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Phosphorus Hollunder saß am Schreibtisch seines mit Komfort und Zierlichkeit ausgestatteten »Museums«, wie er es nannte – in der Apotheke zum Holunderbaum, die er neuerdings vom Keller zum Giebel modern hatte herstellen lassen. Er memorierte die Rede, mit welcher er heute, am Sylvesterabend, die Schwesternloge zu erbauen gedachte. Denn Phosphorus Hollunder war Maurer; – welcher Apotheker wäre in Herrn Hollunders jugendlicher Heldenzeit es nicht gewesen? – Er galt für den begeistertsten Sprecher in der Loge zur Feurigen Kugel, zumal an den Schwesternabenden, wo sein Vortrag kein schönes Auge trocken gelassen haben soll.
Er hatte laut gelernt und ein helloderndes Feuer in seinem Gemüt entzündet. Mit großen Schritten ging er nunmehr im Zimmer auf und ab. Der Strom der Phantasie war sicher in das Gedächtnis geleitet; ein Anstoß nicht zu befürchten; wenn aber ja, so ist Phosphorus Hollunder der Mann, der sich auf seine Inspiration verlassen darf.
Angeregt durch liebliche Bilder von Frauenhuld und Frauenwürde, welche naturgemäß den Stoff seiner heutigen Rede bilden, drängt ihn aus allgemeinen Regionen eine unwiderstehliche Macht in die Heimlichkeit seines Herzkämmerleins zurück und zaubert den Gegenstand seiner lange verschwiegenen Minne leibend und lebend vor den entzückten Blick. Da steht sie, die Hehre, die Cäcilia aller seiner zarten – leider nie veröffentlichten Lieder. (Den Zeitgenossen Hollunders brauchen wir kaum zu sagen, daß ›Urania‹ und ›Die bezauberte Rose‹ seine Vorbilder und Lieblingsdichtungen waren; das jüngere Geschlecht wird sich derselben aus der Literaturgeschichte erinnern.)
Das Herz geht dem Redner über. Während er in starker Bewegung auf und nieder schreitet, ruft er aus:
»Verschmähst du mich, Blanka? Weisest mich von dir? O Mädchen, halte ein! Besinne dich, bedenke, ich bin ein gebildeter Mann, ein wohlangesehener Mann, – nicht auch ein wohlanzusehender Mann?«
Sein Blick fiel bei der letzten, nur gelispelten Frage in den goldumrahmten Trumeau zwischen den Fensternischen; errötend senkte er die Augen jedoch hastig zu Boden und fuhr mit weichen Tönen in seiner Selbstempfehlung fort: »Bedenke, ich bin ein guter Mann; oder wenigstens, ich könnte es werden, denn ich liebe dich, Blanka, und die Liebe macht gut.«
Die alabasterne Stutzuhr schlug in diesem Augenblick sechs und spielte die Melodie von »Wie der Tag mir schleichet, ohne dich verbracht.« Eine Mahnung an die Toilette; denn um sieben sollte die Versammlung ihren Anfang nehmen, und Herr Hollunder war an bedeutenden Tagen gern der Erste. Er zog daher den palmendurchwirkten Kaftan aus, der in Verbindung mit dem purpurfarbigen Fez ihm ein ausnehmend muselmännisches Ansehen gab, wennschon er in allem übrigen durch morgenländische Kennzeichen oder Neigungen je nachdem weder interessieren noch abstoßen konnte. Rauchte er doch nicht einmal und trank statt des Kaffees Schokolade. Auch war sein Haar von der Helle des Flachses, und sein Nasenbein schlug auch nicht entfernt einen orientalischen Adlerhaken.
Ohne sich in seinen peripatetischen Ergüssen stören zu lassen, begann er darauf sich in den Gesellschaftsanzug zu hüllen, der fürsorglich auf dem Sofa ausgebreitet lag. Indem er die Weste von himmelblauem Moiré überstreifte, durchzuckte es ihn aber plötzlich wie bei dem Stich eines giftigen Insekts, und es dauerte eine Weile, bis die grelle Dissonanz in elegische Molltöne überging.
»Was kann dir dieser Leutnant sein, Blanka?« fragte er. »O, fliehe ihn, fliehe ihn! Er wird dich verderben. Es ist nicht Sitte und Treue in ihm, und Sitte und Treue sind die Pfeiler, auf welche das Weib sein Glück zu bauen hat. Und doch lächelst du ihm, Geliebte! O, wohl sehe ich es, wie holdselig du lächelst, wenn er unter deinem Fenster vorübergaloppiert. Ich sehe es, und es schneidet mir durch das Herz. Was reizt dich an dem Leutnant, Blanka? Kann Reiten glücklich machen? Oder eine blitzende Uniform? Heißt das Bildung: über Hindernisse setzen, ein keuchendes Pferd zu Tode jagen? Das As in der Karte, den armen Vogel im Fluge treffen ohne Fehl? Er wird dein Herz treffen, Mädchen. Er ist ein roher Gesell. Ich habe ihn beobachtet am Pharotisch und bei der Bowle. Da offenbart sich des Mannes Natur. Ich spiele niemals, und beim Glase werde ich traulich und mache Verse, wie die Freunde sagen. Aber dieser Leutnant, o, o! Was elektrisiert euch Frauen, sobald er sich zeigt? Hat er Bildung? Hat er Geist? Hat er nur ein Herz? – Er trägt einen Orden, weil er, es ist wahr, einmal eine kühne, eine edle Tat getan. Aber es geschah in jachem Affekt, nicht aus besonnener Wahl. Das ist kein Wert, der dauernd ein zärtliches Weib beglückt. Er besitzt auch eine schöne Gestalt und – – –«
Wieder fiel Phosphorus Hollunders Blick in den Spiegel, und er lächelte nicht ohne Befriedigung, während er die Schleife des weißen Atlastuches breit zog. »Und – Schönheit ist allerdings ein Schlüssel, der uns die Pforten der Menschenherzen erschließt. Das beweist dein Anblick, Blanka, dein allesbewältigender Anblick! Aber Schönheit des Leibes allein? Nein, Geliebte, wäre nicht auch deine Seele edel und hold, ich würde dich fliehen, wie eine Schlange.«
»Du bist arm, mein Kind,« fuhr er nach einer Pause fort, indem er die blitzende Diamantnadel in dem spitzengeränderten Jabot befestigte. »Du bist arm, mein Kind, und das beglückt mich; so werde ich dir manche Freude bereiten dürfen, die du jetzt nicht kennen lernst. Denn ich gebe so gern; und wem gäbe ich lieber als dir? Dein wäre alles, was mein ist, und ich nur dein Sklave.
Aber du bist ein Edelfräulein; bist du auch stolz, Mädchen? Blanka von Horneck, ein ehrwürdiger Name! Indessen auch der Hollunder Erinnerung reicht Jahrhunderte zurück. Betrachte über der Apotheke den Baum in grauen Stein gemeißelt, das Wahrzeichen unseres Geschlechts, und darunter die Jahreszahl 1530. Wir haben uns die schöne Sitte des Adels angeeignet in Bild und Schrift, das Andenken unserer Ahnen ehrfürchtig zu wahren. Drei Jahrhunderte blicken wir zurück auf Väter, die unserer Stadt zum Muster bürgerlicher Tugend und Treue gereichten, auf häusliche, züchtige Mütter, Vorbilder ihres Geschlechts. Drei Jahrhunderte lang vererbte die Apotheke auf einen Erstlingssohn, einen Phosphorus, das heißt Lichtbringer, Lichtmagnet, Morgenstern! Ein bedeutungsvoller Name! Ich habe ihn wieder angenommen statt des nüchternen ›Ernst‹, den meine Eltern ihm beigefügt hatten. Ernst Hollunder – wie unmelodisch, wie nichtssagend! – Die jüngeren Söhne unseres Geschlechts widmeten sich dem geistlichen oder gelehrten Stande. Es gibt manchen namhaften Hollunder in den Annalen der Wissenschaft. Gern wäre ich ein jüngerer Sohn gewesen; aber ich bin der einzige. Ich befasse mich wenig mit meinem Geschäft; ich habe höhere Interessen; doch der Pflicht, welche solche Vergangenheit auferlegt, durfte ich mich nicht entziehen; ich mußte die Apotheke übernehmen. – Ich bin eine Waise, ohne Geschwister, ohne nahe Verwandte,« rief jetzt der gute Hollunder mit übergehenden Augen, »ach, liebe mich, Blanka, werde du mein alles!«
Mühsam bewältigte er die weichmütige Anwandlung und trat nun, mit dem schwarzen Leibrock die festliche Toilette beendend, noch einmal musternd vor den Spiegel. Ein Blick genügte, ihm sein Selbstgefühl wiederzugeben. »Und dann, Blanka von Horneck!« rief er plötzlich, den Kopf stolz in den Nacken werfend, »Blanka von Horneck, was ist Adel heutigentages? Adel ist Bildung. Stelle mich dem Leutnant gegenüber in einem Turnier des Geistes, und er wird seinen Mann gefunden haben,« setzte er nach einer Pause, sie und sich selbst entschuldigend hinzu. – »Aber, nein doch, nein. In dir ist keine Schwäche, kein Vorurteil. Du bist rein wie eine Frühlingsblüte. Dein großes, demütig gesenktes Auge, die edle Humanität deiner Mutter sind mir Bürgen; du bist, deinem ritterlichen Namen zum Trotz, ein Kind deiner Zeit; du verschmähst nicht das bürgerliche Gewerbe eines Gatten unter dem Ehrenmantel der Bildung. Indessen – solltest du – fändest du – hättest du – o, nur ein Wort – Geliebte – nur einen Wink – und ich opfere dir meinen Stammbaum, ich verpachte die Apotheke, ich kaufe mir ein Rittergut; Blanka, ich mache dich zur Edelfrau.«
*
Die Uhr schlug halb sieben; Herr Hollunder mußte sein Selbstgespräch beenden, soviel er noch auf dem Herzen hatte; doch fühlte er auch jetzt schon sich erleichtert und frei; seine Werbung war so gut wie angebracht, seitdem er ihre Berechtigung sich selbst klargemacht hatte. Blanka von Horneck, die er seit seinen Schuljahren im stillen verehrt, mußte ihn jetzt verstehen ohne Worte; er hatte eine sichere Stellung ihr gegenüber eingenommen. Nun nur noch ein Bürstenstrich durch die hochgelockte Tolle über seiner Stirn, ein Flakon Eau de lavande über das seidene Taschentuch gesprengt, die weißen Handschuhe angepreßt, den Karbonari übergeworfen und freudig bebenden Schrittes hinüber in die Loge zur Feurigen Kugel.
Im Vorsaal stieß er auf die alte Justine, die seine Kinderfrau gewesen war und nun das Hausregiment führte. »Was machst du hier auf dem zugigen Korridor?« fragte er gütig, »du wirst dich erkälten, liebe Muhme.«
»Ich stehe Wache, Herr Hollunder,« versetzte die Alte, mit weniger Freundlichkeit als ihr Herr.
»Du stehst Wache? Wache gegen wen?«
»Gegen die gottlosen Buben, die Lehrlinge unten.«
»Gegen meine jungen Herren?«
»Ja, gegen die ausverschämten jungen Herren, just gegen die.«
»Aber erkläre mir, Muhme – –«
»Nun, was ist da viel zu erklären? Der Herr Hollunder waren wieder einmal im Zuge mit einer Predigt; da laure ich dann auf, um die Schlingel fortzujagen, wenn sie auf dem Wege nach dem Kräuterboden hier am Schlüsselloche horchen und kichern, die nichtsnutzige Brut!«
»Spreche ich wirklich laut, wenn ich allein und in Gedanken versunken bin, Justine?«
»Laut und vernehmlich wie von der Kanzel herab, mein Herr Hollunder. Aber nur nicht geniert; ich passe auf. Und was mich anbelangt, meine Ohren müssen in der letzten Zeit gewaltig schwach geworden sein; ich habe dicht am Schlüsselloch den Zusammenhang heute nicht unterscheiden können.«
Herr Hollunder lächelte. Das kommt vom Alleinsein, dachte er bei sich selbst. Man wird sein eigener Unterhalter, man wird am Ende noch ein Egoist. Übrigens glaube ich wirklich, daß ich zum Redner geboren bin! »Ärgere dich nicht, alte Seele,« tröstete er darauf mit freundlicher Würde seine alte Duenna, »ärgere dich nicht, wenn die jungen Herren mich einmal wieder belauschen sollten. Sie werden nichts Ungeziemendes aus meinem Munde vernehmen. Ein alter Römer hat einmal gesagt,« – so setzte er im Fortgehen mehr an sich selbst gerichtet hinzu, – »er möchte von Glas sein, daß seine Mitbürger jederzeit den Grund seiner Seele überblicken könnten. Es gibt auch deutsche Männer, die wie dieser Römer denken!«
Herr Hollunder stand schon unter der Tür, als er sich noch einmal zurückwendete, um seiner Wirtschafterin zuzurufen:
»Laß es heute, am Sylvester, den jungen Herren ja an nichts fehlen, liebe Muhme. Spare keine feine Zutat beim Heringssalat, weil ich ihn nicht mit verzehre. Der kleine Keller ißt so gern Kuchen. Sei mir beileibe nicht knauserig mit Stollen und Pfefferscheiben, hörst du, Alte. Du aber, treue Seele, bleibe mir ja nicht etwa auf, bis ich zurückkehre. Schlafe gemächlich hinein in das neue Jahr, in welchem der liebe Gott dich erhalten möge frisch und kräftig wie bisher.«
Herr Hollunder ging; die alte Justine wischte sich eine lange Weile die Augen.
»Welch ein Herr!« schluchzte sie. »Der richtige Engel, mein Phosphorus! Und wenn ich dermaleinst vor Gottes Thron erscheine, werde ich sagen: Ich habe ihn aufgezogen! und voller Gnaden empfangen werden. Großmütig wie ein Löwe. Die ausverschämten Bengel soll ich noch extra traktieren!«
Währenddessen nahm Herr Hollunder den Weg durch seine Apotheke. »Ich kann diesen festlichen Abend nicht in Ihrem Kreise feiern, meine Herren,« sagte er, indem er seinem Provisor die Hand drückte. »Ich verlasse mich, wie in allen Stücken, auf Sie, mein lieber Speck. Machen Sie freundlich den Wirt an meiner Statt. Er versteht sich auf einen kräftigen Punsch so gut wie auf jedes andere heilsame Gebräu. Sie können ihm vertrauen, meine jungen Herren. Ich wünsche Ihnen allen einen fröhlichen Eintritt in das neue Jahr!«
Die jungen Herren wünschten desgleichen und aufrichtigen Herzens; denn niemals hatten Lehrlinge einen gütigeren Lehrherrn gehabt als die des kaum vierundzwanzigjährigen Herrn Hollunder. Einer wie der andere würde daher durchs Feuer für ihn gegangen sein, wenn er es sich auch nicht zur Sünde anrechnete, auf dem Wege nach dem Kräuterboden an seiner Tür zu horchen und seine Gemütsergüsse zu bekichern.
*
Über unseres Freundes Erlebnisse während der nächstfolgenden Weihestunden müssen wir schweigen, da das Mysterium des königlichen Baues dieselben deckt. So viel darf ohne Treubruch indessen ausgeplaudert werden, daß Blanka von Horneck, die nebst ihrer Mutter, der Witwe eines ehemaligen Bruders, eine Ehreneinladung erhalten hatte, ihm niemals so holdselig erschienen war wie heute in ihrem weißen Gewande mit den lichtblauen Schleifen. »Blau, die Farbe des Himmels und Ihrer Augen, die Farbe der auserwählten Seelen,« wie er ihr während seiner Tischnachbarschaft zuflüsterte, indem er einen verschämten Blick auf sein blaues Gilet fallen ließ. Er fühlte sich in einer unbefangeneren Stimmung als sonst ihr gegenüber, trat mit seinen Ansprüchen kühner hervor, und als nach dem feierlichen Neujahrsgruße die Gesellschaft sich trennte, bot er, zu ritterlichem Geleit, beiden Damen von Horneck seinen Arm. Nur die Mutter nahm denselben jedoch an; das Fräulein hüpfte unter dem Vorgeben, daß die Schneebahn für drei Personen zu schmal sei, hinter der voranleuchtenden Laterne der Dienerin.
»Sie haben eine warme Schilderung von dem Werte und der Bestimmung des Weibes entworfen, Herr Hollunder,« sagte nach einiger Zeit die Majorin von Horneck, da sie es für angemessen hielt, ihren Beschützer durch ein anerkennendes Wort über seinen Vortrag zu belohnen. »Möchten Sie das Traumbild Ihrer Seele im Leben verwirklicht finden!« »Ich habe es gefunden!« fiel Herr Hollunder rasch und feurig ein, stockte aber jählings, errötete dem nächtlichen Dunkel zum Trotz und setzte nach einer Pause mit innigem Klang hinzu: »Auch Sie, gnädigste Frau Majorin, sind mir solch ein erfülltes Traumbild der Seele. Ich habe meine selige Mutter nie gekannt; sooft ich mir aber ein Bild von ihr zu machen suche, erscheint es mir unter Ihrer edlen, hochverehrten Gestalt.«
Was hätte ein junger Mann der Matrone Schmeichelhafteres sagen können. Frau von Horneck drückte schweigend seine Hand; er zog sie an die Lippen, und da sie just vor dem Hause standen, suchte er, sich empfehlend, die der Tochter zu gleicher Huldigung zu fassen. Blanka entzog sie ihm hastig und schlüpfte in die Tür. Dennoch ging unser Freund in einem Rausche von Seligkeit nach Hause. Der warme Handdruck der alten Dame deckte das frostige Ablehnen der jungen. Er träumte in der heiligen ersten Jahresnacht von seiner Mutter im Himmel und von den blauen Augen ihrer Nachfolgerin unter dem Wahrzeichen des Holunderbaums.
*
Frau und Fräulein von Horneck blieben dagegen in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer noch stundenlang wach. Das schöne Kind hatte sich, abgespannt von der langen Abendtafel mit ihren Reden und Liedern, alsobald niedergelegt; die Mutter setzte sich an der Tochter Bett und sprach:
»Der Rückblick aus dieser Nacht in ein abgelaufenes Jahr, in ein ablaufendes Leben, ein unwillkürlich banges Ahnen der Zukunft, hat je öfter je mehr etwas Herzbewegendes. Mir ist es nicht wie ruhen zumute. Ich möchte noch ein Weilchen mit dir plaudern, Blanka; vorausgesetzt, daß du nicht allzu ermüdet bist.«
»O, wenn du zu mir redest, du gute, kluge Mama, da werde ich wieder munter und wenn ich noch so müde bin,« versetzte die Tochter, sich zärtlich an die Mutter schmiegend. »Dir hörte ich zu die ganze Nacht; und wenn du mir erlaubst, liegen zu bleiben, verstehe ich dich noch einmal so leicht und antworte dir viel klüger als beim Sitzen oder Gehen.«
»So laß dein Köpschen ruhen, kleine Schmeichelkatze,« entgegnete die Mutter. »Denn du könntest dich nicht klar und ernst genug fühlen angesichts einer Entscheidung, die sich kaum über diese Nacht hinaus verzögern lassen wird.«
»Ich, ich mich entscheiden?« fragte Blanka erstaunt. »Über was denn, Mama?«
»Herrn Hollunders Absichten in bezug auf dich scheinen mir unzweifelhaft, Blanka. Es wäre ein großes Unrecht, dem redlichen Manne gegenüber eine Zweideutigkeit oder auch nur ein Hinhalten walten zu lassen. Du mußt dich zu einer Wahl entscheiden, liebe Tochter.«
»Zu einer Wahl? Gibt es denn hier eine Wahl, Mama?«
»Nach meiner Meinung: nein. Aber doch vielleicht nach der deinen. Oder wärest du bereits entschlossen, seine Hand anzunehmen?«
»Hollunders Hand, dieses Narren Hollunder, Mütterchen?«
»Hüte deine Zunge, Blanka. Ich kenne wenig bessere Menschen als Hollunder, keinen, der dir beglückendere Aussichten zu bieten hätte.«
»Als Hollunder? Du scherzest wohl, liebe Mutter?«
»Nein, mein Kind. Ich spreche im heiligsten Ernst, nach strengen Erfahrungen des Lebens. Oder schätzest du diese nimmermüde Güte, diese gleichmäßige Heiterkeit, schätzest du ein unschuldiges, warmes Herz so gering, um dagegen etliche lächerliche kleine Anhängsel in Betracht zu bringen, welche der erste beste Schicksalssturm abstreifen wird? Hollunders Geschmacklosigkeiten sind Auswüchse einer mühelosen Jugend, einer allzu bequemen Lage in kleinstädtisch bürgerlichen Verhältnissen, eines Berufes, der zwischen Gewerbe und Studium die Mitte hält und dem er sich leider bis jetzt nicht mit ausfüllendem Ernste widmet. So verfällt er in Spielereien, in einen mitunter, ich gebe es zu, etwas läppischen Dilettantismus, während junge Edelleute, zumal im Militärstande, während einer langen Friedenszeit wie die unsere – – –«
»Aber, Mama, welch ein Vergleich! Unsere Offiziere – –«
»Die Gegenüberstellung würde überflüssig gewesen sein, wenn ich nicht wüßte, Blanka, wie ausschließlich du dich, als Soldatenkind, in diese gesellschaftlichen Kreise gestellt fühlst. Ich wiederhole daher: während junge Militärs, in der ähnlichen Lage, ihre Kräfte nicht hinlänglich zu verwerten, nur allzuoft in das entgegengesetzte Extrem verfallen und einem maßlosen Sinnesgenusse frönen. Einen mir vorschwebenden Namen aus dieser Kategorie will ich unterdrücken. Du errätst ihn, liebe Tochter. Dünkt es dir nun aber verzeihlicher, zu spielen, zu trinken, aus bloßem Zeitvertreib Sitte und Tugend Hohn zu sprechen, als, im unbestimmten Drange nach etwas Höherem, in Gebieten umherzuschweifen, für welche die berechtigende Kraft des Talents gebricht? Keine häufigere und leichtfertigere Neigung bei unserer Abschätzung der Menschen, liebe Blanka, als eine Irrung des Geschmacks höher anzuschlagen, das heißt verwerflicher zu finden, als einen Fehler des Gemüts, das Lächerliche mehr als das Laster, den Überschwang der Idealität mehr als deren gänzliches Verneinen. Menschen wie Hollunder werden bald genug im rechtmäßigen Takte schreiten lernen, wenn eine ernste Erfahrung, eine bedeutende Pflicht, ein wahrer Schmerz gleich einer Taufe des Geistes sie überkommt. So wie an einem Bildwerke von Holz oder Stein die edle künstlerische Gestalt erst zutage tritt, wenn ein Regenguß die Farbe abspült, mit welcher kindischer Ungeschmack ihr ein lebhafteres Ansehen zu geben versuchte. Auch die Ehe ist solch ein klärendes Bad; eine geliebte, gebildete Frau leitet einen Mann unmerklich auf die geziemende Bahn und macht ihn zu dem, wofür die Natur ihn bestimmte. Der Übergang mag peinlich sein, mein gutes Kind; aber der Erfolg ist gewiß und der Lohn unermeßlich.«
»Ich bin nicht erfahren genug, liebe Mutter,« entgegnete Blanka, »um mit deinen Ansichten zu rechten. Ich weiß nur, daß mein innerstes Wesen sich gegen sie sträubt. Ist es mir doch niemals in den Sinn gekommen, daß du ein derartiges Los für mich im Sinne haben könntest. Phosphorus Hollunder! – schon dieser lächerliche Name!«
»Ist die Schule unseres Lebens danach gewesen, um Vorurteile in ihr großzuziehen?« fragte die Mutter. »Warum ist der Name Hollunder dir lächerlich, Blanka?«
»Wer denkt nicht dabei an ein Transpirationsmittel, Mama?« versetzte Blanka kichernd. »Zumal bei einem Apotheker.«
»Keine Possen, Kind! Setze ein Adelszeichen vor den Namen, und du wirst ihn wohllautend und ehrwürdig finden, so gut wie Ochs, Kalb, Gans, Riedesel und hundert andere, mit denen sich weit lächerlichere Vorstellungen verbinden lassen. Hat dir mein eigener Familienname ›von Schweinchen‹ jemals Anstoß erregt? Drei kleine Buchstaben vermögen dich mit einer just nicht galanten oder sauberen Namensvetterschaft zu versöhnen, und Phosphorus von Hollunder würde dein Öhrchen, kleine Törin, durchaus nicht mißfällig berühren, gelt?«
Blanka schüttelte den Kopf in einer Stimmung, die zwischen Weinen und Lachen die Mitte hielt. »Einen Mann Phosphorus zu nennen!« sagte sie.
»So taufe ihn um,« entgegnete Frau von Horneck lächelnd, »nenne ihn Ernst; seine Mutter hat ihm diesen zweiten Namen beigefügt, vielleicht weil sie deine Bedenken vorgefühlt. Ich weiß indes recht wohl, daß dein Einwand nur ein Vorwand ist und daß der Name dir nur darum widersteht, weil er dich an das bürgerliche Gewerbe erinnert. Das Gewerbe kränkt deinen Stolz. Aber worauf bist du stolz, Blanka? Weißt du etwas mehr von deinen Vorfahren, als Herr Hollunder von den seinen? Daß sie brave, ehrenhafte Leute gewesen sind, hier in einer bescheiden bürgerlichen, dort in einer bescheiden militärischen oder Beamtenstellung; mag der Ausgangspunkt der letzteren ein wenig glänzender, der der ersteren ein wenig dunkler gewesen sein: ihr beiderseitiger Bildungsgrad wird seit Generationen sich nicht wesentlich unterschieden haben. Was aber den Apotheker anbelangt, – liebe Blanka, würdest du gegen einen Landwirt etwas einzuwenden haben? Warum scheint es dir nun geringer, mit Gewissenhaftigkeit und Kenntnis die Kräfte der Natur zu verwenden, um der schwersten Menschenplage, der Krankheit, entgegenzuwirken, warum scheint es dir geringer, als seinen Acker zu bebauen, Vieh zu mästen, Korn und Wolle zu verhandeln und auf diese Weise, gleichfalls im Dienste der Natur, die ersten Lebensbedürfnisse zu befriedigen? Gestehe es, Kind, nur darum, weil du auch solche, die du für deinesgleichen hältst, derlei ländliche Hantierungen treiben siehst und dir noch kein adliger Apotheker bekannt geworden ist. Also aus Vorurteil. Wollte ich dir nun aber auch, wenngleich nicht die Berechtigung, so doch eine verbreitete Wirksamkeit gewisser geistiger Gewöhnungen, die wir Vorurteile nennen, zugestehen, so müßte ich dir in diesem Falle doch eine weit verbreitetere Wirksamkeit entgegensetzen, denn Herr Hollunder ist ein so wohlhabender Mann, daß alle gang und gäben Vorurteile vor seinem Reichtum verschwinden müssen.«
»Ich verstehe dich nicht mehr, beste Mutter,« wendete Blanka ein. »Heute empfiehlst du den Reichtum eines Mannes, und wie oft hast du mir das Verächtliche einer Spekulationsheirat vorgehalten?«
»Ich tue es noch, mein Kind, insofern eine Heirat nur Spekulation, insofern es nur der äußere Glanz ist, welchen ein Mädchen in der innersten menschlichen Verbindung sucht. Bei einem Manne von Hollunders Charakter wird der Reichtum zu einem erfüllenden Segen. Ich weiß, daß es einer ernstgebildeten Frau, – daß es vielleicht auch dir, liebe Blanka, die Zufriedenheit nicht verkümmern wird, wenn sie ein baumwollenes Kleid statt eines seidenen trägt, ein einfaches Mahl von Fayence genießt, statt Leckerbissen von kostbarem Gerät. Vielleicht, sage ich, da ja in dem sich so mächtig verbreitenden Luxus unserer Zeit eine bedenkliche Versuchung selbst für die Bescheidene liegt. Unter allen Umständen jedoch ist es auch für die Bescheidenste schwer, den Bissen zu berechnen, mit dem sie den Gastfreund bewirten, den Groschen, mit welchem sie den Dürftigen unterstützen möchte, ihre wärmsten Impulse allezeit unter Kontrolle zu halten. Bei deiner erregbaren Natur, liebe Blanka, ist es doppelt schwer. Ich fürchte, ich fürchte« – Frau von Horneck seufzte bei dieser Wendung –, »daß sich viel von deines Vaters Wesen in dem deinen fortgeerbt hat, mein armes Kind.«
»Du fürchtest das?« fragte Blanka betroffen, da sie gewohnt war, den frühverstorbenen Vater mit uneingeschränkter Hingebung zu verehren. »Du fürchtest es? War mein Vater nicht edel und gütig? Liebtest du ihn nicht, meine Mutter?«
»Er war ein edler, gütiger Mann, und ich liebte ihn, Blanka,« antwortete Frau von Horneck und seufzte wiederum bei den Worten. »Dennoch habe ich viel mit ihm und durch ihn gelitten. Denn sein Temperament und Geschick lagen in dauerndem Zwiespalt, ohne daß eines mächtig genug gewesen wäre, das andere von Grund aus zu bewältigen. Ich werde dir diese Erfahrungen ehestens näher bezeichnen, da ich dich vor einer Krise stehen sehe, in der sie dir zur Lehre werden können. Heute möchte ich dir nur noch sagen, wie tief es mich beglücken würde, wenn ich dich ähnlichen Konflikten entzogen wüßte, wurzelnd in einem Boden, in welchem herzensfreundliche Triebe sich entfalten dürften, ohne sich – häufig mehr als unsere Irrtümer – in Klippen umzuwandeln, an welchen ein Lebensschiff nur allzuoft scheitert.«
Blanka ergriff der Mutter Hand; sie fühlte sich je länger je tiefer von deren Ernst bewegt. Frau von Horneck fuhr fort:
»Du hast in der bescheidenen, aber gesicherten Einrichtung, welche mein Jahrgeld mir gestattete, wohl Beschränkung, aber keine Not, keine Sorgen kennen lernen. Schließe ich die Augen, bleibst du mittellos zurück, ohne eine Familie, in deren Verband du dich natürlich und schicklich einrichten dürftest – –«
»O, sprich nicht von dieser unausdenkbaren Möglichkeit, Mutter!« rief das junge Mädchen mit überströmenden Augen. »Du kannst, du darfst nicht vor mir sterben. Wie sollte ich leben ohne dich?«
»Doch, mein Herz, sprechen wir einmal von dieser Möglichkeit; sie dürften dir weniger fern liegen, als du ahnest,« entgegnete Frau von Horneck sanft. »Mein kräftiges Aussehen täusche dich nicht. Ein plötzliches Sterben ist fast erblich in meiner Familie; auch mein Leben kann rasch abgeschnitten werden. Was dann mit dir, mein armes Kind? Eine günstige Heirat für eine unvermögende Tochter der gebildeten Stände wird heutzutage je mehr und mehr zu einer Chance wie das große Los, und auf bisher noch wenig gebrochener Bahn selbständig durch die Welt zu dringen, bedingt für uns Frauen einen harten Kampf. Glaubst du dich solchen Kampfes fähig, Blanka? Sieh unsere arme Cousine Viktoria an, wie sauer es ihr wird, sich durch Musik- und Sprachstunden notdürftig zu erhalten. Denke dich in ähnliche Lagen als Lehrerin, Erzieherin, Gesellschafterin, allemal als eine Abhängige. Stelle dagegen ein Los an der Seite eines geehrten, eines liebenden Mannes, in gesichertem, bürgerlichem Besitz; ein Walten in angemessener weiblicher Sphäre, in unverkümmerter Freiheit, gütige Neigungen und anmutige Fähigkeiten zu Tugenden und Wohltaten auszubilden.«
»Aber ich liebe diesen Hollunder nicht!« rief Blanka aufgeregt. »Er ist mir gleichgültig; nein, nein, er ist mir widerwärtig!«
»Ich will diesen starken Ausdruck deiner Überraschung zugute halten, Blanka,« versetzte die Mutter. »Schon die Gleichgültigkeit würde als Einwand genügen. Denke darüber nach, ob sie der Achtung und Dankbarkeit, die du nicht versagen kannst, dauernd widerstehen kann, ob letztere sich nicht in Freundschaft und endlich in Neigung umwandeln könnten, ob du dich unfähig fühlst, im Recht- und Gutestun den Ballast für dein Lebensschiff zu finden. Bringe auch die Gewöhnung in Anschlag, die selbst üble Zustände erträglich macht, wie viel mehr aber den Trefflichen zu gebührender Schätzung verhilft. Die ausgleichende Macht der Ehe und des Familienlebens ist eine unbestreitbare Erfahrung. Ferne sei es von mir, dich zu überreden, wo ich dich nicht überzeugen kann. Aber es war meine Pflicht, die Vorurteile zu zerstreuen, die schattenartig das Bild eines guten Menschen umfloren; den Blendungen der Jugend gegenüber deine innere wie äußere Lage in das gehörige Licht zu setzen. Jetzt schlafe, mein Kind, und Gott wache über dich in einem neuen Jahr.«
Frau von Horneck beugte sich tränenden Auges über die geliebte Tochter, die, ihre Arme um der Mutter Hals geschlungen, lange Zeit schluchzend an ihrem Herzen lag. Dann drückte sie einen Kuß auf Blankas Stirn und legte sich zur Ruhe.
Blanka war erschüttert. Die Vorstellung, ihre Mutter verlieren zu können, durchzitterte sie zum ersten Male, bestürmte sie mit Angst und Entsetzen. Aber eine frohe Jugendlichkeit vermag so düstere, wesenlose Bilder nicht festzuhalten. Andere und wieder andere drängen sich vor. Phosphorus Hollunder als Bräutigam! Weiter trägt der jungfräuliche Blick noch nicht. Er prallt schon ab an dieser ersten Klippe. Und wie durch Zauber taucht am Rande derselben eine andere Gestalt empor; undeutlich, unbestimmt, es ist wahr, aber mit allen Reizen der Schönheit, der Ritterlichkeit, kühn erfassenden Verlangens. Assur von Hohenwart, der junge Husar, der, seit kurzem in die Stadt versetzt, alle Zungen von sich reden, alle Mädchenherzen schlagen macht. Die Mutter hatte, ohne ihn zu nennen, warnend auf ihn hingedeutet; aber Mütter müssen wohl eine andere Sehlinie haben als ihre Töchter.
Die Tochter sieht ihn, das verunglückte Kind zu retten, dem Ziehbrunnen zustürzen, sich am Seile in die grausige Tiefe winden, sieht nach einer Pause lautlosen Erstarrens den Edlen mit zerfetzten Händen, blutend, besinnungslos in die Höhe ziehen, das gerettete Kind im Arm. Das Zeichen dieser heldenmütigen Tat glänzt wie ein Stern auf der jugendlichen Brust. Dann, wenige Wochen erst sind es her, dann sieht sie sich selbst, lauschend hinter der Gardine hervor, als der Vielbesprochene zum ersten Male unter ihrem Fenster vorübersprengt. Plötzlich hemmt er das feurige Roß, und mit kühnem Blick die Lauscherin erspähend, senkt er huldigend die Spitze seines Degens vor der Errötenden.
Und dieser ritterlichen Erscheinung gegenüber steht lächelnd Phosphorus Hollunder, wie er im Teekränzchen allbekannte Balladen deklamiert, mit schwacher Stimme Liebeslieder zur Gitarre singt, wenn nicht gar über dem Herdfeuer widerliche Mixturen braut. Sie wagt es, sich als Braut an Assur von Hohenwarts Arme durch die Hauptstraßen wandelnd vorzustellen, mit stolzem Glück die nachschauenden Blicke der Bewunderer und der Neider genießend. Dann wieder, an Phosphorus Hollunders Arme, dem spöttischen Lächeln der Bekannten ausweichend, mit niedergeschlagenen Augen ihren Gruß vermeidend, sich durch Hintergäßchen drückend. Hundert ähnliche Bilder drängen, scheuchen, jagen einander, bis endlich der Schlaf geschlichen kommt, der gute, bilderlöschende und bilderzaubernde Schlaf. »Assur von Hohenwart – Phosphorus Hollunder« – flüstert die Lippe noch, halb schon im Traum. »Assur! Assur!« – und sie schlummert ein.
*
Am Neujahrsabend war Resourcenball. Herr Hollunder, als Vorsteher, der erste auf dem Platze. In seidenen Strümpfen, Schnallenschuhen, chapeau claque, Weste und Binde von weißem Atlas, mustert er noch einmal die Orden, Schleifen, Sträußchen, Bonbons und Nippes, die er aus eigener Tasche angeschafft und mit denen er einen hohen Christbaum geschmückt hat. Herr Hollunder weiß, wem er beim Kotillon mit den sinnigsten Darbietungen seine Gunst bezeigen wird.
Im Hintergrunde des Saals erhebt sich auf einem haut pas zwischen Blumengruppen eine Art von Thron, über welchem, goldflimmernd, ein riesiger Pantoffel schwebt. Einem Teil des schönen Geschlechts, und just dem wichtigsten Teil für den Ordner, ist durch die gestrige Schwesternloge das unbestreitbare Herrscherrecht der Sylvesterstunde verkümmert worden. Herr Hollunder wird den Beeinträchtigten heute glänzend Genugtuung geben. Er neigt sich a priori vor der Würdenträgerin, welcher er das Zepter zu einem mütterlichen Regimente unter dem schwebenden Pantoffel überreichen wird; ach, nicht bloß für diese eine Jahresstunde überreichen möchte. Alles, was er sinnt und schafft, ist Symbol, ist zarter Wink. Trotz dieser Beflissenheit ist Herr Hollunder indessen nicht unbefangen, wie sonst bei seiner gesellschaftlichen Pflicht. Während er mit Anmut und Würde die ersten eintretenden Damen bewillkommnet, schlägt sein Herz wie ein Hammer unter dem glänzenden Gilet, und krampfhaft heftet sich zwischen Bückling und Bückling das Auge nach der Tür, durch welche die Ersehnte eintreten wird. Trägt sie den Strauß, den er am Morgen in seinem Treibhause gepflückt, ihrer würdig, einer Königstochter, sinnvoll gleich einem Selam, eigenhändig gebunden und nebst einer zierlichen Karte für die hochverehrte Frau Mutter als Neujahrsgruß übersendet hat? Trägt sie ihn, so wird er dieses Zeichen der Huld für einen Schiedsspruch des Schicksals halten.
Der Saal ist überfüllt. Herr von Hohenwart lehnt mit gekreuzten Armen unter der Tür des Speisezimmers; Herr Hollunder schwebt angstvoll gespannt und doch gefällig die Reihen auf und nieder. Endlich, endlich – da tritt sie ein an der Seite der stattlichen Mutter! Phosphorus Hollunder zwingt einen jauchzenden Aufschrei in seine Brust zurück, denn zu einem duftigen Gewande trägt die Holde im Haar den weißen Kamelienzweig, den er als Krone in seinen Strauß gewunden. Ihr einziger Schmuck! Blanka sah blässer aus als gewöhnlich, ihr großes Auge war umflort und ruhte häufig am Boden, aber nicht nur unserem Freunde erschien sie von zauberischem Reiz; auch Herr von Hohenwart, dieser Kenner und gefürchtete Kritiker der Frauenschöne, betrachtete das holde Geschöpf mit Entzücken. Herr Hollunder stürzte den Eintretenden entgegen, reichte Frau von Horneck die Hand zur eröffnenden Polonäse, gab mit seinem weißseidenen Taschentuche dem Orchester das Signal zur eröffnenden Polonäse, und voran schritt er der vielgliedrigen wandelnden Schlange mit der Miene eines Triumphators. Als gewissenhafter Vorsteher hatte er die Musik zu den Tänzen selbst ausgewählt, und war die Polonäse auf die Arie »Kennst du der Liebe Qualen?« auch nicht ganz neu, so entsprach ihr Text doch wie kein zweiter den Gefühlen des sinnigen Ordners, der sich nicht versagen konnte, durch kunstvolle Verschlingungen und Verschiebungen die Paare bunt zu mischen. Just als bei der Strophe »Und doch, o Mädchen, lieb ich dich« – er hatte dieses Lieblingslied wiederholt in Konzerten vorgetragen – das Tempo sich schwungvoller zu bewegen anhob, reichte er Blanka zu einer zierlichen Tour die Hand. Seine Augen strahlten den Text zu der Melodie, er wagte einen schüchternen Händedruck und schlüpfte dunkelerrötend der nächsten Dame zu. Wer vermöchte die Wonne des guten Menschen zu schildern? Und als die Geliebte dann beim Antritt zum ersten Walzer mit verlegenem Lächeln, das ihm als holde Schämigkeit erschien, für seinen köstlichen Blumengruß dankte, als er sie bebend in seinen Armen hielt, ihr Atemhauch sich in den seinigen mischte, da, da – o, du überseliger Held Hollunder!
Später am Abend führte auch Herr von Hohenwart, der bisher nicht getanzt hatte, Blanka auf ihren Platz zurück. Ihr Busen wogte, die Wangen glühten, die Augen waren weit geöffnet und die Lippen halb, wie die eines lächelnden Kindes. So engelleicht war sie noch nie im Arme eines Tänzers durch den Saal geflogen, mit solcher Inbrunst hatte noch niemals einer sie dicht an sich heran gepreßt. Sie hatte die Lider nicht vom Boden erhoben, aber sie wußte, daß alle Blicke auf dem unvergleichlichen Paare geruht hatten. Sie fühlte sich gefeiert und beneidet wie noch nie. Herr von Hohenwart fragte sie, ob sie den eben beginnenden Kotillon noch für ihn frei habe. Sie mußte ablehnen.
»Die Tanzlust kommt Ihnen spät, Herr von Hohenwart,« sagte sie scherzend.
»Sie gönnten mir den Vorzug eines Tanzes nicht früher, Gnädigste,« entgegnete er, indem sein dunkles Auge das ihre suchte. »Meinen Sie, daß ich noch wie ein Fähnrich tanze, um zu tanzen?«
Sie fühlte eine Blutwoge über ihre Wangen gleiten. Hatte sie selbst heute zum ersten Male doch getanzt nicht bloß, um zu tanzen. Mit gezwungenem Lächeln fragte sie:
»Aber was gewährt Ihnen ein Ball, wenn nicht den Tanz?«
»Was?« erwiderte er. »Nun, was das Leben überhaupt: einen Moment der Schönheit und außerdem – Langeweile.«
»Langeweile?« rief Herr Hollunder, der herbeigetreten war, um Blankas Nachbarin zum Kotillon zu führen, da auch für ihn die Gefeierte vom letzten Balle her versagt gewesen war. Wie gern würde er die Krone der Tänze, hinter ihrem Stuhle harrend, überschlagen haben, hätte seine Dirigentenpflicht nicht mächtig in ihm pulsiert und das gute Herz ihn gedrängt, ein ältliches Mauerblümchen eine frohe Stunde hindurch wieder blühen zu machen.
»Langeweile?« wiederholte er. »Ach, da beklage ich Sie, mein Herr Leutnant. Ich habe noch niemals Langeweile empfunden.«
»Pillendrehen ist auch eine unterhaltende Beschäftigung,« versetzte Herr von Hohenwart, zu Blanka gewendet, unbekümmert, daß Hollunder die Bemerkung hören konnte.
»Jedenfalls nützlicher als Schnurrbartdrehen,« gab dieser zurück, vom Zorne schlagfertig inspiriert. Denn, wenngleich unser Freund im allgemeinen von den Dämonen des Kleinlebens die Empfindlichkeit und üble Laune so wenig kannte als die Langeweile, durch den Hohn aus diesem Munde und in dieser Gegenwart fühlte er sich empört.
Er führte seine Dame in die Reihe, und Herr von Hohenwart lachte so unbefangen, als ob von einer Beleidigung aus diesem Munde nicht die Rede sein könne.
»Ich gratuliere Ihnen zu diesem Prachtexemplar von einem Verehrer, Gnädigste,« sagte er. »Ein närrischer Kauz, wie alle Apotheker.«
Blanka zitterte, ihre Pulse flogen, Glut und Blässe wechselten auf ihren Wangen; sie wußte nicht, ob vor Scham, vor Zorn, vor welchen überwältigenden Empfindungen.
»Wie schön Sie sind!« rief Herr von Hohenwart entzückt.
Sie erhob sich hastig und folgte ihrem herbeieilenden Tänzer in die Reihe.
Der vortanzende Herr Hollunder überbot sich in sinnvoll erfundenen Touren. Fräulein von Horneck ward mit seinen Blumen und Gaben überschüttet, seine exzentrische Huldigung zum Geflüster der Gesellschaft. Wiederum fühlte sie alle Blicke auf sich gerichtet, aber wie krampfte jetzt das Herz sich ihr zusammen unter diesen Blicken.
Nach dem Neuerfundenen kam nun aber auch das Altbewährte an die Reihe. Zunächst die Lieblingstour, in welcher der Tänzer seine Dame auf einen Stuhl inmitten des Kreises Platz nehmen läßt und ihr nebst einer Rose ein Körbchen überreicht, um mit diesen Symbolen von zwei Kavalieren den einen zu beglücken, den andern abzuweisen. Assur von Hohenwart und Phosphorus Hollunder waren die Blanka präsentierten Herren. Sie fühlte einen Stich im Herzen, als sie dieselben auf sich zuschreiten sah. Durfte sie den überdreisten Ritter noch ermutigen? den erwartungsvoll bebenden Freier durch ein nicht mißzuverstehendes Zeichen entfernen, oder – oder –? Ihre Augen trafen wie von selbst die ernst auf sie gerichteten der Mutter. Hastig sprang sie auf und reichte unserm Helden die Blüte, dem andern den Korb. Er setzte ihn gelassen auf den Stuhl und tanzte die Tour mit der stattlichen Gemahlin seines Rittmeisters, während Blanka im Arm des Erkorenen voranwalzte. Sie fühlte seinen dankbaren Händedruck, seinen strahlenden Blick; sie wußte, daß er sein Schicksal entschieden glaubte. Ihr schwindelte. Ein dunkler Flor breitete sich über ihre Augen; ohnmächtig sank sie in die Arme der Mutter, die sich mit ihr entfernte, sobald sie sich von dem Anfall erholt hatte.
Unter der Tür warf Blanka noch einen Blick in den Saal zurück.
Das Pantoffelregiment hob eben an mit der letzten Kotillontour, dem Kehraus. Der arme Hollunder lehnte geisterbleich in einer Ecke; die Schönen waren barmherzig genug, seine Qual zu respektieren: keine holte ihn. Herr von Hohenwart verließ lachend den Saal, um im Nebenzimmer an der Champagnerbowle älterer Kameraden teilzunehmen. Er soll in dieser Nacht von sprudelnder Laune gewesen sein, eine kleine Bank proponiert, mehr Geld, als er besaß, verloren und beim Nachhausegehen mit einem jugendlichen Schwarm einen Straßenunfug getrieben haben, infolgedessen es mit der Polizei zu Händeln kam. Er wurde darauf eine Woche lang nicht auf seinem wilden Rappen durch die Straßen jagend bemerkt. Man munkelte von Strafarrest, von gravierenden finanziellen Verlegenheiten. Der militärischen Laufbahn des übermütigen Kavaliers wurde ein übles Prognostikon gestellt.
*
Das Aufsehen dieser außerordentlichen Ballereignisse und die sich daran knüpfenden Mutmaßungen ihrer Folgen waren in unserer Stadt noch nicht ausgeklungen, als eines Mittags Frau und Fräulein von Horneck im grünumrankten Fenster ihres Wohnzimmers sich gegenübersaßen. Die Mutter ließ ihre Handarbeit fallen, mit sorglichem Ernst ruhte ihr Blick auf der Tochter, die unter dem Vorwande von Kopfweh das Gesicht, in die Hände vergraben, auf das Fensterbrett neigte. Jählings schreckte sie empor, das Ohr richtete sich nach der Tür; sie hörte Tritte, erbebte und war im Begriff, nach der entgegengesetzten Seite zu entfliehen, als ein mahnender Blick der Mutter sie willenlos auf ihren Platz zurückzog.
Ein leises Klopfen, und Herr Hollunder schwebte in das Zimmer. Ja wahrlich, er schwebte, mit Bräutigamsschwingen und eine Bräutigamsglorie über der umlockten Stirn. Herzhaft küßte er erst der Mutter, dann schüchtern der Tochter die Hand und hob darauf an: »Wie froh macht es mich, Freunde und Bekannte nunmehr an meinem Glücke teilnehmend zu wissen und den hohen Gewinn meines Lebens nicht mehr in meinem Herzen verschließen zu brauchen. Der Stich der Verlobungsanzeigen, deren Anschaffung Sie, verehrte Mutter, mir gütigst überließen, hat etwas aufgehalten. Spät gestern abend sind sie indessen von Leipzig eingetroffen; ich habe die für den hiesigen Ort bestimmten heute morgen in Ihrem Namen verteilen lassen und erlaube mir, die in die Ferne zu versendenden Ihnen zu überreichen.«
Er legte bei diesen Worten mit einer Miene, welche die Befriedigung einer gelungenen Überraschung ausdrückte, in Frau von Hornecks Hand ein Kuvert, das diese freundlich dankend öffnete. Etliche der Blätter fielen auf den Tisch, Blanka warf einen Blick darauf, wurde leichenblaß und verließ, ohne ein Wort zu äußern, mit raschen Schritten das Zimmer. Was mochte so Entsetzenerregendes ihr aufgestoßen sein?
Es waren rosa glacierte Karten von ansehnlichem Umfang; in der Mitte machte die Baronin Wilhelmine von Horneck, geborene Freiin von Schweinchen, die Anzeige der Verlobung ihrer einzigen Tochter Blanka mit dem Herrn Ernst Phosphorus Hollunder; korrekt der Üblichkeit gemäß. Ungemäß war nur die Zutat einer Randzeichnung in Golddruck, von dem kunstsinnigen Bräutigam eigenhändig entworfen. Als Mittel- und Eckstücke prangten größere Embleme: eine aufgehende Sonne, ein Altar mit lodernder Opferflamme, eine Ritterburg von einem Holunderbaum beschattet, die verschlungenen Wappen der Horneck und Schweinchen mit ihren Geweih und Borsten tragenden Schildhaltern; zwischen ihnen hindurch aber wand sich eine Arabeske, in welcher die herkömmlichsten Sinnbilder zärtlichsten Glücks, als da sind Rosen und Vergißmeinnicht, Füllhörner, Herzen und verschränkte Hände, geflügelte Amoretten und sich schnäbelnde Täubchen durch blühende Holunderranken verbunden waren.
Frau von Horneck schaute eine Weile schweigend vor sich nieder, und der arme Hollunder begann zu ahnen, daß er den Geschmack der edlen Dame nicht sonderlich getroffen habe. Endlich nahm sie das Wort: »Eine zierliche Arbeit, wohlgeeignet für ein Albumblatt; indessen, verzeihen Sie, lieber Sohn, für den gegenwärtigen Zweck würde mir eine einfache Anzeige geeigneter erschienen sein. Eine Annonce schließt Demonstrationen der Freude aus, und Zieraten am unrechten Ort sollten billigerweise vermieden werden. Überhaupt, mein guter Hollunder, gestatten Sie bei dieser Gelegenheit der, welcher Sie so bereitwillig Mutterrechte eingeräumt haben, den Rat und die Bitte, in allen Stücken so schlicht als möglich in Ihrem Auftreten zu sein, wenn Sie den in bescheidenen Verhältnissen herangebildeten Sinn meiner Tochter nicht durch allzu grellen Abstand beängstigen wollen.«
»Ich glaube, Sie zu verstehen, meine verehrte Mutter,« erwiderte der gute Hollunder, helle Tränen in den Augen. »Sie sind sehr nachsichtig, sehr schonend! Ach, ermüden Sie nur nicht, durch Ihren Rat die Lücken in meiner Bildung auszufüllen, um mich meiner lieben Blanka würdig und fähig zu machen, sie zu beglücken.«
Nach einer Weile entfernte er sich, betrübt über das Nichtwiedererscheinen seiner Braut, betrübter über den Grund desselben. Frau von Horneck blickte ihm mit inniger Rührung nach, seufzte tief auf und ging dann in die Nebenstube, wo Blanka unter krampfhaftem Schluchzen auf ihrem Bette lag. Sie suchte die Aufgeregte zu beschwichtigen; diese aber rief händeringend: »Diese Lächerlichkeit richtet mich zugrunde! Mit Fingern wird man auf mich weisen. Wie soll ich wagen, den Leuten wieder unter die Augen zu treten?«
»Unbefangen lächelnd, mein Kind,« antwortete die Mutter; »mit dem Bewußtsein richtiger Schätzung einer kleinen Geschmacksverirrung.«
»Klein, Mutter, klein? Und lächeln, wo man vor Scham in die Erde sinken möchte?«
»Du übertreibst, Blanka. Welche Frau hätte nicht irgendeinmal gute Miene zum bösen Spiel, wie oft selbst zu Unbill und Frevel ihres Gatten machen müssen? Welche Frau wäre durch die Ehe geschritten ohne lächelnde Larve, wenn auch das Herz ihr blutete? Und welcher Frau läge es nicht ob, mit leiser Hand den Verirrten auf die rechte Bahn zu leiten, nicht bloß bei Lappalien, wie diesen!«
Da aber das junge Mädchen sich durch kein Zureden beruhigen ließ, sagte die Mutter nach einer Pause ernsten Bedenkens:
»Ich fürchte, unsere Entschließung war übereilt. Wenn dein Widerstreben so tief wurzelt, daß schon beim ersten, geringfügigsten Anlaß Mut und Selbstüberwindung dir gebrechen, so wäre es Sünde, das Glück eines guten Menschen auf das Spiel zu setzen. Noch ist es Zeit zu einer Ablehnung. Man soll keine Aufgabe übernehmen, für welche man die erforderliche Kraft bezweifelt, zumal wenn man nicht sich allein für den Erfolg verantwortlich ist. Ich habe dich für stärker gehalten, als du bist. Fasse dich jetzt und laß uns miteinander das Richtige prüfen und entscheiden.«
Das schwerste Verhängnis schnitt diese Prüfungen ab, bevor sie zum letztgültigen Entscheid geführt hatten, ja, bevor selbst die treffliche Mutter sich völlig klar darüber geworden war, daß, je zarter und zärtlicher ein junges weibliches Herz, man um so unfähiger ist, mit Altersweisheit und Gründen der Billigkeit gegen sein natürliches Verlangen, Reiz der Sinne und der Phantasie, und weit mehr noch gegen seine Abneigungen, ja selbst gegen das blanke Vorurteil durchzudringen. Die Zweige der Weide neigen und biegen sich bei der leisesten Berührung und fallen doch allezeit in den ihnen gemäßen Hang zurück.
Frau von Horneck erkrankte noch am nämlichen Abend. Ein Nervenschlag lähmte Besinnung und Sprache und machte ihrem guten Leben jäh ein Ende. War es doch, als habe die bis dahin so rüstige Frau diesen nahen Ausgang vorgefühlt und mütterliche Angst sie gedrängt, ihr schutzloses Kind in treuen Händen zu bergen.
Blankas Zustand glich einer Zerrüttung. Es war ein Schlag aus blauem Himmel; der erste, der tiefste, ja, der einzige, der sie treffen konnte. Bis zum letzten vernichtenden Akt lag sie lautlos über der toten Gestalt; stumm und stumpf starrte sie wochenlang in das Leere. Sie schien für alle übrigen Verhältnisse die Erinnerung verloren zu haben; ihres Verlobten Treue, stille Trauer, die anspruchslose Würdigung ihres Schmerzes bemerkte sie nicht einmal.
Fräulein von Schweinchen siedelte in die Wohnung der Waise über. Doch hatte Blanka von klein auf zu ausschließlich in und mit ihrer Mutter gelebt, um sich der einzigen Verwandten zuzuwenden, und die arme alte Dame war zu dringlich durch ihre Erwerbspflichten in Anspruch genommen, um sich dem trostlosen Kinde, soviel als ihm not getan hätte, zu widmen. Der Verkehr mit früheren Bekannten, ja, bloß deren Anblick, war Blanka zuwider. Aller Wert, alle Bedeutung des Lebens dünkte ihr mit dem Mutterleben ausgelöscht. Man hätte sie in ein Kloster führen, sie lebendig einsargen können, sie würde keinen Widerstand erhoben haben. In der Selbstsucht ihres Schmerzes dachte sie an nichts, an niemand als die Tote, und dennoch, oder vielleicht gerade darum, dachte sie nicht daran, die letzte mütterliche Warnung zu beachten, ihr neugeschlossenes Verhältnis zu prüfen und, wenn erforderlich, zu lösen. Zuckte im Verlauf aber dann und wann ein mahnendes Bewußtwerden ihrer Lage und deren Verpflichtungen in Gegenwart und Zukunft, einem grellen Funken gleich, durch ihr Gemüt, so erdrückte die Last ihrer Hülflosigkeit doch rasch jeden rettenden Entschluß. Was besaß sie? was verstand sie? was vermochte sie? an welche Leistung war sie gewöhnt? welcher Anstrengung gewachsen? nicht einmal der der duldenden Ergebung. Schwerlich hat ein Kind jemals mehr der mütterlichen Führung bedurft; aber schmerzlicher hat auch keines deren Entbehren gefühlt und gebüßt. So lebte sie hin von Tag zu Tag, ohne in ihrer Not das Notwendige fest in das Auge zu fassen und sich ihm in einer oder der anderen Weise gerecht zu machen. Wochen, Monate schlichen hin. Die Tante, über diesen Starrsinn in Verzweiflung, gab ihr eines Tages zu Gehör, daß eine baldige eheliche Verbindung in ihrer inneren wie äußeren Lage das Gebotenste scheine. Hollunder trat während dieser Vorstellung ein. Er drängte, er schmeichelte nicht, gab nur leise seine Sehnsucht zu verstehen, indem er seine Wünsche den Heischungen eines trauernden Gemütes unterordnete. Die treue Liebe des Kindes war ein Reiz mehr in seinen Augen, eine Bürgschaft für die dereinstige treue Liebe des Weibes und seines höchsten Glücks. In diesem gütigen Herzen war kein Moment der Ungeduld und beleidigter Eigensucht. Ob Blanka diesen Adel verstand? Ob sie denselben nur ahnete? Vielleicht daß eine egoistische Leidenschaft sie aufgerüttelt hätte, sie dem Manne näher gebracht oder von ihm losgerissen; dem Manne, welchem sie jetzt ohne Widerspruch, ohne Furcht, wie ohne Hoffnung zusagte, binnen weniger Wochen sich ihm zu eigen zu geben für das Leben.
Fräulein von Schweinchen, die für den Abend verpflichtet war, entfernte sich in Begleitung des dankbar freudigen Bräutigams. Blanka blieb allein. Für den Johannistag war ihre Hochzeit anberaumt; jetzt hatten wir Mai. Eine Monatsfrist, wie kurz und doch wie lang, um ein Menschenlos zu wenden und zu enden. Ihre Mutter hatte nur weniger Stunden zum Aufhören hienieden bedurft.
»Meine Mutter wird sich erbarmen und mich zu sich hinüberholen vor dem Johannistag,« dachte Blanka.
Dennoch schnürte die Brust sich ihr zusammen. Ihr Atem ging schwer. Sie öffnete das Fenster. Eine milde, balsamische Maienluft zog herein, Sehnsucht erweckend, bis in das dumpfe Gemüt der Waise. Es zog sie in das Freie, nach dem Grabe der Mutter. Wohl dämmerte es schon; aber sie konnte nicht widerstehen.
Sie saß auf dem grünen Hügel und verjammerte die Zeit. Statt Mut und Klarheit hatte sie an heiliger Stätte nur neues, verwirrendes Weh gefunden, Klagen und unstillbare Tränen. »Hilf mir, Mutter!« stöhnte sie und rang sich die Hände wund. Sie hatte sich zu einem liebelosen Leben verpflichtet und konnte nicht leben, ohne zu lieben.
Das abendliche Dunkel drängte zum Aufbruch. O, daß sie sich hier hätte betten dürfen für ewig; heute, diese Stunde noch! Keine Stätte dünkte ihr unheimischer als ihr mutterloses Haus; es sei denn jene, die ihrer harrte, wenn sie dieses Haus verließ. Sie riß sich los.
Als sie aus dem Friedhofspförtchen trat, schauderte sie. Der Weg bis zum Stadttor war nur kurz, aber einsam; in der umbuschten Schlucht schon nächtiges Dunkel, ringsum lautlose Stille. Und doch war ihr, als spüre sie eine Nähe, wehe ein Odemzug sie an, höre sie ein Regen. Und im nächsten Augenblick schrie sie hell auf. Eine hohe Gestalt stand an ihrer Seite; Assur von Hohenwart umfaßte die Schwankende mit beiden Armen. Sie hatte ihn seit jenem Abend, an dem sie die ersten Worte mit ihm gewechselt, nicht wiedergesehen. Ob aber auch seiner nicht gedacht? Hatte auch sein Bild der Todeshauch verweht?
»Ich bin Ihnen gefolgt, Blanka,« flüsterte er. »Ich mußte Sie noch einmal sehen, bevor ich Sie vielleicht für immer verliere. Seit Wochen trachte ich nach dieser Minute. Ich verlasse den Dienst, diese Gegend – vielleicht noch mehr. Mir bleiben nur wenige Stunden. Hören Sie mich an. Ich kann nicht so von Ihnen scheiden.«
Ihre Glieder zitterten. Schauer, halb der Furcht, halb ungeahnten Entzückens, rieselten über ihren Leib. Ihre Stimme war gelähmt. Willenlos ließ sie ihre Hände in denen des Verführers. Er horchte auf.
»Stimmen! Tritte!« sagte er, indem er sie in ein zur Seite liegendes Gebüsch zu ziehen suchte. »Sie widerstreben? Sie mißtrauen mir? Fühlen Sie denn nicht, daß ich Sie liebe? wie ich Sie liebe, Blanka? Blanka, ich muß Sie sprechen. Gestatten Sie mir heute abend den Eintritt in Ihr Haus. Es ist eine Abschiedsstunde, Blanka.«
Sie stöhnte wie ein Kind und machte einen Versuch, sich ihm zu entwinden.
»Ein Abschied vielleicht auf ewig,« drängte er, indem er sie dicht an sich heranzog. »Soll ich dich auf die erbärmlichste Weise verlieren? Meine Perle durch feile Krämerhände besudeln sehen?«
Dieser schnöde Unglimpf gab der Betörten die Fassung wieder. Dort ragte das Kreuz über dem Grabe der Mutter. Ihr Schatten umschwebte sie, als sie den Mann verhöhnen hörte, welchen die Verklärte mit letzter Liebessorge zu ihres Kindes Beschützer erwählt hatte. Sie riß ihre Hände aus den umstrickenden. »Fort!« kreischte sie auf, »fort!«
»Blanka!« rief Assur und preßte sie mit heißem Verlangen an seine Brust; »Blanka, liebst du diesen Mann?«
Verzweifelnd, schwindelnd windet sie mit letzter Anstrengung sich aus seinen Armen, flieht, ohne umzublicken, den Abhang nieder. Vor ihren Ohren schwirrt sein nacheilender Schritt, gellt der Ruf: »Blanka!« lange, nachdem rings um sie her alles still geworden, hallt er noch nach, als sie, atemlos ihr Zimmer erreichend, die Tür hinter sich abschließt und halb in Wahnsinn, halb in Erschöpfung zu Boden stürzt. Ein Sturm jach in der Brust entfesselt, hat den Bleidruck der Apathie verscheucht. Furcht und Hoffnung, Widerwillen und Verlangen, eines immer frevelhafter als das andere, selbst vor ihrem umflorten Gewissen, wirbeln durch das fiebernde Blut. Wunsch und Vorwurf jagen und verdrängen sich. Aus dem verlassenen Kinde ist plötzlich ein Weib geworden.
In diesem unbeschreiblichen Zustande fand sie ihre Verwandte. Das alte Fräulein wollte seinen Augen kaum trauen ob des Mädchens verwandelter Erscheinung und Stimmung, ob der glühenden Wangen, der leuchtenden Blicke, der raschen Worte und Schritte. Hatte das Bewußtsein ihres Glücks wirklich nur in der jungfräulichen Brust geschlummert? die Aussicht der nahen Erfüllung die Lebensgeister erweckt? Der Vernunft gemäß mußte die brave Lehrmeisterin es bezweifeln; aber sie glaubte es gern, und darum glaubte sie es. Der Glaube ist ja allezeit die Planke beim Schiffbruch des Begreifens. Sie wähnte die fieberisch Erregte der Ruhe bedürftig und war es selbst nach ihrem erschöpfenden Tagewerk. Da Tante und Nichte nicht, wie Mutter und Tochter es getan, in einem Zimmer schliefen, sagten sie sich Gute Nacht nach kurzem Beieinander.
Blanka legte sich nicht. Sie schritt im Zimmer auf und ab ohne Rast. Das Fenster stand noch offen: lindkühle Nachtluft fächelte ihre glühende Stirn, Düfte von Narzissen und Flieder strömten in die hochatmende Brust. Im Wäldchen drüben schluchzte die Nachtigall in den Naturlauten der Liebe, »himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt«. Süßes, unnennbares Sehnen, wonniges Ahnen schmeichelten sich mit diesen Tönen und Düften in der Jungfrau Busen. Sie sah Assurs hohe Gestalt, spürte seinen brennenden Blick, fühlte bebend den Druck seiner Hand, seinen wogenden Atem, als er sie eine Minute lang an seiner Brust gehalten. Ihr war, als hielte er sie noch; als müsse er sie dort halten für ewig. Sie hörte noch einmal seine von Leidenschaft zitternden Worte. Halb unbewußt beugte sie sich aus dem Fenster, lauschte nach seinem Tritt, spähte nach seiner Gestalt. Der abnehmende Mond war aufgegangen; die Straße hell und totenstill. Viertelstunde auf Viertelstunde verrann.
Vom Harren matt, wirft sie sich endlich auf ihr Bett. Unter einem Schlummerschleier winkt und lacht die ersehnte Gestalt; im Traume schweigt der Zweifel. Jählings fährt sie in die Höhe! Der Ruf ihres Namens hat sie erweckt. Gedämpft, aber deutlich: »Blanka!« Und welche Stimme! Sie stürzt nach dem Fenster, das sie nicht geschlossen. Ein Blumenstrauß fällt zu ihren Füßen nieder. Sie beugt sich hinaus, sieht noch den Schatten einer hohen Gestalt, hört einen raschen Schritt, in der Bahnhofstraße verhallend. Er! Er entfernte sich. Wohin? Warum? Seine Worte fielen ihr ein: »Ich verlasse das Land – vielleicht noch mehr«; seine Bitte um ein letztes Lebewohl, das sie verweigert. Hatte sie redlich, hatte sie grausam gehandelt? Schon vermochte sie Recht und Unrecht nicht mehr zu unterscheiden. Ist Liebe nicht das oberste Gesetz? fragte sie sich. Und Blanka hatte niemals einen Roman gelesen und nur Worte der Tugend aus dem Munde einer Mutter vernommen.
Sie dachte nicht daran, sich niederzulegen, nicht an ihr Abendgebet, nicht an ihre selige Mutter. Ihr deuchte, daß sie niemals wieder ruhen werde. Sie stand am Fenster, durch das ein frischer Dämmerungswind blies. Im losen Nachtkleide und doch fieberheiß preßte sie den blühenden Abschiedsgruß an die Brust, an ihre brennenden Lider, sog seine Düfte ein, als wären es die Atemzüge, die sie vor wenig Stunden berauscht hatten. Ihr ganzes Wesen war in Aufruhr.
Der Morgen graute. Was ist das? Zwischen den Rosen ein weißer Schimmer. Ein zerdrücktes Blatt. Wie ihre Finger zitterten, indem sie es glätteten! Wie ihre Augen funkelten beim Anblick der hastigen und so kühnen Züge.
»Du denkst mir zu entfliehen? Törichtes Kind! Weißt Du denn nicht, daß Du mich liebst, wie ich Dich? Weißt Du denn nicht, was lieben heißt? Mein bist Du, mein! Lebe ich oder sterbe ich, mein! Keine Pflicht, kein Schwur, keine Erden- oder Himmelsmacht kann Dich mir entwinden.«
*
Am Mittagstisch brachte Fräulein von Schweinchen, merklich beflissen, die Gerüchte zum Vortrag, die sie auf ihren Morgengängen eingeheimst hatte. Leutnant von Hohenwart hatte plötzlich seinen Abschied gefordert, bis zu dessen Eintreffen Urlaub erhalten und in der Nacht die Stadt verlassen. Man sprach allgemein von einem bevorstehenden Duell mit einem Kameraden, infolge von Beleidigungen am Spieltisch; das soundsovielste des übermütigen Patrons. Bei Heller und Pfennig nannte man seine Schuldenlast, rekapitulierte die rücksichtslosen Liebesabenteuer, die Überschreitungen jeglicher Art, welche den Tollkopf schon von Regiment zu Regiment getrieben und schließlich, seiner militärischen Tüchtigkeit zum Trotz, seine Stellung unhaltbar gemacht hatten. Die sich einsichtiger Dünkenden, und das alte Fräulein gehörte zu ihnen, erörterten, wie es in Zeiten langen Friedens, gleich der, in welche diese Ereignisse fielen, die Tagesordnung ist, die gefahrvollen Anomalien eines Berufes, der, auf der einen Seite sklavisch bindend, auf der anderen zügellos, Eitelkeit, Vorurteile, einen barbarischen Ehrbegriff hegend und pflegend, Generationen hindurch ein tatlos zuwartendes Scheinleben führt. Man zählte die Opfer auf, welche diese widerspruchsvolle Einrichtung schon gefordert hatte und noch forderte.
Derlei Zuträgereien, auch von anderer Seite – nur nicht von der ihres Verlobten –, umschwirrten Blankas Ohr. Sie wandelte wie in einem wüsten Traum. Dazwischen das Bewußtsein ihres heimlichen Begegnens, des versagten Lebewohls, die Todesqual um sein bedrohtes Leben. In jeder unbeobachteten Minute überlas sie sein glühendes Abschiedswort und barg es dann wieder auf ihrem Herzen, gleich einem Talisman, der ihn zu feien und sie zu befreien vermöge. Manchmal erschrak sie vor sich selbst, wenn sie die eigenen Lippen flüstern hörte: »Im Leben und Sterben mein!«
Endlich, nach einer Woche stummer Höllenpein, verbreitete sich die Kunde über den Ausgang des Duells. Beide Gegner waren verwundet, keiner lebensgefährlich, wie es hieß. Herr von Hohenwart, der unfehlbare Schütze, sollte seinen Beleidiger großmütig geschont haben, indem er ihm das Pistol aus der Hand feuerte und die letztere nur leicht dabei streifte. Sein eigener Arm war zerschmettert.
In einer Ortschaft jenseits der Grenze wartete er, nebst seiner Heilung, den Spruch des Kriegsgerichts ab. Dieser wurde als der mildeste vorausgesetzt und auf vollständige allerhöchste Begnadigung gewärtigt, da der Ehrenrat zu dem Zweikampf seine Zustimmung gegeben hatte, Herr von Hohenwart der Beleidigte und der Ausgang kein tödlicher war. In plötzlichem Umschlag verwandelte der geschmähte leichtfertige Damenheld sich zum chevalier sans peur et sans reproche, – eine Woche lang oder zwei, um dann allgemein vergessen zu werden.
Blankas Gemütszustand in den Wochen, die zwischen diesem Ereignis und dem festgesetzten Hochzeitstage lagen, glich dem Wanken und Schwanken eines lecken Schiffs. Wohl sah sie jetzt ihre äußere wie innere Lage in deutlichem, ja häufig in grellstem Licht. Sie wußte, was eines Mannes Weib sein bedeute. Neigung, Ehre und Gewissen drängten sie zu einem aufrichtigen Wort, zu einer befreienden Tat. Aber wie das eine aussprechen, die andere durchführen? Arm, hülflos, freundlos, wie sie war, ohne ein Erinnerungszeichen von dem einzigen Menschen, für den und mit dem sie standhaft das Äußerste zu tun und zu leiden sich fähig gefühlt haben würde. Wer hätte ihr helfen können, als er? Zu wem hätte sie flüchten können, als zu ihm? Zu ihm? Liebte er sie denn noch? Hatte er nicht auch mit ihr bloß sein Spiel getrieben? Nein, nein, nein! Aber hatte sie ihn nicht von sich gewiesen, ihn herzlos gekränkt? Wohin hatten Irrung und Schicksal ihn gescheucht? Nirgends ein Halt. Die Mutter im Grabe, der Geliebte verschollen. Die Zeit rollte vorwärts. Die Unglückliche fand keinen Abschluß.
Und der liebreiche Hollunder? O gewiß, er spürte ihren Kampf, spürte ihn an dem jähen Wechsel ihrer Stimmungen, dem unwilligen Ablehnen jetzt, der reumütigen Dankbarkeit dann. Oftmals stieg wohl die Ahnung in ihm auf, daß sie ihm nicht in gleichem Sinne angehöre, wie er ihr. Aber er war ein Neuling in den Erfahrungen des Herzens, ein gläubiger Neuling; immer wieder siegten Liebe, Vertrauen und vor allem ein mitleidsvolles Weh über seine Zweifel. Immer wieder fand er den Grund ihrer Schwankungen in der stolzen Scheu eines jungfräulichen Gemüts, die er von seinen Dichtern auf Treu und Glauben annahm, in dem Bangen des Verwaistfühlens und unüberwundenem, kindlichem Schmerz, den er im eigensten Herzensgrunde verstand, und so endete er regelmäßig damit, die Anzeichen der Schwachheit als neue Reize der Geliebten zu verehren und sie sich selbst zu einem Sporn der Umbildung, ihren Neigungen gemäß, werden zu lassen.
»Seine Nachgiebigkeit verdirbt alles,« seufzte Fräulein von Schweinchen. »Keine Frau schätzt einen Mann, der selbst mit ihren Unarten einverstanden ist.«
So nahte der Johannistag. Der aufgeklärte Hollunder verachtete jeglichen Aberglauben; aber er suchte und liebte Bedeutungen. Wie hätte er das segenspendende Täuferfest nicht zu dem der beseligendsten Weihe erwählen sollen? Der Trauer halber durfte die Feier nur in äußerster Stille begangen werden, deshalb hatte man sie, auf Blankas Verlangen bis zur Abendstunde verschoben. Ein halber Tag Aufschub dünkte ihr Gewinn. Hollunders Vorschlag einer Hochzeitsreise war von ihr mit Heftigkeit abgelehnt worden. Sie könne sich nicht aus der Nähe des mütterlichen Grabes entfernen, redete sie anderen und vielleicht sich selbst ein. In Wahrheit grauste ihr vor dem Alleinsein mit dem fremden Manne in einer fremden Umgebung. Dahingegen schien ihr zuzusagen, die Sommermonate nicht in dem großen, geräuschvollen Stadthause, sondern ländlich still in Hollunders kleiner Gartenvilla vor dem Tore zu verbringen. Er hatte sie einladend traulich herrichten und schmücken lassen. Die Zimmer blickten auf eine Blumenterrasse, von welcher parkartige Anlagen sich zum Flusse absenkten. Da auf dessen jenseitigem Ufer neuerdings der Bahnhof errichtet war, mangelte es inmitten des Stillebens nicht an einem zerstreuenden Wechsel.
In dieses rosenblühende Heim gedachte Phosphorus Hollunder unmittelbar nach vollbrachter Zeremonie seine Gattin zu führen und hier fern von allem wirtschaftlichen oder geschäftlichen Treiben die seligste Lebenszeit zu genießen. Die Beköstigung sollte aus dem Stadthause bezogen werden; nur ein junges Mädchen zu Blankas persönlichem Dienst gegenwärtig sein.
*
Als mit dem siebenten Glockenschlag des Johannisabends Phosphorus Hollunder das Hornecksche Wohnzimmer betrat, seine Verlobte zur Trauung abzuholen, war er peinlich betroffen, sie statt in dem bräutlich weißen Gewande, das er unter Fräulein von Schweinchens Anleitung für sie erwählt hatte, im Trauerkleide von schwarzer Seide zu finden. Die Tante äußerte sich entrüstet wie noch nie über diesen Schein eigensinniger Bevorzugung des Todes vor dem neuen Leben. Sei man auch aufgeklärt genug, um das in bürgerlichen Kreisen gang und gäbe Vorurteil gegen die Farbe der Trauer bei festlichen Gelegenheiten unhaltbar zu finden, da Männer ja immer und Frauen der niederen Stände meistenteils in schwarzem Anzug vor Altar und Taufstein träten, so müßte in vorliegendem Falle diese Wahl für eine unentschuldbare Taktlosigkeit und Undankbarkeit erklärt werden.
»Mit wie viel Mühe und Not«, so schalt sie, »habe ich es auch nur dahin gebracht, durch Kranz und Schleier, wie durch das Entblößen von Hals und Armen der Erscheinung ein einigermaßen festliches Ansehen zu geben!«
»Lassen Sie unsere liebe Blanka, ihrem Sinne gemäß, gewähren, beste Tante,« fiel Hollunder ihr in das Wort. »Ihr Gefühl, nicht das unsere ist es, das geschont werden muß.«
Blanka empfand in dieser Minute die zarte Liebe dieses Mannes wie einen stechenden Schmerz. Der Vorwurf brannte sie, wie wenig sie solcher Hingebung würdig sei, wie sehr er ein wärmeres, bereitwilligeres Gemüt verdiene. Sie hätte noch im äußersten Moment ihn vor einem schweren Irrtum, sich selbst vor schwerem Betruge wahren, hätte sagen mögen: »Ich liebe dich nicht.« Aber auch in diesem letzten Moment war ihr Pflichtbewußtsein verworren, ihr Wille schwach. »Ich kann nicht anders. Komme, was mag!« dachte sie und ließ sich stumm wie ein Opferlamm zum Wagen führen, den sie mit ihrer Verwandten teilte.
Der Bräutigam fuhr voran und empfing sie am Eingang der Kirche.
Der Platz vor dieser, das Schiff bis zum abgesperrten Altarraum waren Kopf bei Kopf gefüllt. Denn so unscheinbar die Zeremonie angeordnet war, wer hätte sich das Zusammengeben des reichsten Bürgers der Stadt mit deren schönstem Kinde entgehen lassen mögen? Das abendliche Halbdunkel, der düstere Anzug der Braut, ihre Leichenblässe und steinerne Gleichgültigkeit machten schon beim Vorschritt das bänglichste Aufsehen. Blanka erhob den Blick nicht vom Boden. Sicherlich unterschied sie keines der sie umdrängenden, altbekannten Gesichter, bemerkte sie wohl nicht einmal. Warum überrieselte sie denn plötzlich ein Schauder, als sie an dem im tiefsten Schatten liegenden Kanzelpfeiler vorüberschritt? Wer war die hohe, dunkle Gestalt, die, an den Pfeiler gelehnt, ihre Schulter streifte? Hatte ein Laut, ein Hauch ihr Ohr berührt? Oder welchen Spuk trieb ihre Phantasie? Ihre Füße schwankten; halb bewußtlos sank sie auf ihren Sessel im Angesicht des Altars und erholte sich nur notdürftig, während vom Chor das Hochzeitlied erschallte:
»Du bist der Stifter unserer Freuden, Herr, der du Mann und Weib erschufst.«
Phosphorus Hollunders bindendes Gelübde drang hell und freudig aus seinem Herzen in die der Hörer. Blankas Ja hat selbst ihr Verlobter nicht vernommen. Als der Priester den Trauring an ihren Finger stecken wollte, zitterte ihre Hand so konvulsivisch, sank dann so schlaff an ihrem Körper herab, daß der Reif zu Boden rollte. Hollunder bückte sich nun, ihn aufzusuchen. Vergeblich. Rasch gefaßt, streifte er einen kostbaren Diamantring von seiner Rechten, ihn gegen den verlorenen auszutauschen. Aber es war nicht das vorbestimmte Symbol der Treue. Durch die Menge lief ein ahndungsvolles Gemurmel. Nur der glückselige Bräutigam und die totenstarre Braut blieben von dem unheilvollen Omen unberührt.
Mit stolzer Siegermiene führte Phosphorus Hollunder sein angetrautes Weib, sein Eigentum vor Gott und der Welt durch das nunmehr völlig im Dunkel liegende Kirchenschiff. Er führte? – nein, er zog, er trug sie nahezu, denn ihre Füße schienen im Boden zu wurzeln. Als sie in die Nähe der Kanzel kamen, staute die zum Ausgang drängende Menge sich derartig, daß das Paar einen Moment innehalten mußte. Wiederum, krampfhafter noch als vorhin, bebte und schauderte die junge Frau. Kalter Schweiß perlte auf ihrer Stirn; die Zähne schlugen im Fieberfrost aneinander. Wie in Todesängsten hob sie einen Moment die Lider in die Höhe; in dem nächsten zuckte sie, wie vom Blitz getroffen, zusammen, ballte, als ob sie einen Gegenstand berge, die herabhängende rechte Hand gegen die Brust und sank besinnungslos in ihres Gatten Arme. Er trug sie in den Wagen; die Tante folgte im zweiten.
Im enggeschlossenen Raume allein mit dem Gegenstande seiner höchsten Wonne, das schöne leblose Weib in seinen Armen, vergaß der geängstigte Glückliche alle bisherige Zurückhaltung. Er umklammerte sie, preßte seine Lippen auf die ihren, erweckte mit den süßesten Schmeichelnamen sie zu einem schaudernden Bewußtwerden des Daseins.
Angekommen vor ihrem neuen Heim, das blumengeschmückt im Kerzenlicht strahlte, floh sie, wie ein gejagtes Reh, die Rampe hinan nach ihrem Zimmer. Als nach ein paar Minuten die Tante dieses betrat, stand sie vor der Lampe, einen verglimmenden Papierfetzen in der Hand.
»Was tust du, Kind?« fragte das Fräulein.
Blanka gab keine Antwort. Sie fiel wie vernichtet auf das Sofa, das Gesicht in die Hände vergraben, und hörte wohl kaum, wie die treue Freundin, zuredend, ermunternd, anpreisend sie auf die Anmut der Umgebung aufmerksam machte.
»In Wahrheit, eine Hütte der Liebe!« rief das alte Fräulein mit einem Seufzer halb der Wehmut, halb des Entzückens.
Die Glastüren nach der Terrasse standen geöffnet; Rosen- und Orangendüfte drangen sanft berauschend in das Zimmer. Es war ein schwüler Mittsommerabend; zur Nacht drohte ein Gewitter. Schattenartig zog Wolke um Wolke über die noch schmale Sichel des Mondes, über die einzeln am Horizonte bläßlich aufsteigenden Sterne; in der Ferne plätscherte, rasch bewegt, der Fluß.
»O, du gesegnete, heilige Täufernacht!« flüsterte das alte Fräulein mit gefaltenen Händen.
Die junge Frau hatte keinen Blick, keinen Laut des Verständnisses, kein Segen erflehendes Gebet. Regungslos ließ sie sich Kranz und Schleier abnehmen, das übliche Frauenhäubchen aufsetzen. Als die Tante dann aber fragte, ob sie ihr die Jungfer zum Umkleiden schicken solle, wehrte sie es ab mit einer Gebärde des Entsetzens.
Das alte Fräulein ahnete die Schauer eines jungfräulichen Gemüts, die zu erfahren das Schicksal ihr nicht gegönnt hatte, ahnete das Bedürfnis des Sammelns vor Gott im wichtigsten Augenblicke eines Frauenlebens. »Ach, mein Kind,« sagte sie, feuchten Auges, »versenke dich nur recht innig in das Bewußtsein, mit deinem eigensten Wesen einen guten Menschen durch und durch zu beglücken. Jedes andere Los ist kümmerlicher Notbehelf für eine Frau. Glaube es deiner alten Verwandten, und Gott wird dich segnen.«
Ach, warum vermied sie aus Schonung hinzuzusetzen: »und deine Mutter im Himmel«? Vielleicht, daß diese Mahnung Herz und Schicksal einer Unglücklichen zum Glück gewendet hätte – vielleicht! Sie küßte recht inbrünstig des jungen Weibes Stirn und ging dann hinüber in Hollunders Zimmer.
»Gönnen Sie ihr eine kleine Pause der Sammlung, werter Freund,« stammelte sie, kraft ihrer heutigen Mutterrolle, aber errötend und mit niedergeschlagenen Augen.
Phosphorus Hollunder errötete gleichfalls und schlug gleichfalls die Augen nieder. Er küßte der verehrten Tante die Hand und reichte ihr den Arm, sie zum Wagen zu führen.
Durch ein Mißverständnis hatte der Wagen sich zugleich mit der Hochzeitskutsche entfernt; ein männlicher Dienstbote war nicht anwesend, die Jungfer voraussichtlich mit ihrer Herrin beschäftigt und Phosphorus Hollunder zu sehr Gentleman, als daß er einer Dame gestattet hätte, von seiner Schwelle aus einen nächtlichen Heimgang sonder Geleit anzutreten. Das alte Fräulein aber, wennschon die verkörperte Bescheidenheit und, an einsame Abendwege mit Laternchen und Hausschlüssel gewöhnt, sich durchaus keines Schutzes bedürftig fühlend, nahm nach einigem Sträuben diesen selten erlebten Ritterdienst an, im Hinblick auf die Viertelstunde Freiheit, welche der aufgeregten jungen Frau durch ihn gewährt werde.
So führte denn Herr Hollunder Fräulein von Schweinchen bedächtig nach ihrer ziemlich abgelegenen Wohnung, um alsbald geflügelten Schrittes in die seine zurückzukehren. Die Pause der Sammlung hatte überlange für seine Ungeduld gewährt.
Er klopft an der Geliebten Tür, anfänglich schüchtern, dann hinlänglich vernehmbar. Kein Herein. Er wagt zu klinken. Die Tür ist von innen verriegelt. Bescheiden geht er in sein Zimmer zurück, etliche Male auf und nieder, dann von neuem hinüber, seine Einlaßversuche wiederholend. Vergeblich. Er ruft leise ihren Namen. Keine Antwort. Lauter und immer lauter. Alles still.
»Sie wird auf der Terrasse sein, der Abend ist so zauberisch,« denkt er und eilt durch den Hof in den Garten. Die Glastür nach Blankas Zimmer steht offen; da er die Ersehnte im Freien nicht erspäht, tritt er ein. Die Lampe brennt. Blanka ist nicht da. Er klopft an die Tür des Schlafzimmers, öffnet leise – auch hier ist sie nicht.
Ein banges Ahnen beschleicht ihn. Doch sein Glaube ist noch tapfer; er wehrt es ab. »Sie wird hinab in die Anlagen gegangen sein,« beruhigt er sich und folgt ihr, nach allen Seitenpfaden spähend und lauschend, die Mittelallee entlang bis zum Ufer. Da liegt die Gondel, in welcher er geträumt hatte, sich an wonnigen Sommerabenden mit der Geliebten zu schaukeln. Dort wiegen sich ein paar Schwäne, die er aus dem Ei hatte heranwachsen sehen und an deren Familientreue er sich oftmals, wie an einem Vorbilde, erbaut. Von seiner Gattin nirgend eine Spur.
Aber hört er nicht ein Flüstern, spürt ein Bewegen, ein Sichregen, fühlt er nicht Menschennähe? Täuschung! Es ist das Röhricht, das im Windeshauche rauscht – ein Nachtvogel – ein springender Fisch. Er ruft Blankas Namen nach allen Richtungen. Kein Gegenlaut!
Mit stockendem Atem fliegt er in ihr Zimmer zurück. Ob sie in die Mansarde gestiegen ist, die Dienerin zu rufen? Unmöglich! Die Tür ist ja von innen verriegelt. Tödliche Angst durchzittert ihn. Seine Augen irren rings im Zimmer umher; nichts ist verändert. Auf dem Tische liegen Kranz und Schleier, so wie die Tante sie abgenommen, am Boden der Strauß von Orangeblüten, den sie während der Trauung getragen.
Aber halt! Dort auf dem Schreibtisch – eine Unordnung, wie die Hast sie bewirkt, – ein blitzender Gegenstand – der Diamantring, den er, statt des verlorenen, an ihren Schwurfinger gesteckt – daneben ein Blatt; ihre Züge, kaum leserlich hingeworfen – die Tinte in der Feder noch feucht. – Zwei Zeilen!
»Ich verlasse Sie, ehe ich Sie elend mache. Denn ich liebe Sie nicht. Ich – ich kann Ihnen nicht angehören!«
»Sie ist tot!« schreit er auf und stürzt überwältigt zu Boden. Aber nur einen einzigen entsetzlichen Augenblick. Im nächsten ist er wieder Herr seiner selbst, erkennt er mit dem Lichtblick der Liebe und der Verzweiflung die wirkliche Lage und was sie gebot. In diesem Moment der Hellsicht wurde der weichmütige Hollunder zum Mann.
Sie lebt, sie ist entflohen und nicht allein entflohen. Er weiß, er kennt den Verführer. Aber noch kann er ihn erreichen, dem Räuber seine Beute entreißen. Nicht mehr, um sie zu besitzen, nur sie zu retten vor Elend und Schmach. Die letzten Bahnzüge nach Nord und Süd kreuzen sich in dieser Stunde. Einer von ihnen ist der, mit welchem sie fliehen. Er muß ihnen nach. Auf dem Wege über die Brücke käme er zu spät. Der Kahn muß ihn an das andere Ufer tragen, auf dem der Bahnhof liegt.
Kaum den Gedanken ausgedacht, steht er am Ufer. Die Gondel ist verschwunden. Ein ferner Ruderschlag dringt an sein Ohr; der Mond, hinter einer Wolke hervortretend, beleuchtet zwei jenseits landende Gestalten; das leere Fahrzeug treibt stromab. Auf dem Bahnhof läuten die Signale.
Ohne Wahl stürzt der Unglückliche in den Fluß, um schwimmend das andere Ufer zu erreichen. In festen Kleidern ist es ein harter Kampf; allein die Leidenschaft stählt jede Fiber. Er setzt den Fuß an das Land in dem Augenblick, als ein schriller Pfiff den Abgang des letzten Zuges verkündet. Triefend, keuchend stürmt er mit letzter Kraft die Rampe hinan, erreicht er den Perron. Schon ist das Signal auch für den entgegengesetzten Zug gegeben; zwei, drei Wagen hat er in Todesspannung durchspäht. Eine lange Reihe steht noch vor ihm, – da, wiederum der herzsprengende Pfiff. »Halt! Halt!« schreit er mit den Gebärden eines Rasenden. Der unglückliche Mann bricht leblos zusammen.
Man trägt ihn in den Wartesaal. Der wohlbekannte Bürger an seinem Hochzeitsabend, in seinem Hochzeitskleid, wassertriefend, im Begriffe zu fliehen, von einer Ohnmacht befallen – wer vermag das Rätsel zu lösen, wenn dieses nicht der Wahnwitz ist? Er wird umgekleidet vorsichtig auf einer Bahre in das bräutlich geschmückte Sommerhaus getragen. Ein Bahnbeamter, der vorauseilt, die junge Frau auf das Schrecknis vorzubereiten, verwundert sich, sie nirgend zu finden. Die Dienerin ist in der Mansarde eingeschlafen und weiß keine Auskunft zu geben. Unterdessen bringt man den Kranken und legt ihn in das hochzeitliche Bett. Er schlägt die Augen auf, gibt aber kein Zeichen der Besinnung. Die Ärzte der Stadt sammeln sich zu Rat und Hülfe um das Lager; die Bewohner des städtischen Hauses eilen herbei; die treue Justine, Fräulein von Schweinchen blicken händeringend auf das Entsetzliche, ohne es deuten zu können. So spät schon der Abend, verbreitet sich gleich einem Lauffeuer von Haus zu Haus die Kunde: Phosphorus Hollunder ist kaum eine Stunde nach seiner Trauung irrsinnig geworden, – seine Frau verschwunden.
Mit dem grauenden Morgen dämmert auch ein Schimmer der Wahrheit, um im Laufe des Tages, für die Nächststehenden mindestens, deutliche Gestalt anzunehmen. Mehr als einer will am gestrigen Spätnachmittage Herrn von Hohenwart in dunkeln Zivilkleidern auf der Straße, ja selbst in der Kirche gesehen haben. Sogar am Bahnhofe soll bei einbrechender Nacht eine hohe Gestalt, die der seinigen gleichen konnte, mit einer tiefverschleierten Dame am Arm bemerkt worden sein. Die Richtung, welche das Paar genommen, war nicht zu erkunden.
Mit den Mittagszügen eilten Fräulein von Schweinchen nordwärts, ein Freund Hollunders gen Süden den Fliehenden nach. Ohne Spur und Kunde von ihnen kehrten sie zurück, sich traurig eingestehend: Was hätte die gelungene Entdeckung dem unglücklichen Freunde genutzt, oder was seiner unglücklicheren Frau? In der Stadt hatte man seitdem erfahren, daß die Untersuchung gegen Herrn von Hohenwart niedergeschlagen, sein Abschiedsgesuch genehmigt worden, auch durch den Tod eines Verwandten ihm ein bescheidenes Erbe zugefallen sei.
Phosphorus Hollunder lag währenddessen im Rasestadium des Fiebers, an der äußersten Marke des Lebens. Wochenlang träumte er von Blut, schäumte von Rache, schrie wütend nach dem Leben seines Beleidigers, dem Mörder seines Glücks und seiner Ehre.
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Als aber Phosphorus Hollunder mit ausgetobtem Blut sich von dieser schweren Niederlage erhob, da war er ein anderer als in seinen glücklichen Jugendtagen; da war er der, zu welchem eine gütige Natur ihn bestimmt, die herbste Erfahrung ihn gezeitigt hatte; ein Mann, ein Mensch so lauter und fest, wie sie nur einzeln und selten uns begegnen zu unserem Troste und zu unserem Heil. So wie jene treffliche Frau es vorausgesagt, hatte ein reinigendes Bad die kindischen Farben von einem edlen Gebilde gespült und seine Schönheit offenbar gemacht. Der Täufer hatte ihn getauft mit seiner stärksten Essenz – dem Schmerz.
Als er an einem klaren Oktobertage zum ersten Male gebeugt und bleich über die Terrasse schlich, die er so prangend für die Geliebte geschmückt hatte und deren Rosen jetzt verduftet waren, als alle holden Hoffnungen dieses Jahres, alle Bitternis, die Fieberwut der Rache noch einmal an seiner Erinnerung vorüberzogen, noch einmal die Hand sich krampfhaft ballte, da sagte er nach einem langen Blick in die Sonne, die wie ein Gottesauge groß und mild auf ihn niederschaute:
»Auch das Rohr des Schwachen trifft dann und wann sein Ziel. Soll ich ihn töten? Mich von ihm töten lassen, weil das Leben keinen Reiz mehr für mich hat? So oder so, sie noch elender machen, als sie vielleicht schon ist, oder unfehlbar werden wird. Nein! Die rettende Tat kam zu spät; die rächende ist nicht mein Teil; denn ich habe sie geliebt, und war es ihre Schuld, daß sie mich nicht lieben konnte?«
An dem nämlichen Tage reichte er die Scheidungsklage ein, welche sein Weib von nicht einer Stunde berechtigte, das eines anderen zu werden.
Es gibt eine Gefährtin, treuer als das Glück, hülfreicher als die Liebe selbst, das ist die Mühe. Unser Freund, der bisher mit dem Leben gespielt hatte wie ein Kind, nun suchte er sie, die sich allezeit gern finden läßt, und sie machte ihn zum Mann. Er verließ auf Jahre unsere Stadt, nicht wie früherhin, um zwischen Natur- und halbverstandenen Kunstgenüssen umherzuschwärmen, nein, um zu lernen. Er arbeitete in den Laboratorien bewährter Meister, anfänglich vielleicht nur, um sich zu betäuben, allgemach indes angezogen und gebannt durch den Magnet, der in jeglicher Forschung ruht. Scheidend und verbindend prüfte er Bekanntes und gewann Unbekanntes; heimgekehrt, verwertete er praktisch, was er theoretisch erworben. Er legte die ersten chemischen Fabriken in unserer Gegend an, beförderte deren Wohlstand und seinen eigenen. Die Entdeckung und industrielle Ausbeutung unserer Kohlenlager ist wesentlich sein Werk.
Phosphorus Hollunder wurde nicht wieder Vortänzer der Gesellschaft, sang in Konzerten keine Liebeslieder mehr, dilettierte nicht mehr in Heldenrollen mit überflüssigen Gebärden vor einem lächelnden Publikum; er machte keine Verse mehr mit allbekannten Reimen und sprach im Literarischen Verein, den er begründet, nicht mehr Aufgelesenes, das er nur halb verstand, sondern wenn er sprach, war es Erkanntes über Gegenstände seines Fachs. Indem er das Notwendige sich vorsetzte, fiel ihm das Nützliche zu, und das Schöne entging ihm selten. Überhaupt aber sprach er nur noch wenig. Auch in der Feurigen Kugel schweigt, so sagt man, der einstmals beredsamste Mund. Aber die Angelegenheit des »königlichen Baues«, Humanität und christliche Bruderpflicht, die hat Phosphorus Hollunder auf das Panier seines Lebens geschrieben, bekennt sie öffentlich und übt sie ohne Ermüden.
Kurz vor seiner Verheiratung hatten seine Mitbürger ihn zum Stadtrat erwählt. Jetzt übernahm er freiwillig das Dezernat der Armenangelegenheiten und widmete sich demselben mit einer Ausdauer, welche eine völlig neue Ordnung in diese schwierigste aller kommunalen Aufgaben brachte und unsere Einrichtungen zum Muster werden ließ für die gesamte Provinz. Phosphorus Hollunder zeigte, was in einem mittleren Gemeinwesen ein einziger wohlgesinnter und wohlgestellter Bürger zu leisten vermag; wie er den Schlendrian verscheuchen, anregend auf die Lässigen wirken, durch sein Beispiel einen Wetteifer zum Besseren entzünden und sich mit allen Ständen verbinden kann, um das, was not tut, anzubahnen und durchzuführen.
»Wir steuern der Verarmung und ihren entsittlichenden Folgen nicht eher, als bis es den moralisch und materiell Vermögenden Gewissenssache wird, die moralisch und materiell Unvermögenden in ihren eigensten Pflichtenkreis, gleichsam in ihre Familiensorge aufzunehmen. Kümmerte nur ein Mensch sich ernstlich und treu um ein paar fremde Menschen, ja, nur um einen einzigen, ein Haus um ein anderes, als gehöre es zu ihm, sie würden sich nicht überbürdet fühlen; der Not und Verwahrlosung aber würde weit gründlicher abgeholfen werden, als durch die Mehrzahl kraftzersplitternder Vereine, denen der Blick in das Einzelleben, das Verhältnis von Person zu Person entgeht.«
Nach diesem Grundsatz wirkte unser Freund. Er verteilte den Mangel unter die Fülle, und sein Teil war der reichlichste. Die Liebe, die eine nicht beglücken, eine nicht erwidern konnte, sie ist zum Segen geworden für einen weiten Kreis. Ihr Hebel in einem guten Menschenherzen war das Leid. Würde die Freude gleiches gefördert, das Erbarmen gezeitigt haben, auf welchem im Ringen ums Dasein der Sieg des Menschlichen, die Blüte des Christentums beruht? »Um die Freude am Leben nicht ersterben zu lassen, müssen wir mit unseren Brüdern und für unsere Brüder leiden lernen,« so sagt nicht, aber denkt Phosphorus Hollunder.
Er ist jetzt geehrt als Forscher, angesehen als praktischer Geschäftsmann, als Freund und Wohltäter geliebt. Er ist der würdige Vertreter unserer Stadt in der ersten gesetzgebenden Versammlung des Staates; sein Name gehört zu den geschätztesten über jene Grenzen hinaus. Die kleine Adelspartikel vor demselben wird ihm nicht entgehen, insofern ihn danach gelüstet; einstweilen trägt er einen langen Titel und verschiedentliche Ordenszeichen. Sein Wohlstand mehrt sich von Jahr zu Jahr. Die jungen Fräuleins und ihre Mütter blicken einladend auf den jungen Mann, der eine Gattin verlor, bevor er sie besessen hatte.
In diesem einzigen Punkte jedoch scheint dem liebreichen Hollunder das Herz zu versagen. Er schätzt die Häuslichen, die Bescheidenen, auch die Gebildeten und sogar die im allgemeinen weniger Beliebten, die man charaktervoll oder bedeutend nennt. Schön aber ist ihm nur eine einzige erschienen, und er hat sie niemals vergessen.
Niemals jedoch und gegen niemand hat er ihren Namen wieder genannt; es wäre denn etwa gegen Fräulein von Schweinchen, mit welcher er in freundschaftlicher Verbindung geblieben ist und welche seit seiner Heimkehr sogar das obere Stockwerk des Hauses zum Holunderbaum bewohnt. Die alte Dame gibt keine Sprach- und Musikstunden mehr; ihre Umstände müssen sich erheblich gebessert haben, infolge eines Vermächtnisses, wie Herr Hollunder zu verstehen gibt. Man zerbrach sich umsonst lange Zeit den Kopf, von wem und woher, und munkelte dann mancherlei, was indes weder Herrn Hollunder noch auch der alten Dame zur Unehre gereichte. Auch jede Anspielung auf ihre Nichte beantwortet sie nur mit einem Seufzer und Schütteln des ergrauten Hauptes, wennschon man weiß, daß sie in Briefwechsel mit ihr steht und sogar Geldsendungen an sie abgehen läßt. Gott sei Dank, daß sie jetzt dazu imstande ist.
Denn das Schicksal der schönen Frau hat auf die Dauer ihrer Heimat nicht verborgen bleiben können. Sie hat ihre schwere Irrung schwer gebüßt, den Mangel an Mut bis zu jener Stunde, die aus der Schwachheit eine Sünde werden läßt. Kaum, daß der eheliche Segen zum zweiten Male über sie gesprochen, sind einem romantischen Traume an einem Alpensee, sind dem Rausche erster Leidenschaft Kämpfe gefolgt, in welchen zwar nicht die Liebe, aber der Frieden des Herzens erlag. Sie war nicht die Natur, deren Energie den unsteten Sinn eines Assur unter peinvollen Verhältnissen gebändigt hätte. Ohne Beruf, ohne die gewohnten Standesgenossen, sein kleines Erbe bald genug erschöpft, wie hätte der bis dahin rücksichtslos in das Leben Stürmende lernen sollen, an der Seite eines einfach zärtlichen Weibes sich häuslich zu beschränken, zu erwerben, im engsten Kreise heimisch zu werden? Nicht nur die Schwäche, auch die Scham mehrte gegen Ungebühr den Widerstand der Frau. Sie fühlte sich eine Last werden und durfte nicht klagen. Sie erntete, was sie gesäet.
Hierhin und dorthin schweifend, vieles ergreifend, nichts festhaltend, von unruhiger Langeweile gefoltert, von Gläubigern gedrängt, haben abenteuernder Sinn, Not und soldatische Neigung ihn endlich in überseeische Kriegsdienste getrieben, in welchen sein Name bis heute verschollen ist.
Seine Gattin folgte ihm nicht. Ein siecher Körper, ein zartes Kind, gebrochenes Vertrauen, Scham und Gram hielten sie zurück. Aber der ewig geheimnisvolle Zug des Herzens begleitete den Schuldigen mit unsäglicher Sehnsucht und mit unsäglichem Weh.
Kraft und Schönheit welkten rasch; durch mühselige Handarbeit ihr und ihres Kindes Leben fristend, rang sie mit harten Entbehrungen, bis der Umschlag in Fräulein von Schweinchens Verhältnissen auch ihr zugute kam. Ein brieflicher Verkehr bahnte sich an zwischen der Reuigen und der Vergebenden; eine hülfreiche Hand ward geboten und durfte nicht zurückgewiesen werden. –
Mehr als ein Jahrzehnt war vergangen, als mitten in der Nacht der Geheime Kommerzienrat Hollunder mit seiner alten Freundin eine Reise nach den Alpen antrat. Sie fuhren ohne Unterbrechung Tag und Nacht; schweigend saßen sie einander gegenüber. Die Dame trocknete von Zeit zu Zeit ihre Tränen; ihr Begleiter blickte in tiefem Ernste vor sich nieder. Am zweiten Nachmittag erreichten sie ihr Ziel. Die Dame ließ sich unverweilt nach einem ländlichen Hause führen, das einsam am See gelegen war. Nach einer langen, langen Stunde folgte ihr der Freund.
Als er die schmale Treppe zu dem Giebelstübchen in die Höhe stieg, bebten seine Kniee. Eine Tür stand geöffnet, um über den hölzernen Söller die Strahlen der untergehenden Sonne in das Zimmer dringen zu lassen. Auf der Schwelle war er wie gebannt. Dieses bleiche, von Harm und Not erschöpfte Weib, das todesmatt das Haupt an die Brust der mütterlichen Freundin lehnte, das war sein Weib, vor Gott und Menschen ihm zu eigen gegeben; dies schöne Kind, blauäugig und braunlockig wie die, an deren Kniee es sich schmiegt, es ist ihr Kind, aber nicht das seine. – Phosphorus Hollunder gedenkt der Zeit, da er die Mutter gekannt hat, nicht größer als jetzt ihre Tochter, und schon damals hat er sie geliebt und sich erkoren.
Das Auge der Kranken begegnet dem seinen; er rafft sich zusammen, tritt ihr ruhig und herzlich entgegen. Kein Blick zeigt einen Vorwurf; keine Miene seinen Jammer. Als aber jetzt die unglückliche Frau sich erhebt, ihm entgegenwankt, zu seinen Füßen niedergleitet und lautschluchzend seine Kniee umklammert, da hält er sich nicht länger, unter heißen Tränen zieht er sie vom Boden in die Höhe, drückt sie an seine Brust und hält sie lange umschlungen.
Wochen hindurch saß er nun als treuester Hüter an ihrem Sterbebette. Selbst ohne Hoffnung, suchte er Mut und Lebenshoffnung in ihr aufzuwecken, er rief die kundigsten Ärzte zu ihrer Hülfe herbei, sprach ihr von dem heilsamen Klima des Südens, von ihrer Tochter Erziehung und Zukunft. Die Stimme der Kranken war gelähmt, aber ihre Augen ruhten fast unverwandt auf dem gütigen Manne, mit einem Ausdruck, der Phosphorus Hollunder noch in seiner Sterbestunde beglücken wird. Mehr als einmal führte sie seine in der ihren ruhende Hand an ihre Lippen und legte sie dann wie zum Segen auf ihres Kindes Haupt. Phosphorus Hollunder aber zog das liebe, schmiegsame Mädchen auf seine Kniee, in seine Arme, und sein stummer Händedruck sagte der Mutter, daß ihre Waise des Vaters nicht entbehren werde.
Als wieder der Morgen grauete, wurde die stille Kranke unruhig, ihr Atem schwer; die Tante schlief in der Nebenkammer; Hollunder allein saß wachend neben der Sterbenden. Das Kind, eingeschlummert an ihrer Seite, fuhr ängstlich in die Höhe und barg den Kopf an der Mutter Brust. Blankas Augen schweiften unstät hin und wider, die Hände tasteten bald nach diesem, bald nach jenem Gegenstand. Die ersten Sonnenstrahlen fallen auf die Wand ihr gegenüber; ihr Blick haftet starr an dem Bilde, das an derselben hängt, die Arme greifen wie zum Umfangen danach aus. Der Freund versteht diesen Blick. Er zieht den Vorhang zurück, der das Bild seit seiner Ankunft verschleiert hat, und Assur von Hohenwarts Züge treten zum letzten Male vor das brechende Auge seiner Frau, zaubern den letzten Rosenschimmer auf ihre fahlen Wangen. Sinn und Kraft sind ihr zurückgekehrt; sie richtet sich jach in die Höhe, schlingt mit Leidenschaft die Arme um ihres Kindes Haupt, preßt es an sich und legt es dann an das Herz des treuesten Mannes.
»Dein, dein!« ruft sie mit lauter Stimme; ihr Kopf sinkt zurück, sie ist tot.
Phosphorus allein stand an dem Grabe, in welches man Blanka von Hohenwart versenkte. Eine Stunde später war er mit ihrer Tochter und der alten Freundin auf dem Wege zur Heimat. Die kleine Blanka wird unter seinem Vaterschutz erzogen. Phosphorus Hollunder ist glücklich; er hat ein Wesen, für das er lebt und das an ihm hängt mit der Zärtlichkeit eines eignen Kindes und mit der schwärmerischen Dankbarkeit einer Waise.
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Editorische Hinweise.
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Reproduktion und die Seitenzählung nach:
Gesammelte Werke. Insel Verlag, Leipzig 1918, Bd. 4.
Erstausgabe: Phosphorus Hollunder. Zu Füßen des Monarchen. Bibliothek der deutschen Literatur. Collection Spemann. Deutsche Hand- und Hausbibliothek. Verlag W. Spemann, Stuttgart 1881. 239 Seiten.
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