensch ist kein so einfaches Gebilde, daß er lediglich wirke nach der Hauptseite hin, in welcher er mit Fleiß und Mühe seine Fähigkeiten zu entwickeln strebt. Wie die Blume ihr bestes Teil, den Duft, haucht er, kaum bewußt, stille Tugenden aus, die dem vorüberziehenden Wanderer das matte Herz erquicken.

Ich wußte von des Prinzen Privatcharakter so gut wie nichts. Aber was brauchte ich auch von ihm zu wissen? Warum sollte er anders geartet sein als tutti quanti unserer deutschen Dynasten? Kleine Gernegroße, die ihre Ehre darein setzen, Kaisern und Königen schwelgerische Gastereien auszurichten, leichtherzige Lustigleber, die lachenden Muts ihre Völkerchen gleich einer Schafherde scheren und den Kuckuck danach fragen, ob sie mit dem das Kredit täglich übersteigenden Debet ihrer Schatulle ihren Säckelmeistern die Köpfe rauchen machen. Dem Äußeren nach war Prinz Johann eine stattliche Erscheinung von rein germanischem Typus, ungefähr gleichviel Lustren zählend wie ich, das heißt, weil ein hoher Herr und General, noch in jungen Jahren. Seine Ehe hatte für keine glückliche gegolten. Was Wunder, wenn man weiß, wie solche Fürstenehen geschlossen und geführt werden. Überdies war sie, wie bereits erwähnt, kinderlos geblieben.

Gottlob, daß ich hinfort nicht länger als schlimmstenfalls ein paar Herbstwochen jedes Jahr dieses wurmstichigen Gleißens Zeuge zu sein brauchte und in der übrigen Zeit als ein natürlicher Mensch mir selber leben konnte, inmitten von zahmen Hasen und wilden Säuen und Katzen, mit meinem Homer und Plutarch in einer Welt, die größere Menschen als die heutigen gezeitigt hat!

Den alten Spruch von dem Wohlleben dessen, der verborgen lebt, vor mich hinsummend, schwang ich mich an einem taufrischen Julimorgen auf mein Rößlein und trabte, von meinem getreuen Nero umkreist, wollte es Gott, auf Nimmerwiedersehen! aus dem Tore meiner Vaterstadt, in welcher ich keinen Bluts- oder Herzensfreund, keinen Landsmann, den ich wert hielt, zurückließ, vorüber an blühenden Gärten, an dem gedeihlichen Talhof, auf welchem der Hahnenschrei reges Tagestreiben erweckte, zur Linken den rasch bewegten Fluß, zur Rechten das buchenbewaldete Felsenufer, auf saftigem Rasenpfad in das fruchttragende Flachland hinein.

Und dieser frohe Mut beseelte mich während des ganzen ersten und zweiten Tagesritts. Als ich aber am dritten Morgen den Strom überschritt und nunmehr auf seinem rechten Ufer Tritt um Tritt meines Gaules Hufe tief und immer tiefer versanken in das Füllsel der heillosen Streubüchse des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, da wurde mir schwül um Sinn und Brust. Ich war in der Heide; nicht in der Heide des Nordens, die ich auf meinen litauischen Jagdfahrten hatte kennen lernen, der korrekten, wildlosen, baumarmen Heide, auf deren felsenharter Decke nur die rote Erika und dann und wann ein Wacholderbusch treibt, deren einziger Wechsel jene seltsamen Hügel sind, die für Hünengräber gelten; nein, in dem urwüchsigen Kiefernwald, den wir im Mittellande Heide nennen, die aber in der Zeit, wo in der Aue die Linden blühen und ihre nordische Schwester ein rosiger Blumenteppich deckt, mehr als diese ein Reich der Trostlosigkeit ist.

Ich sah sie als solches zum ersten Male, da ich sie bisher nur in ihrer winterlichen Glanzzeit hatte kennen lernen. Der letzte Halm, welcher nach dem schmelzenden Schnee in dem fußhohen Sande gesproßt, ist verdorrt, jedes Wasserfädchen eingetrocknet; aus kahlem Schaft streckt die Kiefer ihre staubgrauen Äste, gleich Skelettenarmen, über Weg und Steg; von oben herab sengender Brand, von unten herauf sengender Brand, eine Aschenschicht über einem Vulkan, mit verkohlten Nadeln bestreut; der Dunst des Harzes, der in der Frühlingssonne würzig labt, beklemmt die Brust, ein Höllenqualm in der Höllenglut, und außer ihm kein Hauch in der Luft, kein Laut unter einem Zweig, keine Schattenspende der hochragenden Wipfel; selbst das Wild hat sich geflüchtet in die Oasen, auf deren dichterer Bodenschicht, von einem Gerinne umsickert, die Birke gedeiht und die rote und blaue Heidelbeere zwischen Moos und Farren an ein Labsal mahnen. Immer schleppender wird des Gaules Schritt, immer lechzender hängt der Dogge Zunge aus dem Schlund, immer schläfriger wird des Mannes Hirn.

Und in dieses Reich der Trostlosigkeit hatte ich freiwillig mich gebannt; in dieser Wüste sollte ich meine Zeit verleben; vielleicht beschließen, allein in dieser Ödigkeit, ganz allein, – o nein! auch dieses Elend wurde mir erst nachträglich klar, – nicht einmal allein mit der redlichen Schlafmütze, meinem Diener, und dem alten Försterpaar, das als Umgang nicht zählte; nein, Gott sei's geklagt, Tür an Türe mit einer Hausgenossenschaft, einer weiblichen obendrein, höfischen Rudera, die mich auf Schritt und Tritt an die Welt, der ich entfloh, erinnerte und mir alle Ruhe rauben würde, mein eigener Herr zu sein. O, Schwachkopf, Tor, der ich gewesen, auf dieses Ansinnen einzugehen! Aus Menschenfreundlichkeit? Aus hofrätlicher Gewöhnung, mit dem Kopfe zu nicken, wenn das innerste Eingeweide sich krümmt? Ich hätte links abschwenken, stracks dem nächsten Hafenplatze entgegensprengen und mich im dicksten jenseitigen Urwald vergraben mögen, – ja, wenn ich ein anderer als Christian Klösterley, der Kalmäuser, gewesen wäre! Christian Klösterley der Kalmäuser brummte, stöhnte und ließ sich weiterschleppen durch die glutdürre Wüstenei.

Ich hatte meinen Amtsvorgänger nicht persönlich gekannt. Er war vom kurfürstlich-königlichen Jagd- und Kammerjunker zum herzoglichen Oberforstmeister avanciert. Der Adel des Mutterlandes und der verschiedentlichen Tochterländchen entstammte den nämlichen Sippen; man half sich bei seiner Versorgung freundvetterlich aus, wenn man in anderweitigem Betracht sich auch scheel genug auf die Finger sah. Das höhere Forstfach war eine seiner Domänen. Ein landläufiges Scherzwort sagt: auf jeden Hasen ein Oberforstmeister. Selbstverständlich ein Edelmann. Wir Bürgerlichen, denen weniger das Schießen als das Schreib- und Rechenwesen oblag, brachten es allenfalls bis zum Inspektor oder Revisor, und der Hof- und Kammerrat Klösterley mußte es sich als eine besondere Patengunst anrechnen, daß ihm der Meister, wenn auch ohne Ober angehängt worden war und er nunmehr zwischen drei Titulaturen die Wahl hatte.

Von dem Jagd- und Kammerjunker von Leiseritz und seiner Gemahlin, einer von halbdeutschem Blut in Polen geborenen und erzogenen Hofschönheit, besagte die Fama nun, daß sie sich in dem residenzlichen Treiben finanziell stark übernommen hätten und die Oberforstmeisterei im abgelegenen Heideschlößchen daher als schicklicher Herstellungsposten erfunden worden sei. Kaum ein Jahr, nachdem er in dasselbe eingezogen, war eines Tages der junge Herr tot, mit einer Kugel in der Brust, in einem Dickicht gefunden worden. Ob durch eigene Hand, ob durch fremde? Vermutlich das letztere. Die Wilderer trieben es in diesem Bezirk arg und schlau. Ein jeglicher Heidegrenzer stand in dem Verdacht, als Hüter des Hafers und Buchweizens seiner mageren Scholle, zum Diebe auszuarten und sich sonder Skrupel einen Sonntagsbraten zu erlegen. Einer borgte seinen alten Schießprügel dem anderen; der, welchem er gehörte, konnte sein Alibi beweisen. Das Elend macht Kameraden; wollte man nicht alle fassen, faßte man keinen; der neubackene Herr Oberforstmeister hatte überdies durch einen Diensteifer, der allerhöchsten Orts einschmeichelte, die gesamte Rotte gegen sich aufgebracht.

Jagd- und Bratenfreuden sind aber nicht für die misera plebs, und der edle Wildstand ist der Serenissimi von Gottes Gnaden Lust und Stolz. Als daher während des Gnadenjahres der Witwe ein junger interimistischer Stellvertreter, durch das Schicksal seines Vorgängers gewarnt, sich um so lässiger, als jener eifrig, erwiesen hatte, wurde der sauertöpfische, aber gewissenhafte Schatullenrat zur Obhut auf den gefährlichen Posten berufen. Wer ahnte denn den posthumen Gracchus, der in dem unbequemen Kalmäuser sein Wesen trieb? Man versah sich von ihm, daß er für das landesväterliche, das ist vaterländische Recht und Pläsier sein Leben zwar nicht freudig, aber geziementlich in die Schanze schlagen werde; und man versah sich dessen mit Fug, wennschon nicht durchweg im herkömmlichen Sinne. Um dem unliebsamen Kalmäuser auch einmal etwas Löbliches nachzusagen: in erster Ordnung war es der Plan, vielleicht das Hirngespinst, dem nach unten mehr noch als nach oben verderblichen Treiben von Grund aus Remedur zu schaffen, der Selbsthilfe zu steuern, aber ihr spornendes Motiv zu tilgen, welcher den posthumen Gracchus in die heimische Urheide gelockt hatte. Hier war der zum Frevel treibende Beweggrund ja nur ein Hungerbissen in den leeren Topf. Aber im Kleinen, wie im Großen, im Leiblichen, wie im Geistlichen: das beste Regiment baut vor, das leidliche hilft nach, das schlechte verfällt dem Ruin, nachdem es den Ruin herbeigeführt hat.

Da im Mutter- wie Tochterstaat der nobelen Ausgaben zu viele waren, um mit Gnadenpfennigen splendid zu sein, hatte man als solchen der oberforstmeisterlichen Witwe das freie Wohnungsrecht im Schlößchen zugebilligt; ein Merkmal, wie erbärmlich es um ihre Kassette bestellt sein mußte, da ohne harte Not die erwähnte Dame es wohl schwerlich in der unwirtlichen Heidenöde ausgehalten haben würde. Ich selbst aber war von einer Abmachung, die mich aus dem Regen in die Traufe brachte, erst am Tage meines Aufbruchs unterrichtet worden. Hatte ich mich bisher in lachender Umgebung über eine lustige Hofgesellschaft zuschanden geärgert, nun sollte ich in der trübseligsten Umgebung mich von der adligen Misere anwidern, ausbeuten und obendrein über die Achsel ansehen lassen. Ich tat einen heiligen Schwur, taub und blind gegen jede Art von Zumutung, mir alles verfängliche Schürzenwesen vom Leibe zu halten als ein richtiger Mann, erforderlichenfalls als ein Grobian.

Gott sei Dank! Raum genug, sich aus dem Wege zu gehen, war wenigstens vorhanden. Denn blieb auch das Obergeschoß herrschaftlichen Gästen vorbehalten, so trennte im Unterstock doch ein breites Vestibül die Zimmerreihe in zwei Hälften. Mochte die Witwe zur Rechten Trübsal und Hoffart spinnen, ich hielt mich links; guten Tag und guten Weg! Auch im Wirtschaftswesen, das in Bürgerhäusern gewöhnlich zum Zankapfel zwischen Wirts- und Mietsleuten wird, konnten wir uns nicht in die Quere geraten. Kochherd wie Bükefaß blieben der gnädigen Frau überlassen nach Belieben und Verstehen; den Junggesellen samt Adam und Nero versorgte die Frau des alten Unterförsters, dessen Wohnung in einem Seitenbau lag.

Ich hatte um das armselige Städtchen mit seiner stolzen Prinzenresidenz – leerstehende Paläste und übervolle Hütten, allerorten meinen Augen ein widerwärtiger Kontrast – einen Bogen geschlagen und, soweit angänglich, auch die Dorfschaften vermieden, deren unsauberes Menschen- und Tiergezücht mich niemals dermaßen mit Ekel, Scham und Zorn erfüllt hatte wie heute. Quer durch die Heide, auf Knüppelwegen, über Baumleichen, die der Wintersturm gefällt, in unmusterndster Laune, krampfhaft gähnend vor Langeweile und Hunger, – denn Ärger zehrt, – näherte ich mich meinem Ziel. Mein Bursche – bei einem wirklichen Oberforstmeister würde er Leibjäger geheißen, möglicherweise aber nicht weniger ein Faktotum für Garderobe, Tafel und Stall repräsentiert haben –, item Ehren-Adam mußte mit dem Packwagen bereits gestern eingetroffen sein. Ich fand meine Wohnung eingerichtet, den Tisch gedeckt. Einigermaßen ein Trost.

Und da lag denn auch endlich das Schlößchen vor mir, ein zierlicher Bau in holländischem Stil, mit seinen blutroten Ziegeln und dem giftgrünen Metalldach, inmitten der grauen Kieferntrübsal immerhin ein lustiger Anblick. Die Heide umzog nach drei Seiten das Gehöft; in der Front jedoch war ein weiter Halbkreis gelichtet und linealgerecht durch geschorene Hecken zu einem Lustgarten angelegt. Da die Jagdzeit aber nicht mit der zusammenfällt, in welcher es zwischen den Hecken grünt und blüht, der Sold für einen Kunstgärtner folglich gespart werden durfte, hatten die Förster und vielleicht auch ihre Herren Prinzipale die Zieranlage in eine nutzbringende umgewandelt, von welcher ihre Hausfrauen den Gemüsebedarf ernteten. Zwischen Göttergestalten von Sandstein, deren Nasen und Gliedmaßen verstümmelt waren, winzigen Fontänchen, deren Wasserfaden nicht mehr sickerte, zwischen bunten Porzellanperlen, die sich hier und dort noch als Einfaß hinter den Fragmenten des Buchs erhalten hatten, rankten sich nun Bohnen und Erbsen so hoch, als der mager gedüngte Sand ihnen Kraft verlieh; machte unterschiedlicher Kohl, der von Natur ein anspruchsvoller Schmarotzer ist, den kümmerlichen Versuch, sich einen Kopf aufzusetzen, während die genügsamen Plebejer der Scholle, rote, gelbe und weiße Rüben, wie der erst kürzlich eingebürgerte Erdapfel, ein befriedigtes Dasein führten und hier und dort eine Königskerze oder Sonnenblume sich zwischen gemeinem Kraut und Unkraut blähte. In diesem Lustgarten würde nun auch ich fortan meinen Kohl bauen, der keine Köpfe trug.

II

Mit diesem Stoßseufzer stieg ich nahe der Rampe ab, vergeblich nach einem Baum oder Pfahl suchend, an den ich meinen Gaul binden konnte, bis Ehren-Adam sich der schachmatten, triefenden Kreatur erbarmen würde. Er mochte meinen Einzug von der Hofseite erwartet haben oder auch seines Mittagsschläschens pflegen. Ehren-Adam war ein gar ruhsamer, alter Knabe, und sein Herr, der als ein nörgelnder Untergebener gescholten, dafür jedoch als gelassener Vorgesetzter geschätzt ward, gönnte ihm sein Behagen. Die Wahrheit zu sagen, fühlte ich mich den Menschen im allgemeinen und meinem Menschen Adam im besonderen niemals gewogener, als wenn ich sie schlafend sah. Im Schlafe ist Unschuld, und welche bessere Labsal haben denn auch wir armen Erdenknechte, als die Stunden des Vergessens im Schlummer und seinen Traum. Für mich selbst waren leider diese Stunden kurz und häufig alpbedrückt; träumen aber tat ich nur mit offenen Augen.

Eben hatte ich die Halfter um den Torso irgendeines weiland Ganz- oder Halbgottes geschlungen, als hinter seinem Sockel hervor ein helles Kindergesicht mich anlachte und gleich darauf ein Mädchen, seiner Größe nach etwa zehn Jahr, mir nickend entgegensprang. Es trug ein kurzes, schwarzes Röckchen und weißes Faltenhemd, das von einem dunklen Mieder zusammengehalten ward, so wie wir auf Jahrmarktsbildern die Schweizermaidli dargestellt sehen. Vielleicht derzeitige Kindermode oder ländliche Halbtoilette. Auch das goldblonde, wellige Haar hing nach Schweizerart in zwei dicke Zöpfe gebunden am Rücken hinab. Die Kleine hatte sich eine blühende Bohnenranke um den Kopf und eine zweite als Schärpe von Schulter zu Hüfte geschlungen; in der Hand hielt sie einen mächtigen Strauß von Kartoffelblüten, wilden Kamillen, Schafgarbe, Thymian, Krauseminze und was sonst noch Blühendes oder Duftendes auf diesen Zierbeeten zu pflücken gewesen war; mit einem allerliebsten Knickschen streckte sie mir ihn entgegen.

Ich habe den Strauß zwischen den Blättern meines Theokrit getrocknet und angeordnet, daß er mir dereinst in den Sarg gelegt werde; ein Merkzeichen der ersten Stunde reinen Glücks in meinem grämlichen Leben.

Das Kind hatte eben die lachenden, roten Lippen zu einem Willkommengruß geöffnet, als es jach einen Schrei ausstieß und mit einer Gebärde der Angst auf ein weißes Kätzchen zusprang, das ihm vom Arme geglitten war und das mein Nero mit Hundelust zauste. »Miez, ach, meine Miez!« jammerte das Kind.

»Nero, los!« rief ich, und das Miezchen war befreit.

Mit einem glückseligen Lächeln nahm die Kleine den Liebling wieder auf den Arm, drückte ihn an ihr Herzchen, sprang dann rasch zu mir zurück und küßte meine Hand. Nach diesem Gefühlsausbruch aber wiederholte sie ihr Knickschen und sagte, indem sie mir ihr stolzes Bukett überreichte: »Schön willkommen, Herr Forstmeister!«

Ich war bis dato nichts weniger als ein Kinderfreund gewesen. Die Dressur der kleinen Hofpüppchen erregte meine Galle, und das Geschrei samt Ekelnäschen der flachshaarigen Straßenbrut widerte mich an; um den Nachwuchs in unseren Bürgerhäusern aber hatte ich mich so wenig gekümmert wie um dessen verehrliche Herren Papas und Frau Mamas. Dies Kind jedoch tat es mir an auf den ersten Blick. »Wo solch holdselige Gottesgeschöpfe gedeihen, muß sich schon heimsen lassen,« dachte ich und war auf einmal mit der unwirtlichen Heide im Sonnenbrand ausgesöhnt. Ich hob die Kleine unter beiden Armen in die Höh und küßte sie auf die rundlichen Backen, was sie sich ohne Sträuben gefallen ließ, da doch sonst kleine Mädchen bei einem Manneskuß, aus Furcht einen Bart zu bekommen, strampeln und schreien. Ein Kind des alten Försterpaares konnte sie füglich nicht sein; vermutlich also ein Enkelkind.

»Wie heißt du, Herzchen?« fragte ich.

»Lori von Leiseritz,« antwortete sie. »Wenn ich aber groß werde, heiße ich Lorenza, wie Mama.«

Ich wußte nicht, daß mein Vorgänger Nachkommenschaft hinterlassen habe. Der Mann wurde mir plötzlich interessant. In der einen Hand der kleinen Lori Willkommenspende, an der anderen die kleine Lori selbst, stieg ich die Rampe hinan.

»Wird Ihr großer Hund meinem Miezchen aber auch nichts zuleide tun?« fragte sie, von neuem ängstlich auf den Liebling in ihrem Arme blickend.

»Gewiß nicht, Kind,« tröstete ich. »Nero wird deinem Kätzchen ein so guter Freund werden, wie ich dir.«

Als wir durch das Vestibül der Försterwohnung zuschritten, trat aus einer Tür zur Rechten eine Dame, unverkennbar von jenem Prinzessinnenschlag, von dem ich so manche mit zornigem Wohlgefallen angeblinzelt hatte, aber von einer Schönheit, wie ich mich ihresgleichen nur weniger erinnerte. Ein Bild von Weib, trotz der dreißig Jahre, die es zählen mochte, und dem Gepräge von, von, – nun von ennui; ich finde keinen deutschen Ausdruck, der Sorge, Verdruß, Kummer und gleichzeitig Langeweile so kurzweg bezeichnete. Hoch und schlank gebaut; das Gesicht ein feines Oval von fleckenloser Marmorbleiche, langgewimperte Lider die großen lavendelbläulichen Augen halb bedeckend, so war meine künftige Nachbarin, so war Loris Mutter, eine verblühte Schöne, aber heute noch weit, weit schöner, als die Tochter, die mit keinem Zug an sie erinnerte, jemals aufblühen konnte. Obschon bereits im zweiten Jahre Witwe, trug sie noch tiefe Trauer, vielleicht mehr aus lässigem als wehleidigem Beharren. Das Kleid war von elegantem Gemäch, aber vertragen, die Kreppuffen zerknüllt, der Saum der langen Schleppe durchstoßen. Der unbequemen Witwenschneppe hatte sie sich entledigt, das dichte blauschwarze Haar wellte sich, lose in einen Knoten zusammengefaßt, um den feingeschnittenen Kopf. Auch der modische Panier, Puder und Schönpflästerchen fehlten. Für wen hätte sie sich auch aufbauschen, färben und interessant bekleben sollen?

»Mein Töchterchen ist mir zuvorgekommen, Herr Forstmeister,« sagte sie mit einer leichten Verneigung. »Wir danken Ihnen das Zugeständnis einer Hausgenossenschaft, die vielleicht wenig nach Ihrem Geschmacke ist, und ich verspreche, Störungen möglichst zu vermeiden.«

Zu einem Bürgerlichen spricht eine hochgeborene Dame deutsch. Einen ihresgleichen würde sie in den ihr mehr geläufigen Lauten einer feineren Mundart begrüßt haben. Redete sie doch selbst mit ihrer Tochter allezeit französisch. Auch stimmten der gleichgültige Ton und Blick, welche die Ansprache begleiteten, wenig zu dem Dankgefühl, das sie ausdrückte. Dennoch lautete meine Erwiderung nicht bloß gewohntermaßen höflich, sondern durchaus ungewohntermaßen nahezu herzlich, denn die kleine Lori sah mit ihren großen goldbraunen Kinderaugen zu mir in die Höh, und ich las darin: »Bitte, bitte, sei gut mit Mama!«

Die Dame zog sich in ihre Gemächer zurück; mich nahmen die Förstersleute in Beschlag, führten mich zur Orientierung durch mein Revier und dann zur Tafel in ihre eigene Behausung. Das kleine Fräulein, sein Kätzchen im Arm, hüpfte munter voran, nahm auch mit heller Lust meine Tischeinladung an, obschon sie bereits Mittag gehalten. »Aber nichts so Gutes,« wie sie treuherzig gestand, »Grützbrei und Hering.«

Grützbrei und Hering! Ich war kein Sybarit; aber mich schauderte.

Mutter und Tochter, ohne eigene Bedienung, teilten den Tisch des Försterpaares, welcher, dem Säckel und der Magengewöhnung der alten Leute entsprechend, von der einfachsten Art war. Für den neuen Herrn Kostgänger jedoch hatte Frau Michelin würdiglich ein Mahl bereitet. Da sie »ledigerweise« anfänglich Kindsmagd, später Wirtschafterin bei der Herzoginwitwe gewesen, wußte sie, was feinen Leuten schmeckt und wie es schmecken muß, beteuerte auch ihr Vergnügen, in alten Tagen die Künste der Jugend noch einmal üben zu dürfen.

Die kleine Lori aß mit dem hungrigen Forstmeister wett. Im Umsehen war von dem goldgelben Fasan nur noch das Knochengerüst übrig und die Schüssel mit den zuckerig eingesottenen Waldbeeren bis auf den Grund geleert. Ich hatte an keiner Fürstentafel in so heiterer Laune und mit besserem Appetit Mittag gehalten.

Während desselben war mir nun aber durch die harmlosen Plaudereien meiner kleinen Tischnachbarin und die Unterhaltsamkeit meiner alten Wirte das Interieur der vornehmen Hausgenossenschaft bis auf das Tz klar geworden. Adlige Witwenmisere in ihrer Blüte! Kein neues Bild für einen bei Hofe Bediensteten, und von allen Elendsbildern der Menschheit das, bei welchem ich am wenigsten Erbarmen und häufig genug den Kitzel der Schadenfreude empfunden hatte. Die demütig erbettelten paar jährlichen Gnadentaler hätten in früherer Zeit der gnädigen Frau kaum für eine neue Courrobe zugereicht. Nun bestickte sie freilich, ihre Umstände zu verbessern, Pantoffeln und Fächer mit Gold- und Silberfädchen, klöppelte Spitzen und mehr derlei Plunder, der herzbrechend an gute Tage gemahnte. Aber mit welcher Schamröte auf den Wangen! Um welchen Spottpreis wurde der Trödel unter der Hand in Leipzig oder Dresden abgesetzt, und wie hätte bei solchem Budget von einer Befriedigung der lästig drängenden Gläubiger auch nur die Rede sein können.

Wer Wind säet, muß Sturm ernten! Was jedoch konnte das arme Kind für die Torheit von cher papa und chère maman? Daß es sie werde büßen müssen, war ein natürliches Erbgesetz, welches der Herrgott gar nicht erst seinen Geboten hätte anzuhängen brauchen. Solange indessen Christian Klösterley im Heideschlößchen residierte, sollte die Buße für elterliches Schlemmen und Schwelgen mindestens nicht in Grützbrei und Hering, und die für unbezahlte Brokatgewänder nicht in verwachsenen und verwaschenen Trauerfähnchen bestehen. An allem, was sein Forst erzeugte, hatte der Forstmeister ein gebührend Teil für seinen Topf, und dieser Topf brauchte nicht lediglich für einen Junggesellen bemessen zu sein; desgleichen brauchte der jeweilige Forstmeister, Gott sei Dank! nicht mit dem Kostgeld zu knausern, wenn selbiges auch statt für zwei, für vier Personen zu entrichten war. Die kleine Lori sollte fortan leckerer als bisher gespeist werden und an menus plaisirs, wenn just auch nicht in Batzenform, keinen Mangel leiden. Mit diesem Vorsatz legte ich mich am Abend zur Ruh und schlief so friedsam, wie ich nur je meinen Adam hatte schlafen sehen.

Halb und halb gegen mein Erwarten bedurfte es keiner schlauen Überredungskünste, um diesen Vorsatz durchzuführen. Die schöne Witwe ließ es sich huldreich gefallen, in ihren vier Pfählen, die gebührentlich die meinen waren, mich als Tafelgast zu empfangen und mit den Erzeugnissen meiner Küche zu bewirten, wie sie denn auch ebenso huldreich sich die kleinen Cadeaux gefallen ließ, die ich ihrem Töchterchen zu machen mir erlaubte. Ob sie diese Erweisungen ebenso unbedenklich angenommen hätte, wenn ich statt Forstmeister Klösterley Oberforstmeister von Klösterley geheißen hätte, bleibe dahingestellt. Jedenfalls würde es dann nicht ohne ein Erröten geschehen sein. Man schämt sich eben nur vor seinesgleichen oder solchen, zu denen man sich in die Höhe reckt.

Als Entgelt überließ sie mir ihre Lori. Gewiß, sie liebte das Kind; da sie ihm aber keine Bonne oder Gouvernante halten konnte, wurde ihr seine Gegenwart – nervös, wie sie nach Damenart war, – unbequem, und sie dankte Gott, wenn sie es, ohne Schaden zu befürchten, draußen im Lustgarten oder bei den alten Förstersleuten untergebracht wußte. Indem sie auf diese Weise sich der einzigen angänglichen Zerstreuung beraubte, quälte der Gedanke, was aus ihrer kleinen Sauvage einmal werden solle, die Einsame dann aber doppelt; im Grübeln und Seufzen über deren Zukunft und die eigene entsanken Nadel oder Klöppel lange vor Dunkelwerden ihrer Hand, sie streckte sich auf ihrer Causeuse, und zwischen Erinnern, Sehnen und Sinnen stellte ein Halbschlummer sich ein, welcher der Nacht ihr Ruherecht verkümmerte. Wie hätte sie auch müde werden sollen? Weder die körperliche noch die geistige Arbeit kostete Anstrengung; in die Luft kam sie nicht. Zu Fuße gehen, ganz allein oder, was noch mehr hieß, mit einem Kind und in die Heide – Gipfel alles ennui! War dann die magere Abendsuppe ohne Appetit verzehrt, Mignonne zu Bett gebracht, dann belebten bei einbrechender Nacht sich die quälenden Nervengeister, dann wurde das Bewußtsein unverdienten Elends erst recht grell, dann rannen die Tränen. Sie löschte das Licht, öffnete die Türen ihrer Zimmerreihe und ging mit leisen Schritten, seufzend und händeringend, die Flucht hin und wider, Stunden auf Stunden, bis sie endlich ermattet, lange nach Mitternacht, ihr Lager suchte und der Freund der Kummervollen sie in glückliche Tage zurückführte, vielleicht auch wiederum in glückliche voraus. Erst wenn die Sonne hoch am Himmel stand und die kleine Sauvage sich seit Stunden nach Willkür umhertrieb, erwachte die Mutter zu einem leidigen Tagewerk und Tageslauf.

In diesem Tageslauf trat vom heutigen ab nun mählich ein Wandel ein. Daß der alte Forstmeister in seiner einseligen Weltabgeschiedenheit sich die Zeit mit Mignonne vertrieb, den durch hartes Mißgeschick versagten Hofmeisterposten freiwillig bei dem Kinde übernahm, gewährte eine Herzerleichterung. Monsieur Klösterley war ein ungefährlicher Schutzherr; die Mutter durfte ohne Sorge träumen und sich grämen, sie nährte sich nach Geschmack und Bedürfen, was immerhin ein gesundheitlicher Anfang ist; sie wird, will's Gott, allgemach auch wieder rechtzeitig Schlummer finden, kann Klöppel und Nadel ohne Gewissensbisse rasten lassen und so gradatim weiter: Zeit und Behagen verbunden im Kampfe gegen das ennui.

In weit kürzerer Frist, als diese Wandlung der Mutter heischte, war ihr Kind nun aber das meine geworden. Aus freiem Antriebe, so, als könnte es nicht anders sein, nannte Lori den Herrn Forstmeister schon nach wenig Tagen erst Meisterchen, dann Väterchen und du, wich auf Schritt und Tritt ihm kaum von der Seite. Wenn morgens Maman noch lange schlief, schlich sie sich aus dem Bett, ging an meiner Hand in den Wald, lernte sich mit mir darin auskennen wie ein junger Lehrling, und weil die Wege oftmals so weite waren, daß ich sie nur zu Pferde durchmessen konnte, hatte ich für sie ein Zwergenrößlein ergattert, auf welchem sie nun munter neben mir hertrabte durch dick und dünn. Das war eine Lust!

Waren wir dann aus dem Forste heimgekehrt und hatten unser wohlschmeckendes Mahl eingenommen, dann ging es an das Studieren; von seiten der Schülerin freilich nicht mit allzu lebhaftem Behagen, dem lehrenden Väterchen zuliebe aber mit freundlichem Willen; das kleine Wesen, dem ich kaum zehn Jahre gegeben hatte, zählte zu meinem Staunen deren nahezu dreizehn, im Punkte des Wissens aber fand ich es im Stadium eines acht- oder höchstens, seiner Leibesgröße angemessen, zehnjährigen. Man hatte die Kleine während ihrer frühesten Zeit, der elterlichen Glanzperiode, auf dem Lande in Polen zurückgelassen; die Großmutter, ein müdes Weltkind, wie ihre Tochter dazumal ein munteres war, erzog sie, das heißt, sie erzog sie eben nicht. Ein bißchen Französisch plappern lernte sich von der Wiege ab gleichsam als Mutterlaut; von eigentlichem Unterricht war keine Rede. Nach dem Tode der alten Dame, welcher ungefähr mit der Eltern Exilierung in die Heide zusammenfiel, wurde auch das Kind darein versetzt, und der Vater machte nunmehr einen Anfang mit den Rudimenten der Sprache, die seine Muttersprache war: ein Anfang, welchem der Tod rasch ein Ende setzte. Die Witwe war allzu melancholisch umgeschlagen, um die saure Aufgabe fortzuführen, würde aber auch sonder Melancholie und mit stärkerer Geduld in deutscher Grammatik und anderweiten Fibelkünsten schwerlich etwas Erkleckliches geleistet haben, und, um gerecht zu sein, wieviel Damen oder Frauen ihrer Zeit und Zone mehr als sie? So blieb es denn bei einem stockernden Buchstabieren und dem kritzeligen Aneinanderreihen steifer Lettern.

Wie kläglich aber war es erst bestellt mit der Christenlehre, die ja überhaupt selten zur Blüte kommt, wo sie nicht mit der ersten Muttermilch eingesogen ist. Die Eltern empfanden, nach der meisten Weltleute Art, ein gar schwächliches religiöses Bedürfen; sie waren Freigeister, ohne sich so zu nennen oder es auch nur zu wissen, der Vater Lutheraner, die Mutter Katholikin. Die Tochter, gesetzmäßig nach der letzteren Ritus getauft, hatte man gelegentlich firmen lassen, als bei dem letzten elterlichen Besuche in Dresden ein Bischof dieses Sakrament an etlichen Kindern des Hofkreises vollzog. Seitdem, also seit Loris zehntem Jahre, hatten Mutter wie Tochter kein Gotteshaus betreten, hätten bei frömmstem Willen aber auch in ihrer stocklutherischen Umgebung eines ihres Kultus nicht betreten können.

Die Mutter vertröstete sich betreffs der geistlichen wie weltlichen Bildung ihrer Tochter mit einem späteren Erziehungskloster und würde den Platz in einem solchen auch jetzt schon angestrebt haben, wenn es in sächsischen Landen noch katholische Klöster gegeben hätte oder eine Reise nach dem mit dergleichen Instituten gesegneten Polen zu ermöglichen gewesen wäre. Aber nicht bloß als Übergangsstadium, sondern als dauernde Zuflucht schwebte ihr, wenn auch unter Seufzen und Tränen, eine Nonnenzukunft für ihre Lori vor. Sie war, nach mütterlichem Maßstabe bemessen, nicht schön, würde es niemals werden; sie war blutarm, auf eine standesmäßige Verheiratung nicht zu zählen. So grausam die Vorstellung in das Herz schnitt, besser, anständiger mindestens, für eine geborene von Leiseritz verborgen hinter Klostermauern ihre Tage zu beschließen, statt wie so manche ihresgleichen als alterndes Fräulein von einem dürftigen Gnadenpfennig eine kleinstädtische Dachstubenexistenz zu führen, mit Laternchen und Hausschlüssel im Strickbeutel am Morgen auszurücken und als willkommene oder auch unwillkommene Klatschbase in adligen Familien ihren regelmäßigen Mittags- und Abendtisch zu suchen. Arme kleine Lori! So elendiglich stand deine Zukunft selbst den Augen der Mutter vorgezeichnet. Gott sei Dank, daß sie dem Kinde wenigstens ein paar letzte, freie Jahre gegönnt und sie ungehindert ihre »Sauvage« hatte werden lassen!

Denn wenn, wie es heißt, das nämliche, das zwei Menschen tun, nicht das gleiche ist, so wirkt das nämliche, das zwei Menschen dulden, nicht selten einen Gegensatz. Die Not, welche über die Witwe einen zerstörenden Bann verhängte, gewährte der Waise die Freiheit, in welcher ihre Natur sich bis zu deren Grenzen entwickelte. Unter der Dressur, sei es des Klosters, sei es des Weltlebens, würde diese holde Kindlichkeit verkümmert oder zur Albernheit ausgeartet sein.

Lori hegte von der sichtbaren Welt außerhalb ihrer Heide nur eine schwache Vorstellung, und die unsichtbare Welt der Offenbarung war in ihr ungeweckt; von einer Kirche hatte sie nur ein flüchtiges Kinderbild bewahrt, in welchem Weihwedel, weiße Schleier und Lilienstengel die haftendsten Eindrücke bildeten. Den Stegreifslehrer aber mutete es an, eine Schülerin zu erhalten, auch in der heiligsten Heimlichkeit noch als unbeschriebenes Blatt, auf das er seine Runen zeichnen durfte. Das Gemüt eines halbfertigen Weltkindes aus- oder gar umzubilden, würde ihm widerstanden haben und mißlungen sein; dem unberührten Waldkinde durfte er ein Priester werden, und er ist es ihm so lange geworden, bis das Kind ihm zum angebeteten Leitstern ward. Auch die einförmige Heide hat in Licht und Sturm Momente, in welchen der Mensch einem allmächtigen Schöpfer sich näher spürt als sonst. In dem Schöpfer den Vater lieben zu lehren, in dem Menschenreiche ein Bruderreich, darauf beschränkte sich, sonder Katechismusformel, lediglich nach der knappen Satzung des göttlichen Menschensohnes sein Priesteramt, und den Segen dieses Amtes hat er zurückempfangen reicher, als er ihn gespendet. In der Lehre eines unschuldigen Kindes ist der römische Bürger, soweit seine Kalmäusersucht es zuließ, ein Christ geworden; denn die Grundbedürfnisse, deren Stillung die Menschenseele nicht entraten kann, sind eingeschränkter Art, und die unsichtbare Natur entwickelt sich wie die sichtbare aus kaum bemerkbaren Keimen.

So geteilt zwischen Bibel, Fibel samt Orbis pictus und freier Bewegung, zu Fuß und Roß, mit Botanisiertrommel und Schmetterlingsschere, verlief voller Lust die sonst so trübselige Sommerzeit der Heide. Der Tag wurde kürzer, der Unterricht in die frühen Morgen- und Abendstunden noch bei Lampenlicht verlegt. Während ich meine Rechnungen und Eingaben ausarbeitete, leistete die Kleine mir gegenüber ihre Pensa mit wachsendem Eifer und, weil bemessen unter der Kraft ihrer Jahre, mit gründlichem Erfolge.

Der Prinz war aus dienstlichen wie vergnüglichen Gründen schon manches Jahr in seinem Dominium nicht eingekehrt und kehrte auch heuer nicht darin ein. Statt des versagten mündlichen Referats machte ich mich daher schriftlich an ein Memorandum, zum Zweck der Aufbesserung und allmählichen Hebung der verwahrlosten forstlichen wie sittlichen Zustände in meinem Revier. Ich tat es mit Genauigkeit und mit Wärme, denn es handelte sich mir nicht bloß um eine Kopfes-, sondern um eine Herzenssache.

Das Holz besaß, der Schwierigkeit, nein, schlechthin der Unmöglichkeit des Transports durch die unwegsamen Sandwellen halber, so gut wie keinen Wert. Hatten Alter, Sturm oder Blitzschlag einen Stamm gefällt, verwitterte er am Boden; haufenweis sperrten die Baumleichen jeglichen Pfad, nur das Reisig wurde von Weibern und Kindern gesammelt und an dem Außenrande hier und dort von Köhlern ein Meiler angezündet. Ich entwarf nun Plan und Kostenanschlag für einen bestmöglich chaussierten Kreuzweg zum Anschluß an die der Heide benachbarten Ortschaften und von ihnen aus an die größeren Landstraßen. Die für diese Anlage zu fällenden Bäume wurden den frönenden wie freien Bauern, neben einem bescheidenen Tagelohn, unentgeltlich überlassen, von ihrem mageren Hornvieh auf die eigne Feldflur geschleift, zu dem ausschließlichen Zwecke, mit ihnen die zumeist vom Wild bedrohten Hufen zu umzäunen, bis es im Verlaufe gelungen sein werde, die Heide teilweise zu roden, den Boden zu meliorieren und bei eingeschränktem Wildstand den Komplex schützend zu umwallen. Das gab den Ärmlingen der Gegend Anregung, Arbeit, Winterlohn, wenn auch nur kärglichen, und als Haupthebel: die Hoffnung auf gedeihlichere Zeiten.

Zum ersten Male in meinem Bureaudienst hatte ich die Feder unumwunden als Gracchus geführt, und daß umgehend, brevi manu, mein Plan gebilligt, eine ansehnliche Summe als erste Rate zu seiner Ausführung angewiesen, aus freiem Antriebe sogar der Befehl gegeben wurde, zunächst wenigstens den Bestand des am verwüstendsten hausenden Schwarzwildes bis auf ein Minimum einzuschränken, trug zum Behagen meiner Gegenwart wesentlich bei; erweckte auch zum ersten Male eine ehrerbietigere Meinung von unserem fürstlichen Gebieter, wennschon dessen Opfer dem ungenügsamen Kalmäuser als ein ziemlich wohlfeiles erschien. Des Prinzen Sold als Generalissimus überstieg seine fürstliche Apanage, er war ein reicher Herr, die Anlage verhieß zukünftigen Ertrag, und dem Pläsier der Sauhetzen ließ sich in fremden Revieren zur Genüge frönen. Aber ich hatte meinen Kopf durchgesetzt, es gab rüstige Anordnung, Aufsicht, Schaffensfreude, erquickende Bewegung, in den Morgenstunden allein, nach Tisch in Begleitung meines lieblichen kleinen Anhängsels. Ich fühlte mich zum ersten Male als einen glücklichen Mann.

So kam der Winter, die Glorienzeit der Heide. Ein dichter, weißer Teppich breitet sich über die graubraune Bodenschicht, funkelnde Kristalle zittern an jeder Nadel der grünen Wipfel, die sich unter ihrer Schneelast zu Lauben neigen; schlankes, zierliches Wild dringt, Leben verbreitend und Leben verendend, bis an die Umhegung von Haus und Hof, Büchsengeknall und Schlittengeklingel hallen durch den Forst. Auch ich hatte mir solch ein leichtes Wintergefährt zugelegt, um meiner kleinen Kameradin willen schmucker, als ich es für mich allein gewählt haben würde. Es glich einem Schwan mit schlankem Hals. Eine warme Bärendecke hüllte uns ein; mein munterer Rappe trug ein wohlgestimmtes Geläut.

In dieser zierlichen Muschel fuhren wir nun selbander die Heide kreuz und quer, besichtigten Wegschaufler, Holzfäller und Kohlenbrenner, kehrten auch wohl dann und wann zu einem Einkauf in der Stadt oder zu einem erwärmenden Trunk in einer dörflichen Schenke ein und kamen erst bei Sternenschein zurück in unser Schlößchen, das in seiner bunten Färbung, unter einem silberflimmernden, weißen Schleier einem Zauberpalaste glich und in dem nun meine kleine Fee mit hochroten Wangen und leuchtenden Augen von der offenbarten Weltherrlichkeit berichtete.

Die Kinderlust aber steckte an und scheuchte für ein paar Abendstunden das Konsortium Ennui und Melancholie. Nach dem gemeinsamen Souper, das heißt einer sämigen deutschen Suppe, saßen wir noch dreiselig beieinander, und lange verschlossene Ohren und Lippen taten sich auf. An Berührungspunkten fehlte es nicht. Ich kannte, wenigstens Namen und Ansehen nach, die Mehrzahl der Kavaliere und Damen, zwischen denen die Jugend der Witwe so heiter verflogen war, hatte von ihren galanten Abenteuern berichten, ihre Hühner und Gänse aufzählen hören. Meines Vaters weitkultivierteste Wissenschaft war die Genealogie fürstlicher und adliger Geschlechter gewesen, und wessen der Kopf voll ist, davon geht der Mund über. So hatte ich manchen Stammbaum sich ausbreiten sehen, der jetzt in der winterlichen Heide den Schatten von Erinnerungen und vielleicht Hoffnungen über eine schmachtende Seele breitete. Die Dame lehnte hingegossen auf ihrer Causeuse, wiegte zustimmend oder aufklärend das schöne Haupt und lispelte die Gegenrede in den vertrauten Lauten einer feineren Mundart als der, in welcher der neue Hausgenosse begrüßt worden war; die Tochter saß ihr gegenüber auf einem Schemelchen an meiner Seite, ihre Hand in der meinen, das Köpschen an meine Knie geschmiegt; sie hatte sich tagsüber müde studiert und geschaut, die Plauderei über allerlei unkindliche Gegenstände, die, Gott sei Dank, ihre Neugier nicht reizten, machte sie noch müder. Die lieben, hellen Augen fielen zu, ich schlang meinen Arm um ihren Hals, zog sie auf meinen Schoß, und so an meiner Brust schlummerte sie, bis die gesetzte Stunde des Aufbruchs schlug und ich das Kind, ohne es zu erwecken, in das Schlafzimmer trug. Auf dessen Schwelle küßte ich der gnädigen Mama zur guten Nacht die Hand, verfügte mich in mein Kompartiment, und über Redouten und Schäferspielen, galanten Baronen und gefeierten Komtessen nicht weniger als meine kleine Freundin müde geworden, schlief ich den Schlaf des Gerechten bis zum Hahnenschrei.

Aber auch auf die nervenschwache Dame hatte der Erinnerungsaustausch am lodernden Kamin eine narkotische Wirkung geübt. Die nächtlichen Wandelgänge unterblieben, sie legte sich geziementlich zur Ruh und gestand mir eines Tages, daß sie allmählich wieder schlafen lerne, wie sie allmählich wieder mit einigem Appetit essen gelernt. Eines anderen Tages gewahrte ich, daß sie ihr Trauergewand mit einem farbigen aus heiteren Tagen vertauscht, bald danach, daß sie Puder in ihr Haar gestreut habe. Als ich mir jedoch die Bemerkung erlaubte, wie schade es sei, die seltene Schöne eines solchen Rabenschwarz zu verhüllen, entgegnete sie: »Jedenfalls eine Torheit; auch ist meine Puderbüchse leer«, und trug fortan keinen Puder mehr, nur einen künstlicheren Lockenbau als bisher. Die Gegenwart eines Menschen, der ihrem Gesellschaftskreise nahe gestanden, der Eindruck auf einen Mann, wenn auch nur einen bürgerlichen Mann, hatte die Witwe wieder zu einem Weibe gemacht.

Meinem Drängen nachgebend, wagte sie sich denn auch endlich wieder an die Luft und spazierte regelmäßig in der Mittagsstunde an meinem Arme ein paarmal die Gänge unseres Lustgartens, auf denen Ehren-Adam säuberlich Bahn gekehrt hatte, hin und wider. An einem fernerweiligen Tage – bei zwölf Grad unter Null! – überraschte die frileuse Dame mich sogar mit dem Geständnisse, daß Schlittenfahren eine ihrer Jugendpassionen gewesen sei und daß sie ein lebhaftes Verlangen empfinde, den altheimischen Reiz noch einmal auf sich wirken zu lassen.

Noch am nämlichen Tage, und fortan jeden folgenden, machten wir demnach eine Tour durch die Heide; Dame und Dämchen in der Muschel mit dem Schwanenhals, der galante Forstmeister als Lenker hinter ihnen auf der Pritsche; die rasch gleitende Bewegung, das goldene Mittagslicht, der frische Odem der Heide in ihrem reinen Winterkleide, frohe Heimatsbilder ähnelnder Natur färbten die bleichen Wangen der Witwe mit einem Blütenhauche; die müden Augen hoben sich in meerblauem Glanze; sie schien um zehn Jahre verjüngt: »Fürwahr ein schönes, ein königliches Weib!« dachte ich bewundernd, ja entzückt nach jeder Heimkehr von unserer Fahrt. »Eines von denen, das man außer seinem Hause sehen muß, um ihm gerecht zu werden.«

Gegen die Weihnachtszeit war der neue Heideweg bis zur Stadtflur so weit abgeholzt, daß die angrenzenden Gutsbesitzer ihn bequem zu einem Rendezvous im städtischen »Weißen Hirsch«, dem einzigen reputierlichen Gasthofe der Gegend und zugleich Posthalterei, benutzen konnten. Ausnahmslos Edelleute. Nur der Forstmeister Klösterley war auch ohne die beiden schwerwiegenden Wörtchen »von« und »Ober« eine Standesperson, welcher die ritterlichen Jagdschmarotzer die Erlaubnis, in seinem Revier zu pirschen und Sauen ad libitum niederzuschießen, regelmäßig mit einer Einladung zu ihren Festivitäten belohnten. Machte er nun auch von solcher Gunst, deren persönlichen Wert er zu taxieren verstand, nur selten Gebrauch: eines schönen Nachmittags legte er seine goldgestickte, grüne Staatsuniform an, schnallte den Hirschfänger um den Leib und setzte den federbordierten Dreispitz über den Haarbeutel mit breiter, schwarzer Schleife, um seiner edlen Hausgenossin würdiglich als Kavalier zu dienen. Es galt, vor dem Abschluß der Jagdzeit und dem Beginne des Karnevals in der Residenz, ein Abschiedsfest im »Hirsch«, zu dem man das Heideschlößchen als Rendezvous erwählt hatte.

Unmittelbar hinter dem Musikschlitten, das heißt einen auf Kufen gesetzten, mit Tannenreis bekleideten Leiterwagen, der alles, was in der Pflege irgendwie zu blasen und zu fiedeln sich vermaß, beherbergte, eröffnete er, der Forstmeister nämlich, den Zug auf der Pritsche seines Schwans. Vor ihm saß neben dem Töchterchen – das schicklicherweise zu Hause gelassen worden wäre, wenn sein väterlicher Priester, Lehrer und Freund es über das Herz gebracht hätte, ihm ein lustiges Schauspiel zu versagen, – saß die schöne Witwe in granatrotem Sammetrocke mit Zobel verbrämt, ein polnisches Pelzmützchen über dem hochgelockten, heute mit Goldstaub gepuderten Toupet; leidlich erhaltene Rudera einer unvergeßlich glorreichen Zeit! Daß es aber der nobelen Equipage an einem geziemenden Geleit nicht fehle, trabte auf dem alten Förstergaule Ehren-Adam – Pferdeknecht, Wichsier, Büchsenspanner, Tafeldecker, Kammerdiener in seiner Person vereinigend – heute als Vorreiter dem Schwane voran, um bei der nächtlichen Rückfahrt mit einer Pechfackel heimzuleuchten. Schellenklingende Rosse, Schlittchen mit kostbaren Pelzdecken, aber auch manches ehrbare Familiengehäus aus Korb geflochten, folgten nach; junge, schmucke Reiteroffiziere aus den nächstliegenden Garnisonstädten sprengten zur Seite. Ein stattlicher Zug!

Im »Hirsch« wurde in Kaffee und Punsch geschwelgt, die Cour geschnitten, bei dem Souper nach Leibeskräften gezecht, darauf für das Alter »ein Tempelchen«, für die Jugend – und meine Dame zählte reichlich zu der letzteren, – ein Tänzchen arrangiert. Mit einem Hoch auf die nächste Jagdsaison wurde der heurigen spät in der Nacht Valet gesagt.

Die Baronin hatte glänzendere Feste gefeiert, aber doch endlich wieder einmal ein Fest, das erste Vergnügen seit Jahren! Sie war in stolzeren Kreisen heimisch gewesen, immerhin aber doch wieder einmal unter ihresgleichen. Aus einer so gut wie vergessenen war sie eine neue Erscheinung geworden, als Schönste der Schönen gefeiert, wie eine junge Blüte von Faltern umschwärmt! So wie ihr mag es dem Gefangenen zumute sein, der nach dunkler Kerkerhaft zum ersten Male wieder die Sonne aufgehen sieht.

Und als lange nach Mitternacht die Gesellschaft sich in alle Richtungen zerstreut hatte, glich bei unserer einsamen Heimfahrt die unwirtliche Heide einem Märchengarten. Der Schein der vorleuchtenden Fackel brach sich in Millionen Diamanten einen Augenblick; im nächsten glitt ein schwärzlicher Schatten über den weißen Teppich, und über dem glitzernden Behang der Wipfel breitete sich der Baldachin der Nacht mit ihrem Goldgefunkel, und wiederum züngelte es oben und unten wie buntes Geschmeide, um im sausenden Fluge wie ein Blitz zu erlöschen. Hirsche und Rehe flüchteten aufgescheucht über die Bahn; Raben und Dohlen flatterten krächzend von den schneebeladenen Zweigen in die Höh; aus einem Dickicht flimmerten die Lichter heimlich grausamen Waldgefindels.

Der alternde Melancholikus hatte nicht häufig eine Künstlerader in sich gespürt; heute aber, in dem schemenhaften Weben von Licht und Nacht, von sprühendem Leben über der Todesstarre, das Haupt des schönsten Weibes dicht an seiner Brust, da prickelte ein phantastischer Kitzel durch seine Poren; jeglicher Nerv, jegliche Fiber wirbelten eine Woge vom Herzen zum Hirn und vom Hirn zum Herzen zurück. Ein sanft berauschendes Arom, wie das des Jasmin, entquillt den üppigen Haarwellen, über welche sein Kopf sich neigt, das Antlitz einer Helena wendet sich ihm zu; der Laut versagt den lächelnden Lippen, aber unter den weit geöffneten Lidern sprühen elektrische Funken, und ein heißer Odem haucht sichtbar einen Duft in die Winternacht und in ein lange winterliches Herz. Es ahnt, nein, es spürt das Schlagen auch eines zweiten Pulses, ein heimliches Fieber auch in einer anderen Brust. Bei Gott! ein herrliches, ein begehrenswertes Weib!

»Und warum nicht dein Weib?« schoß es wie ein Funke durch mein Hirn. »Ist es in den Sternen geschrieben, daß du als klausnerischer Splitterrichter dein Leben beschließen sollst? Es steht in deiner Macht, dieses Weib wiederum auf den Platz zu stellen, der ihm gebührt, es in das Element zurückzuversetzen, für das es geboren ist, Not und Sorge, die sein Herzblut aussaugen, zu bannen. Ermanne dich, ringe, wirb um sie; liebe sie; laß dich lieben, werde ihr Gatte, ihres Kindes – –«. Ein jacher Ruck, bevor ich den letzten Satz ausgedacht. Das Pferd stockte vor der Rampe. Ich hatte nicht gemerkt, daß wir dem Ziele so nahe waren. Die Fackel verlöschte, während der Vorreiter abstieg; es währte ein paar Minuten, bis er das Portal geöffnet hatte. Tiefstille Nacht ringsumher.

Ich hatte die Dame aus dem Schlitten gehoben und hielt ihre Hand in der meinen. Zitterte sie, oder zitterte nur ich? Fühlte ich einen leisen Druck, oder gab ich ihn?

»Dank! Dank!« flüsterte sie.

Der erste warme Dank für die erste warme Freude, die ich ihr bereitet!

»Du sollst mir mehr als diese erste Freude danken lernen, Lorenza,« stammelte ich; vielleicht dachte ich es auch nur. Gehört mindestens hat sie mein Versprechen nicht, denn rasch hatte sie ihre Hand aus der meinen gelöst und war im Dunkel des Vestibüls verschwunden.

Ich wendete mich nach dem Schlitten zurück, um Lori der Mutter nachzutragen. Schlafend hatte ich sie vor der Abfahrt hineingehoben, schlafend hob ich sie wieder heraus.

»Väterchen!« lallte sie, halb im Traum, von meinen Armen umschlungen.

Väterchen! Unzählige Male hatte ich den zärtlichen Namen von ihren Lippen gehört. Heute durchzuckte er mein Eingeweide wie ein Stich. Unwillkürlich ergänzte ich den Satz, in welchem das Halt mich vor ein paar Minuten unterbrochen hatte: »ihres Kindes Vater!« Und jach hämmerte es aus tausend Pulsen: »Nimmer, nimmermehr!«

Hastig ließ ich das Kind aus meinen Armen; um ein Haar wäre es zu Boden gefallen. Ich stieß es in die Tür, welche die Mutter offen gelassen, – »offen auch für mich?« – Mich schauderte! Ich schlug die Tür in die Angel und stürzte in mein Zimmer; ja, ich stürzte, als würde ich verfolgt.

Was hatte ich denn? Woher dieser Aufruhr? Ich war kein Jüngling, kein Brausekopf; ein nüchterner, alternder Mann, Christian Klösterley, der Kalmäuser! War ich denn wahnwitzig geworden?

Die warme Stubenluft erstickte mich; ich riß das Fenster auf und starrte hinaus in das matte Licht der Nacht, das wir Dunkel, horchte auf das leise Geräusch der Nacht, das wir Stille nennen. Aber ich sah nur ein helles Kinderhaupt vor meinen Augen schweben, hörte nur ein süßes Kinderlispeln an meinem Ohr.

Ich legte mich nicht. Den Rest der langen Winternacht schritt ich in meinem Zimmer auf und ab. Bevor es draußen Tag ward, mußte es drinnen Tag werden.

Und es ward Tag. Ja, es war schon Tag geworden, als das Kind den altvertrauten Namen lallte, und das grelle Licht hatte mich nur geblendet. Nein, nein, ich konnte des schönen Weibes Gatte nicht werden, weil ich nicht seines Kindes Vater werden konnte. Ich liebte nicht die Mutter, ich liebte – die Tochter.

Sie war ein Kind, und ich liebte sie als ein Kind; kein Reiz des Weibes umspann mich in ihrer unschuldsvollen Nähe. Ich wußte, daß sie niemals mein eigen werden durfte, des weltmüden Mannes, der längst ihr Vater sein und allezeit nur ihr Beschützer bleiben konnte. Aber dennoch, dennoch, ich wußte es seit dieser Nacht, – ich liebte sie nicht bloß als das Kind, das sie war, ich liebte sie auch als das Weib, das in ihr schlummerte, das Weib, das ich geträumet, das ich ewig lieben würde, ewig, Lori, ewig! aber niemals besitzen.

III

Der Unterricht fiel am Morgen fort. Tochter wie Mutter schliefen die gestrige Lustbarkeit aus. Mich bangte zu erfahren, welchen Eindruck sie der ersteren gemacht, und ich will zum voraus sagen, daß derselbe, gottlob! bei weitem hinter dem gewaltigen zurückblieb, den sie empfangen hatte, als ich sie verwichenen Herbst zum städtischen Jahrmarkt kutschierte, sie zwischen den armseligen Budenreihen umherführte, ihr einen Rosinenmann kaufte, sie die wundersame Bekanntschaft eines Kamels samt aufhockendem Äfschen machen und als non plus ultra ein Viertelstündchen Karussell fahren ließ. Gesunde Naturen schmecken nur die Freuden, die sie verstehen; die Phantasien der Eitelkeit lagen meiner kleinen Lori fern.

Mit der Weisung, mich zu Mittag nicht zu erwarten, ritt ich am Morgen in die Heide, verbrachte auch den Abend bei einer Schachpartie mit Freund Weise, dem braven alten Stadtphysikus, im »Hirsch« und kehrte erst mitten in der Nacht in mein Haus zurück. Ich fürchtete, nein, ich schämte, ich grauste mich fast vor dem Wiedersehen des schönen Weibes, Loris Mutter. Bei dem Umfange meines Reviers und der mancherlei Aufgaben in demselben hätte ich unauffällig es viele Tage wie den ersten treiben können. Aber das Verlangen nach meinem Liebling ließ mir keine Ruhe, und so hielt ich schon am nächsten Morgen die gewohnte Stunde mit ihm ab, kehrte zu Tisch zwar nicht heim, am Abend jedoch klopfte ich mit Zittern und Zagen an der Witwe Tür.

O, des geckischen, alten Kalmäusers, daß er das Zittern und Zagen sich doch erspart hätte! Die schöne Frau, deren entzündete Hoffnungen er niederzuschlagen sich ängstete, war wiederum die große Dame geworden, ihr Kavalier wiederum der gleichgültige Gesellschafter, den man sich faute de mieux gefallen läßt; die warme Wallung, angefacht von langentbehrter Lust, wie ein Champagnerrausch verflogen. Der schönen Lorenza Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: sie war keine Kokette im gemeinen Sinne. Sie schmachtete nach Zerstreuung und Glanz, wie jede Kreatur nach ihrem Element, nicht nach Hingebung und Anschluß; ebenso fern jedoch lag ihr der Kitzel, anzuziehen, nur um abstoßen zu können. Sie sprach die Wahrheit, wenn sie sagte, daß ihr Mann der einzige gewesen, den sie geliebt und zu lieben verlangt. In heiterer Lage würde sie aber auch seinen Verlust bald verschmerzt haben und ohne Liebe mit dem Leben fertig geworden sein. Ihre Losung war das Vergnügen, und das Vergnügen ist ein Strohfeuer, dem allezeit nachgeschüttet werden muß.

Von außen her lösten die goldenen Tage der Heide plötzlich nun aber Sturm und Gestöber und diese hinwieder ungewöhnlich frühes Tauwetter ab. Kein lockendes Gebimmel, kein Peitschenknall und Rosseswiehern, kein Büchsenschuß unterbrach die Monotonie; nicht einer der neulichen Festgenossen ließ sich wieder sehen. Die wenigen, welche beneidet wurden, waren zum Karneval nach Dresden aufgebrochen, der unbeneideten Mehrzahl wurde das Geschäft zum Zeitvertreib. Die ritterlichen Damen spannen und machten Butter und Käse, die ritterlichen Herren saßen ihren frönenden, will sagen faulen Dreschern auf dem Dache, spazierten zwischen Kuh- und Pferdestall hin und her und machten mit Verwalter und Pastor ihr abendliches L'hombre oder Pikett. Die gefeierte Schöne war wieder zur armen Witwe geworden, die keine Gastfreundschaft gewähren konnte und zu stolz war, Gastfreundschaft als Gnadenbrot anzunehmen.

Zur armen Witwe aber auch in ihren eigenen Augen, und mehr denn je nach dem heiteren Intermezzo. An das materielle Besserleben hatte sie sich gewöhnt, der schwache Reiz, welchen der Zutritt eines Fremden in ihre Einöde geübt, war durch den mächtigen jenes Abends wie mit dem Schwamme ausgelöscht. Um einen unfeinen Jägerausdruck auf sie anzuwenden: sie hatte Blut geleckt, und die Lippen lechzten nun in brennendem Durste, für den es keine Stillung gab.

Während ich mit der gegen Wind und Wetter abgehärteten Tochter den Wechsel zwischen freier Bewegung und Schulstube unverändert wieder aufnahm, saß die Mutter allein wie vor einem Jahr, seufzte und hätschelte ihr ennui um so beflissener, da die unliebsamen Klöppel und Nadeln jetzt ebenfalls ruhen durften, demnach jeder notgedrungene Zeitvertreib aufgehört hatte. Ich brachte ihr zur Unterhaltung Bücher. Freilich waren es nur deutsche, die sich auftreiben ließen. Aber die schöne Lorenza wollte leben, nicht lesen. Sogar »Die schwedische Gräfin« wurde als barbarisches Produkt aus der Hand gelegt, und – deine Fabeln in Ehren, Freund Gellert! – ich konnte unserer sächsischen Landsmännin diesen Ungeschmack nicht übelnehmen. Sie ging nicht mehr in das Freie, öffnete kaum noch das Fenster; die erregende Luft des Vorfrühlings tat ihren Nerven, wie sie sagte, weh. Sie erklärte sich schlechthin für krank, und ihr Äußeres strafte sie nicht Lügen. Sie magerte ab, das verschlissene Trauerkleid, das sie wieder trug, schlotterte um ihren Leib, sie erschien um zehn Jahre älter, als sie war, um zwanzig Jahre als an dem winterlichen Freudentage. Die gute Michelin, des Försters Frau, nannte den Zustand »Märzenlaune«, wartete mit selbstgebrauten, an Menschheit wie liebem Vieh erprobten Tränken auf, die, um endloses Nötigen zu ersparen, verstohlenerweise weggeschüttet wurden, und wendete darauf – selbstverständlich bei abnehmendem Mondgesicht – weniger sinnliche und darum mindestens nicht übelschmeckende Mittel an, die man sich stillschweigend gefallen ließ. Als aber auch der geheimnisvolle Zauberer in der Höh bei zunehmendem Gesicht keine Remedur eintreten ließ, ward ich von der achselzuckenden Naturdoktorin schlechthin auf eine Verzehrung vorbereitet, gegen welche »nach Gottes unerforschlichem Ratschlusse« im Himmel und auf Erden kein Kraut gewachsen sei.

Ich lachte dazu. Die Verzehrung hieß Langeweile, die für wirkliche Kranke eine stärkende Arznei, für eingebildete aber freilich ein nagender Wurm ist. In meiner höfischen Faulenzerschule hatte ich der hypochondrischen Kavaliere und spasmodischen Damen genugsam kennen lernen, um mit gegenwärtigem Exemplar besonderes Mitleid zu verspüren. Mich dauerte nur die Tochter, darum redete ich ermunternd zu; als ich jedoch, statt zu beschwichtigen, nur empfindlich reizte, empfahl ich ärztlichen Rat.

Und nun freilich, wenn ich einen gelehrten Universitätsprofessor oder noch lieber einen feinen höfischen Leibmedikus, allenfalls auch einen Wunderdoktor à la Eisenbart hätte herbeirufen können oder wollen, würde man sich eine Konsultation wohl haben gefallen lassen. Aber den alten Weise, den Bauerndoktor, in dem man, als Lori vor Jahren am Scharlachfieber krank lag, einen Tölpel und Grobian erster Größe hatte kennen lernen! »Der soll mir helfen?« fragte die Dame mit spöttischem Lächeln, und als ich meinen braven Freund, der, wenn auch nicht an feinen Manieren, so doch an wissenschaftlichem Ernst und Geschick es mit jeglichem Leibmedikus aufnahm, nach Pflicht und Überzeugung wacker herausstrich, rief sie mit Leidenschaft:

»Mir hilft keiner, ich weiß es. Alle meine Geschwister sind in dieser Art jung dahingesiecht. Und wozu auch leben? Was habe ich vom Leben, was nützt mir dieses Leben? Was kann es mir bringen? Gottlob, daß das Elend bald ein Ende hat.«

»Lori!« murmelte ich mit unterdrücktem Zorn. Die Dame brach in einen Weinkrampf aus. »Lori, Lori!« schluchzte sie und rang die Hände. »Lori! Ach, mein armes, armes verlassenes Kind!«

Es war am Spätabend, Lori bereits zu Bett und daher nicht Zeugin dieser Jammerszene. Dieselbe wiederholte sich indessen auch in der Kleinen Gegenwart. Sie war aber seit Jahren an derlei Ausbrüche gewöhnt, und die Gewöhnung stumpfte den Eindruck ab. Koseworte und Zärtlichkeiten verschlimmerten den Anfall; die Mutter winkte nach der Tür, Mignonne huschte ins Freie und vergaß im Spiel mit ihrem Miezchen und später mit ihrem Väterchen die mütterlichen Tränen und Abneigungen nach Kinderart.

Ich aber tat desgleichen nach Männerart. Ich verstopfte mein Ohr und hielt meinen Mund. Gewiß mit Unrecht. Nervosität ist eine Krankheit; aber sie verstimmt nun einmal den Zeugen, macht unduldsam und ungeduldiger als jede schwerere, welche eine reelle Hilfsleistung heischt, nicht bloß Stillhalten, wenn man vor Ärger aus der Haut fahren möchte. So viel aber darf ich beteuern: wäre das Kind nicht gewesen, ich hätte in diesen Frühlingswochen kurzen Prozeß gemacht, hätte Forstmeister Forstmeister sein lassen und wäre bei Nacht und Nebel aus der nervenschwächenden Heide in den nervenstärkenden Urwald geflüchtet.

Allein meine liebe, arme Lori machte das Haus, in welchem für sie mehr als für mich die Trübsal regierte und rettungsloser als für mich noch schwerere Trübsal lauerte, mir zu einem Heimatshaus und die unwirtliche Heide selbst in der Sommerzeit, der wir wieder entgegengingen, zu einem Paradiesgärtlein.

Im Lesen und Schreiben war meine Schülerin leidlich perfekt geworden, und was brauchte sie viel mehr? So betrieben wir denn Künste und Wissenschaften fortan wesentlich praktisch unter freiem Himmel, da der des Hauses so bleiern drückte. Auf Gängen und Ritten sammelten wir die karge Flora der Heide und nannten es botanisieren; wir spielten »Gärtners«, indem wir zwischen den verstümmelten Stein- und Baumfaxen Beetchen anlegten und sie statt der Kartoffelpracht eigenhändig mit Blumen bepflanzten, die ich meilenweit kommen ließ. Bis zu einem Bienenhaus, zu einer umgitterten Vogelhecke verstiegen wir uns und erlebten die Wonne, daß, von unseren Brosamen gelockt, kleine Waldsänger sich auch freiwillig in der Schlehenhecke unseres Lustgartens und zwischen seinen Buchs- und Taxusfiguren ansiedelten und um so sorgloser zwitscherten, da sie keinen natürlichen Feind mehr zu fürchten hatten.

Denn das gehätschelte Miezchen war dahin! Wohin? Ja, wer weiß. Der großmütige Nero hatte sicherlich nicht schuld an dem Verlust. Ein paar Tage lang wurde nach dem Liebling in allen Winkeln gelockt und gesucht und dann manches Tränchen um den verlorenen geweint. Nach weiteren paar Tagen aber gaben ein paar Turteltauben tröstlichen Ersatz, und nach Ablauf der Woche war das Miezchen vergessen. Günstlingslos! Aus einem besonderen Grunde, welchen der Schluß meiner Geschichte erklären wird, will ich hinzufügen, daß aus Schonung für die lustigen Zeisige und Drosseln, Rotkehlchen, Goldammern, und wie die geflügelten Ansiedler in unserem Lustgarten alle hießen, zur Vertilgung des Mäusegeschlechts niemals wieder ein kletternder Hausfreund, sondern ein watschelndes Kuriosum im Heideschlößchen eingeführt, und daß sotaner Stacheligel für unsere zoologischen Studien ein interessanterer Gegenstand als Miez und Murr geworden ist.

Wäre mein Zweck die Schilderung meiner Freuden und nicht die Beichte einer Schuld, wie viele dieser Blätter möchte ich füllen mit solcher Kleinmalerei. Von was redet, an was denkt der Mann in grauen Tagen denn so gern als an die grünen seiner Kinderzeit? In diesen Sommerwochen aber wurde es jährig, daß Christian Klösterley, in dessen Haar sich weiße Fäden mischten, beim Anblick eines Kindes nicht wiederum, sondern zum ersten Male sich ein Kind gefühlt hatte. O Lori, Lori, du Jungbrunnen für die denkmüde Kalmäuserseele!

Und was wüßte ich neben derlei Getändel denn auch Ernsthaftes aus dieser Zeit zu verzeichnen, als daß es mir jetzt allemal einen Stich gab, wenn Lori mich Väterchen nannte, und daß ich stoisch beflissen war, ihre kindlichen Zärtlichkeiten abzuwehren. Ich duldete nicht mehr, daß sie sich auf meinen Schoß setzte, ihre Arme um meinen Nacken schlang, mich streichelte und küßte. Fühlte ich dabei heimlich auch eine Götterlust, ich hatte nicht umsonst ein Menschenalter hindurch mich als Philosoph gebrüstet. Ohne einen gewissen Zwiespalt geht es in den reinsten Herzensverhältnissen nicht ab.

»Du mußt nun gesetzt werden, Lori,« mahnte ich, den Lachreiz unterdrückend, wenn ich sie mit Nero und Konsorten tollen sah oder sie mich zum Haschemann machen wollte. »Du bist kein Kind mehr; bedenke doch, am ersten Mai schon vierzehn Jahr!«

»Aber doch noch so klein, Väterchen,« schmollte sie.

»Gleichviel! Und wenn du auch nicht größer wächsest, du wirst für ein erwachsenes Fräulein genommen und mußt dich wie ein solches benehmen lernen.«

»Wer nimmt mich für ein Fräulein?« fragte sie lustig. »Mama? ach, der bin ich doch immer nur ihr Sauvage. Der Herr Förster, die Frau Försterin, dein alter Adam? Wer sieht mich denn sonst außer du? Gefalle ich dir nicht mehr so, wie ich bin, Väterchen?«

»Ei nun – mir gefällst du wohl, indessen – du solltest mich auch nicht mehr Väterchen nennen, Lori. So gern ich es dir sein möchte, – es schickt sich nicht.«

»Aber wie denn sonst? Herr Schulmeister? Herr Forstmeister? Monsieur Klösterley – und Sie? ach, wie klänge denn das, Väterchen?«

In Wahrheit, es hätte lächerlich geklungen, und so blieb es bei dem Väterchen und dem Kind.

Wie nervöse Leiden gewöhnlich beim Wechsel der Jahreszeiten sich verschlimmern, so besserte sich der Zustand der Baronin im ständigen Sommer; das heißt der körperliche Zustand, nicht der gemütliche. Sie saß stundenweis in einer Laube, die wir fleißigen Gärtner neben der Rampe für sie angelegt und, bis das Geißblatt heranwuchs, mit rasch rankenden Kürbissen und Winden beschattet hatten. Linde Lüfte und Sonnenschein taten ihr wohl, aber sie gähnte beim Ausblick, und freilich übelzunehmen war ihr das Gähnen so wenig wie der Ungeschmack an der »Schwedischen Gräfin«. Die Frau Försterin mußte zugeben, daß sie sich in ihrer Prognose geirrt. Aber Gottes Ratschluß war ja eben unerforschlich und – noch nicht aller Tage Abend.

War der Reiz zum Leben bei unserer Patientin bisher nur zögernd und einseitig vorgeschritten, so wirkte eine Neuigkeit, die uns gegen den Herbst hin überraschte, nun aber erregend wie ein Zauber auf Seele und Leib. Und zwar eine dem Wesen nach recht weheleidige Kunde, eine Trauerbotschaft, die viele treue Herzen zu Seufzen und Klagen stimmte. Aber träufeln die Tränen des einen dem andern nicht häufig als ein Tau? Die eine Welt weint und die andere lacht. Unseres Herzogs letzter Sohn, sein Stammhalter, war seinen Geschwistern in die Gruft gefolgt. Darum die Tränen. Sollte der Herzogszweig nicht erlöschen, so mußte, da bei den vorgeschrittenen Jahren unserer Landesmutter auf Nachkommenschaft nicht mehr zu hoffen war, der prinzliche Bruder zur zweiten Ehe schreiten. Das war der Tau. Seiner Gemahlin wurde ein Hofstaat eingerichtet, und was konnte natürlicher sein, als daß bei der Wahl einer dame d'honneur oder gar Oberhofmeisterin man sich der schönen Witwe im Heideschlößchen erinnerte, deren Ahnenprobe, nebenbei – wennschon weniger von Belang – auch ihr Renommee, – unanfechtbar, deren Haltung hochkorrekt, und die überdies die einzige war, welche im Umkreis des prinzlichen Privatdominiums in Betracht genommen werden konnte.

O Spes, du Göttertochter, deren Hauch als Panazee für alle Erdenleiden wirkt! Das müde Haupt, das sich haltlos zum Grabe neigte, schnellt empor wie unter einem elektrischen Strahl, die bleichen Wangen färben sich gleich Blüten im Sonnenschein, die schweigsamen Lippen öffnen dem glückvollen Herzen ihre Tür. Tod und Not sind vergessen, von Krankheit nicht mehr eine Spur. Ein bitterböses Anzeichen, wenn unserer häuslichen Augurin zu trauen war! Die treue Seele hatte die Tränen reichlich rinnen lassen, nun labte auch sie der Tau: sie teilte der Dame Zuversicht in eine baldige Prinzenheirat. Das Erlöschen der herzoglichen Familie würde ihr ein Unheil gedünkt haben, nicht viel geringfügiger als der Weltuntergang. Und unter meinen lieben Landsleuten ihr, der alten fürstlichen Kindermuhme, beileibe ja nicht allein. Je kleiner eines Deutschen Vaterland, um so größer die Liebe zu des Vaterlandes Vater und seinem Stamm, das ist nun einmal eines von jenen ethnographischen Gesetzen, für welche ein Kalmäuser keine Lösung findet als des großen Haller Spruch: »Ins Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist.« Auch gegen die Hoffähigkeit der Frau Oberforstmeisterin würde die Frau Unterförsterin nichts einzuwenden gehabt haben. Aber – das große Los kam zu spät. Dieses jache Aufflackern der Lebensgeister, die Borsdorfer Äpfelchen auf den Wangen, das funkelnde Augenlicht und die Glücksgespinste – »nach Gottes väterlichem Ratschluß bauen alle Auszehrungskandidaten Luftschlösser, sintemalen ihre Leibesnöte außerdem allzu grausam zu nennen wären.«

Ich für mein Teil hatte keine so ominöse Deutung für den Flug der Phantasie, gönnte der Dame auch von Herzen die Verwirklichung ihrer stolzen Träume, vorausgesetzt, daß sie ihre kleine Sauvage nicht in ihrer Luftkutsche mit emporsteigen, sondern geruhig im Heideschlößchen unter ihres Väterchens Direktion beließ.

Wie elastisch wurde nun aber erst der Schritt der schönen Witwe, wie hoch reckte sich ihr Haupt, wie weit öffneten sich die Augen, als etliche Wochen später per Stafette der Befehl eintraf, die prinzlichen Gemächer instand zu setzen, da unser Herr endlich wieder einmal die Freuden der Jagd in seinem Revier zu genießen und zu diesem Zweck zwar im Stadtschlosse zu residieren, im Heideschlößchen aber dieses und jenes Mahl abzuhalten gedenke. Wie wurden nun Schränke und Truhen nach den Überbleibseln vormaligen Glanzes durchstöbert, wie flink regten sich die schlanken Finger über den ungewohnten Künsten einer Kammerzofe; auch ein kleines Darlehn zur Beschaffung einer standesmäßigen neuen Robe wurde bei den unstandesmäßigen alten Hausgenossen holdselig nachgesucht und – sonder Ruhmredigkeit! – bereitwilliger gewährt, als Darlehne gemeinhin gewährt zu werden pflegen. O, mein Gellert, darin kennst du deine Weiberchen! Ein neues Kleid! Der Witwensitz im Heideschloß, der so lange als bittres Unglück empfunden worden war, als welche Gunst erwies er sich anjetzt. Man war zur Stelle, gleichsam auf Posten; man fühlte sich a priori als das, was man werden wollte, werden mußte. Vom Scheitel zur Sohle eine dame d'atour!

Die Stunde der Entscheidung nahte. Küchenwagen und Koch samt Zubehör langten im Schlößchen an, das Jagdmahl für den übernächsten Tag zu rüsten. Seiner Funktion gemäß heute eine Hauptperson, empfing Forstmeister Klösterley, der römische Bürger und europasatte Hinterwäldler, in höchstem Galawichs seinen gnädigen Herrn auf der Rampe des städtischen Schlosses mit untertänigem Handkuß. Faktotum Adam, mit Hirschfänger und Federhut ausstaffiert, machte als Leibjäger Parade.

Aller antihöfischen Verbissenheit ungeachtet, erhielt ich indessen einen guten Eindruck von dem Herrn, mit welchem ich zum ersten Male ein Wort zu wechseln hatte. Er traktierte mich nicht per »Er« und »mein Lieber«, wie es selbst bei den höflichen Sachsenfürsten für die bürgerlichen Beamteten, mit denen sie deutsch redeten, gang und gäbe war, – Serenissimus hatte seinen Patensohn du und Christel genannt –, sein Herr Bruder hörte in einer Privataudienz, die allen anderen voranging, meine amtlichen und Meliorationsgutachten verständnisvoll an und entwickelte nicht nur gesunde haus- und landwirtliche, sondern auch humane Ansichten, welche meiner Heimat dereinstigen Segen verhießen. »Ein weißer Rabe!« dachte ich, während ich vergnügt nach Hause trabte.

Es war mitten in der Nacht, trotzdem hatte die Baronin auf mich gewartet. Sie war in lebhaftester Spannung. Ich mußte haarklein berichten. Sie hatte den Prinzen ja gekannt, aber auch Fürsten verändern sich. Haltung, Stimmung, Umgebung waren von äußerster Wichtigkeit; die Dame würde bis in den Tag hinein des Fragens kein Ende gefunden haben, hätte ich endlich nicht kurzen Prozeß gemacht und mich mit der Mahnung zu Schonung und Ruhe zurückgezogen. Eine glühende Tageshitze war gegen Abend in gewitterliche Kühle umgeschlagen; die Baronin hatte sich beim Blankmachen und Dekorieren ihrer Privatzimmer offenbar übernommen und erkältet, sie hüstelte und sprach heiser. »Das Omen« der braven Michelin konnte sich bewahrheiten. Aber »Gott bewahre!« Die Dame wollte sich niemals wohler gefühlt haben. Keine Regung von Apprehension.

Am anderen Tage sah ich meine weiblichen Hausgenossen nicht. Den Hasen und Hühnern war in einer dem Schlößchen entgegengesetzten Abteilung meines Reviers zugesetzt und das Diner in der städtischen Residenz genommen worden. Den darauffolgenden Morgen wurde zwar in unserer nächsten Umgebung getrieben und geknallt, die weidmännische Tafelrunde auch in unserem Obergeschoß abgehalten, dort wie hier aber war kein schicklicher Moment zur Vorstellung der harrenden dame d'atour gefunden worden. Erst als am Abend mit allen andern Gästen auch der Adjutant des Prinzen nach der Stadt zurückgekehrt war, befahl mir der letztere, ihn meiner Hausgenossin anzumelden. Der Wagen, welcher ihn, und mich mit ihm, in die Stadt zurückführen sollte, wurde bereits angespannt.

Ich fand die Baronin geschmackvoll gekleidet, der unleugbaren Erkältung zum Trotz Hals und Arme entblößt, die Augen leuchtend, die Wangen gerötet wie im Fieber, hoffentlich nur dem Fieber der Erwartung. Ein schönes, wunderbar jugendliches Frauenbild. Ich fragte nach Lori. Sie war in die Försterwohnung verwiesen. Nicht mehr als schicklich in Aussicht einer durchlauchtigen Visite. Möglich aber auch, daß nebenbei die Oberhofmeisterin in spe es für nützlich erachtet hatte, nicht an das natürliche kleine Anhängsel zu erinnern. Wer konnte denn die durchlauchtige Marotte voraussehen, vor dem Handkuß der gnädigen Frau einer alten Kindsmagd die Hand zu drücken?

Aber das Unvermutete geschah, und so wiederholte sich im bescheidenen Altenstübchen zwischen dem Prinzen und der Waise fast Zug um Zug und Wort um Wort die Szene, welche sich vor Jahr und Tag zwischen ihr und dem unmusternen Kalmäuser im kartoffelblühenden Lustgarten abgespielt hatte; nur daß heute kein Willkommengruß und Strauß vorbereitet waren. Die lieblich lächelnde Kleine im kurzen Röckchen und langen Zöpfen, ein rundliches Kind, kaum größer als dazumal, entzückte den hohen Herrn auf den ersten Blick, wie sie seinen Diener entzückt hatte. Er hob sie in die Höh und küßte sie auf beide Backen, genau so wie ich es getan. Von mir waren Entzücken und Zärtlichkeit natürlich gewesen. Aber von einem Prinzen? Ich fühlte einen Natterstich in der Brust. »Ein besserer Wirt vielleicht als seine Herren Brüder,« rumorte es in mir, »aber ein Lüstling wie sie – wie alle Fürsten. Und Lori ein vierzehnjähriges Mädchen, das sich ohne Sträuben küssen läßt, – auch schon eine höfische Buhlerin!« Es mögen grimmige Blicke gewesen sein, die ich auf meinen Herrn und zum ersten Male auch auf mein Kind geschossen habe, zum Glück von beiden unbemerkt.

Mignonne an der Hand, trat der Prinz unter meinem Geleit bei der Witwe ein. Der Gegensatz der mütterlichen Toilette mit der töchterlichen, die heute um so mehr vernachlässigt war, als jene Zeitaufwand gekostet hatte, erregte der schönen Frau einen Moment der Verlegenheit; zudem wurde unvermutet die Begrüßung in biderbem Deutsch angebracht und mußte in gleicher Mundart, in der sich nun einmal Zierliches oder Geistreiches nicht sagen läßt, erwidert werden. So blieb es bei Redensarten. Ich schwieg, wie meines Amtes war, mich aus; aber ich stand wie auf Kohlen, denn der Prinz ließ Lori nicht von seiner Seite; hielt den Arm um ihren Nacken geschlungen, was sie sich lächelnd gefallen ließ, und nickte ihr freundlich zu, was sie ebenso freundlich erwiderte. Für das Väterchen, das sie seit drei Tagen nicht gesehen, hatte sie heute kaum einen Blick.

Indessen dauerte die Tortur nur wenige Minuten. Der Wagen fuhr vor, der Prinz empfahl sich mit der für die Dame so unerwarteten wie für mich erfreulichen Mitteilung, bereits in der morgenden Nacht zur Rückreise genötigt zu sein. Mir zur Qual, der Dame zum Trost geruhte er indes die huldvolle Zusage, vor der Abfahrt den Tee bei der liebenswürdigen Hüterin seines Heidehauses einzunehmen. Noch ein Kuß auf des Töchterchens Stirn. »Au revoir, Madame!« Und das Freudenlicht des Tages war ausgeblasen, um am Docht der Hoffnung weiterzuglimmen.

Auch ein Grübelfang ist jachen Wallungen untertan, und kein Poltergeist vielleicht bösartigeren als ein Grübelfang. Wer sich aber ein Menschenalter hindurch gewöhnt hat, in Gedanken das Oberste zu unterst zu wühlen, der gelangt schließlich auch dahin, daß das Unterste wieder zu oberst kommt. Nach einer ruhelosen Nacht sagte ich mir: »Alter Tor! das Kind ist eben noch ein Kind, sein Reiz die Unschuld. Der Prinz aber ist ein einsamer Mann und ein Kinderfreund, wie du es geworden bist. Er liebt, was ihm, wie dir, die Natur versagt hat.«

Als ich mit dem Prinzen am anderen Abend zu unserer liebenswürdigen Wirtin hinabstieg, stand im Salon der Teetisch, eine neuerlich von England importierte Mode, welche bei uns nur vereinzelt die abendliche Suppenterrine verdrängt hatte, nach Tunlichkeit gerüstet. Faktotum Adam fungierte als Kammerdiener, die Türflügel auseinanderschlagend und darauf im Vestibül lauernd, um, nach Instruktion, das Kohlenbecken mit dem siedenden Wassertopf zu bringen, sobald die Handschelle vernommen ward. Die Dame trug die neubeschaffte Robe von heller Rosenfarbe. Auch ihre Laune war rosenfarben. Lori, heute kindlich in Weiß gekleidet, harrte mit einem Asternstrauß in der Schlafstube der Präsentation, falls selbige befohlen würde.

Kaum daß der Prinz Platz genommen, fragte er denn auch nach einem suchenden Blick durch das Zimmer: »Wo ist Ihr Töchterchen, gnädige Frau?«

Auf einen huldreichen Wink der Mutter öffnete ich die Seitentür, und Lori, froh, ihrer Haft entlassen zu sein, flog auf den hohen Gast zu, ihm ihre Blumenspende reichend und, wie sie gelehrt worden, mit einem tiefen Knicks seine Hand küssend. Er rückte ein Fußschemelchen neben seinen Sessel; die Kleine ließ sich darauf nieder, indem sie unverwendet ihre großen, staunenden Augen zu dem besternten, stattlichen Herrn in die Höhe richtete. Beide ihre Händchen ruhten in seiner Rechten, während die Linke sanft den weichen, blonden Scheitel streichelte.

»Wie gütig Durchlaucht sind!« sagte die Mutter mit schmelzendem Klang.

Kein Zweifel, daß sie herzlich von diesem Wohlwollen gerührt ward, ebenso unzweifelhaft aber auch, daß ihr flugs die Erleuchtung kam, wie durch dasselbe das bedenklichste Hindernis für die Erfüllung ihrer Wünsche beseitigt werde. Die Zärtlichkeit gegen die Tochter verbürgte der Mutter einen Beschützer. »Wie gütig Durchlaucht sind, wie so sehr gütig!« rief sie noch einmal mit der Emphase zugleich unberechneter wie berechneter Dankbarkeit.

»Wer sollte an solch holdem Wesen nicht Freude haben?« entgegnete einfach der Prinz.

Der Übergang zu dem Verlust, welcher den herzoglichen Hof kürzlich betroffen, war bei dieser Wendung angezeigt, wurde auch mit klagender Empfindsamkeit ausgedrückt, dahingegen der Wandel dieses Verlustes in einen Gewinn für den hohen Gast fein, aber verständlich angedeutet ward.

»Es war ein herber Schlag für meinen Bruder!« versetzte der Prinz so einfach wie zuvor.

»Und für das Land!« ergänzte die Dame. »Alle seine Hoffnungen beruhen auf Durchlaucht.«

»Ich bin kinderlos und Witwer, wie Sie wissen, Frau Baronin. Im übrigen ist es ja nur ein Zweig des alten Stammes, der erlischt; der Heimfall unseres Ländchens an das Mutterland wird für beide kein Unsegen sein.«

Ich traute meinen Ohren kaum, da ich den Erben eines Thrones die hochverräterische Auffassung des cidevant römischen Bürgers, als wäre sie das natürlichste Ergebnis, aussprechen hörte. Der armen Witwe aber stürzte ihr Luftschloß jach wie ein Kartenhaus beim ersten Lippenhauch zusammen. Sie erbleichte, und ihre Hand zitterte, indem sie dem Prinzen die Teetasse reichte. Eine Minute lang war es so still, als flöge ein Engel, der Geist des seligen Prinzchens, durch das Zimmer. In der nächsten Minute aber schnellte das großgehätschelte Phantasiegebilde, so jach wie es niedergeworfen worden, wieder empor und hoch über sein bisheriges Ziel hinaus. Nicht mehr der Karmin der Hofdame, ein fürstlicher Purpur war es, welcher plötzlich bis zum Busen hinab das erblaßte Antlitz überwogte; so kühn wie diese lodern die Blicke des Feldherrn, der die auf den Flügeln bedrohte Schlacht im Zentrum gewonnen sieht, wie Lettern zeichneten die blauen Äderchen der Schläfen das stolze Wort: Triumph! Ich las und deutete es, ich, der grübelnde Zweifler, der doch wahrlich nicht in einer Weiberschule das Abc der Eitelkeit gelernt; und sollte der andere, welcher, seit ihm der Bart gesproßt, kein Neuling in der Frauen Kunst und Gunst geblieben, sollte er, der die Schimäre entzündet, ihre Schriftzüge weniger als der Zeuge verstanden haben?

Der hohe Herr dachte aus Prinzipien der Staatskunst nicht an eine standesgemäße zweite Ehe; er hatte ja auch in der ersten herbe Erfahrungen gemacht. Warum aber nicht an eine Ehe linker Hand, an einen Herzensbund? Sollte ein noch jugendkräftiger Mann, ein Mann von so warmer Empfänglichkeit, wie sie sich in dem Bezeigen gegen dieses Kind so augenfällig dartat, sich zum dauernden Wittum verdammen wollen? Wer die Tochter gewinnen will, muß der Mutter schöntun, sagt das Sprichwort. Führt der Weg zu dem Herzen der Mutter nicht aber auch durch das ihres Kindes? Und welches Kind hatte eine schönere Mutter als Lori in Lorenza von Leiseritz?

Ich habe das Rätsel niemals herausgebracht, wie diese und jene des schwachen Geschlechts es anfangen, in urplötzlichen Stimmungen sich über ihr Alltagswesen hinaus zu steigern, als wären sie elektrisiert. Sie sind dann wie voll süßen Weines, reden in Zungen und sprühen Blitze. Die schöne Streberin fand Aperçus und Antithesen, wie ich sie in deutscher Mundart gar nicht denkbar erachtet hätte; sie brachte es bis zu Calembourgs, wurde witzig, was durchaus nicht in ihrer Natur zu liegen schien; sie lockte mit weichen, seelenvollen Tönen, wie sie ihren Lippen selten entquollen sein mögen, sie lächelte, plauderte, funkelte, wie vielleicht im Leben noch nie, und alles das im ehrlichen Glauben an die Leidenschaft, die sie einem fürstlichen Verehrer eingeflößt und die sie eines Tages rechtgültig erwidern dürfte.

Je beweglicher sie sich indessen ausgab, um so eingeschränkter bezeigte sich der Prinz, an und für sich keine überschießende Natur. Arme, betörte Schatzgräberin, wärest du mehr Kokette gewesen, als du in Wahrheit warst, du würdest den stahlglatten Panzer haben fühlen müssen, an dem deine Wünschelrute abprallte.

Die Unterhaltung drehte sich, wie natürlich, um die Neuigkeiten der sogenannten Gesellschaft, und so wurde denn auch einer hochgestellten Ausländerin Erwähnung getan, die vor kurzem auf einer Lustfahrt durch das zivilisierte Europa in der deutschen Hauptstadt des Vergnügens und der Galanterie ihren Einzug gehalten hatte. (Die Dame lebt zurzeit in wohlgeordneten Verhältnissen, daher ihr Name unausgesprochen bleiben soll.)

Die Kunde, zum guten Teil wohl Fabel, von ihren Abenteuern, Extravaganzen und Brüskerien war durch die fürstlichen Weidgenossen bis in unseren stillen Waldwinkel und zu Ohren der armen, zahmeren Glücksjägerin gedrungen, die, mit Recht oder Unrecht eine Nebenbuhlerschaft befürchtend, an spitzigen Bemerkungen über »die wilde Britin« es nicht fehlen ließ.

Der Prinz entgegnete mit Ruhe, daß er die Bekanntschaft der Lady nur flüchtig gemacht habe, entschuldigte aber deren willkürliches Treiben – weiblichen Siegesübermut nannte er es – mit ihrer Erziehung, ihrer Unabhängigkeit als Witwe und Erbin eines Krösus, ihren seltenen Geistesgaben und den ebenso seltenen Reizen der äußeren Erscheinung.

»Der Hoheit ziemt Milde,« versetzte die Baronin halb schmeichelnden, halb pikierten Tones.

»Sie ziemt den Jahren der Vernunft,« entgegnete der Prinz lächelnd. »Junge Sünder, alte Eiferer, sagt ein Wort mit Recht.«

»Nimm's dir zu Herzen, grauer Splitterrichter!« dachte der Zeuge; wiewohl er in der Jugend ein Sünder nicht zu nennen gewesen war.

Die Witwe aber, die sich ja auch nicht mehr in des Lebens Grüne fühlen durfte, fragte einigermaßen perplex: »Und die Antithese dieses Wortes, gnädiger Herr?«

»Gäbe«, antwortete er, »wie in vielen Stücken, keinen logischen Schluß. Der Moral in alten Tagen unbeschadet, hat die Jugend, der die Natur als starker Widerpart gegenüber und die Erfahrung als Bundesgenossin noch nicht zur Seite steht, wie die Pflicht der Strenge gegen sich selbst, so allenfalls auch das Recht der Strenge gegen andere. Die Zeit soll uns Duldung lehren – und Resignation, gnädige Frau.«

Der Prinz erhob sich ohne weiteres nach dieser Lektion, da der Wagen schon vor einer langen Weile vorgefahren war; mit kurzer Verbeugung, sonder Zeichen des Bedauerns oder der Verheißung, schritt er nach der Tür. Die Baronin, leicht gekleidet, von innen heraus erhitzt und mit einem eisigen Wasserstrahl übergossen, wie sie war, folgte ihm in den Vestibül. Es war ein stürmischer Abend, unleidlicher Zug strich durch das geöffnete Portal, die gute Försterin, welche unter demselben ihren vielgeliebten Herrn zum Abschied beknickste, nahm ihr Halstuch ab und warf es über die nackten Schultern der Dame; sie ließ es fallen.

»Dürfen wir das Glück erhoffen, Durchlaucht wiederzusehen?« fragte sie mit tiefer Verneigung und bebender Stimme, indem sie ihre Hand nach dem Scheidenden streckte. Er zog die Fingerspitzen an seine Lippen und antwortete: »Schwerlich in Bälde, gnädige Frau. Ich bin Soldat, das heißt, nicht Herr meiner Zeit.«

Im äußersten Moment ein äußerster Elan: sie hielt seine Hand fest und drückte sie an ihr Herz. Tränen in den Augen, heiße, wirkliche, keine Schauspieltränen, schluchzte sie: »Dank, Dank, gnädiger Herr, für die unvergeßliche Stunde, die Sie einem verlassenen, unglückseligen Weibe geschenkt haben!«

»Eine Mutter ist niemals verlassen, Madame, und wenn sie ein Kind wie dieses besitzt, eine sehr glückliche Frau,« entgegnete der Prinz, diesmal in französischer Sprache und mit an ihm ungewohntem scharfem Ton und Blick, indem er seine Hand freimachte. Er küßte Lori auf die Stirn, bestieg rasch den Wagen und gab mir einen Wink, ihm zu folgen. Ich wendete die Augen noch einmal zurück in das hellerleuchtete Portal. Beide Hände gegen die Brust gestemmt, stand die Baronin an eine Säule gelehnt. Die Försterin trat auf sie zu, die Taumelnde in ihr Zimmer zu führen. Die Windfackeln löschten jählings aus.

»Hier ist nicht zu helfen,« sagte der Prinz nach kurzer Stille; »wäre es dem Menschen auch gegeben, seine Haut abzustreifen, sie würde ihm, wie der Schlange, doch immer von neuem wachsen. Gott sei Dank, daß der Tochter nicht auch die große Dame im Blute zu liegen scheint. Um ihretwillen, Klösterley, halten Sie es mit der Mutter geduldig aus.«

Der Prinz sprach darauf mit gewohnter Umsicht von Geschäften. Mitten in der Nacht brach er auf nach Polen, wo er jahrelang blieb. Zum voraus soll erwähnt werden, daß seiner Fürsorge eine Erhöhung des Gnadengehaltes der Witwe zu danken sein mochte. Das einzige Zeichen seiner Erinnerung und leider ein zu spät gereichtes, um gestürzte Lebenshoffnungen wieder aufzurichten.

IV

Als ich am Morgen heimkehrte, lag die Baronin in Beklemmung und Fieber. Freund Weise, der Dorftölpel, der ohne Wahl nun schleunigst zu Hülfe gerufen werden mußte, konstatierte eine Lungenentzündung und dringende Gefahr. Da weder die kindliche Tochter, noch die alte Hausverwalterin zur Pflege ausreichten, pries ich mich glücklich, in einer noch rüstigen Schulmeisterswitwe eine Wärterin aufzutreiben, die denn auch ihrer Schuldigkeit mit redlichem Willen und ohne allzu ärgerlichem weibischen Unverstand oblag. Da ihr Mann, wie alle ländlichen Lehrer, die Orgel seiner Kirche gespielt und Bach geheißen hatte, hörte sie, als Namensmuhme unseres berühmten Landsmannes, sich gern »Frau Organistin« titulieren, und wir gewährten ihr mit Vergnügen diesen stolzen Ohrenkitzel.

Ich schreibe keine Krankengeschichte, die in einem lieben Herzen die leidvollsten Erinnerungen wecken würde. Sind es doch lediglich deren Konsequenzen, über welche ich mich in diesem Bekenntnis zu rechtfertigen oder mindestens zu entschuldigen habe. Vor mir selbst ist es mir niemals gelungen.

In der bitterbösen Zeit, die nun folgte, erklomm die weltlustige Frau eine Seelenhöhe, die ich ihren Kräften nimmer zugetraut hätte. Sie litt ohne Klagelaut. Hatte sie in gesunden Tagen das Ende eines freudelosen Lebens herbeigesehnt, nun, da sie krank war, wollte sie leben. Sie zwang sich, Nahrung zu nehmen, die ihr widerstand, folgte der unbequemsten Vorschrift, übte jegliche Schonung, und gewiß, nicht Reiz und Lust des Daseins, Mutterängste und Mutterliebe waren es, die den Willen zum Dasein anfachten. Leider zu spät!

Es gibt ja Pflanzen auch edler Art, die ohne hohen Wärmegrad gedeihen; des Lichts aber kann keine einzige entbehren. Sie recken und strecken sich ihm entgegen, und können sie es nicht erreichen, arten sie aus oder sterben ab. Solch eine Pflanze, die sich hülflos nach dem Licht der Freude reckte, war die schöne Frau allzulange gewesen, um nun, da sie sich vorsetzte, im Schatten auszudauern, nicht wurzelkrank hinzuwelken.

Als nach etlichen Wochen die Entzündung gehoben und nur ein Übermaß der Erschöpfung zurückgeblieben war, schien sie, wie manche wirklich Kranke, an den Tod, dem sie sich in der Einbildung verfallen gewähnt hatte, nicht mehr zu denken, wenn es nicht etwa Rücksicht für andere gewesen ist, aus welcher sie das Bewußtsein seines Nahens unter einem Lächeln verbarg. Seltsame Erfahrung, daß so manches lebenslustige Weltkind mit tapferem Mute stirbt, als erfüllte es eine Anstands- oder Ehrenpflicht; dahingegen ich von keinem einzigen unlustigen Kalmäuser gehört habe, der ohne Zagen oder Verdruß aus dem Leben geschieden sei.

»Nach Gottes unerforschlichem Ratschlusse gehen Auszehrer bald nach dem Hornung ein,« erklärte die weise Michelin; aber auch wir anderen hatten sie aufgegeben. Nur Lori dachte, seitdem die Kranke das Bett wieder verlassen hatte, nicht mehr an Gefahr, und von dem, was Sterben heißt, machte sie sich kaum eine Vorstellung. Als der Tod ihr so jäh den Vater nahm, lag sie fiebernd am Scharlach darnieder; bei zurückkehrendem Bewußtsein war er auf einmal fort. Wohin? Im Himmel! Sie war dazumal auch den Jahren nach ein Kind; sie vergaß bald, was sie nicht mehr sah. Bei der Mutter hatte sie sich an einen leidenden Zustand gewöhnt; nun freute sie deren früherhin so sparsames Lächeln, sooft sie um sie sein durfte; aber sie durfte seltener denn je um sie sein, weniger denn je sie liebkosen; die Kranke fürchtete eine Ansteckung. Sie litt nicht mehr, daß die Tochter bei ihr schlafe, nicht mehr, daß sie mit ihr esse. »Mama will Ruhe haben!« tröstete Lori sich und hielt sich zu ihrem Väterchen. Das aber war beflissen, dem Kinde die Ahnungen von des Lebens herbster Bitternis und seiner sichersten Wissenschaft, der vom Vergehen, so lange als möglich fernzuhalten.

So führten wir denn den Winter über unser gewohntes Treiben in Forst und Schulstube weiter; nur etwas ernster, sozusagen jungfräulicher hätte ich den Sinn des nahebei fünfzehnjährigen Mädchens richten, dessen lange winterliche Freistunden, meine Geschäftsstunden, in weiblicher Weise ausfüllen mögen. Um Gottes willen keine Langeweile, die für den Halbwüchsigen noch weit mehr wie für den Erwachsenen ein Gift ist! Das tote Puppenspiel, welches das mit dem Miezchen abgelöst hatte, hielt nicht lange vor; nachbarliche Kameradinnen waren nicht aufzutreiben; zur Ausbildung einer sogenannten künstlerischen Fertigkeit fehlte es wie an Anlage und Gelegenheit, so auch an Lust; Lektüre, die unterhält, ist für ein junges Blut ein gefährlicher Zeitvertreib, auch war die Tochter so wenig wie die Mutter eine Leserin. Was blieb also übrig als Handarbeit, die ja eine allgetreue weibliche Nothelferin ist, und in welcher, mehr noch wie in der geistigen, die Kleine ein armes Stümperchen geblieben war. Die nervenschwache Mutter war im Lehren der Zierlichkeiten, zu deren Übung die Not sie selbst gezwungen hatte, kläglich gescheitert, aber auch das Rühren von Strick-, Stopf- und Nähnadel zu nützlicheren Zwecken, deren Anleitung die Frau Organistin sich geduldig unterzog, blieb ein saures Geschäft, weit saurer als das Studium von Lettern und Ziffern unter den Augen des Väterchens.

Da tat ich denn schlechthin einen Glückswurf mit einem Spinnrädchen, das ich aus Leipzig kommen ließ; zierlich aus Ebenholz geschnitzt und mit Perlmutter ausgelegt, war der bloße Anblick ein erfreulicher, das Schnurren und Drehen aber, das Bewegen auch der Füße gab anregendes Leben; mochte es auch kein Spinnenweb sein, das die rundlichen Finger zogen, ei nun! Stillsitzen war die Hauptsache, da aus dem flatternden Waldkinde sich doch nun einmal ein häusliches Weib entpuppen mußte. Wird überdies in der menschlichen Wirtschaft denn nicht weit mehr hausmachender Drell als feiner Batist gebraucht? Die Mütter Penelope und Kornelia haben auch nur Wolle und Mutter Berchta im germanischen Urwald hat ganz gewiß nur kräftigen Hanfzwirn gesponnen.

Der verhängnisvolle Hornung und auch die Frühlingssonnenwende gingen schonend an der Kranken vorüber. »Aber«, sagte die Frau Försterin, »was der März nicht will, nimmt der April,« selbstverständlich nach Gottes allweisem Ratschlusse, und diesmal hatte sie den zutreffenden prophezeit.

Es war am Spätnachmittag; Lori hatte der Mutter die ersten Veilchen gebracht; ein Lenzeshauch erfüllte das halbdunkle Krankenzimmer; und war es nun diese linde Würze, war es der Kontrast der sorglosen Kinderfreude mit der Schwere des eigenen Gemütes, der die Leidende überreizt hatte, sie sank plötzlich betäubt auf ihrem Stuhle zurück, die Augen halb geschlossen gleich einer Toten. »Ist das Schlaf?« fragte Lori, zum ersten Male von angstvollem Ahnen durchbebt. Sie warf sich über die leblose Gestalt, küßte ihre Hände, ihre Lippen, hauchte ihren warmen Atem auf die eisige Stirn, ihre heißen Tränen rieselten über die marmorkalten Wangen. Als aber nach ein paar eingeflößten Äthertropfen die Ohnmächtige sich belebte und dem Kinde freundlich zulächelte, da rief es getröstet: »Es war Schlaf!«

Und bald schlief sie dann auch wirklich; den letzten Schlaf vor dem ewigen. Ich verabredete mit Frau Bach eine geteilte Nachtwache und nahm deren erste Hälfte für mich in Anspruch, Lori, die ein paar Stunden still neben der Mutter gesessen hatte, deren Hände in den ihren, ging willig zu Bett, ohne Sorge. »Gute Nacht, Mama, gute Nacht!«

Ich war allein bei der Kranken; sie merkte meine Nähe nicht, wiewohl sie halb erwacht war; sie lag ganz ruhig, nur die Finger spielten mit den Veilchen, welche Lori über die Bettdecke gestreut hatte, und die Lippen bewegten sich lautlos, dann leise flüsternd. Die Gedanken wanderten. Einmal verstand ich: »Elle vit – jusqu'à son nom – mourir avant sa mort.« Von den wenigen Büchern, die sie in ihrer glücklichen Zeit gelesen, waren die Memoiren der letzten Valois ihr das beweglichste gewesen. Sie hatte derselben wiederholt gegen mich erwähnt. Nun schwebte das Bild der schönen verlassenen, königlichen Sünderin, ihr geschichtliches Lieblingsbild, ihr in der Sterbestunde vor.

Dann eine lange Stille. Finger und Lippen ruhten, die Lider waren gesenkt. Ich horchte nach dem letzten Atemzug. Plötzlich aber schlug sie die Augen auf; die Blicke irrten rechts, irrten links, sie richtete den Kopf in die Höhe und ließ ihn machtlos sinken. Ächzende Laute entrangen sich der wogenden Brust.

»Allein! – Ganz allein! – Kein Bruder – keine Schwester – kein Mensch! – Vater tot! – Mutter tot! – Alle tot!« –

»Nicht alle!« unterbrach ich ihre Qual, indem ich hinter dem Bettbehang vortrat. »Ich lebe, Lorenza, ein Freund!« Sie sah mich ungewiß an. »Herr – Herr! –« hauchte sie, »Väterchen? wo – wo?«

»Lori schläft,« sagte ich, »und auch Sie sollten schlafen, gnädige Frau. Nehmen Sie!«

Ich reichte ihr das Pulver, welches der Doktor für den letzten Kampf zurückgelassen hatte. Der starke Moschusduft belebte sie einen Moment, bevor die narkotische Wirkung eintrat.

»Ich sterbe!« rief sie mit fester Stimme von wunderbarem Klang. »Aber Sie leben, Sie! Meine Lori, mein Kind – –«

»Wird mein Kind sein, Lorenza, so wahr Gott mir helfe!« sagte ich, indem ich ihre Rechte in die meine legte. Sie machte einen Versuch, sie an ihre Lippen zu ziehen, und neigte das Haupt bis auf die Brust. Dann jener unvergeßliche, große Aufblick, bevor das Auge bricht. Eine Stunde später stand der Atem still.

Ich weckte weder das Kind, noch die Wärterin. Ganz allein saß ich neben der sterbenden, dann, bis der Morgen graute, neben der toten Frau, ihre Hand in der meinen, das Auge unverwendet auf ihr Antlitz gerichtet. Als meine Mutter endete, war ich neugeboren, als mein Vater, nicht daheim. So war sie der erste Mensch, dessen Blut ich erkalten fühlte, dessen Augen ich zudrückte. Der Adel ihrer Schönheit war mir nie im Leben wie in diesen ersten Stunden nach der letzten offenbar geworden; ein verklärender Zauber breitete sich über die stillgewordenen Züge. Der Frieden nach dem Kampf! Die Lippen lächelten wie aus lichter Höhe hinab in das Schattental. Wohl ihr! Ihr Erbe aber, ihr einziges, hatte sie mir vermacht. Ihr Kind war meines geworden. Wohl mir!

Und nun kam der Tag und mit ihm das Schwerste: eines Kindes erster Schmerz! Sein Erstarren, seine Schauer vor dem unfaßbaren Totenbild; dann der Ausbruch der Natur, das Aufschäumen des verwandten Blutes, Liebesrufe, zärtliches Umfassen; als aber kein Laut dem Laute Antwort gab, kein Druck der kalten Lippen den warmen Kuß erwiderte, da der volle Jammer der Verwaisung, Wehklage, strömende Tränen, als ob das junge Leben sich dem entflohenen nachweinen wollte in den Tod, und unter denen es sich doch nur in einen kindlichen Schlummer weinte.

Während dieses Schlummers wurde die Leiche gekleidet, mode- und standesgemäß mit dem Schönsten, was die Garderobe bot: die rosenfarbene Robe, welche die Lebende an ihrem letzten Hoffnungstage getragen hatte. Und dann pflückten ihres Kindes Hände die Anemonen und Veilchen des Gartens und der Heide zum letzten Liebesschmuck. Nicht reich genug konnte die Blumenhülle werden, nicht Frühling genug über dem Winter Tod. Kindestrost! Und nach ihm kam die Trösterin aller, die Nacht mit ihrem Vergessen.

Wir hatten Lori in die Försterwohnung gebettet, da aber schon am nächsten Morgen Spuren des Übergangs sich zeigten, verschloß ich die Tür des Totenzimmers und wehrte der Tochter, dort einzutreten, daß sie ein gutes Bild von ihrer Mutter in der Erinnerung trage. Da schlich sie denn lauschend und lauernd und wimmernd von Tür zu Tür, wie – ich schäme mich nicht des natürlichen Vergleichs – wie, ach! ein armes Hündchen, das nach dem verlorenen Herrn spürt. Das Hündchen aber winselt mit trockenen Augen, wenn es den Verlorenen nicht findet, und das Kindchen weint und weint sich Trost.

Das Letzte ersparte ich der Tochter nicht. An meiner Hand stand sie vor der Grube, in welche die Mutter zur Seite des Vaters gesenkt ward, starrte mit neugierigem Grauen in die dunkle Tiefe, bebte und schauderte vor dem vollendeten, unbegreiflichen Gewesen, das ein Sandhügel darstellt. Der lutherische Ortspfarrer hatte der katholischen Frau den letzten Segen gespendet. Asche zu Asche, Erde zu Erde! Ein Hoffnungsblick in die Höh, dann kehrten wir zu Fuß durch die Heide nach Hause zurück. Lori sprach auf dem Wege kein Wort. Beim ersten Tritt in unser Heim jedoch, da umklammerte sie meinen Hals, lehnte das Köpschen an meine Brust und schluchzte:

»Väterchen, jetzt habe ich nur noch dich. Ich will dich nun auch noch liebhaben mit der Liebe, die ich für Mama gehabt.«

V

Die gerissene Lücke füllte sich rascher, als ich geahnt. Denn eines Kindes Herz überträgt sich leicht in eines, wo es wahres Empfinden spürt. Loris früheste Erinnerungen knüpften sich nicht an die Pflege einer Mutterhand, an Freuden und Sorgen in einem Elternhause. Zucht wie Zärtlichkeit waren des Kindes Teil nicht in dem Maße gewesen, daß es ihrer bewußt geworden wäre. So fühlte sie ihre Verwaisung kaum, denn sie hatte einen, zum ersten Male einen, der ihr kindliches Dasein als reine Freude genoß. Schlug sie den Blick zum blauen Sonnenhimmel empor, so sah sie mit Kinderglauben Papa und Mama in Seligkeit vereint; drunten aber, auf der Erde, der sie entflohen, lachte ihrem Kinde der Lenz. Von Tage zu Tage wurden Moos und Rasen grüner, der Garten bunter, der Vögelchor lauter. Sie pflückte Blumen und wand Kränze für das Elterngrab, der Waise einzigen Besitz. Pflänzchen wurden gelegt, Samen gestreut zu seiner immer wechselnden Zier. Bald wandelten und bald trabten wir durch die im Maienschuß duftende Heide; in nicht gar langer Zeit wurde auch der orbis pictus wieder aufgeklappt, und das Rädchen schnurrte in der Laube, um welche das Geißblatt seine Ranken zu ziehen begann. Lori war glücklich.

Und dennoch, wo hätte es ein Menschenkind gegeben, so weltverlassen wie sie? Wie ihre Mutter im Todeskampfe sie gesehen, hatte sie keinen Blutsfreund, keinen Verpflichteten, der nach ihr fragte.

Das städtische Amt dankte daher Gott, in dem wohlberufenen und wohlgestellten Nachfolger ihres Vaters freiwillig einen Vormund und Pfleger für die Waise zu finden, die es sonst in einer Anstalt hätte unterbringen müssen. Der Prinz, es ist sicher, würde ihr seinen Schutz gewährt haben; aber er weilte fern, und ich hatte mich gehütet, ihm den Tod der Baronin anzuzeigen. Ja, zum ersten Male segnete ich das unruhige Volk, dem ich so oft geflucht hatte, weil seiner Oberherrschaft Gut und Blut meines Volkes geopfert wurden, segnete es, weil es eine Manneskraft in Anspruch nahm, deren Wollen und Wirken ich meinem Volke gegönnt haben würde. Denn, seltsamer Widerspruch in einem Kalmäuserherzen! grollender Neid bei der Erinnerung an jene Abendstunden, in welchen ich meinen Herrn ehren gelernt, ein unheimliches Vorgefühl rangen in mir mit dem Bewußtsein seines Werts, wuchsen und steigerten sich an diesem Bewußtsein. Es war ja natürlich, diesen Mann zu lieben. Konnte ich es wehren, sollte Lori ihn niemals wiedersehen, nie wieder zu seinen Füßen sitzen, nie wieder seine Hand küssen, mit leuchtenden Augen zu ihm in die Höhe blicken. Sie war mein. Mein Erbe, mein anvertrauter Schatz, mein ein und all. Mein mußte sie bleiben, mein ganz allein.

Zu dieser Eifersucht der Besorgnis gesellten sich nun aber allgemach Bedenken anderer Art, die mir die hellen Tage trübten. Unsere Organistin lobesam regierte das häusliche Instrument mit Kraft und Geschick. Die schwach werdenden Förstersleute waren unsere Kostgänger geworden, wie wir die ihrigen gewesen waren. Die brave Michelin hatte ihre liebe Not mit dem nach Gottes unerforschlichem Ratschlusse hartnäckigen Zipperlein ihres Michel und außerdem bitteres Herzeleid über das ebenso unerforschliche hartnäckige Junggesellentum ihres Prinzen, da das Aussterben des eigenen Geschlechtes, hätte sie eines besessen, ihr schwerlich näher gegangen wäre, als das des seinen. Bei solchen doppelten Gebresten fing der Kochlöffel an, in ihrer Hand zu zittern, und sie war froh, ihn in eine rüstigere legen zu dürfen.

Auch für die körperliche Abwartung meines kleinen Anwesens war durch Frau Bach hinlänglich gesorgt, für seine geistige Erziehung wollte die Organistenbildung aber doch nicht zureichen. Das freiwillige Väterchen hätte allerdings nichts Weiteres verlangt, als Schritt um Schritt sein Waldkind sich in ein Waldjüngferchen entwickeln zu sehen, unschuldig, fröhlich, nach keiner Welt verlangend außer der, in welcher es bis heute glücklich gewesen. Hatte der betraute Vormund denn nicht aber die Pflicht, seine Mündel zu einem weltgerechten Fräulein oder auch nur zu einer stadtgerechten Hausfrau ausbilden zu lassen? Was mußte ich tun?

Die Mutter, ich erwähnte es bereits, hatte während ihres trübseligen Witwenstandes sich einer klösterlichen Zuflucht für ihre Tochter getröstet. Nun, an diese trostloseste aller Eventualitäten – eine Nonnerei in Polen! – dachte ich nicht einmal während einer Übergangszeit; wohl jedoch, der katholischen Taufe und Firmelung unerachtet, an ein protestantisches Erziehungsstift, in welches hier und dort ein sächsisches Frauenkloster umgewandelt worden war. Aber meine Lori, fünfzehn Jahre an den freiesten Wuchs gewöhnt, würde sie in dieser Enge, bei dem Verschnitt aller natürlichen Triebe, nicht wie eine Waldblume im Treibbeet eingegangen sein? Und wenn sie es ausgehalten hätte, wenn sie, nach ein paar Jahren, nicht gebrochen, aber verbogen, als Zierpflänzchen entlassen worden wäre, paßte sie dann noch in das einsame Heidehaus? Würde ihrer Mutter Schicksal nicht das ihre geworden sein?

Was aber war gewonnen, wenn ich sie statt dessen in einer gebildeten Stadtfamilie fein bürgerlich schulen ließ? Wenn sie im engen Stübchen der engen Gasse stillsitzen, mit Schmortopf und Nähnadel hantieren lernte; Sonntags zur Erholung ein Spaziergang um die Stadt, am Abend eine wohlweise Unterhaltung mit dem Herrn Professor, der Frau Professorin und derengleichen? Und wenn das Waldkind auch das ausgehalten hätte, wenn es als ehr-, sitt- und tugendbelobte Jungfrau zu mir – und zu wem sonst? – zurückgekehrt wäre, kannte ich denn nicht die Welt? Hörte ich zum voraus nicht ihr Geträtsch und Gemunkel? Der natürliche Zusammenhang fehlte, des willkürlichen hatte man sich entwöhnt. Ich schien zu jung zur Vaterrolle, sie längst nicht alt genug für die der Haushälterin eines Junggesellen. Sitte und Herkommen wurden in einem schiefen Verhältnisse gehöhnt, jede natürliche Zukunftsaussicht gefährdet.

Alle diese Einwände waren einer vernünftigen Wahrscheinlichkeitsrechnung gemäß und dennoch nur Vorwände. Der heimliche Grund, aus welchem mein Wesen sich gegen solche Wahl empörte, war Selbstsucht, nackte Selbstsucht. Von mir geben mein Kind, mein Glück, es mir entfremden lassen, es verlieren, vielleicht auf immerdar; ich würde es ja eines Tages müssen; aber dazwischen lagen Jahre, unberechenbare Jahre, würde ich sie erleben und – brauchte ich über sie hinaus zu leben? Heute aber lebte ich noch, wollte noch leben für sie, durch sie, und darum konnte ich nicht ohne sie leben.

Blieb demnach eine häusliche Weiterbildung durch eine Gouvernante und späterhin eine ältliche Anstandsmutter. Barmherziger Himmel! wie widerwärtig waren sie mir, so viel ich ihrer gesehen, von jeher gewesen, diese geschminkten, geschnörkelten, tänzelnden, näselnden Französinnen! oder, ärger noch, die täppischen deutschen Landsmänninnen, die jene äfften mit ihrem Papperlapapp und Firlefanz, ihren Knicksen und Faxen! Eine Hölle im Haus, das jetzt mein Himmel war! Gesetzt aber den glücklichen, mir bis dahin nicht vorgekommenen Fall, ich fände eine gebildete und nicht verbildete Frau, eine alte Jungfer mit einem Mutterherzen, wem gehörte das Kind dann noch? Wem hatte es zu gehorchen? Ein ewiger Widerspruch gegen des Väterchens Methode, Disput ohne Ende, ein unerträglicher Zustand für alle drei. Ich kam aus der Grübelei nicht heraus; forschte dabei jedoch unter der Hand nach jener seltenen weiblichen Perle, die sich zu meinem Troste nicht finden ließ. Der Sommer ging hin, und alles war beim alten geblieben.

Aber war ich denn allein der Richter, in diesem kritischen Falle zu entscheiden? Gebührte meiner Mündel, um deren Wohl und Wehe es sich doch ausschließlich handelte, und die in einem Alter stand, in welchem ein Mädchen von Rechts wegen wahl- und dispositionsfähig ist, nicht auch eine Stimme, ja die erste Stimme? Eine Kalmäuserpflicht diese Tutorfrage, die einem Advokatenkniff wie ein Ei dem andern ähnlich sah, da das Väterchen zum voraus wissen konnte, wie das Kind sie beantworten werde. Gleichviel! Ich wollte diese Antwort hören. Pflicht tun gemeinhin so sauer, manchmal ist es süß.

Ich saß in der Laube und sah mit der Lust eines alten Knaben, der als Junge keine Schmetterlinge gehascht hat, wie die Kleine, zwischen den Beeten tollend, die weißen Molkendiebe aufscheuchte, die sich in Schwärmen entpuppt hatten. Das war der Moment, den ich wählte. Ich rief ihren Namen. Außer Atem von Lachen und Eifer gehorchte sie meinem Wink und setzte sich an meine Seite. Kein folgsameres Kind als meine Lori. »Ich glaube, Lori,« hob ich an, »es ist an der Zeit, daß wir uns trennen müssen.«

»Bist du mir böse, Väterchen?« fragte sie, helle Angst im Blick. »Bin ich unartig gewesen?«

»Nein, nein, so meinte ich es nicht. Du bist ein liebes, gutes Kind. Und wir würden auch gar nicht lange voneinander bleiben. Aber was meinst du, wenn ich dich auf ein paar Jahr – oder auch nur auf eines – nach Dresden brächte, wo deine selige Mutter so glücklich gewesen ist?«

»Was sollte ich denn da, Väterchen?« fragte sie mit dem großen, unschuldigen Augenaufschlag, der mich allezeit mehr als jeder Schmelz und Glanz der herrlichsten Augensterne entzückt hat.

»Du solltest etwas lernen, Lori.«

»Lernen? Du hast mich ja schon so viel gelehrt und lehrst mich alle Tage mehr.«

»Aber nicht das, was ein junges Fräulein braucht.«

»Was ist denn das, Väterchen?«

Ich räusperte mich, denn ich mußte mich besinnen. Was unsere Mädchen so gemeinhin in der Schule lernen, hatte ich diesem allerdings beigebracht und vielleicht noch ein bißchen mehr. »Nun, zum Beispiel richtig Französisch, Lori, die Umgangssprache der guten Gesellschaft,« brachte ich endlich heraus.

Die Kleine hatte auf einmal Oberwasser. »Que voulez-vous, Monsieur,« neckte sie, »ne sais-je pas parler français mieux que vous même?«

»Nun ja, ein bißchen plappern! Ich meine lesen und schreiben.«

»Lesen? Ach was! Ich gucke in ein Buch nur, weil du es verlangst, und dazu gibt es deutsche Bücher genug und satt. Und schreiben? Ja, an wen denn wohl? An Papa und Mama im Himmel gelangt doch kein Brief. Und sonst habe ich ja keinen Menschen als dich allein. Und dir brauche ich nicht zu schreiben; dir kann ich es ja sagen. Du bist meine gute Gesellschaft, die allerbeste, Väterchen.«

Ich hatte Mühe, meine Fassung zu behaupten inmitten von feuchten Augen und Lachen in den Bart. »Hättest du nicht Lust, Musik zu lernen?« fragte ich darauf.

»Ei, singe ich denn nicht? Eine Heidelerche nennt mich der Herr Förster,« versetzte Lori lachend. Und sie sprang auf, stellte sich vor mich in Positur und trällerte über eine bekannte Volksmelodie eines ihrer Lieblingsliedchen.

Guten Tag, guten Tag, Herr Gärtnersmann,
Haben Sie Lavendel?
Rosmarin und Thymian?
Und ein Sträußchen Quendel? usw.

»Gefällt dir das nicht, Väterchen?«

»Scharmant, scharmant, Kind! Ich meine aber, daneben auch ein Instrument spielen.«

»Spielst du ein Instrument?«

»Ich? Nein.«

»Du hörst es aber gern, nicht wahr?«

»Hm, hm! Ich glaube – ja.« Die Wahrheit zu sagen, haßte ich das Geklimper wie die Sünde. Meines Nero Heulen klang mir lieblicher.

Lori sann eine Weile, das Fingerchen an der Nase; dann fröhlich in die Hände klatschend, rief sie: »Weißt du was, Väterchen, unserer Frau Organistin Sohn, der, welcher bei den Stadtpfeifern ist, gibt Stunden auf allen möglichen Instrumenten. ›Er ist ein ganzer Bach!‹ sagt die Frau Organistin von ihm. Kaufe mir eine Gitarre, Väterchen; sooft der Herr Stadtpfeifer zum Besuche seiner Mutter kommt, soll er mich sie spielen lehren; ich will ungeheuer fleißig sein und dir jeden Abend eine ganze Stunde lang vorspielen, was ich gelernt.«

»Eine tröstliche Aussicht,« dachte ich. Aber ich sagte: »Nun gut, Lori, gut; allein junge Fräuleins lernen auch noch andere hübsche Dinge. Sie malen Blumen – –«

»Ich pflücke sie lieber, Väterchen, und pflege sie.«

»Aber tanzen, Kind, tanzen! Alle Mädchen tanzen gern.«

»Ich auch, Väterchen, ich auch! Aber warum denn lernen, was man schon kann?«

Dabei faßte sie mich bei beiden Händen und drehte sich mit mir ringelrund, bis ich odemlos auf die Bank zurücksank. »Siehst du, wie wir können!« rief sie jauchzend.

»Ja, wohl sehe ich es,« erwiderte ich, nachdem ich wieder zu Atem gekommen. »Das heißt aber nicht tanzen, das heißt tollen. Ich meine Kunsttanz, Anstand, Konduite, wie man sie in der Gesellschaft braucht. Und so gibt es noch mancherlei feine Künste, durch deren Übung man den Leuten gefällt.«

»O, du närrisches Väterchen,« entgegnete die Kleine, indem sie mir mit zärtlicher Schelmerei in die Augen sah, »wo sind denn die Leute, denen meine Kunststückchen gefallen würden? Und wenn ich für dich Konduite genug besitze, was brauche ich da mehr?«

Ich äußerte: »Du würdest Zerstreuung haben, Vergnügen.«

Sie dagegen: »Habe ich Zerstreuung denn nicht schon allzuviel? Schilt mein Väterchen nicht wer weiß wie oft: Nicht so zerstreut, Wildfang? Und Vergnügen? ach, die Hülle und die Fülle! Alle Tage ein neues. Sieh nur, sieh, wie dort die kleinen Zeisige die Köpfe aus dem Neste recken!«

»Aber Gespielinnen, Lori, die ich dir hier nicht verschaffen kann.«

»Habe ich denn nicht dich? Spielst du nicht mit mir, Väterchen? Ei, so dumm ist die dumme Lori doch nicht, daß sie das Spiel nicht merkte, auch wenn du noch so ernsthaft aussiehst und wie aus dem Buche redest. Und ich spiele so gern mit dir und werde alle Tage klüger bei unserem Spiele.«

»Unter Mitschülerinnen deines Alters würdest du noch viel klüger werden, Kind.«

»Ach, wie schrecklich!« rief sie mit einem Tone, der beinah traurig klang. »Den lieben langen Tag auf einer Bank sitzen mit solchen, die alles schon wüßten, oder im Umsehen lernten, was ich doch nicht lernen kann und auch nicht lernen mag, feinen Fräulein, wie meine liebe Mama ihre Sauvage haben wollte, und wie sie nun einmal nicht sein und werden kann. Ach, wie würde ich mich schämen und grämen und sehnen, nach meinem Pferdchen, meinen Tauben, nach unserem Wald, nach dir, Väterchen, nach dir. Ich würde sterben, ja sterben vor Heimweh. Laß mich bei dir, Väterchen, bei dir bin ich glücklich. Nur bei dir kann ich es sein.«

Tränen standen in ihren Augen, und ich glaube, in den meinen auch. Heimlich aber jauchzte mein Herz. Ich hatte diese Antwort ja erwartet, aber nicht so warm aus dem Seelengrunde heraus, weniger aus Liebe, als aus Lust. O, du Engelskind! Ich hätte dich an meine Brust pressen und all das Dankesglück ausströmen mögen, das in ihr wogte! und wahrlich! es war eine Heldenprobe, den ehrbaren Vormund durchzuführen und schließlich die Gouvernante, als Bildnerin zur Dame, in Wahl zu stellen.

Lori hatte von einem derartigen Individuum keine andere Vorstellung als die von Mama aufgeschnappte, einer auf Schritt und Tritt gestrengen Vigilantin, die, weniger erbittlich als ihr Väterchen, sie aus dessen Nähe, aus der verhätschelnder Hausgenossen, aus Garten und Wald in die öde Schulstube bannen würde.

»Ich kann nur lernen, was du mich lehrst, Väterchen,« schmeichelte sie; »ich mag keine Kunst, die du nicht kannst. Bei Mama sogar habe ich nichts gelernt, aber du bist ganz anders als Mama, von dir lerne ich. Laß mich so, wie ich bin, so, wie du mich liebgehabt hast bis heute Wer weiß, ob die feingebildete Lori dir wie dein Wildfang gefallen würde?«

Die junge Weisheit hatte die verkappte alte aus dem Felde geschlagen. Ach, es tut manchmal so wohl, der Überwundene zu sein. »Selig die Einfältigen!« dachte ich. »Was wäre ein Maiblümchen ohne seinen Waldesduft? Setze es in eine Vase, und er würde verfliegen, und der alternde Naturfreund, dem, übersatt von dem Moschusbrodem der Welt, der Duft in das Herz gezogen ist, würde als Misanthrop seine Tage beschließen.«

Der Friedensschluß zwischen dem Väterchen und dem Vormund konnte indessen nicht Dauer haben. Den Sommer hindurch, nun ja, und allenfalls noch einen munteren Herbst; als aber der Winter kam mit seinem kurzen Tagestreiben und der langen Abendstille, da begann der Quälgeist seinen alten Rumor; er bestand auf sein Recht, und sein Recht war diesmal ja ein gutes.

Ich tat nun beflissener als zuvor diesen und jenen Schritt, machte diese und jene Tour, um ohne weitere Zwischenreden eine würdige Duenna als fait accompli in das Junggesellenheim zu versetzen. Nirgends aber führte die Suche zu einem Ziele. Bei einer jeden fand ich etwas auszustellen. Hier hinter frömmelnden Ergüssen einen trüben Jugendborn, dort unter einer gleißenden Politur einen hohlen Untergrund. Seltsam aber, wo ich in Bekanntenkreisen die wichtige Angelegenheit zur Sprache brachte, da wurde sie leichthin behandelt, als ein so strenger Wahl gar nicht bedürftiges Anstandsinterimistikum, wurde mit schielenden Blicken, halben Worten und zweideutigem Lächeln ein Verhältnis in Sicht gestellt, dessen Voraussetzung dem alten Knaben das Blut in die Schläfe trieb und das Herz zum Zerspringen klopfen machte. Ja, selbst im eigenen Hause, bei Frau Försterin und Frau Organistin, stieß ich auf die nämlichen Voraussetzungen. Und wenn nun auch Lori auf sie stoßen und um ihr harmloses Vertrauen gebracht werden sollte? Das entlegene Fräuleinstift trat ernstlich in den Vordergrund.

So war es wiederum Frühling und der Todestag der Baronin jährig geworden. Lori an der Hand, kehrte ich von der Mutter Grabe durch die Heide zurück. Das aufrichtige Herz zeigte keine tiefere Betrübnis, als es wirklich noch empfand. »Mama war immer traurig, weil sie ohne Papa leben mußte,« sagte sie. »Ist es unrecht, Väterchen, daß ich ohne meine liebe Mutter doch wieder so froh geworden bin?«

»Es ist der Jugend Recht, sich leichter als in reiferen Jahren, auch über den schwersten Verlust, zu trösten,« antwortete ich. Lori schwieg eine Weile, dann versetzte sie nachdenklicher, als ich sie jemals gesehen: »Nein, darum ist es nicht. Aber weil ich dich noch habe, Väterchen, weil du mich noch liebhast, darum bin ich froh. Ohne dich wäre ich traurig, wie Mama.«

Wie hüpfte mein Herz vor Entzücken bei diesen Worten und dem zärtlichen Blick, der sie begleitete.

Ich hatte mir bis in diese Minute nicht klarmachen wollen, daß Lori im Laufe des Winters zwar nur wenig gewachsen, aber daß, den knospenden Formen nach, aus einem halbwüchsigen Mädchen ein vollwüchsiges, daß aus dem Kinde eine Jungfrau geworden war. Wenn ich das holde Geschöpf in dieser Wallung in die Arme schloß, ich würde ihm die Schamröte des Weibes in die Stirn gejagt haben, vielleicht – nein, gewiß. Sie muß fort, fort! Oder mindestens eine Scheidewand zwischen uns aufgerichtet werden. Nicht gegen mein Blut, gegen einen verräterischen Blick von mir. Bei Gott im Himmel! ich würde sie wie ein Heiligtum gehütet haben vor mir selbst. Aber gegen ihren eigenen Argwohn und gegen den Argwohn, den Geifer der Welt.

In dieser meiner Erregung stieß, auf einem seiner ärztlichen Landwege begriffen, der alte Weise zu uns, der einzige Mensch, den ich allenfalls Freund nennen durfte und der durch die Behandlung der Baronin mit den Leuten und Zuständen im Heidehause vertraut geworden, es auch seitdem als Teilnehmender geblieben war. Ich schätzte den Mann. Er war, was sich selten verträgt, zugleich ein Menschenkenner und ein Menschenfreund; machte nicht allzu hohe Ansprüche an Adamssöhne und Evastöchter, half ihnen aber, soviel er vermochte, nicht bloß als Doktor, aus ihrer Not, hängte der Wahrheit kein Mäntelchen um und lachte, wo ich mich ärgerte. Gibt's eine bessere Lebensphilosophie? Wiederholt hatte mich in meinen Erziehungszweifeln nach dem Rate eines Verständigen verlangt; nun, da stand ja der rechte Mann. Ich brachte ihm mein Anliegen zu Gehör. Lori schwenkte vom Wege ab, Morcheln und Mousserons zu suchen.

Selbstverständlich, daß ich alle gefühlvollen Anwandlungen außer Betracht ließ und die Frage einfach als Vormund und Erzieher stellte: Gouvernante oder Pensionat?

Der Doktor hatte meine Pro und Kontra stillschweigend angehört, um die mit grauen Stoppeln bepflanzten Lippen jenes Lächeln, mit welchem er einer spasmodischen Schönen ein bogenlanges Rezept verschrieb, dessen Grundstoff klarer Born war. »Nun,« fragte ich endlich, »was ratet Ihr? für welches von beiden würdet Ihr an meiner Statt Euch entscheiden, Doktor?«

»Für keines von beiden, Forstmeister.«

»Und für was außerdem?«

»Von vornherein für das, worauf zu guter Letzt die Sache doch hinausläuft.«

»Und das wäre?«

»Potzelement, die Hochzeit, was denn sonst?«

Ich glaube, ich wurde rot wie ein Schulbube, der als Dieb auf dem Apfelbaum ertappt worden ist. »Ich stellte die Frage im Ernst, Weise,« preßte ich zwischen den Zähnen hervor.

»Und ich gab die Antwort im Ernst, Klösterley,« versetzte ruhig der Alte.

»Sie – ein Kind!« murmelte ich, und er dagegen:

»Sechzehn Jahr, heil und gesund wie ein Schmerlchen im Bache. Just das richtige Stadium für den Ehestand. Allen Hirngespinsten und Traumwesen von vornherein die Ader unterbunden. Die Kinderschuhe werden am besten in der Kinder-, will sagen, in der Wochenstube ausgetreten.«

»In Fesseln legen ein Kind, bevor es weiß, daß es ein Herz hat,« rief ich, in richtiger Kalmäuserwut über meine eigene heimliche Zustimmung empört. »Das heißt Menschenraub, Herr!«

»Ich wüßte einen Titel dafür, der nicht an den Galgen führt, Herr!«

»Ein unerfahrenes, unberatenes Mädchen betrügen um alle Gefühle, die des Weibes Glück machen! Es – –«

»Nun, Gott steh bei mir,« unterbrach mich der Doktor lachend, »noch nicht genug der Koserei? Schnurriger Kauz, der Ihr seid, hängt das Schmeichelkätzchen Euch denn nicht an wie eine Klette? Herzväterchen hinten, Herzväterchen vorne! Nichts für ungut, Freund, mir würde des Liebhabens ein bißchen mehr als zuviel – und Euch, Nimmersatt, ist's noch lange nicht genug!«

»Waisengefühl, Dankbarkeit, Schutzbedürfnis, unbewußtes Autoritätsverlangen – –«

»Ehrerbietung, Gemütlichkeit und derlei guter Dinge mehr, aber die rechte Liebe immer noch nicht, gelt?«

»Indessen,« so fuhr er nach einer beiderseitigen Pause fort, in ernsthafterem Tone als bisher, »indessen hat neben dieser sublimen, die Sache auch noch eine hausbackene Seite, die weniger dem philosophischen Liebhaber, als dem praktischen Vormund zu Gemüte zu führen ist. Für Euch, wie Ihr nun einmal seid, paßt die kleine Heideläuferin, so wie Mutter Natur sie geschaffen, Herzväterchen sie herangehätschelt hat, und weder Institut noch Gouvernante Erhebliches an ihr ändern werden. Kein Firnis verdeckt das Geäder des Holzes. Für wen aber paßt sie außer Euch? Für einen Junker ihresgleichen etwa, ob es ein Krautjunker sei, der eine Schaffnerin, oder ein Hofjunker, der ein Zierpüppchen sucht? Für einen Bürgersmann unseresgleichen, einen Pastor, Doktor, Amtmann und so weiter, dessen Hausehre vielleicht alle Jahre einmal in der Erntezeit das Korn auf der Feldflur stehen sieht, der der Schlüsselhaken wie angeschmiedet am Schürzenbund klappert und die, mit oder ohne Gesichterschneiden, es für Gottes Ordnung hält, wenn ihr Oberherr über eine versalzene Suppe brummt und zwischen seinen vier Pfählen das Rauhe herauskehrt, das er vor hohem Adel und verehrlichem Publikum mit Hammelsgeduld auf der verkehrten Seite trägt? Gleichviel, ob Ihr das Mädchen von vornherein bei Euch behaltet oder nach Jahr und Tag zu Euch zurückkehren laßt, es ist in mannbarem Alter, und was wird aus ihm, wenn Ihr es nicht nehmt?«

»Ich bin nicht unvermögend, wie Ihr wißt, Doktor. Ich würde sie adoptieren und als Tochter in meinem Hause schalten lassen.«

»Und das Ende vom Liede: eine grämliche alte Jungfer an der Seite eines noch älteren und noch grämlicheren Junggesellen, anstatt eines fröhlichen Mütterchens in der Kinder-, und will's Gott! dermaleinst in der Enkelstube. Das ist ihre Welt! Eine Wiege schaukeln und Ringelrundtanzen, dazu ist das herzige Waldkind geboren. Tut der Natur nicht Gewalt an, heiratet Euer Herzblättchen lieber heute als morgen.«

In mir wirbelte ein Fieber. Ich zitterte. Was war es denn anders als mein eigenstes brennendes Verlangen, Tag und Nacht wie ein Frevel zurückgedrängt und jeden Augenblick mit Lerchenschlag wieder in die Höhe wirbelnd, was hier von einem braven, menschenkundigen Freunde mir vorgehalten ward nicht nur als mein gutes Recht, sondern als Pflicht und Schuldigkeit, wie Natur und Vernunft sie heischten?

»Ja,« stammelte ich, »ja, wenn es sich um mich handelte, um mein Glück allein – wenn – –«

Der Alte ließ mich den Satz nicht vollenden. Wir hatten unseren Garten erreicht, Lori ordnete in der Laube bereits die gesammelten Schätze. »Wißt Ihr, was ein Kalmäuser ist, Kalmäuser?« fragte der Doktor, indem er am Eingange stehenblieb.

Ich zwang mich zum Lachen. »Nun,« erwiderte ich, »wie Ihr, Physikus, die Spezies begutachten mögt, so eine Art von intellektuellem Mondkalb und gefühlvollem Wasserkopf; oder auch nur ein armer milzsüchtiger Schächer, der zum Leben nicht das Zeug hat und zum Sterben keinen Mut.«

»Umgedreht würde allenfalls ein Schuh daraus, Psychikus,« versetzte der Alte gleichfalls lachend, aber äußerst ungezwungen: »Zum Leben keinen Mut und zum Sterben nicht das Zeug, denn diese Bedenklichkeitskommissarien sind eine zähe Sorte. Vergleichen wir ihn dahero, anstatt einem Mondkalb, lieber so einem graufelligen Gutfreund, der das süßduftende Heubündel beschnuppert und – mit einem Mordhunger im Leibe – nicht hineinzubeißen wagt, weil er schwarz auf weiß nicht belegen kann, daß das Heu auch just für ihn auf unseres Herrgotts Wiese gewachsen sei. Zum Segen für seinen Appetit ist nun aber ein gutmütiges Hexchen bei der Hand, das ihm den legalen Beweis ad oculos zu demonstrieren vermag.«

»Kommen Sie einmal her, kleines Fräulein,« rief er nach der Laube hinüber. »Ich will Ihnen rasch den Puls einmal fühlen.«

»Ums Himmels willen, seid Ihr toll geworden, Weise?« schrie ich, ihn bei den Schultern packend.

Schon jedoch war das flinke Kind herbeigesprungen und hielt verwundert dem Alten das Händchen hin. Der faßte sie, statt an den Puls, unter das Kinn, richtete es in die Höh, daß unsere Augen sich begegnen mußten, und sagte mit einem Tone, dessen Feierlichkeit mich in anderer Stimmung zum Lachen gebracht haben würde: »Sehen Sie sich einmal gegenwärtiges Väterchen recht genau von oben nach unten darauf an, Fräulchen; möchten Sie es wohl zum Manne haben? Halt, halt! nicht so fix mit dem Nicken! Ich meine, würden Sie ihm als Ihrem richtigen Ehemann so gut sein können, wie bisher als Ihrem Lehrer und Freund?«

»O, so gut, über alles gut!« rief Lori, indem sie freudig, aber auch nicht mit einer Schattierung höheren Rotes auf den Wangen zu mir aufblickte.

»Prosit, es gedeihe!« sagte der Alte, legte unsere Hände ineinander und wendete sich stracks zum Gehen. »Vergeßt nicht, daß ich mir einen Kuppelpelz verdient habe!« rief er noch zurück, dann stapfte er weiter in die Heide hinein.

Ich stand wie vernichtet. Scham und Seligkeit stritten widereinander in meiner Brust. Lori schmiegte ihr Köpschen an meine Schulter.

»Vergiß, was du gehört, Lori!« stotterte ich endlich hervor. »Es war ein Scherz.«

»Nur ein Scherz?« fragte sie. »Und ich habe es für wahr gehalten. Willst du mich denn nicht zur Frau haben, Väterchen?«

»O, ich – ich –! Aber du, du! Weißt du denn, armes Kind, weißt du, was eines Mannes Frau sein heißt?«

»Ja, ja, ich weiß es, Väterchen!« rief sie, »es heißt, einen Mann liebhaben und keinen anderen so wie ihn und glücklich mit ihm sein – –«

»Ein ganzes, langes Leben hindurch, Lori?«

»Kann man denn aufhören, seinen Liebsten liebzuhaben? Immer und ewig, Väterchen!« sagte sie mit einem Engelslächeln.

Ich war überwältigt, riß sie an meine Brust und küßte ihre Lippen mit einem Bräutigamskuß. Sie nahm ihn hin, als ob es noch der des Vaters wäre, entwand sich darauf meinen Armen, flog in das Haus und jubelte, indem sie die alte Försterin umhalste: »Mutter Michel, ich bin meines Väterchens Braut!«

»Habe ich es Ihnen nicht vorausgesagt, Fräulchen, worauf nach Gottes allweisem Ratschlusse diese Vormundschaft hinauslaufen würde?« sagte die alte Frau, ihres Lieblings Backen streichelnd. »Nun müssen Sie aber auch hübsch kochen lernen, denn die Küche ist im Ehestande Nummer eins.«

Lori nickte vergnügt. »Ja, ja, gleich morgen. Und was recht Gutes, Mutter Michel!«

Währenddessen stattete die Frau Organistin dem Bräutigam ihren Glückwunsch ab; der Grundtext über die Stufe, welche er, der Bräutigam, durch diese Wahl sich in den Himmel gebaut habe, feierlich variiert wie eine Fuge ihres großen Namensvetters. Auch Vater Michel drückte mir die Hand mit den Worten: »Sie haben sich einen Gotteslohn um die arme Waise verdient, Herr Forstmeister!«

Sie alle, die es gut mit dem Kinde meinten, hatten als ein großes Los für dasselbe erwartet, und leider nicht stillschweigend erwartet, was das Kind nun, ohne deutliche Vorstellung, als die natürlichste Erfüllung ruhig dahinnahm, während der gepriesene Wohltäter, der seit Jahren diese Vorstellung bis in ihre Endwurzeln und Ausläufer zerfasert hatte, sich wie von einem unbegreiflichen Glücksborn überschüttet fand.

Brauche ich, und diesmal zur Rechtfertigung des Kalmäusers, noch anzuführen, daß er sich den höchsten Gewinn seines Lebens nicht ganz ohne Vorsicht angeeignet und wenigstens eine leichte Probe auf das Exempel, welches die Freunde gelöst glaubten, nicht erspart hat?

Schon am übernächsten Tage war, nicht der Bräutigam mit seiner Braut, aber der Vormund mit seiner Mündel, unter dem Ehrenschutz der Frau Organistin, auf dem Wege nach Dresden, um dem weltfremden Kinde ein Stück buntes Leben kosten zu lassen, bevor es dessen Reizen in der Enge des Hauses entsagte, und, falls es eine Lockung verspürte, das Entsagen zu verzögern oder – noch Schwereres sich abzuringen.

Lori spürte diese Lockung nicht. Der Eindruck war ein weit geringerer, als ich mit Bangen erwartet hatte; die Szene für das kindliche Bedürfen und die freie Gewöhnung gleichzeitig zu weit und bedrückend eng.

In steifer, schleppender Kleidung, als »ehr-, sitt- und tugendbelobtes Fräulein«, am Arme ihres Herrn Vormunds, zwischen hohen Häuserreihen oder regelrechten Alleen gleichmäßig Schritt halten zu müssen, nicht ein einziges Mal sich auslaufen, lustig ausspielen, laut auflachen zu dürfen, fiel dem Waldjüngferchen bald unerträglich; an den Schätzen der Kunstgebilde, welche zehn Jahre später das Weib gewürdigt haben würde, ging das Kind ohne Eindruck vorüber; der prunkvolle Gottesdienst seiner Mutterkirche ließ das junge Herz, das nur gewohnt war, den göttlichen Schöpfer in der prunklosesten seiner Schöpfungen anzubeten, ebenso unbewegt wie das Bildnis der hehren Himmelskönigin, des größten Meisters Meisterstück, vor welchem der ungenügsame Kalmäuser überwältigt seine Knie hätte beugen mögen.

Gesellige Eindrücke hatte die in der Sommerzeit vom Hofe verlassene Residenz wenig zu bieten. Die italienische Oper war geschlossen, die Leute, denen wir im Gasthaus, wie an öffentlichen Plätzen begegneten, gingen ziemlich achtlos an dem kleinen, rotbäckigen Mädchen vorüber, das nicht, wie seine Mutter, eine augenfällige Schönheit war. Nur wer das Sehnen nach einem unentweihten Gemüt, den Reiz ursprünglicher Unschuld empfand, mußte von meiner Lori angezogen werden. So blieb denn auch der Sinn der Eitelkeit, der starke Sinn, den ich bisher auch in dem bescheidensten Weibe aufgespürt hatte, ungeweckt. Lori langweilte sich auf Reisen, sie bangte sich nach ihrer Heide, ihrem Pferdchen, ihren alten guten Freunden; sooft ich sie bei einem Ausfluge fragte: »Ist es hier nicht schön?« antwortete sie: »Bei uns ist es doch viel schöner«, und lange bevor die von mir gesetzte Reisefrist abgelaufen war, bat sie mit Schmeicheltönen: »Laß uns heimkehren, Väterchen.«

Die Frist wurde gewissenhaft innegehalten. An dem Tage jedoch, wo das von dem Vormund aufgegebene Pensum der Weltkenntnis von der Mündel zu seiner Zufriedenheit abgefertigt war, legte der Pfarrer des nächsten Heidedorfes die Hände von Bräutigam und Braut ineinander, und das Kind gelobte dem Manne, den es Vater genannt hatte, Treue bis in den Tod. Eine Stunde später kehrten sie als Mann und Weib in ihr Heidehaus zurück.

Sage man nicht: die Reue kommt nach der Tat. Sie ist als Zweifel schon da vor der Tat. Was ein Mensch mit voller Seele getan, bereut er nicht, welches auch immer die Folgen. Ich hatte mir die Geliebte angeeignet gegen den Mahnruf meines Gewissens.

VI

Die Reue folgt der Tat aber auch nicht immer auf dem Fuße; Pausen des Friedens und der Wonne liegen zwischen ihnen. Und solch eine Pause war auch für mich die Zeit, welche dem Tage der Erfüllung folgte. Was jedoch soll, was kann ich weiter von ihr sagen? Das reinste Glück hat noch nie einen Maler gefunden.

Nach außen hin änderte sich unser Leben wenig und nach innen kaum mehr. Ich wußte, daß ich ein Kind zu einem Weibe gemacht und daß ich es nicht mit der späten Glut eines Mannes, der mehr als vierzig Jahre ohne Liebe gelebt, nun, da deren Forderungen sein Recht waren, aus dem Gleichgewicht bringen durfte. So möchte unsere Ehe, wie entgegengesetzt auch Naturen und Motive, wohl jenen gut bürgerlichen gleichen, die gewohnheitsmäßig, ohne starke Impulse geschlossen, und vielleicht darum eben, dem Maßstabe entsprechend, glückliche genannt werden. Nie trübte eine Wolke Loris reine Stirn. Das junge Herz schlug im frohen Takte, wie bisher, und das verjüngte genoß, ledig aller unruhigen Zweifelsucht, zum ersten Male im Leben der guten Stunde. Und diese friedliche, selige Stunde währte nahezu zwei Jahre. O, daß ich mit ihr meine Bekenntnisse schließen dürfte! Denn der Quälgeist im Hirn war nicht tot, er schlief nur, wie ein Wurm im Sonnenschein, um neugestärkt zu erwachen.

Den ersten Mißklang in unsere Harmonie, das heißt in mein Gemüt allein, trug während des zweiten Winters unserer Ehe die Kunde von des Prinzen Rückkehr nach Dresden. Lori nahm dieselbe mit völliger Unbefangenheit auf; nahezu vier Jahre waren es, daß sie ein paar Abendstunden bewundernd zu seinen Füßen gesessen, sie hatte selten wieder an ihn gedacht und ihn daher so gut wie vergessen. »Wenn er zu uns kommt,« sagte sie lachend, »wirst du sehen, Väterchen, wie ich der Frau Oberforstmeisterin mit meiner Waldkonduite Ehre mache.« (Das »Ober« war dem Forstmeister als heiliger Christ und Lohn für den vollendeten praktikablen Heideweg angehängt worden.)

In erster Ordnung schien es daher – und war auch wirklich – nicht eifersüchtige Befürchtung, die mich verdrießlich stimmte, zumal auch von der anderen Seite dem Mißtrauen gleichsam ein Riegel vorgeschoben worden war, indem landläufig das Gerede sich verbreitet hatte – vielleicht einzig und allein den weiblichen Bewohnern unseres Heideschlößchens nicht zu Ohren gekommen –, daß jenes bereits erwähnte schöne Weib, die wilde Britin, oder Lady Pandura, wie der Volksmund sie getauft, auf ihrem Eroberungszuge auch die galante Polenhauptstadt nicht verschont habe, alldort unserem Prinzen nahegetreten sei und kurz vor ihm nach der sächsischen Residenz zurückgekehrt sei. Dieses Gerede, das mich völlig hätte beruhigen sollen, wurde zum Ursprung meiner Beunruhigung: ich witterte den ersten trüben Hauch über einem Herzensspiegel. Was war nach der Auffassung der Welt und im Grunde bei aller verbissenen Tadelsucht, auch nach der, an welche ich mich selbst gewöhnt hatte, was war dabei, wenn jenes Gerücht nicht bloß ein solches war? Das mehr oder minder flatterhafte Verhältnis eines hohen Herrn, obendrein eines unvermählten, zu einer schönen Frau seines Lebenskreises, Neid und Mißgunst würde es erweckt haben, ein Ärgernis nimmer. Der Kodex für einen Fürsten ist nun einmal ein anderer als für den gemeinen Mann. Hatte doch selbst der feinsinnigste der Reformatoren eine doppelte Fürstenehe geweiht.

Aber Lori stand für mich außerhalb, nein, weit oberhalb der Welt und hoch über mir selbst. Wie eine Nonne ihren Schleier, sollte sie ihre Unschuld und den Glauben an unbedingte Tugend als Ehrenschmuck durch das Leben tragen; hätte ich früherhin den verführerischen Helden von ihr fernhalten mögen, nun, bei Gott! den gestürzten Helden, den Frevler noch viel mehr.

Der heimliche Mißton sollte nur allzubald zur lauten Unruhe werden.

Es war in der österlichen Zeit; die Zugvögel kehrten aus dem Süden heim. Der Schnepfenstrich hatte begonnen. Ein Frühlingskultus für hohe Herren; daß er es auch für schöne Damen sei, erlebte ich mit Ingrimm heuer zum ersten Male. Lady Pandura war zur Feier desselben als umhuldigter Gast eines standesherrlichen Hauses in unserer Nachbarschaft eingekehrt; ich hatte sie mehr als einmal, ganz allein, bloß den Büchsenspanner hinter sich, auf einem feurigen Berberhengst kreuz und quer durch die Heide sausen oder auch in weidmännischer Gesellschaft zwischen dem Unterholz nach einem der auszurottenden Eber zielen sehen und den Zufall gesegnet, daß Lori bei keiner dieser Begegnungen an meiner Seite gewesen, das Dasein der befremdlichen Amazone ihr demnach verborgen geblieben war.

Wo aber die Dame sich divertierte, konnte ihr deklarierter Kavalier ja nicht lange ferne bleiben, und in der Tat wurde er nach kaum einer Woche zum Weidgenuß in seiner städtischen Residenz angemeldet. Daß er das Heideschloß nicht verschonen würde, darauf machte ich mich gefaßt, verschonte der Himmel es nur gnädig vor der Widerwart der Männin, die sich ein Weib zu heißen erdreistete!

»Nun gilt es die Probe der Unschuld auf Weltlust und Eitelkeit – und vielleicht auch noch auf jene stärkere Macht, die alle Schuld gebiert – aber auch alles Glück!« so murmelte der Störenfried im Herzen, während ich, abgesondert von meinen Mitbediensteten, zum Empfang des Herrn vor dem Stadtschlosse auf und nieder schritt.

»Sind Sie krank, Klösterley?« fragte der Prinz, als die Reihe der Begrüßung an mich gekommen war. »Ein junger Ehemann sollte bessere Miene haben.«

Ich sah, das heißt von meinem Stimmungslicht beleuchtet, sah ich einen ironischen Zug um seine Lippen spielen und übersetzte mir die Frage: »Alter Sauertopf, wie konntest du dich noch in den Irrgarten der Jugend wagen?« Um so dreister antwortete ich:

»Halten zu Gnaden, Durchlaucht, ich könnte mich nicht wohler fühlen.«

»Und Ihre kleine Waldfee?«

»Desgleichen, Durchlaucht.«

»Das freut mich, Freund!«

Mein Stimmungsohr hörte: »Das bezweifle ich, Narr!«

Indessen schien die Prüfungszeit gnädig zu verlaufen. Bei unseren geschäftlichen Unterhaltungen und den Jagdexkursen, selbst in Begleitung der Amazone, zeigte der Herr wiederum den praktischen Vorausblick, den ich an meinem früheren Gebieter so gründlich vermißt hatte. Über dem weidgerechten Schützen stand der holzgerechte Förster; er begriff, was der mißhandelte Wald künftigen Geschlechtern zu bedeuten habe, lobte meine Einrichtungen und gab manchen Fingerzeig. Da er überdies nicht ein einziges Mal in unserem Schlößchen einkehrte, söhnte ich mich von Tage zu Tage mehr mit ihm aus, und sogar mit der schönen Widerwart, welche in Begleitung ihrer gräflichen Hauswirtin und anderer hoffähiger Damen regelmäßig, wie auch ich, an der prinzlichen Tafel teilnahm. Gott sei Dank, daß die Oberforstmeisterin Klösterley nicht hoffähig war und es zu sein auch nicht verlangte. Die Frist zur Schnepfenjagd war überdies nur kurz bemessen worden, weil der Prinz eine Frühkur in Karlsbad in Aussicht genommen hatte. Zu besserem Gedeihen ohne Zweifel unter liebenswürdigem Geleit. Die Lenzstille im frischgrünen Tepeltale mußte erotischen Stimmungen jedenfalls günstiger sein, als das Treiben der hohen Saison.

»Übermorgen ist die Luft rein!« Der Gedanke würzte mir jeden Bissen und Tropfen der letzten Tafel, zu der ich befohlen war. Ich vergaß in meinem Wohlgefühl, daß vor dem Übermorgen noch ein Morgen liegt.

Der Prinz hatte für den Tag der Reisevorbereitung mich vom Dienst entbunden und mit den Worten verabschiedet: »Grüßen Sie Ihre kleine Waldfee von mir.«

(Der Name Waldfee schien für Lori in der Nachbarschaft gang und gäbe und war mehr als einmal von dem Prinzen und seinen Tischgenossen ausgesprochen worden, wie mich dünkte, mit dem stillen Nebengedanken an einen Kobold oder Drachen, der das Feechen hütete. »La belle et la bête!«)

Ich küßte dem Prinzen mit Inbrunst, weil zum Lebewohl, die Hand und verbeugte mich vor seiner Dame, die nebenbei in einer Fensternische stand.

»A propos! Feenschlößchen!« rief sie mit ihrem kurzangebundenen, metallischen timbre, »uns bleibt noch ein freier Tag, um es kennen zu lernen. Auf morgen denn, Monsieur!«

Es mochte wohl ein kläglich hülfeflehender Blick sein, den ich zu dem Prinzen hinüberwarf, denn er machte Mylady in ihrer Landessprache einen Einwand, den ich mir selbst nicht unterstehen durfte und der, seinem Tone nach, dahin auszulegen war, daß die Kenntnis nicht lohnen werde.

Widerspruch aber reizt.

»Ganz recht, Durchlaucht! Ich bin weder Märchenprinzessin, noch Schäferin,« sagte sie in verständlichem Französisch. »Eben darum aber liebe ich Feenspiele und Idyllen, würde auch gern eines von beiden, oder beide vereinigt, einmal in Wirklichkeit leben sehen. Erwarten Sie mich also, Monsieur.«

Der Prinz runzelte die Stirn. Verdroß ihn der ironische Trotz, die veränderte Disposition – oder was sonst? Noch schwieg er eine Minute lang.

»Melden Sie uns denn Ihrer lieben Hausehre für morgen nachmittag auf ein Schälchen Kaffee an,« sagte er endlich mit gezwungenem Lächeln, indem er mir die Hand reichte.

Er wagte, er durfte wagen, eine Kreatur von diesem Ruf – und wenn auch nur ein Bruchteil desselben Wahrheit war – in mein Haus, an meinen reinen Herd, unter die Augen meines kindlichen Weibes zu führen! Mein Großvater, der Schneider, hätte ihm die Tür weisen und sagen dürfen: »Herr, wir deutschen Bürgersleute pflegen andere Sitten.« Und wer weiß, ob er es nicht wirklich gesagt und getan haben würde. Sein Enkel, der Bewunderer antiken Tugendstolzes, öffnete chapeau bas mit einem untertänigen Bückling der Kurtisane und ihrem Cicisbeo die Tür.

Aber auch mit welchem Gift im Blut!

Eine gewisse Genugtuung, ja, eine schwächliche Schadenfreude gewährte es mir, daß auch der Herr, als er seiner Begleiterin vom Pferde half, sich keineswegs in der Laune eines Amoroso zu fühlen schien. Er kniff die Lippen übereinander, wie er es bei verdrießlichen Anlässen zu tun pflegte. Hatten sie sich bei Wege überworfen? Es heißt zwar, tapfere Soldaten seien den Frauen gegenüber fromm, von Lady Pandura aber sagte die Welt, daß täglich wenigstens eine querelle d'Allemand, ein éclat, eine rupture, so gut wie ein Parforceritt, zu ihres Lebens Notdurft gehören. Oder – empfand der Herr in meiner Seele die Ungebühr dieser Heimsuchung, spürte er wohl gar die Schädigung eines unbefleckten Menschenherzens?

Sein Blick begegnete dem von Lori, die auf der Rampe ihren Gästen entgegenlächelte, in heiterer Erwartung, aber ohne einen Zug von Unruhe oder Mißtrauen in ihre gesellschaftliche Unerfahrenheit. Sie war nicht mehr das Kind von dazumal, trug keine langen Zöpfe und kurzen Röckchen mehr, allein auch weder einen modischen Panier, noch Puder und Turnüre. Im weißen Kleide, die blonden Haarwellen natürlich aufgewunden, mit den blühend gerundeten Wangen und den goldbraunen, nach innen dunkelnden Aurikelaugen, mit ihren ungekünstelten Bewegungen glich sie auch heute noch dem Bild der Unschuld, einem Kind. Wie sie sich jetzt vor der stattlichen Dame im goldverbrämten, scharlachroten Reitanzug und wallenden Federbusch verneigte, hätte die letztere ihre Mutter vorstellen können, freilich eine schönere Mutter, als die Tochter war, schöner, weil regeren Blutes, sogar als deren wirkliche Mutter es gewesen.

Eine Pariser Rose neben dem lebenden Veilchen. Wie würde bei strahlendem Kerzenlicht dessen duftiges Blau vor Farbe und Parfüm der gemachten Blumenkönigin verschwunden sein! In klarem Sonnenschein stach die Natur das Kunstgebilde aus.

Ich machte diese Bemerkung nicht allein, vielleicht nicht einmal zuerst. Auch der Dame Stirn zog sich in eine Falte unter dem kleinen schwärzlichen Halbmond, welcher deren Weiße als Folie aufgedrückt war: ihre Blicke waren denen des Begleiters gefolgt, wie diese, sich senkend von der hohen Gestalt, auf der kindergleichen ruhten und die Sonnenwenden zu zählen schienen, welche die Waldblüte der Weltblüte nachzuleben hatte.

Lori hatte des Prinzen Hand gefaßt, dieselbe zu küssen, wie sie es Vater und Mutter dereinst getan, wie sie, meinem Sträuben zum Trotz, es auch mir noch bei jedem Morgengruße tat. Er duldete die Ehrfurchtsbezeugung nicht, aber er behielt ihre Hand in der seinen, als er, den merklichen dépit seiner Begleiterin unbeachtet lassend, nicht diese, sondern die junge Hauswirtin in das Zimmer führte, wo er an jenem verhängnisvollen Abende die Mutter zum letzten Male gesehen und welches unverändert die Spuren von deren Dasein trug. Ein warmer Druck der Hand mochte eine beileidige Erinnerung bedeuten. Eine Träne stieg in den klaren Kinderaugen auf; bald genug von einem fröhlichen Lachen abgelöst. Der ist ja lange tot, der vor einem Jahre starb, und seit Frau Lorenza starb, waren es ihrer drei; ihre Lori aber wußte nichts von konventionellen Gefühlspausen und war von Natur weder Schauspielerin noch Pleureuse.

Der Kaffee wurde genommen an dem nämlichen Tische und aus dem nämlichen Gerät, wie dazumal der Tee, und wie dazumal war der hohe Gast nicht in ausgiebiger Stimmung. Die Dame hatte sich, nach einem schier indignierten Blicke auf ihren Galan, hinter dem voranschreitenden Paare drein das Armgeleit des Hauswirts gefallen lassen müssen; inmitten von drei bescheiden oder verdrießlich Schweigenden führte sie nunmehr das Wort. Offenbar, daß sie ihre Märchenneugier bereute. Ein schüchternes, unflügges Piepmätzchen in einem Schuhuneste aufgezogen und darin mit Argusaugen gehütet, mochte sie erwartet haben. Nun flatterte ein niedliches Waldvögelchen ganz wohlgemut vor ihr her, hohe Augen senkten sich gefällig zu ihm herab, und der alte Schuhu machte gute Miene zum bösen Spiele. Und da wollte es ihm, dem Schuhu nämlich, denn bedünken, als wäre es darauf abgesehen, nach dem zerstörten Märchenreiz, auch dem des Schäferspiels gründlich den Garaus zu machen und das Waldvögelein, das kein Piepmätzchen war, als richtiges Landgänschen darzustellen. Seinethalben! Er hätte um dieser Wirkung willen sein Vögelchen desto lieber gehabt! Wenn nur nicht der, auf welchen die Wirkung berechnet war, sich so geflissentlich zum Schwanenritter gegen den stolzen Paradiesvogel aufgeworfen hätte!

Das Frage- und Antwortspiel, das sich nunmehr erhob, gellt mir noch in den Ohren, als hätte ich es gestern gehört. Hier ein Bruchstück desselben, wenn es sich in deutscher Übertragung auch weniger pikant, als im welschen Original ausnehmen wird.

Lady. »Haben Sie Nachbarschaft, Umgang, Madame?«

Lori. »Zur Jagdzeit sehen wir manchmal Leute. Im Sommer aber kommt selten jemand, außer unser guter, alter Doktor.«

Lady. »In dieser Einöde verbringen Sie auch den Winter?«

Lori. »O, gnädige Frau, wenn Sie uns einmal im Winter besuchen, werden Sie sehen, wie schön unser Wald da erst ist.«

Lady (in Parenthese: Es hieß von der tollen Britin, sie spiele die Geige wie ein Zigeunerhauptmann. Aber Hörensagen ist ja halbe Lüge. Vermutlich hat sie nur die Laute geschlagen). »Sind Sie musikalisch?«

Lori. »Ich glaube nicht, gnädige Frau. Mein bißchen Singen und Gitarrenspiel heißt wohl kaum Musik.«

Lady (in Parenthese: Sie galt für eine Philosophin, Freundin ihres Landsmannes Hume und gelehrte Schülerin seines geistreichen Vorläufers Locke. Soll sie doch ungescheut dessen These von der Denkkraft der Materie verteidigt und sogar weiter ausgeführt haben. Vielleicht, daß fälschlich aufgefaßt, sie nur das Denkvermögen ihrer diversen Anbeter in Schutz genommen hat, oder den Intellekt ihres arabischen Hengstes, des einzigen männlichen Wesens, dessen sie bei näherer Bekanntschaft bis dato nicht satt geworden war). »So lesen Sie zum Zeitvertreib wohl viel?«

Lori. »Wenn Väterchen, ich meine meinen Mann, mir vorliest oder von dem, was Hübsches in seinen Büchern steht, erzählt, höre ich es gern. Allein aber lese ich nicht.«

Lady. »Auch nicht Romane oder Gedichte?«

Lori, die, was ein Roman war, nicht wußte und von Gedichten etwa nur ein paar Gellertsche oder Hagedornsche Lieder und Fabeln kannte, schüttelte den Kopf.

Lady (zu dem Prinzen gewendet). »In Wahrheit ein Idyll! Wie finden es Durchlaucht?«

Prinz. »Höchst lehrreich, Mylady, da es auf Ihre psychologische These in effigie die Antithese gibt, die Mylady uns schuldig blieben.«

Lady. »Und die wäre?«

Prinz. »Liebt man bisweilen, was man nicht ist, so ist man bisweilen, auch was man nicht liebt; zum Beispiel: ein Gedicht!«

Lady. »Scharmant! Die Poesie des deutschen Hausmütterchens, ein Stilleben am Herdfeuer und Spinnrocken!«

Lori (beschämt einfallend). »Ach nein, gnädige Frau. Unsere Frau Bach kocht ganz allein, und ich spinne auch schlecht und gar nicht gern.«

Lady (lachend). »Wirklich nicht? Aber um des Himmels willen, junge Frau, womit vertreiben Sie sich die Zeit, was machen Sie den lieben, langen Tag?«

Lori (gleichfalls lachend). »Ja, was mache ich denn, Väterchen? Ich glaube, nichts.«

Prinz (an Stelle des schweigenden Väterchens). »Sie macht Freude, Madame, das beste Geschäft für eine Frau, und das am seltensten gelingt.«

Lady (scharf). »Weil es auf Gegenseitigkeit beruht. Glücklich macht, wer glücklich ist.«

Prinz. »Oder gut!«

Lady (die Achseln zuckend). »Haben Sie nie Langeweile, Madame?«

Lori. »Niemals, gnädige Frau.«

Lady. »Keine Wünsche?«

Lori. »Was sollte ich mir wünschen? Ich habe ja alles!«

Lady (zu mir gewendet). »Mein Kompliment, Herr Gemahl. Sie sind ein Unikum.«

Prinz (mir die Hand reichend). »Oder besitzen es, Freund! Hüten Sie es wie bisher. Unter der Brillantierung zersplittert manches Juwel.«

Lady (mit unverhülltem Hohn). »Ein wenig galanter Vergleich, Durchlaucht. Ungeschliffene Diamanten sind Kiesel. Warum sagten Sie nicht Perle?«

Prinz. »Das Produkt einer Krankheit als Bild der Herzensreine?«

»Trève d'allégories!« rief die Dame, erhob sich rasch und schritt mit flüchtigem Gruß nach der Tür. Ihr Kavalier folgte ihr nach einem Händedruck an Wirtin und Wirt. Die Idyllenprobe hatte kaum eine Viertelstunde gedauert; aber für zwei von den Vieren doch zu lange. Für den Schuhu und den Paradiesvogel!

Auch war es kein versöhnlicher Augenstrahl, welcher die Amazone streifte, als sie den Fuß auf die Hand ihres Ritters setzte, um ihren Araber zu besteigen. Wie ein Pfeil jagte sie voran. Der Herr folgte ihr, nachdem er noch freundlich dem ungeschliffenen Edelstein und seinem glücklichen Besitzer zugewinkt hatte. Ob er die zürnende Diana eingeholt hat, kann ich nicht sagen.

»Ist die Dame unseres lieben Herren Gemahlin?« fragte, als er unseren Augen entschwunden war, Lori, die, noch immer bestürzt über den jähen Aufbruch, an der Rampenbrüstung lehnte.

»Vielleicht wird sie es noch,« antwortete ich. »Vor der Welt heißt sie seine Freundin und er ihr Freund.«

»So wie wir es waren, ehe wir Mann und Frau wurden, nicht wahr?«

»Ungefähr so. Ich kann es nicht wissen, und du, Kind, würdest es nicht verstehen.«

»Ich möchte aber gern verstehen lernen, Väterchen, was unseren Herrn glücklich macht.«

Ich ahnete, was ihn glücklich machen würde – und auch wer.

»Gefällt dir unseres Herrn Freundin?« fragte Lori von neuem nach einer nachdenklichen Pause.

»Sie wird als Schönheit und großer Geist in der vornehmen Gesellschaft bewundert,« wich ich aus, um weder zu lügen, noch schlechthin nein zu sagen.

»Bewundert? das hätte ich nicht gedacht,« versetzte Lori kopfschüttelnd mit großen, ungläubigen Augen.

»Du kennst eben noch keine berühmten Leute, die bewundert werden, Kind.«

»O, unseren Herrn!« rief sie voll Stolz, setzte aber nach abermaliger Pause vertraulich, als wäre sie zu einem besonderen Resultate gelangt, hinzu: »Weißt du was, Väterchen. Ein berühmter Mann gefällt mir viel besser, als eine berühmte Frau. Und weißt du was noch? Ich hätte unserem lieben Herrn eine andere Freundin gewünscht.«

»Dem Himmel sei Dank,« dachte ich, als ich mich nach diesem Tage der Unruhe am Abend zur Ruhe begab. »Morgen sind diese Berühmtheiten über alle Berge, und vor ihrer Wiederkehr wollen wir uns sicherstellen!«

Leichteren Herzens als seit Wochen, weil mit dem festen Entschluß, vor Beginn der herbstlichen Jagdzeit meine Dienstentlassung nachzusuchen, machte ich mich früh am anderen Tage zur Abschiedsreverenz auf den Weg nach der Stadt. Wie ein Keulenschlag gegen die Brust traf mich daher die Begegnung des hochbepackten prinzlichen Küchenwagens, den ich mitten in der Heide kreuzte. »Was bedeutet das?« fuhr ich den Kutscher an.

»Proviant ins Schlößchen,« lautete die Antwort.

Ich sprengte weiter, halb betört.

Auf der Rampe des Stadtschlosses hielt statt des Reisewagens eine leichte Jagdkalesche. Des Prinzen alter Kammerdiener wartete des Herrn. Er war meines Vaters Freund gewesen und behandelte mich mit kameradschaftlicher Vertraulichkeit. Das runzelige Gesicht strahlte vor Vergnügen.

»Das Fegefeuer ist fort!« raunte er mir in das Ohr.

»Fort – fort – wohin?« preßte ich heraus.

»Ja, was weiß ich? Ins Pfefferland meinetwegen.«

»Und er – der Prinz – –?«

»Gott sei Dank, daß er noch so vor Torschluß mit einem blauen Auge davongekommen ist. Die fackelt nicht, das war sein Glück. Du meine Güte! Bei der im Joche stehen, – lieber Schildwache vor einem Pulverturme, wenn über einem ein Donnerwetter kracht.«

»Aber der Prinz, der Prinz – –«

Eben trat er aus dem Portal, dem Ansehen nach durchaus nicht wie ein abgesetzter Amoroso, sondern leichten Schrittes und frohen Auges, so, als ob ihm ein Stein vom Herzen gefallen wäre. Ja, von dem seinen, auf meines!

»Ihr alter Weise«, sagte er, mir die Hand reichend, »findet die Jahreszeit für Karlsbad noch zu früh. Ich gebe auf diesen erfahrenen Mann mehr als auf unsere superklugen Speichellecker. Da er als Vorkur zu einem ländlichen Aufenthalte rät, bei starker Bewegung und schmaler Kost, finde ich Ihr Schlößchen den geeignetsten Ort. Ich hoffe, Sie nehmen mich gern für ein paar Tage darin auf.«

Was solch ein hoher Herr nicht alles hoffen darf! In das Pfefferland zu seinem Fegefeuer hätte ich ihn jagen mögen.

Ich mußte zu ihm in den Wagen steigen; er war gesprächig wie noch nie, Gott weiß, über was. Ich kniff die Zähne aufeinander und preßte das Herzblut hinunter, das mir in jachen Stößen zu Kopfe stieg. In meinen Füßen lag es wie Blei. Der Prinz schoß bei Wege ein paar Schnepfen. Ich fehlte.

»Was haben Sie, Klösterley?« fragte der Prinz verwundert. »Ihre Hand zittert.«

»Ein Krampf, wie manchmal,« murmelte ich und ballte die Hand zur Faust.

Im Schlößchen brodelten bereits Kessel und Pfannen. Der Fourgon war angelangt, die frohe Mär von des Prinzen Einkehr hatte Herzen und Hände rege gemacht, die alte Michelin wollte es sich nicht nehmen lassen, neben der Frau Organistin wiederum in Funktion zu treten. Lori empfing uns unter dem Gartentor mit einem Jubelruf. Sie hatte sich einen Strauß von Himmelsschlüsselchen vor die Brust gesteckt und einen gleichen in einem Wasserglas in des Prinzen Kabinett gesetzt. Für das Väterchen hatte keiner mehr gepflückt werden können.

Der Prinz bat sich bei uns während seines Aufenthaltes zu Gaste, das heißt, es waren seine Töpfe, die er an unserem Herdfeuer schmoren ließ, und seine Leckerbissen, die wir an seiner Tafel in seinem Speisesaal ihm verzehren halfen. Wermut und Scheidewasser würden mir köstlicher gemundet haben! Am Abend nahmen wir den Tee in unserer »guten Stube«, dem Salon der seligen Baronin. Loris und mein gemeinsames Bereich war das früherhin von mir allein bewohnte. O, hätte ich gedacht, daß ich, eines Tages, dieses Heiligtum mit Argusaugen hüten würde! Wir aßen sonsthin zum Nachtmahl eine standfeste deutsche Suppe; unser hoher Gast hatte jedoch englischen Brauch angenommen, und wir fügten uns ihm in geziemender Untertänigkeit.

Die halbe Nacht plauderte Lori von dem berühmten Mann.

»So schlaf doch, Kind! es ist spät,« rief ich aufgebracht.

»O, ich bin noch gar nicht müde,« sagte sie.

»Aber ich!« grollte ich.

Sie schwieg und schlummerte endlich ein. Aber noch lange bewegten sich die Lippen in flüsterndem Traum. Nur daß ich das Gelispel nicht verstand. Denn ich, ich schlief nicht.

Das Martyrium hatte angehoben, nein, die Folterqual!

Am Morgen ging der Prinz in meiner Gesellschaft oder auch allein auf die Pirsch; nach Tisch machten wir zu drei eine Waldfahrt; der Prinz und Lori im Innern der zweisitzigen Kalesche; ich an Stelle des Kutschers die Zügel führend; der Leibjäger folgte zu Pferd. Das weitere Gefolge, mit Ausnahme des Kammerdieners, war im Stadtschlosse zurückgeblieben, Gäste wurden nicht geladen.

So den nächsten Tag und alle folgenden. Nach dem Tee verweilte der Prinz noch ein paar Stunden bei uns. Er war mitteilsam gestimmt; wie vieles hatte er zu erzählen, und wie verstand er zu erzählen, einfach und anschaulich, humoristisch ohne Ironie, der Absicht nach gegenständlich, das heißt, von seiner Person abstrahierend und doch unwillkürlich und ganz naturgemäß er selbst allezeit im Mittelpunkte der geschilderten Szene, der Held, welchem Ehrenpforten errichtet und Lorbeerkränze zugeworfen wurden. Lori horchte andächtig zu; ich, ich spannte mit Augen und Ohren, nicht auf das, was er vortrug, sondern auf die Art, wie sie es empfing. Denn der Weg der Liebe wie des Hasses geht zum Herzen weit weniger durch den Geist, sondern durch Auge und Ohr. Jeder Blick gab mir einen Stich, jeder Laut ätzte eine Wunde.

Und was sah und hörte ich denn, das mir das Blut so tödlich versetzte? Ach, wie es in der Erinnerung vor mir auflebt, nichts, als was ein Menschenkenner, der zu sein ich mich brüstete, hätte natürlich finden, was einen wahren Freund hätte erfreuen müssen. Daß einen von allen Reizmitteln der Existenz, von Genüssen und Gefahren übersättigten Mann ein Wohlgefühl überkommt beim Anschauen eines Wesens so unberührt von Lust und Verderben der Welt, wie Natur und Schicksal nur selten eines sich entwickeln lassen, ist das ein Frevel? Hätte nicht auch ihn, den mehr wie ich und noch in jüngster Zeit von Moschusdünsten Angewiderten, der Duft einer Waldblüte erquicken sollen, wie sie mich selbst erquickt hatte, hätte es ihm nicht Wonne und ein guter Lohn dünken sollen, sein reiches Leben zum ersten Male im Spiegel einer unentweihten Seele zu betrachten?

Und ist es nicht ein froher Anblick, wenn einem unentwickelten Menschenkinde ein Sinn nach dem anderen aufgeht, indem ein hochgestellter, geistvoller Mensch die Bilder eines ungeahnten Zeit- und Weltwesens mit geschickter Hand vor ihm entrollt? Wenn es, gleichsam aus einem Traume erwachend, mit Augen der Bewunderung und Dankbarkeit zu ihm in die Höhe schaut? Jawohl, ein froher Anblick für den Erzieher, den Vater. Aber für den Gatten, mit der scheu verborgenen späten Glut sehen, wie ein anderer die Geliebte hören lehrt, hören, wie er sie reden, ahnen, wie er sie empfinden lehrt; wie durch Zauber eine neue Welt in ihr lebendig wird, aber nicht durch den, welcher sie zuerst geliebt, sie liebt ganz allein!

O, hütet euch vor denen, die nur einen einzigen Menschen im Herzen tragen, hütet euch vor der stillen Leidenschaft eines Zweifelmütigen! Kein gefährlicherer Brand als der, welcher unbemerkt unter der Asche geglimmt hat, keine giftigere Lohe als der Wahn des Toren, der seine beste Empfindung scheu wie eine Sünde unter Schloß und Riegel wahrt. Nein, nein, die Liebe zwischen Mann und Weib ist von Natur keine Tugend. Und wenn sie, wie keine andere Menschenkraft, hohe Tugenden gebiert, so gebiert sie nicht minder die niedrigsten aller Sünden: Eigensucht, Argwohn, Neid und Haß, bis endlich Zorn und Wut die übervolle Schale sprengen.

So dazumal! Ich sah aus der Wurzel der Bewunderung den Frühlingstrieb der Liebe in einem reinen Frauenherzen sprießen und unter dem Strom der Begierde den Augustschuß sich aus einem lustgewohnten Mannesherzen drängen. Und ich stand dabei, ein wurmstichiger Gesell, der nicht leben und nicht sterben konnte, mehr denn jemals der Kalmäuser. Denn was meine Eifersucht von der jedes Schildbürgers oder Theaterhelden unterschied, war der Widerspruch, daß sich wohl mein Argwohn, aber in keinem Augenblicke mein Groll gegen die richtete, welche die Qual einflößte und welche gemeinhin unter ihren Ausbrüchen zuerst und zumeist zu leiden hat. Lori hat meine Kämpfe nicht geahnt. Schämte ich mich vor ihr, oder unbewußt vor mir selbst? Ich habe sie mit keinem Worte gewarnt, mit keinem Blicke gestraft, ihr, wozu doch schon der Vater verpflichtet gewesen wäre, ihr nicht die Augen geöffnet über die Gefahr, in der ich sie schweben sah. Ja, es gab Momente, wo Mitleid für sie das eigene Leiden überwog, wo ich jene vorempfundene Reue in Bitternis nachempfand. Hätte ich das Kind nicht seiner Freiheit beraubt, durfte das Weib jetzt glücklich sein, glücklich ohne Schuld. Nein, ich zürnte Lori nicht, ich liebte sie inbrünstiger denn je; den ich haßte, das war der Mann, der sie unglücklich machte, oder – glücklich durch Schuld.

Ich will den Becher voll Gift und Galle, den ich zwei Wochen lang tropfenweis geleert, euch nicht nachkosten lassen. Möchte ich doch, ich könnte mit einem einzigen Schrei auspressen, durch einen Blitz jene Heimlichkeit beleuchten, um deren Buße willen ich mir diese Beichte als eine Geißelung auferlege. Wenn Scham allein, Liebe allein entsühnen könnten, so wäre ich entsühnt.

VII

Tag für Tag war in solcher Unseligkeit hingeschlichen. Vom Aufbruch des hohen Gastes schien keine Rede mehr zu sein, auch über das Zerwürfnis mit der berühmten Freundin wie ihren gegenwärtigen Aufenthalt verlautbarte nicht eine Silbe. Lori, wenig neugieriger Natur, und nur froh, daß sie nicht wiederkam, fragte nicht nach ihr. Die Zwiegespräche zwischen dem Herrn und seinem Beamten beschränkten sich auf Geschäftliches.

In erster Ordnung handelte es sich um den Ankauf einer Waldparzelle, die unser Revier vorteilhaft abgerundet und die Wegführung wesentlich erleichtert haben würde. Der gräfliche Besitzer machte sich indessen die gute Gelegenheit zunutze und stellte Forderungen, welche der Prinz, der erste verständige Haushalter seiner Sippe, nicht zu gewähren willens war; so hatte der Abschluß sich verzögert.

Es war am ersten Mai, Loris Geburtstag; wir hatten desselben gegen den Prinzen nicht erwähnt, Lori aus bescheidenem Taktgefühl, ich noch außerdem aus einem Grunde, der sich errät. Die Hausgenossen waren in gleichem Sinne von uns instruiert. Im übrigen lagen festliche Überraschungen auch außer unserer einförmigen Tagesordnung. Ich kehrte von einem Ausflug kaum jemals heim ohne eine kleine Spende, eine Zierat, Blume oder Frucht. Kinder lieben, daß man ihnen etwas mitbringt; bei Loris geringen Bedürfnissen blieb für besondere Tage daher kaum ein Geschenk übrig, und für gemütliche Erfindungen fehlte mir die Phantasie.

Die gestrige Abendunterhaltung hatte sich bis nach Mitternacht ausgedehnt, und so schlief Lori noch, als ich am Morgen mit dem Prinzen in den Wald ritt. Auf dem Heimwege erklärte er mir, daß er den erwähnten Ankauf unter so unbilligen Bedingungen aufgegeben habe. Ich stimmte ihm zu. Die Sache schien abgemacht.

Das Diner wurde, auf des Prinzen Verlangen, nach unserer guten deutschen Gewohnheit, pünktlich um die Mittagsstunde genommen. Als wir kurz vor derselben zurückkehrten, fanden wir Loris Zimmertür mit einer Girlande von Tannenreis umwunden, und die gute Frau Försterin, die segenbringende Festschürze von grasgrünem Taffet, die noch aus ihrer stolzen Muhmenzeit stammte, vorgebunden, im Begriffe, einen mit achtzehn Wachsstöckchen und einem dicken Lebenslicht in der Mitte geschmückten Geburtstagskuchen die Treppe hinan in den Speisesaal zu tragen. Das Geheimnis war verraten.

Der Prinz machte seiner »ältesten Freundin« Vorwürfe, ihm nicht, behufs einer kleinen Überraschung, einen Wink gegeben zu haben. Indessen hatte er die Aufmerksamkeit, das Geburtstagskind, als es eine Viertelstunde später an seines Väterchens Arm zur Tafel erschien, nicht im bequemen Hausanzug, sondern in Gala zu empfangen: Eskarpins, seidene Strümpfe und Schnallenschuhe, goldene Knöpfe und Stickerei an dem Gilet von weißem Atlas und dem grünen Sammetrock; den Federhut unter dem Arm. Auch ein paar Ordenssterne blitzten an seiner Brust. Wie strahlten, ob der Ehre, die großen Augen der kleinen Frau! ach, und wie giftig mögen, ob des Neides, die kleinen ihres Väterchens gezwinkert haben. Nein, blind macht sie nicht, die Liebe, und blind auch nicht der Haß. Da, an der Seite des kindlichen Weibes saß ein Held, ein Fürstensohn, im Kriegslager gestählt, eine breite, hohe Gestalt, blühend heitere Züge, jugendlich über ihre Jahre hinaus; und ihr gegenüber, als Spiegelbild zurückgestrahlt, grau und dünn der Schneiderenkel, ein Bücherwurm, vor der Zeit am Schreibtische gebeugt, mit spärlichem Haar über der mit frühen verdrießlichen Altersfalten durchzogenen Stirn.

Und wie stumm saß das trübselige Männlein auf seiner Stuhlkante, die Zunge am Gaumen angeklebt, die Lippen übereinander gekniffen, während Ohren und Gedanken jedes Wort seines glücklichen Nebenbuhlers auf der Goldwage wogen und die Blicke die Schale des Erfolges sich immer tiefer senken sahen! O, wie gut gewählt waren auch diese Worte, wie heiter einem kindlichen Sinne und dem festlichen Tage gemäß, wie zart die Galanterie! Blind und taub, eine Närrin hätte das junge Weib sein müssen, hätte es zwischen den beiden anders gewählt, als der Argus ihm gegenüber es wählen sah.

Der Prinz hatte zum Ausbringen der Gesundheit Champagner auftragen lassen und trank gegen seine Gewohnheit stark. Für mich war dieses fränkische Produkt ein chasse-ennui ohnegleichen; aber ich brauchte scharfe Augen und scharfes Ohr, ich durfte nicht sorglos werden, schützte daher Kopfweh vor und trank keinen Tropfen. Lori dagegen schlürfte mit Behagen den süßen Schaum, den ihre Lippen zum ersten Male kosteten. Immer höher färbten sich ihre Wangen, immer goldener klang ihr Lachen, immer verlangender weiteten und weideten sich des Gastgebers Blicke.

Beim Dessert kam er, wie vom Zaune gebrochen, auf den vielbesprochenen Landkauf zurück. »Ich denke, Klösterley, wir tun dem Grafen den Willen,« sagte er.

(Vor ein paar Stunden hatte er gesagt: Wir tun ihm den Willen nicht!)

»Der Boden ist besser als der umgebende,« fuhr er mit Geläufigkeit fort, als ob er sich selbst übertölpeln wolle, »er könnte mit der Zeit eine Eichenschonung nähren – –«

(Nun, wahrhaftig, mir, dem Forstmann, brauchte er das doch nicht zu demonstrieren!)

»Das Birkenwäldchen zur Rechten gleicht einer Oase in der Wüste, wir bauen ein Hüttchen hinein, für unsere Jagdpartien das gelegenste Rendezvous und für eine holde Spaziergängerin – –«

(Aha!)

»– ein trefflicher Erholungsplatz. Wir würden ihn ›Lorisruhe‹ nennen.«

(Darum also! Ein Angebinde! Und wie klatschte das Geburtstagskind vor Lust und Dank in die Hände.)

»Daß wir die Sache doch heute noch abmachen könnten!« rief der Prinz. »Ein Glückshandel, der an solchem Freudentage abgeschlossen wird! Es ist kein Aberglaube um die gute Stunde. Morgen könnte sie verpaßt sein. Aber es ist ja auch noch nicht zu spät. Wieviel Uhr denn? Ein Viertel nach zwei. Nehmen Sie mein Pferd, Freund, es ist rascher als das Ihre. Eilen Sie. Ich gebe Ihnen plein pouvoir, nur daß die Sache heute noch zum Abschluß komme!«

Wie ein glühender Stahl zuckte jedes Wort durch mein Hirn. O, wer begriff sie nicht, die gute Stunde! Er wollte mich entfernen, allein sein mit der Geliebten, zum ersten Male ohne den widerwärtigen Späher, den alten eifersüchtigen Pedanten, der keine Sekunde von der Seite seines jungen Weibes wich. Allein mit Lori!

Ich schwieg, auf eine Ausflucht sinnend; halb in der Hoffnung, daß Lori sagen würde: »Ach nein, Väterchen, es ist ja mein Geburtstag, gehe heute nicht von mir!« Aber Lori rief nur ein über das andere Mal: »Ach, wie schön! wie herrlich! Lorisruh! Ja, reite, Väterchen, reite, kaufe das Wäldchen heute noch!«

Auch sie wollte mich forthaben, auch sie! Sollte ich ihm mein Patent vor die Füße werfen, Knall und Fall meinen Posten verlassen und mit meinem Weibe flüchten, gleichviel wohin, und wenn es in den jenseitigen Urwald wäre, nur wo der Blick dieses Lüstlings sie nicht mehr traf?

Ja, ich war entschlossen, es zu tun, nicht erst wenn der Kündigungstermin gekommen, nein, morgenden Tages. Aber heute, heute war ich noch ein Sklave. Hieß ich nicht Christian Klösterley, der Kalmäuser, und wer scheut das Stigma der Lächerlichkeit so wie ein Kalmäuser, der ein Emporkömmling ist? Ich schämte mich vor dem hochgeborenen Herrn, aber mehr noch schämte ich mich – ja selbst in diesen Minuten – vor Lori, dem Kinde, meinem Weibe.

Ich sprengte von dannen; mit verhängtem Zügel setzte ich quer durch die Heide über Knorren und Gräben. Aber auf meinem eigenen sicheren Gaul, nicht auf des Prinzen feurigem Renner. Er hätte mich abwerfen können, die gute Stunde verlängern ad infinitum. Was lag mir am Leben? Aber nicht als Hahnrei wollte ich es verlassen und nicht – wer weiß? – auf schlaue, unverfängliche Weise – gemeuchelt.

Des Grafen Gut lag Meilen fern, beim stärksten Ritt, beim kürzesten Handel konnte ich erst mitten in der Nacht wieder heim sein. Zehn Stunden, zum Genuß der guten! Alle hundert Schritte dachte ich: »Kehre um, jage den Schänder aus deinem Tempel, sei ein Mann!« und in den nächsten: »Sei kein Tor! Ist Unschuld denn ein Wahn, Treue eine Lüge? Glaube an das Kind, dein Weib!« Und in diesem Wogenschlag der Gedanken hetzte ich vorwärts, Christian Klösterley, der Kalmäuser.

Da jubelte ich denn über den glücklichen Zufall – ach, der unseligste war es! –, der mich nahe der Stadt auf den Mann, mit dem ich unterhandeln sollte, stoßen ließ. Der Graf war auf dem Wege zu seinem dort wohnenden Gerichtsdirektor, vermutlich in der nämlichen Angelegenheit, die mich zu ihm führte, und sehr wahrscheinlich, um gelindere Saiten aufzuziehen. Was fragte ich danach? Ich begleitete ihn, schloß unter den verwunderten Blicken des alten mich gut genug kennenden Judex ohne Markten die Punktation ab und hetzte, wie ich gekommen, meinen Weg zurück. Es war noch Tag; um viele Stunden die gute abgekürzt; aber wie vieler Minuten bedarf es denn, um sie zur bösen werden zu lassen?

Bevor ich in Sicht kommen konnte, band ich mein Pferd in einem Dickicht fest und schlich wie ein Dieb von der Rückseite um das Haus. In der Küche wurde gebrodelt, ein schwelgerisches Nachtmahl den Glücklichen bereitet. Die Fenster unseres Erdgeschosses reichten bis wenige Fuß über die Rampe; die von Loris Zimmer standen geöffnet. Noch nie hatte der Prinz dieses Zimmer betreten; heute hörte ich seine Stimme in demselben. Ich schämte mich nicht, zu horchen. Ich hätte das Zimmer übersehen können, aber ich wäre bemerkt worden. So drückte ich mich denn an die Wand und spannte mit angehaltenem Atem. Nur den Klang vernahm ich, nicht die Worte.

Der Prinz redete rasch, feurig, mit Entzücken, eine Frage. Nun Lori. Ihre Stimme, sonst ein Lerchenklang, war heute ein Lispeln. Ich hielt mich nicht länger, trat vor. Ein einziger Blick! Lori stand vor dem Prinzen, beide ihre Hände in den seinen. Ihre Wangen glühten, Augen und Lippen schimmerten feucht. Sie sah mich nicht, aber – Er!

Die Faust um den Hirschfänger geballt, stürzte ich nach der Tür; bevor ich sie geöffnet, trat der Prinz heraus, erhitzt, erschüttert. Rasch wollte er an mir vorüber. Ich packte seinen Arm. Meine Faust zuckte zu einem tödlichen Streich – sie sank herab wie gelähmt; in meiner Kehle brannte ein tödliches Wort – die Stimme versagte.

Endlich, endlich machte sie sich Luft: »Herr,« knirschte ich, »dieses Haus ist das Ihre, aber dieses Zimmer betrete nur ich! Morgen wird es von mir geräumt sein und zu Ihrer Verfügung stehen.«

Der Prinz hatte seinen Arm freigemacht. Er maß mich von unten bis oben mit einem langen Blick. Ob er etwas geantwortet hat, oder was, weiß ich nicht, denn vor meinen Ohren sauste es. Den Blick aber verstand ich. So blickte König David herab auf den »ehrlichen armen Schächer Uria, den Hettiter, der ein Weib besaß, das dem König gefiel.«

Er rief seinem Jäger und schritt hastig dem Walde zu. Ich trat in Loris Zimmer. Sie stand noch auf dem nämlichen Platze, die Arme schlaff niederhängend, die Lider gesenkt; sie hörte mich nicht. »Lori!« herrschte ich sie an.

Sie schreckte auf, als erwachte sie aus einem Traum.

»Lori, was wollte der Herr in diesem Zimmer?«

Sie schüttelte langsam den Kopf und blieb stumm.

»Du weißt es nicht, willst nicht sagen, was – –«

Sie starrte mir in das Gesicht, als ob darin etwas Entsetzliches geschrieben stehe, etwas Entsetzliches, jawohl – ihre Sünde! Ein Schauder überlief ihren Leib; jeder Blutstropfen wich aus ihrem Gesicht; sie zitterte und blieb stumm.

»Du schweigst,« schrie ich. »Nun wohl, so wird mir ein anderer Rede stehen!«

Ich schlug die Tür in die Angel, warf meine Büchse über die Schulter und rannte durch das Hinterhaus in den Wald. Ihm nach! Wozu? Was wollte ich? Wollte ich überhaupt etwas? Wer kann sagen, was er will, was in ihm vorgeht, wenn das Blut in seinen Adern kocht, vor den Augen Funken sprühen und vor den Ohren Zungen gellen. Rache! zischten die Teufel in der Brust; Rache! krächzten die Raben, die, ehe sie sich zur Nachtruhe niederließen, über den Wipfeln kreisten, Rache! brauste der Sturm, der ein Wetter vom Himmel niedertrieb oder es verscheuchte. Rache! Rache!

Ich habe späterhin in England ein Theaterstück aufführen sehen, das mich wie kein anderes erschüttert hat. Ein Neger, von Grund aus keineswegs ein Unheilspürer wie ich, sondern ein argloses Naturkind, erwürgt in jacher, kannibalischer Wut sein schönes, angebetetes Weib um eines eingeblasenen Verdachtes willen, dessen Fälschlichkeit auf der Hand liegt. Erklärlich bei einem Wilden, einem Wüstenkumpan von Tigern und Löwen, dessen Vater vielleicht noch ein Menschenfresser war. Aber ein gesitteter Europäer, ein Denker, ein Philosoph, ei, nun! auch er mordet, mordet mit Recht, mit Gier, aber nicht das schwache Weib, das er geliebt, das er noch liebt, selbst wenn dasselbe keine Desdemona, sondern eine Bathseba ist. Er mordet den Verführer, den Ehrenräuber, den Feind. Sein Mordrecht ist der Zweikampf, und wenn – der Prinz von Geblüt, der unter einem Ausnahmsgesetze auch der Ehre steht, dem Lakaiensohne, dessen Tempel er geschändet, in das Gesicht lacht – – nun dann – –

Wohin war er? Der Haß schärft die Sinne gleich denen des indianischen Jägers. Der geknickte Halm, ein Fußtritt im Sande, ein aufgescheuchter Vogel, der Duft eines zertretenen Krautes werden zur Spur. Aber er hatte einen Vorsprung, die Spur verlor sich im Gestrüpp; es dämmerte über den Wipfeln, Wolken verhüllten den Sonnenuntergang, der Wind wirbelte Staubwehen in die Luft.

»Nacht und Wetter ziehen heran,« stachelte der Quälgeist im Hirn. »Wie lange wird Er heimgekehrt sein – zu seiner Lust. Kehre rasch heim, auch du!«

Ich kehre um. Da, in der Ferne ein Knall. Ich presse einen Jubelschrei hinunter. Er ist noch da. Ein armes Tier mochte verendet sein.

»Blut stillt Blut!« warnt heimlich ein Friedensgeist. »Stille auch du, Unmensch, dein Lechzen im Blute einer tierischen Kreatur, und dann – Hahn in Ruh!«

»Narrenspossen! Den Hahn gespannt! Vorwärts, Kalmäuser!«

Alles wieder still wie zuvor.

- Jählings ein Schwirren, ein Fauchen in der Luft; stoßweises Zittern des Gezweigs jenseits des schmalen Pfades, auf dem ich schlich. Ein Weidmann kennt dieses Fauchen, dieses Zittern. Das lichtscheueste aller Jagdtiere, eine Wildkatze, ist aus ihrem Schlupfwinkel aufgescheucht, wird gehetzt, flüchtet in Sätzen von Ast zu Ast. Struppiges Unterholz deckt den verfolgenden Jäger, seine Tritte der weiche Sand. Ein Todfeind aber wittert des anderen Nähe; kaum zehn Schritte ihm gegenüber, da lauert er mit gespanntem Rohr, und ihm zu Häupten, auf einem abgestorbenen Stamm, da funkeln die wütigen Lichter.

Der Lauscher nimmt sein Ziel – auf die Bestie? auf den Jäger? Ein Gedankenblitz, das Zucken eines Gliedes, einer Fiber, das Bruchteil einer Sekunde entscheiden über Leben und Tod, über Himmel und Hölle. Wer schildert solch ein Atom der Zeit, das eine Ewigkeit bedeutet? Da – – da – – ein Etwas streift den Lauf des Rohrs, ein Schatten verdunkelt den Blick. Ein Schnauben am Ohr, eine Last auf der Schulter; die Tatzen der Bestie krallen sich um den Hals, ihr Geifer spritzt an die Wange. Und rascher, als die Hand sich hebt zur Wehr, ja, rascher, als das Bewußtsein der Gefahr, blitzt eine Flamme vor den Augen auf, saust eine Kugel harsch am Ohr vorüber, ein heißer Strom überrieselt den Leib, dann schwinden die Sinne. Ich stürze zu Boden.

VIII

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf der nämlichen Stelle, die Bestie mit zerschmettertem Kopf zur Seite. Des Prinzen Jäger kniete vor mir, bemüht, mir mit dem Inhalt seiner Jagdflasche die Schläfen zu reiben.

»Das war ein Schuß, ein Meisterschuß!« rief er. »Der Schweizer Tell hat keinen glücklicheren getan. Ja, unser Herr, unser Herr! Ein halber Fingerbreit weiter links, und es war um Sie geschehen; biß die Canaille aber zu, dann erst recht. Mitten durch die Schnauze, im äußersten Moment! Gott sei Dank, Sie sind unverletzt; der Krall am Ohr hat nichts zu bedeuten; der Geifer floß abwärts; nur der Rock, der ist futsch!«

Er drückte ein Stück Pfeifenschwamm auf die Wunde, nachdem er sie mit Wein ausgewaschen; reichte mir die Flasche zum Trunk und half mir in die Höhe.

Die Füße trugen mich; ich hörte und sah; nur die Sprache versagte noch.

»Schaun Sie den Kerl!« sagte der Jäger, auf das Tier weisend. »In meinem Leben ist mir kein Kater von dieser Größe vorgekommen. Schade, daß das Kopffell durch und durch zerschossen ist. Ein Prachtexemplar im Naturalienkabinett hätte er abgegeben.«

So plaudernd, begleitete er mich bis in die Nähe des Hauses unseres Hegemeisters, riet mir, mich in demselben zu erholen und reinigen zu lassen, da meine Kleider vom Blut und Hirn des Tieres besudelt waren; jedoch es den Leuten recht plausibel zu machen, daß ich die Bestie selbst erlegt. Der Herr habe ausdrücklich befohlen: »Gegen keinen Menschen ein Wort von der Geschichte!«

Nach dieser Weisung empfahl er sich, da er den Wagen des Prinzen, der allein im Walde zurückgeblieben, für die Rückfahrt zu beordern hatte. Ich trat nicht in das Haus; ich fühlte mich stark zum Heimgang, und wer sah die blutigen Spuren? Ehe ich das Schlößchen erreichte, mußte es völlig dunkel sein; im Walde nachtete es bereits. Ich war allein und ich war bei Sinnen. Ja bei Sinnen, aber, seltsam! nur halb bei Sinnen.

Es ringen gute und böse Geister in unserer Brust; wer hätte ihren Zweikampf erfahren, wie ich selbst in dieser nämlichen Stunde; Stimmungen, Wallungen, ihrer Natur nach Gegensätze, wachen gleichsam in getrennter Herzkammer auf und schlummern ein. Auch vergessen lernen wir mit der Zeit. Daß aber das Bewußtsein nicht ein Ganzes, sondern ein Teilwesen sei, welches wie ein gleichgültiges Ehepaar in abgesonderten Räumen schaltet und ruht, ich hatte es nimmer geahnt, fasse es heute noch nicht; aber ich habe es erlebt, es kann so sein, es ist so gewesen.

Ob die starke körperliche Erschütterung des Schusses und Sturzes das Problem bewirkt hat, oder die stärkere seelische, die jenen voranging, Wahrheit ist, daß der Winkel in meinem Hirn, darin der Feind nistete, gleichsam verriegelt war. Ich erinnerte mich deutlich des jüngsten Vorgangs, aber ich atmete nur Dankbarkeit, Lebensfreude, Liebe. Der Herr war mein Erretter, mein hoher Freund; mein Weib das reine, holde Kind von einst; der Glaube an die natürliche Macht der Unschuld, die jeder Versuchung widersteht, ja für die es eine Versuchung gar nicht gibt, war niemals mächtiger in mir gewesen. Ich entsinne mich wenig froherer Lebensstunden als der während dieses nächtigen Ganges durch meinen Wald, heim zu dem geliebten Weibe.

Im Begriff, nach dem Hauptwege einzubiegen, erkannte ich den Prinzen, der seinen Wagen bestieg. Ich hätte auf ihn zustürzen, ihm die Wohltat des Lebens, das er mir erhalten, danken mögen, aber voran rollte das Gefährt, nach der Richtung der Stadt, nicht nach der des Schlößchens. Die veränderte Disposition nahm mich nicht wunder. Ob ich gänzlich vergessen hatte, daß der Herr wochenlang mein Hausgenosse gewesen, ist mir nicht mehr klar bewußt; jedenfalls hatte ich allen Argwohn vergessen, alle Schmähung, die ich ihm angetan, den mörderischen Haß, mit dem ich ihn vor einer Stunde noch verfolgt. Ich grübelte nicht. Ein heißes Verlangen nach Lori, so als hätte ich sie seit Jahren nicht gesehen, ein Jünglingsgefühl, so als wäre sie meine Braut und heute mein Hochzeitstag, hasteten meinen Schritt.

Ich betrat meine Wohnung von der Hofseite; im oberen Stock rüstete man die Abendtafel, der Prinz wurde noch erwartet. Rasch wechselte ich die Kleider und trat in Loris Zimmer. Es brannte kein Licht darin.

Sie stand am offenen Fenster, wartend – auf wen? Ich fragte nicht danach. War ihr Gesicht noch so blaß wie am Nachmittag, oder warf nur der Mond seinen fahlen Schein auf sie, wenn er minutenlang die sich scheuchenden Wolken durchdrang? Ich preßte sie in meine Arme mit lange gebannter, frei entbundener Glut. Sie – – o, nicht in jener Wonnennacht, aber heute, heute blicke ich in ihr Gemüt wie in ein aufgeschlagenes Buch! – sie stand noch unter dem Eindruck meines grimmigen Ausbruchs, meiner Drohung, am Nachmittag, sie wehrte sich nicht, aber sie scheute, sie fürchtete sich vor mir. »Dein Herz schlägt so laut, daß ich es höre,« stammelte sie mit einem Blick der Angst, »was hast du, was ist geschehen?«

»Ich liebe dich, Lori!« raunte ich in ihr Ohr, zum ersten Male, seit ich sie liebte, ja zum ersten Male in ein Menschenohr, seitdem ich lebte.

Und ich preßte sie von neuem an mein Herz und küßte ihre Lippen, die sonst so rot und warm waren und heute kalt und bleich.

»Was ist das?« fuhr sie auf. Ein Blutstropfen war auf ihre Hand gefallen; die kleine Wunde hatte sich geöffnet.

»Es ist nichts!« sagte ich leichthin.

Derlei Verletzungen kommen einem Forstmann ja häufig, und nicht bloß bei Fährlichkeiten wie die, welchen mein Vorgänger im Amt erlegen war. Der angeschossene Hirsch, der Keiler setzen sich zur Wehr, das Pferd strauchelt über einen Knorren, der Reiter stürzt; ein der Axt verfallener Baum streift ihn im Fall. Ich pflegte kein Wesen von solchen Begebnissen zu machen, und auch Lori hatte es bisher nicht getan. Heute aber stieg eine furchtbare Ahnung in ihr auf.

»Wessen Blut ist das?« fragte sie tonlos.

»Meines!« antwortete ich lachend. »Der Ritz eines Kiefernastes. Komm, Herz, laß uns zur Ruhe gehen.«

Sie zögerte. »Unser Herr – –?« fragte sie noch immer voll Angst.

»Der Prinz ist nach der Stadt gefahren, Kind.«

»Wahr?« atmete sie auf, »wahr, – er lebt?«

»Warum soll er denn nicht leben, Liebchen? Geschäfte, Gäste, wer weiß, was er hat? Komm!«

Noch stand sie eine Weile stumm und starr, dann folgte sie mir, aber sie seufzte, indem sie es tat.

Ob sie in der Nacht ein Auge geschlossen, sie, die bisher friedlich wie ein Kind in meinem Arm geruht hatte? Als ich am Morgen aus dem beseligendsten Traume erwachte, lag sie mit wirrem Haar und ringendem Atem in einem halben Schlummer, jener gleichsam durchsichtigen Betäubung eines Fiebernden.

Und – o, der Qual dieser Erinnerung! – und unter diesen stöhnenden Atemzügen erwachte, wie durch bösen Zauber, der Feind in meinem Hirn. Der sperrende Riegel war zurückgeschoben, das Bewußtsein ungeteilt; Zweifel und Glaube, Liebe und Haß stürmten wieder gegeneinander wie feindliche Zwillingsbrüder.

Ich hörte einen Wagen vorfahren und sprang aus dem Bett. Der Kastellan des Stadtschlosses brachte die Kunde, daß der Prinz mitten in der Nacht nach dem Karlsbad aufgebrochen sei.

Warum so plötzlich? fragte ich mich. Floh er vor der Gefahr, oder – oder – nach – –? Die Vorstellung wirbelte mein Blut empor.

Er hatte mein Leben in der Hand gehabt, warum rettete er es? Aber hatte er es denn retten wollen? nicht bloß aus Schützenübermut das verfolgte Beutetier auf meiner Schulter erlegt, wie er es auf einem Baumzweig erlegt haben würde? Oder – oder – hatte er mit dem befreienden Schuß nicht vielleicht gar einen Fehlschuß getan? War das rechte Ziel nicht etwa der Hettiter, der seinen fürstlichen Gelüsten im Wege stand, und kein argloser Uria, – der die Faust gegen ihn zu ballen gewagt? Auch eine Meisterhand zittert wohl bei solchem Schuß. Und wenn sie das rechte Ziel nun getroffen, das Hirn des Mannes statt dessen der Bestie zerschmettert hätte, würde er, der Fürst, vor der Welt ein Mörder geheißen haben? würde er, der Verführer, sich als Mörder angeklagt haben, wie doch der gekränkte Gatte in Momenten, wo der Dämon sich in seinen Winkel verkroch, sich als Mörder anklagte, als Mörder dem Willen nach, wenn auch nicht der Tat? War er, der Retter, der Held und Überwinder, nicht eben solch ein Mörder wie ich?

Eine scheußlichere Niedertracht als diese Vorstellung ist nicht auszudenken. Aber ich habe sie gehegt, freilich nicht stetig, nur stoßweise, so wie in der Nacht eine Sternschnuppe niederschießt; habe sie trotz aller noch späterhin empfangenen Wohltat gehegt; trotz der Skorpionen, mit welchen das göttliche Geheimnis, Gewissen genannt, mich geißelte, immer von neuem gehegt; an ihrem Gedächtnis werde ich mich verbluten.

Und was dem heimlichen Wurm, sooft ich ihn tot wähnte, immer neues Leben gab, das war Lori, das Weib, das ich liebte, selbst als Sünderin noch geliebt haben würde.

Ich hatte, in bänglicher Scheu, die Nachricht von des Herrn unerwarteter Abreise Lori gegenüber verzögert. Als nun die Försterin, sich die Tränen von den Backen wischend, mit dem Rufe: »Er ist fort, fort!« in unser Zimmer stürzte, verfärbte Lori sich, wie sie es gestern nachmittag getan. »Fort!« murmelte sie, »fort!« und dann saß sie, die Hände im Schoß gefaltet, starr und stumm. Ohne daß sie es bemerkte, wendete ich meine Blicke nicht von ihr ab. Nein, ich täuschte mich nicht, sie war verwandelt. Aus dem Kinde war über Nacht ein Weib geworden.

Sie erwähnte des Prinzen nicht, und ich tat es auch nicht. Mit reinem Gewissen wie noch gestern, so dachte ich, würde sie kaum von etwas anderem als Ihm gesprochen haben. Daß aber ich mich hütete, durch Mitteilung meiner durchlebten Gefahr und der Selbstüberwindung, welche das Kunststück, das mich aus ihr errettete, zu einer Heldentat machte, den Geliebten noch höher als bisher in ihrem Herzen zu erheben, möchte von allen meinen Niedrigkeiten die verzeihlichste sein. Vor mir selbst rechtfertigte ich dies Verschweigen mit des Herrn ausdrücklichem Befehl. Lori – und das ist die Erklärung für den Abschluß meiner heimlichen Geschichte – Lori hat mein Waldabenteuer niemals erfahren.

Am nämlichen Morgen setzte ich kurz und bündig mein Abschiedsgesuch auf, bat, mit Verzicht auf jeden Gnadengehalt, um schleunige Erledigung und beförderte das Schreiben an den Herzog, dessen, nicht des Prinzen, Diener ich ja in erster Reihe war. Nur fort, fort von hier, lieber heute als morgen. An Amerika dachte ich freilich nicht mehr; aber bei Loris einfacher Gewöhnung und meiner eigenen war ich wohlhabend genug, um als selbständiger Mann allerorten zu leben. Wie schwer fiel es nun aber dem eingefleischten Kalmäuser, sein armes junges Weib auf diese Veränderung vorzubereiten, wie viel schwerer noch, deren Beweggrund zu erklären, der sichtlich vor Sehnsucht sich Verzehrenden die Hoffnung auf ein Wiedersehen zu zerstören. Sie schlich umher wie nach dem Tode ihrer Mutter, so als ob sie etwas suchte; rief ich ihr zu, folgte sie mir in den Forst, aber nicht hüpfend und trällernd wie sonst; sie fragte nach nichts, bückte sich nach keiner Blume, flatterte keinem Schmetterling nach, schaute wie verloren in die Weite, hing sich, bald ermüdet, an meinen Arm, und heimgekehrt streckte die allezeit Bewegliche, die von Träumereien bisher nichts gewußt hatte, sich, ohne zu schlafen, auf ihr Ruhebett. Mutter Lorenzas Schicksal schien ihrer Tochter plötzlich überkommen.

Und in dieser Stimmung ihr sagen zu sollen, daß ihres Weilens nicht länger sei in der Heimat ihres Waldes, den sie von jeher so geliebt und der ihr jüngst zu einem Paradiesgarten geworden war!

Sie dauerte mich. Ich brachte die Schreckenspost nicht über die Lippen, bis am übernächsten Tage eine andere zu uns drang, wahrlich nicht geeignet, mir das schwere Bekenntnis zu erleichtern. Die Kunde von unseres Herzogs Tod. Er war dem Erbübel seines Geschlechts, einem jachen Schlaganfall erlegen, der Prinz unser Landesherr geworden an dem Tage, den er einen Glückstag genannt, in der nämlichen Stunde, in welcher er – gewiß ein bedeutungsvolles Zusammentreffen für den gläubigen Christen, der er war! – in der nämlichen Stunde, in welcher er die Schmähung eines Dieners, seines Todfeindes, mit dessen Lebensrettung vergolten hatte.

Die Stafette, welche ihn vergeblich zuerst in Dresden, dann im Stadtschlosse und endlich bei uns gesucht hatte, trug die Botschaft nunmehr in den entlegenen Badeort. Es mußten Tage vergehen, bevor er seine neue Residenz erreichte, Wochen, bevor im Drang der nächsten Obliegenheiten mein Gesuch erledigt ward. Und wie entschieden? Würde der Herr den widerborstigen Diener ungnädig ziehen lassen, seinem Gesuch zuvorkommend, ihm wohl gar den Laufpaß geben? oder um seines holden Gemahles willen ihm zu bleiben befehlen, mindestens bis zum verpflichtenden Termin?

Lori nahm die Rangerhebung des Herrn ohne merkliche Freude auf. Er stieg nicht höher dadurch in ihren Augen.

»Nun, da er so wichtige Aufgaben hat und so viel schönere Schlösser sein eigen nennt, wird er schwerlich wieder zu uns kommen,« bemerkte ich, als Vorbereitung zu meinem Zweck.

»Niemals!« sagte sie mit traurigem Klang, aber einer Zuversicht, die ich nicht zu deuten wußte.

»Möchtest du nicht auch lieber in angenehmerer Umgebung leben, Lori?«

»Wo denn?« fragte sie. Gewiß dachte sie an die neue Residenz.

»Nun, in einer großen, schönen Stadt. In Wien etwa, oder Paris?«

»Ach, was sollte ich dort?« versetzte sie. »Hier ist es am besten für mich. So grün und still!«

Sie hoffte doch noch, ihn wiederzusehen!

Von Tage zu Tage wurde die seltsame Veränderung ihres Wesens augenfälliger. Das kernfrische Geschöpf siechte auch körperlich, die Blüte der Wangen und Lippen schwand, der Glanz der Augen erlosch, blaue Ränder umzogen deren Höhlen; unsere einfache Mahlzeit schmeckte ihr nicht mehr. Hatte sich der Gaumen an der fürstlichen Tafel verwöhnt? Nein. Sie wies auch Leckerbissen zurück; keine Blume, kein Vogelsang freuten sie noch; von ihrem Pferdchen wollte sie erst recht nichts wissen. Nur im Schlafe – oder Traum? – schien ihr wohl zu werden. Fragte ich: »Bist du krank, Lori?« »Gar nicht!« antwortete sie, »bloß müde, so müde!«

Müde, lebensmüde! hinsiechend wie ihre Mutter aus Mangel an Freude, obschon einer höheren Freude als jene, an der höchsten! Eine Schattenblume auch sie! Wenn ich sie welken sehen müßte! Nein, lieber, lieber in meines Todfeindes Arm, und mir, mir – eine Kugel durch den Kopf. Ohne mich Elenden blühte sie heute im Sonnenschein und wäre glücklich!

Gottlob, daß endlich, endlich der alte Weise, zu dem ich als Arzt und Freund wie zu keinem anderen Vertrauen hatte, heimgekehrt war und ich in meiner schweren Sorge Zuflucht bei ihm suchen durfte. Sein Schwager Haller, ein angesehener Bürger meiner Geburtsstadt, hatte ihn zu Hülfe gerufen, weil seine Frau in Todesnöten lag. Der Helfer kam zu spät; aber der neue Herzog hielt ihn zurück, indem er ihm das erledigte Stadtphysikat und zugleich die Funktionen eines Leibmedikus bei seiner Person auf das dringlichste antrug. Der Dorfdoktor schwankte eine Weile, er schätzte den Herrn und hätte ihm gern gedient; schließlich jedoch lehnte er ab. »Wenn ein alter Baum noch Früchte tragen soll, darf er nicht verpflanzt werden,« sagte er. »Im gewohnten Boden hält er es noch ein paar Jährchen aus.«

Loris Hinfälligkeit war so in die Augen springend, daß ihre Behauptung, ganz gesund und nur ein bißchen müde zu sein, bei dem erfahrenen Manne nicht zog. »Müde, ganz recht,« sagte er. »Aber warum sind Sie denn müde, Frauchen? Sein Sie ruhig! Ich verschreibe Ihnen keine Mixtur. Mein Rezept soll Ihnen munden!« Unter vier Augen mit mir erklärte er darauf: »Dem genügsamsten Heidekräutchen kann der Sand auf die Dauer zu dürr werden. An einem frischen Born jedoch wird es das hängende Köpschen bald wieder tragen lernen. Schneidet kein Gesicht, Psychikus! Mag Dame Mode unseren Modedamen den Kurenteufel auch bis zur Ungebühr in das Eingeweide treiben, unser Herrgott hat nicht für die Langeweile absonderliche Quellen sprudeln lassen. Schon das Ruckeln der Reisechaise ist eine heilsame Motion. Auf, den Käfig, Freund! fort mit dem flügellahmen Vögelchen, fort mit ihm – –«

»Nach dem Karlsbad?« unterbrach ich ihn lauernd. Wer wußte denn, ob der neubackene Herr Herzog nicht in Bälde seine unterbrochene Kur alldort vollenden werde? ob der alte Schlaukopf, der uns seinen durchlauchtigen Gönner schon einmal auf den Leib gehetzt, nicht dessen vertrauter Helfershelfer war? O, wer zählt sie alle auf, die Ausgeburten eines Kalmäuserhirns!

Der alte Schlaukopf blinzelte hinter seiner grünen Brille schier hämisch zu mir hinüber: »In das Karlsbad?« versetzte er, »ja, Euch, alter Gallenknecht, würden als Katharsis, – um mich humanistisch, wie Ihr es liebt, auszudrücken, – Euch würden so ein Dutzend Maßkrüge voll Sprudelwasser, acht Wochen lang jeden Morgen geschluckt, und nebenbei, als Dämpfer, jeden Abend eine Dusche auf den hirnverbrannten Schädel möglicherweise erwünschte Dienste tun; aber so ein Lämmchen von Weib und – Glaubersalz, – warum nicht gar! Ein bißchen Eisen in sein Geblüt, daß es tapfer bleibe gegen den Griesgram; nicht gegen den eigenen, welcher, Gott sei Dank! nicht vorhanden ist, aber gegen den des wertgeschätzten Herrn Allernächsten. Nach Spaa würde ein feiner Hofmedikus raten. ›Alldorten fleußt der Quellen beste, was sie nicht tut, das tun die Gäste.‹ Der Bauerndoktor aber meint, das Ruckeln nach Spaa würde dem Lämmchen ein bißchen zu lange währen, und dem allernächsten Herrn Griesgram unter allen Umständen das Treiben alldort zu kunterbunt deuchen. Pyrmont tut's auch. Bringt sie nach Pyrmont!«

»Gut, wir gehen nach Pyrmont!«

Selbige Stunde erneuerte ich, und noch dringlicher als das erste, mein Abschiedsgesuch an den nunmehrigen Landesherrn. Des alten Weise Lektion hatte gewirkt; ich schrieb mit erleichtertem Herzen, daher es wahrlich keine Redensart war, wenn ich bekannte, daß ich mich nicht länger würdig fühle, in Seiner Durchlaucht Dienst zu stehen, und gesonnen sei, in das Ausland zu verziehen.

Das Schreiben konnte sein Ziel noch nicht erreicht haben, als manu propria von dem Regierenden die Replik auf das Gesuch an den Hochseligen eintraf. Ein Kurier, welcher, betreffs des Regimentswechsels, amtliche Depeschen an die Stadtbehörden beförderte, hatte es bei Wege im Schlößchen abgegeben, während ich auf einem Ausritt begriffen war. Bevor ich, heimkehrend, noch vom Pferde gestiegen, wurde es mir von Ehren-Michelin gleich einer Trophäe entgegengestreckt. Welch hohe Gunst mochte es enthalten? Seiner Liebden Huld konnte nach Gottes väterlichem Ratschlusse gar keine Grenzen finden. Außer einer goldenen Schnupftabaksdose für seinen alten braven Förster Michel und einer silbernen Zuckerdose für seine alte treue Muhme Michelin war von dem durchlauchtigen Kurier auch noch, als nachträgliches Geburtstagsangebinde, ein allerhöchstes Cadeau an die Frau Oberforstmeisterin abgegeben worden.

Ein Cadeau an Lori! Das Schreiben uneröffnet in der Hand, eilte ich in ihr Zimmer.

Freudentränen in den Augen – der erste Wonnenstrahl seit Wochen – blickte sie auf ein Medaillon, das an feinem Goldkettchen zwischen ihren Fingern zitterte.

»Von Seiner Durchlaucht?« fragte ich.

Sie neigte den Kopf und reichte mir ihren Schatz.

Von einem fürstlichen Liebhaber fürwahr ein bescheidenes Angebinde! Unter einem Kristall, fein auf Elfenbein gemalt, en miniature die Kopie der beiden Engelsköpschen, welche auf Raffaels Meisterwerke mit so kindlich idealem Behagen zu der Himmelskönigin in die Höhe sehen. Um den schmalen Goldrand war der Spruch graviert: »Selig sind, die reines Herzens sind.«

Fürwahr, ein unverfängliches Cadeau. Nur, daß seine Rückseite eine Kapsel bildete und daß, als ich diese öffnen wollte, Lori ihr Kleinod hastig aus meiner Hand nahm und dunkelerrötend sagte: »Bitte, bitte, laß zu!«

»Des Herrn Porträt?« fragte ich.

Sie schüttelte.

»Eine Haarlocke?«

Sie schüttelte wieder.

»Die Wahrheit, Lori, die Wahrheit!«

»Kann ich lügen?« fragte sie mit einem Blick und Klang von Trauer, ja von Bitternis, der mir durch und durch schnitt. Die erste Bitternis in ihrem reinen Herzen! »Kann ich lügen?«

»Ich glaube nicht, Kind. Aber warum darf ich den Inhalt nicht sehen?«

»Ich weiß nicht,« stammelte sie verwirrt. »Mir ist, als ob es nicht recht wäre. Tue es mir zuliebe, Väterchen, blicke nicht hinein.«

Ich blickte nicht hinein, habe auch niemals wieder nach dem verfänglichen Inhalt geforscht; sooft ich jedoch die Engelsköpschen zwischen meines Weibes Halskrause lugen sah – Lori hatte das Medaillon umgehängt und legte auch in der Nacht es nicht ab –, da ist es mir wie die Schneide eines Dolches durch die Brust gezuckt. Zu der nur geahneten Heimlichkeit hatte sich eine eingestandene gesellt.

Unter dem ersten Eindrucke dieser Heimlichkeit öffnete ich das Handschreiben. Es lautete nach keiner Seite wie ich erwartet hatte: beschämend und stachelnd zu gleicher Zeit. Der Abschied wurde verweigert, da man sich der Leistungen eines so trefflichen Forstwirtes nicht entraten möge und sie auf umfänglicherem Gebiet zu verwerten wünsche, sobald die diesseitigen Kulturanlagen ihre Vollendung erreicht haben würden. Da jedoch infolge der mancherlei Anfechtungen auf seinem bisherigen Posten das Geblüt des Entlassung Suchenden augenscheinlich krankhaft affiziert sei, werde ihm bis zum Beginn der herbstlichen Jagdzeit eine Beurlaubung zum Zweck einer Badekur oder Erholungsreise zugebilligt, auch, in Anerkennung seiner Meriten, das Salär seiner Charge entsprechend erhöht und ihm der Titel eines Hofjägermeisters verliehen.

Großmut oder Verliebtenlaune? Wurden auf eines Unwürdigen Haupt feurige Kohlen gehäuft oder wurde ein Betrogener schadlos gehalten, durch Eitelkeiten verblendet, ihm der Mund gestopft? Hoffte man wohl gar, ihn zeitweise zu entfernen und auf einer demnächstigen Huldigungsreise, bis auf das Heidestädtchen ausgedehnt, von einer Strohwitwe empfangen zu werden? Enthielt die geheimnisvolle Kapsel etwa eine Anmeldung?

Ich schreibe eine Beichte: ja, ein so gemeiner Schuft war ich geworden, daß mir das Odium dieser Vorstellung nicht widerstand! In jener Stunde wenigstens nicht. Fest entschlossen, auf meiner Verabschiedung zu beharren, sah ich vorderhand keine Wahl, als zu akzeptieren und die Strohwitwe aus dem Huldigungskreise zu entfernen.

»Willst du Seiner Durchlaucht eigenhändig danken, Lori?« fragte ich.

»Mit Worten möchte ich es schon und könnte es wohl auch,« antwortete sie lächelnd; »aber mit meinen pattes de mouche! Ich schreibe ja so schlecht. Tu du es für mich, Väterchen!«

Die Engelsköpschen und das, was hinter denselben auf ihrem Busen ruhte, hatten ihr plötzlich Kinderlaune und Kindeslaute wiedergegeben!

So sagte ich denn Dank für sie und mich. Aber, bei Gott! nicht aus dankbarer Brust. Der Argwohn ist ein hartnäckiger Feind, und Dankbarkeit eine schwere Tugend selbst gegen einen Freund. Vor der Großheit gibt es eben keine Zuflucht als die Liebe.

Das Verdikt der Badereise nahm Lori nicht mit Freuden auf, allein ohne Widerspruch. Gab es doch nimmer ein lenksameres Kind und ein willigeres Weib! Schon am übernächsten Tage traten wir in Begleitung unserer Organistin die Reise an.

Der alte Weise hatte diesmal indessen mit seiner Prognose fehlgeschossen. Das Ruckeln der Chaise war nichts weniger als eine heilsame Motion für das stauende Geblüt; die heimische Müdigkeit schlug zur unruhigen Widerwart um; wir durften nur kurze Tagfahrten machen, mußten wiederholt Raststationen halten. Die Umschau in den größeren Städten, die wir passierten, würde auch ohne körperliches Unbehagen wenig Reiz auf Lori geübt haben; mir bot die Umschau nur Bekanntes, und ich war voll Sorge.

Erst als wir die Weser überschritten hatten, weitete in dem köstlichen Bergwald mit seinen Eichen und Buchen aus Urväterzeit sich des Naturfreundes Brust. In dieser Gegend soll es ja sein, daß das deutsche Volk die römischen Ketten, welche in anderer Gestalt es nachher so lange geduldig getragen, abgeschüttelt hat. Geschichte und Sage reden hier laut und am lautesten die Mutter Erde. Auch Lori war ja ein Forstmannskind, der Wald ihre Freude, und Wälder wie diese hatten ihre Augen niemals gesehen; aber sie schlug diese kaum auf, so empfindlich war ihre Pein; die Wege waren, seitdem wir die Niederung verlassen hatten, nicht einmal dem Namen nach Kunststraßen; sie mußte zeitweise in einer Sänfte getragen werden. Ich schritt zu Fuße nebenher; die Sorge und das Mitleid für mein armes Weib abgerechnet, der frohmütigste Gesell. Zieht die Reisestiefel an, Gallenknechte! der Dämon, der euch plagt, hockt hinter dem häuslichen Herd.

Endlich erreichten wir unser Ziel. Mein Rückzugsplan war ja durch des Herrn Entscheid nur vertagt, nicht aufgegeben. Wahrlich, in diesem frisch grünen Neste hätte ich mich einheimsen mögen, mindestens für die neun Monate im Jahre, wo es einem stillen Dorfe und nicht einer Allerweltsherberge glich.

Der Badearzt wurde gerufen, kam, untersuchte, verordnete vorderhand nur Ruhe, kam wieder und – –

Und – – nein, es gibt kein Wort, das vollständig ausdrückte, was bei seinem abschließenden Spruch in meiner Seele vorgegangen ist. O, du unergründliches Geheimnis des Lebens! Wo wäre der Mann, nicht bloß ein alternder Mann und nachdenklichen Schlages wie ich, den deine Offenbarung nicht mit Schauern des Entzückens überrieselte? Nein, keine Spitzfindigkeit löst oder leugnet das urewige Rätsel des Blutes. Dennoch hatte ich solche Hoffnung, solche Sehnsucht nicht gehegt. Mein Weib war ja mein Kind, mein Zukunftsleben! Und nun auch noch es lieben zu müssen um des anderen Lebens willen, das es erst recht eigentlich zum Weibe machte, – ich wähnte solche Überfülle in meinem Herzen nicht bergen zu können.

Bei alledem war die selige Erwartung erst mein zweites Empfinden; das erste war die Befreiung von bleierner Zweifellast. Möchte für einen George Dandin und Konsorten die entgegengesetzte Wirkung die berechtigte gewesen sein, dem Manne, welcher das Traumbild einer Lori in der Seele gehegt und seine Verwirklichung erfahren hatte, ihm löste der Pulsschlag der Natur den Sinn für das Sonnenlicht. Ich sah den bleiernen Nervendruck auf das Gemüt des jungen Weibes, die Verwandelung seines Wesens jetzt erklärt. Ist es doch das Wehelos der Frauen, daß sie die Bedingungen und Bestimmungen der Natur unter einem Martyrium, Ahnen und Sehnen nach dem eigensten Glück nicht wie der Mann mit Wonnen zur Erfüllung bringen, sondern mit Leiden erkaufen, unter denen der Wert der Erfüllung sich umhüllt.

So mindestens erfaßte Lori die unerwartete Offenbarung; sie kam ihr vor dem Ahnen, vor dem Sehnen; sie schien sie kaum zu verstehen. Ihr Herz blieb matt, ihr Köpschen müde gesenkt, für die künftige Mutterfreude zahlte sie den Preis aller eingeborenen Kindesfreude, um erst nach der Stunde der Erfüllung – wie die Natur es mit ihren Angebinden hält – ihn mit Wucherzins zurückgezahlt zu erhalten.

Eine Brunnen- oder Badekur war hinfällig, nur zur Erholung eine Ruhepause vom Arzte geboten worden. Lori schien alles gleich. Sie neigte bei jeder meiner Anordnungen schweigend das blasse Gesicht oder sagte leise: »Ja, Väterchen,« wankte an meinem Arm in den prächtigen Schattengängen auf und ab, ohne sich an der würzigen Laubkühle, dem Duft der Lindenblüten zu erquicken, oder die geputzte Menschenwelt zu beachten, deren teilnehmende Blicke das bleiche, holde Wesen streiften, für dessen Vater man den Führer halten mochte. Denn mit ihrem wehmütigen Lächeln sah Lori selbst in ihrem Siechtum jünger aus, als sie war, und Christian Klösterley selbst in seinem Frohgefühl älter, als seine Jahre zählten. Der Kalmäuser und das Kind waren wir auch für die Badegäste von Pyrmont!

Im Inneren des Kalmäusers aber verharrten, länger als in jener unheimlichen Nacht, alle bösen Rückwärts- und Vorwärtsgedanken in tiefem Schlummer. Ich war ganz voll Glück, ganz voll Dank gegen Gott und Menschen, so voll Verehrung gegen Einen Menschen, daß selbst die Reue von dem hohen Gefühl verzehrt ward. Zum ersten Male beugte ich mich vor einem Erdgeborenen – vor einem ganzen Mann. Ich dachte an Rücktritt nicht mehr, nur an möglichst baldige Rückkehr in mein Haus, das mir erst jetzt als Heimat, als gesegnete Werkstatt erschien. Und dieser heiterfreie Zustand des Mannes währte wie der unfreie des Weibes bis zum Momente der Erfüllung, um – als wäre auch das ein Naturgesetz – mit Wucherzins gebüßt zu werden.

Ende August waren wir heim; der Herbst schlich hin und der Winter heran, unter tatsächlichen Ängsten, die alle eingebildeten scheuchten. Wie ein Lailach lag der Schnee über der braunen Nadelschicht, wie ein Sterbehemd über den ineinander verschlungenen dunklen Wipfeln der Heide, als die Stunde kam, die eine Todesstunde zu werden drohte. Unser alter Doktor war seit Tagen im Schlößchen einquartiert. Auch er bangte für einen Liebling. Denn es war etwas Eigenes um Lori. Vielleicht hätte sie keinem Jüngling, keinem Stutzer mindestens, das Blut bewegt; jedem alternden Mannesherzen tat sie es an, vom Prinzen herab bis zu dem schlichten Förster und Ehren-Adam, dem schlafseligen Dachs. Sie alle standen unter dem Zauber dieses kindlichen Weibes.

Seit vierundzwanzig Stunden war ich nicht von der Seite ihres Lagers gewichen. Die zweite Nacht brach an; der Doktor und die Helferin nahmen eine Pause der Qualen wahr, um sich im Nebenzimmer zu erholen. Ich war mit Lori allein. Sie hob die matte Hand nach dem Halse, deutete auf das Medaillon und flüsterte: »Laß es mit mir begraben werden, Väterchen.«

»Willst du denn sterben, Lori?« schluchzte ich. »Du wirst leben, du mußt leben, du mein Engel!«

Sie lag eine Weile ganz still mit gefaltenen Händen. Plötzlich rief sie: »Selig sind die –« Weiter kam sie nicht, sie machte ein Zeichen, daß ich mein Ohr an ihren Mund lege, und dann sagte sie stoßweise ganz leise: »Ich will reinen Herzens – in den Himmel kommen. – An meinem Geburtstage – als du – in mein Zimmer tratest – und mich so böse ansahest – – so zornig, da – –«

Ein Weheschrei unterbrach sie. Die Helfer eilten aus dem Nebenzimmer herbei. Ich war am Bett in die Knie gesunken. Der Doktor richtete mich auf und führte mich hinaus. In halber Betäubung starrte ich durch die Türspalte in den halbdunklen Raum. Wenige Minuten – für mich eine Ewigkeit – und der alte Weise öffnete die Tür.

»Viktoria!« rief er lachend über das ganze Gesicht, indem er mich an beiden Schultern zur Besinnung rüttelte, »Viktoria, ein Sohn!«

IX

Und nun möchte ich wieder, wie bei der Schilderung jenes unseligsten Lebenstages, mit der Schärfe und Schnelle eines Blitzes enthüllen, was zu enthüllen bleibt. Zu erklären ist es ja nicht. Wer erklärt die Triebe, die Schuld und Scham gebären, wenn auch nicht immer Schuld und Scham der Tat!

Lori genas rasch zu völligem Leben, zu einem Glück, wie es nur ein Kind oder die Mutter eines Erstlings empfindet. Ich aber, unter dem Gleichmaß der Tage, ledig aller Sorge, im erfüllten Besitz, krankte an der alten bösen Sucht. Jählings im hellen Sonnenschein tauchte der schwarze Schatten, mitten im frohesten Bewußtsein stieg der Wahnsinn auf. Was hatte Lori in der Stunde, die sie für ihre letzte hielt, mir bekennen wollen? was war geschehen, als ich sie an jenem Nachmittag überraschte? das Kind, ihr Kind, ihr Glück, ihr alles – war es –? nein, ich kann die Schmach dieses Wahnes nicht laut werden lassen.

Ich forschte in des Knäbchens Zügen. Wie ein Geck betrachtete ich im Spiegel die meinen. Es glich mir nicht. Gelbe Löckchen, blaue Augen, Grübchen in Wangen und Kinn: Lori, ganz Lori! Aber auch ein anderer hatte blondes Haar, blaue Augen und, wenn er lächelte, eine Vertiefung im Kinn. Sein Bild, ein Geschenk, hing in meinem Zimmer. Ich entfernte den Störenfried, was half es? um so leibhaftiger stand er vor meiner Seele auf. Und wie friedlich und freundlich war der Knabe! Die weise Frau erklärte, niemals ein so lammfrommes Kind unter Händen gehabt zu haben. Die alte Försterin hegte um seiner Engelhaftigkeit willen sogar schwere Sorge, da, nach Gottes unerforschlichem Ratschlusse, nur Schreikinder Gedeihkinder sind. Mich, als ich in Windeln lag, wird die weise Frau nicht ein frommes Kind genannt haben. Mein Leben war mit dem meiner Mutter bezahlt worden, und solche Kinder, heißt es, haben einen finsteren Blick. Nein – und heute sage ich Gott Dank dafür! – nein, der Knabe glich mir nicht.

Mehr als einmal stand ich im Begriffe, an Lori die erlösende oder vernichtende Frage zu stellen: »Was wolltest du mir bekennen, um mit reinem Herzen in den Himmel zu kommen?« Wenn sie die Augen aber so offen zu mir in die Höhe schlug, oder wenn dieselben so durch und durch erfüllt auf dem Kind in ihrem Schoße ruhten, dann sagte ich mir: nein, so glücklich blickt keine Schuldbewußte; dann brannten mich Scham und Scheu, in dieses lautere Gemüt den ersten Gifttropfen zu träufeln, und der böse Feind im Busen wurde still.

Leider nur auf kurze Frist. Daß doch ein guter Wille so oft nur Böses wirkt! Denn was den Unhold tückischer als jemals ätzte, das war wiederum ein Zeichen der großmütigen Gunst unseres Herrn. Er hatte unter anderen Gnadenerweisungen, wie sie bei einer Huldigungsfeier üblich sind, für etliche bürgerliche Beamte des Herzogtums von dem kurfürstlichen Senior seines Hauses ein Adelsdiplom erwirkt, und mir unter ihnen. Ich sagte mir nicht, wie ich wohl hätte sagen dürfen, denn in meinem Berufe wirkte ich, seit ich den Höflingsdienst mit dem der freien Natur vertauscht, klaren Blickes und festen Willens mit sicherer Hand, da war ich kein Kalmäuser, – ich sagte mir also nicht: Es ist, dem Manne weder zuliebe noch zuleide, eine Anerkennung des treuen Verwalters, so wohlverdient wie die der anderen in ihrem Amt. Statt dessen zischelte der Feind: Dir diese Erhebung, dem Lakaiensohne, dem Schneiderenkel, dem widerborstigen Beleidiger? O, du Tropf! der Frau gilt sie, die du von ihrer Rangstufe herabgedrängt hast, dem Sohne gilt sie, der ihres Gatten Namen tragen wird, der – –

Diesem Zustande mußte ein Ende gemacht werden, so oder so, wenn der periodische Wahnwitz nicht zum dauernden werden sollte, und ich muß es den männlichsten Entschluß meines Lebens nennen, daß ich die erste und wahrlich die schwerste Gelegenheit beim Schopf faßte, um die Entscheidung zu bewirken.

Fast gleichzeitig mit dieser Rangerhöhung erging an mich nämlich von seiten des herzoglichen Ministers die Aufforderung, mich etlichen hervorragenden deutschen Männern auf einer Reise nach England anzuschließen, um zu Nutzen der seit zwei Jahrhunderten arg verwüsteten und vernachlässigten Bodenkultur unseres Vaterlandes im weitesten Sinne Beobachtungen und Erforschungen in jenem vorgeschrittenen Reiche anzustellen. Die Idee ging von unserem Herzog aus. Er kannte Land und Leute alldort, von wiederholten Besuchen und dem Studium jener eigenartigen Institutionen, er war dem britischen Hofe anverwandt, Inhaber des hohen Ordens, der nur an Ausländer von fürstlicher Distinktion vergeben wird. Die Erwägung würde daher nahe gelegen haben, daß dem bürgerlichen Mosjö Klösterley der Adel gleichsam als Passepartout verliehen worden sei, einmal um ihn seinen Begleitern, mindestens dem Klange nach, gleichzustellen, und dann, um ihn durch diesen Klang bequemer in ein Gemeinwesen einzuführen, das sich stolz zwar das freieste nennt, über welches jedoch noch ausschließlicher als anderwärts die Aristokratie die Zügel in den Händen hält. Jawohl, diese Erwägung würde nahe gelegen haben. Wie Toren aber gemeinhin Kurzsichtige sind, so sehen Besessene meines Schlages nur den Punkt am Horizont, und für die nächste Nähe brauchen sie eine Brille. »Man schickt dich auf Reisen, um freies Spiel zu haben, hinter deinem Rücken in deinem Revier zu jagen!« züngelte der Feind, und ich schalt ihn nicht: Verleumder!

Aber die Probe sollte gewagt, die Wahl gestellt werden. Die Zukunft würde über die Vergangenheit entscheiden. Ich nahm an.

Lori hatte wohl kaum eine deutliche Vorstellung von der Weite und Dauer meiner Entfernung. Sie war so hingenommen von des Herrn Güte, vielleicht auch von ein wenig Stolz auf die Ehre, die ihrem Gatten widerfuhr, jedenfalls so erfüllt von ihrem jungen Glück, daß sie mich arglos und sorglos scheiden sah.

»Möchtest du während meiner Abwesenheit nicht nach Dresden gehen? Die Zeit wird dir hier lang werden,« sagte ich.

»Ich habe ja das Kind!« versetzte sie. »Bitte, Väterchen, laß mich ruhig hier.«

Sie wollte bleiben, wo sie – vielleicht nicht klar bewußt – Ihn, Ihn wiederzusehen hofft.

Mit diesem Gedanken riß ich mich los von Weib und Kind, festgewillt, zu ihnen zurückzukehren, befreit von drückendem Alp – oder niemals.

X

O Wanderstecken, du Aaronsstab, der für die Rotte der Murrer den stillenden Born aus dem Felsen schlägt! Wie vor dem freien Strom der Luft alles heimliche Ungeziefer flüchtet, wie die Brust sich hebt und dehnt.

Zum ersten Male sah und hörte ich das Meer, glitt ich inmitten der beiden Elemente, die uns ein dichterisches Bild der Unendlichkeit geben, der Unendlichkeit, an deren Wesen der Gedanke zum Narren wird. Das Treiben auf dem Schiff, im Hafen, alles war mir neu, und danach das Fußfassen auf diesem gesegneten Erdenfleck im Ozean.

Ich kannte außer meiner Heimat nur den unwirtlichsten Teil des deutschen Nordens und die kulturelle Trübsal mit dem Sklavenmüßiggang von Polen, gegen welche mein vaterländischer Grund, trotz seiner wurmenden Versäumnis, sich mir bei jeder Heimkehr wie ein blühendes Gartenbeet abgehoben hatte. Nun betrat ich diesen Inselboden mit seiner hochentwickelten Anbauung und Industrie, mit einem Bürgertum, das in stolzer Freiheit um die Weltherrschaft ringt. Welch eine Lust für den Mann, welcher, als Freund, der Natur in die Hand zu arbeiten trachtet, für den Mann, welcher, als Freund, der Menschheit seine Handbreit Scholle um ein Bruchteil lebenspendender, als er sie betreten, hinterlassen möchte; diese Straßen und Kanäle, diese geschonten Parks und Triften, welche Lust für den Forstwirt der armen Heide.

Gott sei Dank, daß es für den Mann noch Pflichten und Genüsse gibt über denen des Ehegatten und Familienvaters, eine Welt außerhalb seiner vier Pfähle und des sogenannten Gemüts! In dem freien Bewegungsrecht, darin liegt das seiner Erstgeburt vor dem häuslich beschränkten Weibe. Seltsam, daß ich innerhalb dieser beengenden vier Pfähle doch niemals einer weiblichen Kalmäusernatur begegnet war, wie der männlichen in der Freiheit doch so mancher! Diese contradictio in adjecto fiel mir jedoch nicht ein. Ich hätte lachen mögen über den moralischen Topfgucker und Stubenhocker, der ich geworden war; als welch ein weitherziger Gesell dachte ich in meine Heimat zurückzukehren, welche neuen Aufgaben würde ich erfassen; wie freute ich mich, die Episteln, die ich bei jeder Schiffsgelegenheit meinem herzigen Frauchen in seine Einsamkeit sandte, nachzulesen und Blatt für Blatt zu einem buntheiteren Bilderbuche zusammenzufassen.

Daß des Frauchens pattes de mouche um so seltener und kürzer gefaßt waren, kümmerte mich nicht. »Das Kind gedeiht – es lallt – es hat einen Zahn – es läuft – es ist ein Engelchen, und ich bin so glücklich,« viel mehr enthielten Loris Briefe nicht. Aber war das nicht auch genug? Von dem gehaßten, gefürchteten Nebenbuhler keine Rede, kein Gedanke an ihn in mir, nur der weise, großherzige Fürst und Gönner lebte in meiner Seele.

Und dieses Wohlgefühl unter einem sprudelnden Lebensborn währte nahezu zwei Jahr, um dann jäh durch einen sengenden Strahl vernichtet zu werden – auf ewig.

Ich weilte im schottischen Hochlande, als der Strahl niederfuhr. Ein veraltetes Zeitungsblatt, zufällig mir in die Hände fallend, enthielt die Kunde von dem Tode des Herzogs, dem raschen Tode seines Geschlechts. Tausende und Abertausende hat diese Kunde getroffen wie die des persönlichsten Verlustes, wie das Verschütten eines kaum erschlossenen Segenquells. Mich, – nein, ich übertreibe nicht, – mich hat sie getroffen wie ein verübter Mord mit allen Qualen eines eingeschläferten Gewissens. Wehe dem Schuldigen, welcher die Knie des Wohltäters, den er gehaßt, nicht mehr reumütig umfassen kann! O, Tod, Tod! du Erleuchter, du Verklärer! Flügel hätte ich mir anheften mögen, um dort zu sein, wo Er nicht mehr war, und mußte wochenlang warten, die Gelegenheiten abpassen, mich im Sturme verschlagen, durch Sandwellen schleifen lassen, bevor ich meine trauernde Heimstatt erreichte.

Ich hatte eine rückkehrende Stafette benutzt, welche den Regimentswechsel verschiedenen kleinen Höfen offiziell kundgetan und mich überholte, um meiner Frau Tag und Stunde wissen zu lassen, an welchen sie, bei gutem Reiseglück, mich erwarten durfte; und zu berechneter Zeit hielt denn auch meine Extrachaise vor der städtischen Posthalterei. Das kurfürstliche Wappen prangte an Stelle des herzoglichen über der Torfahrt; unter derselben schwenkte der alte Bäsler, ein gemütlicher Kumpan nach Sachsenart, der Postmeister, wie er im Buche steht, seine Pudelmütze mir zum Willkommen. Ich drückte ihm, keines Wortes mächtig, die Hand, in Erwartung eines weheleidigen Ausbruchs. Und wirklich stieg, indem er nach dem neuen Wappen deutete, eine Träne in seinen Augen auf, vielleicht die erste, welche keine weinselige war. In der nächsten Minute jedoch lachte er die Träne hinweg und rief in echter Postmeisterlaune:

»Gratulor, Hofjägermeisterchen! Gratulor, Glückspilz, der Ihr seid!«

»Ja so,« fuhr er darauf fort, als er meine verwunderte Miene bemerkte. »Ja so, Ihr wißt es noch nicht! Der Allerhöchste letzte Wille ist vorigen Sonnabend publiziert worden. Euer Junkerchen hat den Talhof in der Residenz geerbt. Eine Staatswirtschaft, sage ich Euch; ein Rittergut Spaß dagegen. Des guten Johann Puppe! Potz Velten! Unsereiner hat wohl auch einmal seinen Turkel. Wenn einer aber drei- und viermal einen hat – –«

Ich hörte den gemütlichen Gratulanten nicht zu Ende. Wie zweideutig zwinkerten bei der These vom Glück seine lachenden Äugelchen! Ich hatte mir einen Wagen bestellen wollen; nun stürmte ich voran, als würde ich gehetzt. Er war wieder los, der Feind, der Höllengeist im Hirn. Meines Weibes Sohn – Sein Erbe. Mein Sohn – oder – –?

O, vor einem Zweifler besteht keine Wohltat, keine Hoheit, besteht nicht einmal der Allversöhner Tod!

Vor dem Hause des Hegemeisters, an welchem der neue Heimweg vorüberführte, hielt meine Kalesche. Ich war erwartet worden und von weitem erkannt; denn aus dem Hause kam eine weibliche Gestalt mir entgegen – Lori!

Ja, Lori, aber nicht flatternd mit ausgespannten Armen, wie wenn ich früherhin nach kurzer Entfernung heimkehrte, nein, ernst und gemessen wie eine Leidtragende, eine Witwe schreitet im schleppenden Trauerkleid. Und schattenblaß sah sie aus. War sie nicht auch noch gewachsen in den Jahren, daß ich sie nicht gesehen, diesen Jahren der Erfahrung?

»Ach, unser Herr!« schluchzte sie, indem sie den Kopf an meine Brust lehnte.

Unser Herr! Die Klage um ihn – ihr Willkommen!

Engel und Teufel rangen um den Obsieg in des elendesten Menschen Brust.

»Hast du ihn wiedergesehen?« fragte ich.

Sie schüttelte traurig den Kopf. Ich richtete ihn in die Höhe und blickte während einer langen Stille in die großen, tränenschweren Augen. Dann sprach ich: »Du hast eine Heimlichkeit mir vorenthalten, Lori. Fasse ein Herz! Vertraue heute, heute, wo – Er nicht mehr ist, sie mir an. Nicht die Gattin dem Gatten, aber das Kind dem Vater.«

Sie sah zu mir auf mit einem Blick, in welchem die natürliche Unschuld sich zu des Weibes höchstem Adel verklärt hatte.

»Die Gattin dem Gatten,« sagte sie mit fester Stimme.

Dann löste sie langsam das Kettchen von ihrem Halse, reichte mir das Medaillon und sprach: »Öffne!«

Ich drückte die Kapsel auf. Ein Papierstreifen fiel in meine zitternde Hand – die großen Züge des Herrn:

»Gott segne dich, Kind, daß du mich nicht verstandest. Du sollst mein Folgeengel sein!«

Ich war vernichtet. Ich fragte nicht: Hast du ihn geliebt? Ich sah es ja. Wäre es denn auch möglich gewesen, den Herrlichen nicht zu lieben, nicht so zu lieben wie sie? Lori aber sagte, indem sie das Kleinod wieder an ihrem Halse befestigte:

»Er irrte, Christian,« – zum ersten Male nannte sie mich statt des gewohnten Kosenamens mit dem des Mannes. – »Ich habe ihn verstanden. Als du, nachdem er mich verlassen hatte, mir gegenübertratest, Zorn in Rede und Blick, den ersten Zorn, da verstand ich ihn und – mich selbst. –«

»Und du haßtest mich, Lori – mich, den – –«

»Hassen?« unterbrach sie mich. »Meinen Wohltäter hassen? den edlen, gütigen Mann? ich, sein Kind, seine Frau?«

»Lori!« rief ich, stürzte vor ihr nieder und umklammerte ihre Knie, »Lori, dieser Mann ist – –«

Das grausame Geständnis verhallte unter einem markerschütternden Aufschrei, der aus dem geöffneten Fenster gellte, eines Kindes Schrei! Lori riß sich von mir los und eilte in das Haus. Ich wankte ihr nach.

Sie hatte ihren Knaben von dem Arme der Wärterin genommen; er wurde von Krämpfen durchzuckt; ein blutrotes Mal zeichnete sich an seinem rechten Ohr, der Narbe gleich, die an dem meinen seit jenem Krall zurückgeblieben. Die Lippen waren blau, die Händchen geballt, die Augen wie verglast auf die des schwarzen Hauskaters geheftet, der aus der Kammer geschlichen und mit einem Satz auf den Tisch gesprungen war, an dem der Knabe gespielt hatte.

»Mein Kind!« schrie ich, indem ich ihn an mich riß; »mein Sohn!«

*

Dieser Sohn war der Katzenjunker.

––––––

 

Editorische Hinweise.

––––––

Reproduktion und Seitenzählung nach:

Gesammelte Werke. Insel Verlag, Leipzig 1918, Bd. 5.

Erstausgabe : Der Katzenjunker. Erzählung. Gebrüder Paetel, Berlin 1879. 212 Seiten.

––––––


 << zurück