Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Schloß, vor mehr als zweihundert Jahren am Abhang des Odenwalds aufgebaut, öffnete seine Flügel gegen die Rheinebene, in den oberen Fenstern seines Mitteltrakts spiegelte sich am spätesten die Sonne. Es hatte nach der Mediatisierung des reichsunmittelbaren Geschlechts Jahrzehnte hindurch leer gestanden, der Einrichtung fast beraubt, unbetreut, verwahrlosend. Dann hatte man seine Säle weiß gekalkt und mehrere Generationen evangelischer Präparanden hier erzogen. Ein spekulativer Heidelberger Pächter hatte diese gemessene Jugend abgelöst und den schönen, luftig gelegenen Bau zur Fremdeneinkehr bestimmt. Aber die Fremden waren spärlich gekommen, und wer nach dieser Zeit sich aufschließen ließ, der fand die Säle zu ebener Erde völlig entwürdigt, eiserne Gartenmöbel verrostet an den Wänden lehnend und vermodertes Laub am Boden, das einmal hineingeweht und von niemand mehr hinausgefegt worden war.

Dann eines Jahres im Juli war ein offenes Automobil die Straßenschleife heraufgefahren, vorn neben dem Chauffeur ein Mädchen aus dem nahen Dorf, das die Schlüssel hatte, und im Fond zwei fremde Herren: lang aufragend, mit einer Hakennase, schweigsam der eine, der andere klein und aufgeregt. Der Kleine schlug über den Zustand des Schlosses die Hände zusammen, so als sei er ihm unbekannt, und begann mit beredten Worten darzulegen, wie diese Räume ohne Eisenmöbel und Blätterschutt wirken müßten. Dies alles müsse man sich wegdenken, hatte er unermüdlich wiederholt und seine Maklerdringlichkeit schließlich bis zu hymnischer Erhebung gesteigert. Der andere hatte kaum ein Wort geäußert, war aufmerksam hin und her gegangen, hatte erst auf dem Podest der Treppe verweilt, wobei er der sehnsüchtigen Biegung der Marmorrampe mit seinem Spazierstock nachfuhr, und dann lange im obersten Stockwerk an einem der rückwärtigen Fenster, das nicht ohne Mühe geöffnet worden war. Pflanzenatem wehte herauf. Der Park war gänzlich verwildert. Ganz vorne, unmittelbar unter seinen Augen, lag, vom Postamente gekollert, ein Amor aus Sandstein und streckte eins seiner dicken Beinchen und einen Arm mit dem Rest seines Bogens betroffen zum Himmel.

Sie waren abgefahren, nach Norden hin wiederum, und der Agent hatte während der langen Fahrt mit Engelszungen geredet, feurig erst nur, flehender dann, zuletzt verzweifelt, fast weinend, da er keinerlei Antwort bekam. Aber vor der Portierloge des Hotels Frankfurter Hof in Frankfurt erklärte der große Herr mit wenigen leisen Worten, daß er Schloß Odenberg kaufe, nur allerdings schwerlich zum geforderten Preis. »Sprechen Sie mit Herrn Eisenreich!« Man sprach mit Herrn Eisenreich, oftmals und tagelang. Dann wurde man einig. Und Odenberg war wieder dem Leben bestimmt.

Der Zauberer Meskart streckte seine Hand aus, und der Fürstensitz erstand. Es kehrten Würde und geschwungene Pracht in die Säle zurück, es fand sich, wettstreitend dargeboten von den Händlern in London, Berlin und Amsterdam, der herrlichste Hausrat zusammen, von einem unfehlbaren Auge der Erbauerzeit gemäß zusammengefügt. Nie hatten diese braven Reichsbarone so erlesen gehaust. Ein visionärer Blick, bedient vom Eifer der Welt, führte jenes Jahrhundert zurück, so rein, wie es sich selbst kaum gekannt hatte. Es verging nur ein Winter und Frühling, und hier herrschte Reichtum ohne Prahlerei, Kostbarkeit ohne Gesuchtheit. Repräsentation war das Wesen jener Epoche, heutiges Behagen war ihr unaufdringlich, ohne Störung, hinzugefügt.

Hier residierte der Hochberühmte alljährlich zwei Sommermonate lang. Es war bekannt, daß er um die Junimitte einzutreffen pflegte. Seine Hofberichte verfehlten nicht, es bekanntzugeben, weiße, braune und gelbe Menschen lasen es in jedem Jahre gedruckt. Sein Ruhm ging über das Persönliche hinaus. Wo der Begriff Theater gedacht wurde, war seine Name gleich mitgedacht. Sein Zauberstab war über zwei Kontinente ausgereckt, aber das magische Feld seiner Wirkung reichte viel weiter. Man sprach bei ihm so wenig mehr von Erfolg oder Mißerfolg, wie man es dem Frühling als Erfolg nachrechnet, ob seine Blüten einige Tage früher oder später erscheinen. Sie werden kommen. Meskart hätte Jahre hindurch Mattes und Mäßiges zeigen dürfen, es wäre den Menschen kaum ins Bewußtsein gedrungen. Er war noch nicht fünfzig Jahre alt und schon ein Mythus.

Es verkleinerte den so Vergotteten nicht, daß seine Anfänge, vielen noch deutlich, nicht gar so lange zurücklagen. Eingeweihte erzählten aus den Tagen, da er in einer Vorstadt von Prag mit einer Handvoll jüdischer Schauspieler in Jargonstücken begonnen hatte. Manche hatten ihn selbst noch spielen sehen. Episoden, Nebenrollen von leiser Stärke waren seine Sache gewesen. Die Legende hatte sich dieser Leistungen bemächtigt. In irgendeinem Familienstück, so konnte man hören, habe er, der ganz junge Mensch, einen Alten gespielt, den Großvater eines Mädchens, das dem ungeliebten reichen Mann zum Altar folgen soll. Und so erschütternd sei der wortlose Kummer gewesen, mit dem er als einziger kommendes Unheil voraussah, so trauervoll herrlich der einfache Segen, mit dem er die Braut zum Schicksalsgange entließ, daß die Darstellerin unversehens in wirkliche, heiße Tränen ausgebrochen sei, die Nerven verloren habe und die Vorstellung, nicht zur Enttäuschung, sondern zum Verständnis des Prager Vorstadtpublikums, ein vorzeitiges Ende habe finden müssen. Diese Darstellerin übrigens, eine schmale und glühende Jüdin von herbem Liebreiz, war in jenen alten Tagen seine Frau geworden; aber sie war verbrannt und verloschen, ehe sie seinen Aufstieg ganz hatte sehen können.

Der begann in Wien, mit steiler Kurve. Nicht Überlegung, der gewisse Instinkt, der sein Leben lenkte, brachte ihn zuerst in diese Hauptstadt an der großen Kulturscheide, die damals mit dem leicht fiebernden Jubel des Bedrohten ihre letzten Feste feierte. Enthusiasmus nahm ihn auf. Theater von solchem Glanz in Farbe und Klang und Menschenreiz hatte man hier in diesen letzten Jahren nicht erlebt, man fand sich bejaht, bestätigt und geheim beschwingt, das bunte Daseinsfeuer, das hier von der Bühne brannte, war freudigster Schein über einer glücksüchtig taumelnden Welt. Es war schön zu existieren im Wien jener Jahre, so schön vielleicht wie im Paris vor 1789 für die nicht Unterdrückten; der große, magere Mann im schlechtsitzenden Anzug kostete die gefährliche Popularität, die diese Stadt ihren Lieblingen so sklavinnenhaft unter die Füße zu breiten wußte. Sie schien ihn nicht zu beirren. Eine riesige Arbeits- und Phantasiekraft wußte sich nicht genugzutun. Es folgte eine jener erstaunlichen Inszenierungen der andern. Er gab, nach einigen Darbietungen modischer Art, den Wienern ihren Nestroy zurück, den sie beinahe vergessen hatten. Nestroy, Shakespeares jüngsten Bruder, seine atemlos tollen, tiefsinnigen, unsterblichen Possen. Er spielte ihnen dann Shakespeare selber, anders als er ihnen in der hohen und festen Tradition ihrer Staatsbühne erschienen war, einen Shakespeare ganz scharlachrot und mordschwarz, Bilderbuch des Genies, zum Greifen und Fürchten und angstvollen Lachen nahe. Es sprangen Schauspieler auf seine Bühne, die gestern keiner gekannt hatte und die ohne ihn keiner hätte kennenlernen können: fragmentarische Talente, Spezialitäten, in denen sein untrüglicher Spürsinn die eine magische Essenz erkannt hatte, an der ein Publikum sich entzünden könnte. Es hieß unter den Spottlustigen, daß niemand auf seinem Theater eine große Rolle zu tragen bekomme, der nicht stammle, lisple oder eine hohe Schulter habe. Aber diese Stadt, der Schönheit so willig untertan, nahm die Stammler und Lispler und körperlich Halben doch auf, sie bestätigte sie mit einer Lust, in der vielleicht ein Hang zur Selbstzerstörung war, sie bereitete ihnen den Ruhm, den wohlgeschaffene und herrlich redende Heldenspieler Menschenalter hindurch in ihr genossen hatten. Sie unterwarf sich. Meskart wurde zum Zauberwort. Es wimmelte ihm zu, was in sich den Funken verspürte, überzeugt, er werde ihn zur Flamme anblasen. Er besaß, der Mann der wenigen und leisen Worte, diese Kraft. Er war wie ein Magnet, der das Gold aus der Schlacke hervorzog. Tradition hemmte ihn nicht. Er fing überall neu an. In einer Aufführung von »Richard dem Dritten« war der einzige Schöne der ungestalte und hinkende König. Er hinkte nicht, er war gleißend, aber dank einer geheimen Überredungskraft, die dem Schauspieler von seinem Führer kam, spürte jeder geheimen Mangel, Tragik und Verkrüppelung. Damals wehrten sich mehrere. Nun sei der Weg offen, schrieben sie, für Medea das Lamm, Penthesilea die Hausmutter, Hamlet den fröhlichen Lebemann. Aber sie schwiegen auch schon. Bald wäre es unpassend gewesen, an Meskart zu zweifeln.

Eines Tages war er in Berlin. Ein zugleich neuheitsgieriges und sprödes Publikum war hier zu gewinnen. Aber es war, als hätte man ihn gebraucht. Eine glänzende und rauschende Periode, deren offizielle Äußerungen den feineren Sinn beleidigten, hier fand sie den repräsentativen Künstler von überlegenem Geschmack. »Ein Richard Wagner der Regiekunst«; dies war eine der ersten Formeln, mit denen er begrüßt wurde, und eines der Werke Wagners aus versteinernder Überlieferung in ein neues szenisches Dasein zu rufen schien die nächste ihm gesetzte Aufgabe zu sein. Man berief ihn dazu, dringlich. Er lehnte ab. Ein deutsches Gefühl – nie gab er ihm Worte – hielt ihn zurück. Seine Kunst mit der des alten Magiers zu verbinden schien ihm falsch, schien ihm ein Zuviel in der einen Richtung. Er wollte dies niemals. Statt dessen entfaltete er um diese Zeit all seine festlichen Gaben an einem Drama des spanischen Lope de Vega und ließ frommen, höfischen und ritterlichen Prunk in einer barocken Fontäne glühend aufschießen. Und als nach geharnischtem Aufzug und kirchlicher Entfaltung das Haus tobte, erschien er zum ersten Male in Person, um zu danken vor den Hingerissenen, zwischen Kardinalsrot und glimmender Rüstung stand er im schlechtsitzenden blauen Anzug, die Krawatte halb in den weichen Kragen gerutscht, wie ein Arbeiter, der von seiner Maschine wegtritt, und verbeugte sich ein wenig, mit dem ausdrucksvollen, großen Mund freundlich und vieldeutig lächelnd.

Aber in diesen gleichen Tagen starb daheim seine bleiche Frau, die wenige kannten. Er folgte ihrem Sarg ganz allein, es war ein Novembertag mit eisigem Regen. Dann verschwand er auf einige Wochen.

Man war darauf gefaßt, ihn verloren zu haben. Es kam Theaterfreunden, die sich ihm nahe geglaubt hatten, zum Bewußtsein, daß er ihnen eigentlich immer nur in einer Abendstunde, geheimnisvoll aus seinen Geschöpfen redend, erschienen war. Die Ursache seines Verschwindens war wenigen bekannt. Dann, eines Tages war er wieder da, unverändert dem ersten Anschein nach, und mit dem Tag begann seine eigentliche große Periode, die, auf welche seine Anhänger immer zurückdeuteten, wenn über den vom Ruhm Umrauschten später mißwollend geurteilt wurde. Damals, hieß es, hat er das Reinste und Feinste geboten, so Wahrhaftiges und Strenges, wie nur je einer auf deutschen Bühnen.

Es war der Winter, in dem aufeinanderfolgten: Coriolan, ein Kammerspiel Strindbergs, Timon von Athen und die Goethische Iphigenie.

Die Umkehr zum Innerlichen erschien ganz natürlich. In jeder anderen Kunst wäre es unwahr und schamlos gewesen, wenn sich erlebter Schmerz so augenblicklich, so unverhüllt in öffentliche Darstellung umgesetzt hätte. Nicht bei dem Theatermenschen. Noch das Private und Zarteste suchte hier den Leib, die Äußerung im strahlenden Licht. Alleingelassen zu sein im Haufen der ewig Fremden, wie war es aufrichtiger auszudrücken als mit der Dur-Musik von Shakespeares Aristokratenstück; wie inniger und unentrinnbarer als in dem Kammerspiel Strindbergs vom Altern, in dem Meskart nicht den großen Schauspieler allein, der »der Herr« war, sondern seine ganze gepflegte und trostlose Umwelt so erschütternd schweigen ließ, daß der Tod, der nicht angesprochen wird, leibhaftig von der Bühne herabzusteigen und auf lautlosen Sohlen durchs Parkett zu schreiten schien. Aber Vortakt war dies und Vorgesang zu jener Weltverzweiflung und Weltverneinung, die wenige Wochen danach aus dem »Timon« heraus ein strebendes, aufgewecktes, den Augenblick fortschrittsgläubig umfangendes Publikum schreckte. Mit der Gestaltung des hassenden Philosophen wurde der komische Darsteller, von dem man sonst abenteuerlichen Spaß, skurrile Verdrehung gewohnt war, zum ersten tragischen Schauspieler der Epoche. Meskart als einziger hatte in ihm die tragische Substanz aufgespürt, das furchtbare Verschlossensein in einer feindselig leidenden, sich selber zu Tode ätzenden Einsamkeit. Die Menschen verließen das Theater mit der Empfindung, daß es sich in einer Welt, um die es so stand, die so überhaupt angeschaut werden konnte, kaum weiter mehr leben lasse; mit einem wahren Durst nach Beschwichtigung umfingen draußen ihre Blicke die treibenden Volksmassen, die elektrischen Lichter, die gestauten Wagen. Aber allabendlich stürzten sich, nach dem Schrecken gierig und ihn fürchtend, neue Zuschauermengen der Vereisung entgegen, die ihr Gefühl dann nicht ertragen konnte. Nach kaum dreißig Abenden brach die Reihe der Vorstellungen ab, und es wurde »Iphigenie« gegeben.

Das Gedicht, sonst als edel-gebildetes Weihespiel von den Leuten der Bühne ein wenig mitleidig geachtet, zeigte mit einem Male sein Antlitz als Drama. In den goldenen Adern seiner Sprache kreiste Blut. Die ungeheure Gespanntheit der Seelen, ihrer Ängste und Erwartungen, wurde spürbar. Es geschah das nie Erlebte, daß ein heutiges Publikum nach dem Liede der Parzen erstarrt saß, im Innersten angerührt. Denn nicht als Deklamationsstück und Wortgeschmeide erglänzten die ewigen Strophen, die Titanentochter stieß sie wie eine drohende Faust gegen den Himmel, den man von grausam lächelnden, kaltherzig feiernden, genießerischen Usurpatoren leibhaftig über den Stoffitten bewohnt sah.

Es war bald nach dem Kriege. Wem unter den Hörern immer untragbares Leid und Unrecht zugefügt war, hier fühlte er seine Sache geführt, und die bedrängte Brust ward von Weh und Zorn wahrhaft gereinigt, wie sich der Zauberer Meskart die seine befreit hatte. Wie ein seliger Morgen nach einer Gewitternacht ging Versöhnung, Glück und milder Verzicht des fünften Aufzugs vor den Entlasteten auf. »Du glaubst«, sprach der König, noch widerstrebend, grollend, »es höre der rohe Skythe, der Barbar, die Stimme der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus, der Grieche, nicht vernahm?« – »Es hört sie jeder, geboren unter jedem Himmel!« Es hörte sie jeder.

Aus der sie redete, die sich Meskart zum Mund seines Schmerzes geformt hatte, sie war keine Griechin. Sie hatte das harte Antlitz, den asketischen Leib einer mittelalterlichen Deutschen, die karge Geste, den bleichen und jenseitigen Blick einer Madonna des Grünewald. Aber beim ersten Ton dieser innigen Stimme, die nicht ohne eine wehe Schärfe war, hätte Orest sie als seine Schwester gegrüßt. Denn so redete die Wahrheit selbst. Ein Menschentum von beseligender Gewalt, eine Lauterkeit des Leids und der Glückssehnsucht, eine transzendente und doch so reale Hoheit war da beim ersten Ton – Wahnwitz zerging, Gewölk zerriß, und Friede und Glaube ging auf über einer blutigen Welt.

Es war Ironie, daß gerade diese innige, wahrhaftigste Schöpfung des Zauberers Anlaß und Ausgang wurde zu seiner imperialen Laufbahn. Einer sah, unter Tausenden, dies Schauspiel an, er näherte sich Meskart, gewann ihn und führte seine Kunst übers Meer und zum lautesten Erdenruhm.

Dieser eine trat eines Nachts im Theater auf ihn zu, sprach kaum ein Wort zur Einführung, sondern sofort dies: »Schauen Sie, Herr Meskart, was soll das? Was wollen Sie in dem blöden Europa, das fertig ist, ausgepumpt, trübselig, ein Provinzialmuseum! Was wollen Sie mit so einer Iphigenie? Kammermusik, schön! Aber für wen denn noch? Wenn einer ein tausendstimmiges Orchester in sich trägt, dann soll ihn die Welt hören. Ich werde Ihnen das richten!«

Er durfte so direkt und anstößig daherreden, denn er gehörte zu jenen Menschen, die unbedingt recht haben, solange sie sprechen. Während er sprach, war Europa ein trübes Überbleibsel und Goethes Dichtung ein Vergnügen für Philologen. Eine Stunde später, als er mit Meskart zu Abend speiste, nannte er sie das oberste Werk der Deutschen, zitierte lang, ließ einzelne Worte erfunkeln, indem er sie gleichsam zwischen den Fingern gegen das Licht hielt wie der Juwelier edle Steine, und erklärte es mit starken Ausdrücken nur für ganz und gar unbegreiflich, daß »dieser Windhund, der Goethe«, in seinem ersten Akt jenem Bericht Iphigeniens von den Untaten ihrer Ahnen nicht die letzte Form verliehen habe. »Bald entehrt Thyest des Bruders Bette. Rächend treibet Atreus ihn aus dem Hause. Tückisch hatte schon Thyest... Das klappert, das knarrt! Wer soll denn das sprechen!«

Meskart sah ihm grübelnd in das runde, kluge, halb kindliche Gesicht, das sich dem ersten Blick nicht gleich enträtselte – und auch keinem spätern. Ebendiese Verse waren bei der Probenarbeit durch kein Tempo, durch keine Tönung lebendig zu machen gewesen, sie blieben dürr und starr im Mund der gotischen Griechin. Entmutigt hatte er abgelassen. Wer war der Mensch, der als einziger das gespürt hatte? Wie kam er zu dieser genauen Empfindung für solche »Kammermusik«? Aber er war schon ganz woanders und erzählte von einem Kriminalstück, das in einem Theater am Broadway, »und nicht einmal an der ganz teuern Ecke«, seit zweieinhalb Jahren das Haus füllte.

Wer Gabriel Eisenreich zehn Minuten lang gegenübersaß, glaubte ihn immer gekannt zu haben; wer ihn jahrelang kannte, bemerkte plötzlich, daß er nichts von ihm wußte. Er war überall zu Hause, die Hotelportiers zweier Erdteile strahlten, wenn er durch die Drehtür kam, und auch der Page strahlte, der ihm die ungeheure rindslederne Handtasche nachschleppte, sein einziges Gepäckstück. Im übrigen besaß er in vielen Hotels bedeutende Depots von Büchern; er vermehrte sie fortwährend durch Kauf und las auch tatsächlich darin, wenn er um drei Uhr morgens von Bridgepartien nach Hause kam, in denen er unweigerlich gewann. Eisenreich stammte aus Mähren, und zwar aus einer kleinen Stadt mit Namen Iglau. Jedermann wußte das, denn es war sein Stil, alle Verhältnisse und Vorkommnisse der Welt mit dem Maßstab von Iglau zu messen. »Was ist das gegen Iglau«, war seine ständige Redensart. »Mein Freund Prusik in Iglau ist da ganz anderer Meinung«, sagte er mißbilligend zu einem Wildfremden, »was, Sie kennen Prusiks aus der Minoritengasse nicht – ja, lieber Herr, wie wollen Sie da mitreden!«

Fragte man einen seiner zahllosen Bekannten, was dieser Gabriel Eisenreich denn nun eigentlich treibe, so bekam man zur Antwort: eigentlich – ja eigentlich ist er so eine Art Agent. Das traf zu und auch nicht. Bewegung, Feuer in eine Welt zu bringen, die ihm angeblich äußerst langweilig vorkam, ungewöhnliche Menschen zu verbinden, die einander sonst nicht gefunden haben würden, Kunstpolitik von abenteuerlichem Ausmaß, das war sein Beruf. Mit verblüffenden Plänen beschäftigt, befuhr er zweihundert Tage im Jahr den Erdball. Sein Wanderleben war luxuriös. Niemand wußte so recht, wovon er es bestritt. Denn er war kein Agent, niemand hatte ihn je für sich einen Vorteil verlangen hören. Er diente mit zur Schau getragenem Zynismus und mit heimlicher Leidenschaft einer Sache, einem Menschen. Ein Beobachter nannte ihn einmal im Gespräch einen König Kandaules der Kunst. Was er liebte, mußte er zeigen. Er hatte sich in Meskart verliebt. Er wünschte die große Hochzeit zwischen ihm und der Welt. Der König Kandaules zerstört, was er liebt. Eisenreich verhalf Meskart zum Weltruhm. Die Griechin blieb am alten Gestade zurück.

Meskart zeigte sich in New York mit jener rauschenden Inszenierung des Lope, dem inbrünstig üppigen Zusammenklang aus schwärmender Ehre und frommem Prunk. Er siegte damit. Jene Gebetszene, die seither zu beinahe sprichwörtlicher Berühmtheit gekommen ist, entschied seinen Triumph auf dieser neuen Erde: die Szene, in welcher der Kirchenfürst, aufragend in seinem roten Gewand inmitten der widerstrebenden Ritterschaft, für ihren Sieg gegen die Ungläubigen betet, wobei unter dem andächtigen Getön eines unsichtbaren Orchesters einer der Geharnischten nach dem andern bezwungen niedersinkt, so daß endlich nur der König noch aufrecht bleibt, eine stählern funkelnde Gestalt, weit abgetrennt von der andern im Purpur, wie jene in Licht eingehüllt über der dunklen Menge – bis auch er das Haupt beugt, den Nacken, die Knie, und der Kardinal ganz allein steht, mit stärkerem Tone betend, in dem jetzt der Triumph seiner heiligen Sache läutet, und unter seinem inbrünstigen Dank, den ein kirchliches Jauchzen des vollen Orchesters umrauscht, der Vorhang zum ersten Male sich schließt.

Als Meskart dann nach dem Ende den geschmückten Hotelsaal betrat, darin ihm das Bankett zugerichtet war, empfing ihn erneut der absichtsvolle Jubel der dreihundert Menschen, die einem Künstler auf diesem Kontinente den Rang zuweisen. Er saß zwischen der jungen Frau des Oberbürgermeisters von New York und der alten, spukhaften, geldgewaltigen Dorothy Callman, sprach wenig, lächelte freundwillig zu den vielen Reden und empfand vielleicht, wer mochte es sagen, die herzbeklemmende Öde, von der manche Triumphe begleitet sind und die aus bösem Gewissen stammt. Er umzog mit den Blicken langsam die Hufeisenkontur der ungeheuren Tafel und suchte nach Eisenreich. Aber Eisenreich, ohne den dies alles nicht gewesen wäre, war nicht zu entdecken.

Er befand sich um diese Stunde in einem ziemlich schmutzigen Theater der 135. Straße, wo soeben eine Nachtaufführung begonnen hatte. Neger spielten, eine frisch aus dem Süden, aus Georgia oder Alabama, angereiste Truppe, zum ersten Male in New York. Sie gaben ein höchst einfältiges Familienstück, bei dem sich's um eine verlorene Halskette drehte, mit lauter kreuzbraven Schwarzen und einem weißen Wucherer, der alle ruiniert und zuletzt den Tod des Familienhauptes verschuldet. Sie spielten prachtvoll. Sie sangen noch besser. Vielhundertjährige Reste von Kampf-, Sterbe- und Beschwörungsgesängen aus der afrikanischen Heimat brachen hervor und ließen die gestümperte, kleinbürgerliche Handlung groß und unheimlich erscheinen. Die eine Frau besonders, nicht mehr ganz jung, hochgewachsen, mit mächtigem Brustkorb und wehen, riesigen Augen, machte erschauern. Sie stellte eine Art Klageweib vor, das Unheil der Familie begleitete sie mit dem schmerzvollen Kommentar ihrer tiefen, gewaltigen, fast vergewaltigenden Altstimme. Urweltsleid drang fessellos, tierhaft aus ihrer ehernen Kehle. Eisenreich lauschte ihr mit Entzücken.

*

Sie saßen zu viert in der Bibliothek von Schloß Odenberg: Meskart, Eisenreich, Tarb und die Prinzessin, und sie hörten die letzten Autos abrollen.

»Wohin fahren denn Ihre Gäste jetzt«, fragte die Prinzessin, »wo schlafen die alle?«

»Das ist jetzt nicht mehr so schwierig«, antwortete für Meskart Eisenreich. »Aber vor zwei Jahren, als zum ersten Male hier Theater gespielt wurde, da war es toll. Unten im Dorf und weit herum, in Bickenbach und Grumbach und Hammelbach, lag in jedem Bauernbett eine Zelebrität. Die Hispanos und die Cadillacs standen in Scheunen und Ställen und erschreckten die Öchslein. Nun, jetzt ist tüchtig vorgesorgt worden. Alle die Goldenen Sonnen und Grauen Bären haben angebaut. Oder mindestens haben sie frisch möbliert und neu tapeziert. Das ist ein flinker Menschenschlag hier.«

»Wenn bloß die hohen Gäste heuer nicht sämtlich in Heidelberg und Frankfurt wohnen!« Der Komponist Tarb sprach grimmig, er schien, auch ohne besonderen Anlaß, in jedem Augenblick bereit, zu Angriffen überzugehen. »Wo sind denn eigentlich die Schauspieler untergebracht?«

»Hier im Haus«, sagte Meskart, »wo sonst!«

Eisenreich lachte. »Zum Glück, Meskart, hat die ›Phädra‹ wenig Rollen. Mit unserm Lope wär' es hier nichts.«

Meskart erwiderte nichts. Aber sein Schweigen war so ausdrucksvoll, daß jedem, sogar der Prinzessin Anna, klar wurde, er wolle von diesem Lope, den drüben überm Wasser zwei seiner Truppen nun jahrelang spielten, nichts weiter hören.

»Ich denke«, sagte sie mit ihrer bleichen Stimme, »›Phädra‹ wird wundervoll.«

»Wir hoffen so«, sagte Eisenreich.

Sie war herrlich anzusehen. Über einem Gesicht von makellosem Oval, das die Jahrhunderte zur Perlenfarbe gebleicht hatten und in dem die Augen in tiefdunkelblauer Leere strahlten, trug die Enkelin der Albas einen Helm aus nachtschwarzem Haar. Sie war silbern gekleidet, als einziger Schmuck hing ihr an einem Platinfaden ein ungefaßter Smaragd zwischen dem Ansatz der Brüste.

»Tut es eigentlich weh, so schön herumzulaufen«, fragte Tarb, der sich keinerlei Mühe gab, seine gierige Anbetung zu verbergen.

»Tut es Ihnen weh, Meskart, wenn ich schön herumlaufe?« Sie legte ihm die Hand auf den Ärmel seines Smokings. Ihr Handrücken war so breit wie bei Menschen, die nicht von den Albas abstammen, drei Finger. Meskart nahm ihre Hand und küßte sie. In dieser Bewegung lag etwas Fremdes und Erlerntes, das beinahe schmerzte.

»Mir ist jetzt Gott sei Dank noch eine Zwischenaktmusik vor dem fünften Aufzug eingefallen!« Und obgleich ihn niemand dazu ermunterte, sang Tarb mit seiner knarzenden Stimme das barocke Thema.

»Passend«, sagte Meskart höflich.

»Ich vermute, es ist von Lully«, sagte Eisenreich.

Tarb sah ihn giftig an. »Was Sie vermuten, ist mir vollständig gleichgültig.« Er wandte sich zu Meskart. »Es war schwierig, die Überleitung zu finden von Phädras Verzweiflung zu dem Liebesgespräch zwischen Aricia und ihrem Hippolyt.«

»Jedenfalls ganz bezaubernd«, sagte die Prinzessin Anna, »›Phädra‹ wird herrlich.«

»Ein blödes Stück«, sagte Eisenreich. Tarb und die Prinzessin zuckten auf. Meskart lächelte.

»Ein blödes Stück«, sagte er noch einmal, als man die Bibliothek verlassen hatte und durch das rückwärtige Tor den Park betrat. Er ging mit Meskart, vor ihnen, auf dem mondflimmernden Sande, die Prinzessin und Tarb. »Ein Meisterwerk, natürlich. Nichts zu sagen. Aber als ich davon hörte, hab ich an meinen Kopf gefaßt. Alexandriner lassen Sie sprechen, Meskart, nicht einmal Schillers Umdichtung, sondern richtige Alexandriner hier unterm Sommerhimmel? Versailles im Odenwald? Nun, Gott sei Dank, Sie dürfen ja alles. Die Leute wollen ja doch bloß den Zauberer sehen.«

»Sie meinen, es ist ihnen ganz einerlei, was er macht. Ob er ein Ei aus dem Zylinder herausholt oder gleich den krähenden Hahn. Da könnte dem Zauberer einmal die Lust vergehen.«

Eisenreich sah ihn von der Seite an. Jetzt würde er sprechen.

Aber Meskart hatte schon zu seinem Schweigen zurückgefunden.

Sie passierten den Amor, der wieder stolz von seinem Postament zielte. »Ja, ja, der Ehrgeiz«, sagte Eisenreich, »ohne den ... Schauen Sie, sogar so einem trockenen Burschen wie diesem Tarb da vorne preßt er noch Kunsttropfen ab. Nein, ich will nichts gesagt haben: Barockmusik imitieren kann er. Aber was machen wir mit Ihnen? Man müßte was Neues erfinden.«

»Das können Sie doch immer.«

»Heute nicht mehr so einfach, Meskart! Wollen Sie die katholische Kirche neu inszenieren oder den Sowjetstaat? Das sind zwei großzügige Unternehmungen. Eine Umgruppierung des Planetensystems wird aus finanziellen Rücksichten einstweilen noch scheitern.«

»Zum Glück«, sagte Meskart in ganz anderm Ton und ließ seine Hemdbrust knacken, daß es klang wie ein gedämpfter Schuß, »zum Glück ist der Mensch ein kurzlebiges Tier.«

Sie schwiegen, und sie hörten plötzlich die Stimme des Komponisten, der der Prinzessin eine Tonfolge vortrug. Sie kam mißtönig durch die kühle Stille der Juninacht. Die Prinzessin wandte sich um zu ihnen. Das Konzert brach ab.

»Schauen Sie, Meister«, sagte sie flüsternd und deutete mit ihrem schimmernden Arm in ein Gehege rechts von ihrem Weg, »so schön sollte man sein!«

Über die mondhelle Wiese stelzte so spät noch mit gebrechlichem und stolzem Gang ein Kranich, einer der blauen Königskraniche aus Afrika, auf die sich Meskart den Winter hindurch gefreut und denen er gleich am Tag seiner Ankunft zwei Stunden lang zugesehen hatte.

Über Meskarts Gesicht ging eine kleine Grimasse. Er hatte es nicht gern, wenn ein andrer seine Vögel lobte.

»Diese blöden Vögel«, sagte Eisenreich mit betonter Roheit. »Das wären eigentlich die richtigen Schauspieler für die ›Phädra‹!«

Merkwürdigerweise schien diese Bemerkung Meskart besser zu gefallen als das Entzücken der Prinzessin. Sogleich verband sich in ihm der kostbare Gang des Tiers mit dem Gang der Alexandriner.

»Nicht schlecht«, sagte er mit einem kurzen Lachen. Und Eisenreich, der sich durch nichts in der Welt geehrt fühlte, war versucht, sich zu verneigen.

Vor ihnen lag das Theater. Es bestand einfach aus mannshoher grüner Hecke. Man betrat zuerst ein kleineres Viereck, Vorplatz und Foyer zugleich, dann öffnete sich der ovale Zuschauerraum. Über etwa zwanzig Sitzreihen hinweg erblickte man die Bühne, eine einfache Estrade, ganz ohne Zurichtung, nur mit je drei riesigen Fackelhaltern zur Rechten und Linken. Durch eine maskierte Lücke in dem grünen Wall würden die Spieler die Szene betreten.

Die erste Sitzreihe, vor die man gelangte, bestand aus Armstühlen.

»Nehmen Sie Platz«, sagte Eisenreich zur Prinzessin, »das Recht auf den Armsessel haben nur Fürsten und Damen von Geblüt.«

Das war mit Ironie im Geist eines vergangenen Jahrhunderts gesprochen. Aber Eisenreich, dem allein die Anordnung oblag, hatte wahrscheinlich ganz ohne Ironie gehandelt.

Als dann Tarb in heftig aufflammendem Interesse zu wissen verlangte, wer denn nun von diesen Armsesseln aus morgen seiner Musik zuhören würde, und Eisenreich auch tatsächlich seine Liste aus der Tasche zog, ergab sich eine Zusammenstellung von wenig einheitlichem Charakter. Es würden da sitzen, von links nach rechts: Sir Edward Worms aus London und Lady Worms, Fürst Belgiojoso, Frau Dorothy Callman, Georgantopulos aus Wien, Prinzessin Anna, der französische Botschafter und seine Frau, Mr. und Mrs. Bartlett aus Detroit, Graf Ludwig Schwarzenfeld und Daniel Ortelsburger.

Tarb las diese Liste im Mondlicht vor, indem er das Blatt ganz nahe vor seine unguten Augen hielt, und Meskart blickte während der Lektüre auf die Prinzessin. In ihrem Göttinnenantlitz regte sich nichts.

»Ausgezeichnet, sehr schön«, sagte sie nur am Schluß, in dem gleichen vollkommen leeren Ton, mit dem vormals der alte Kaiser, der ihr Verwandter war, seine Billigung auszusprechen pflegte.

»Ein Meisterwerk, Eisenreich«, sagte Meskart und lachte. »Sie selbst nur werden wissen, wie sehr.«

Er wandte sich mit ihm zum Hause zurück. Tarb in ihrem Rücken verlangsamte absichtlich den Schritt, und er begann ein leidenschaftlich werbendes Geflüster. Seine Eitelkeit war rasend verliebt in die Bleiche. Er mißtraute im Innersten seinem eigenen Talent, war aber nicht frei genug, sich seine Nöte einzubekennen, und hungerte nach greifbaren Zeichen, so, als ob irgendeine Bestätigung jene Unsicherheit hätte heilen können. Noch heute las er jede Zeile, die irgendein Provinzkritiker über eins seiner Orchesterwerke drucken ließ. Den Besitz dieser Halbgöttin aus tausendjährigem Blut hatte er sich wie eine Aufgabe vorgesetzt. Etwas in ihrem Wesen verriet, daß sie ihre Person zu verschenken wußte; es wurden ihr Liebesbeziehungen nachgesagt, die alle in der Region des Weltruhms spielten. Verzweifelter Ehrgeiz gab Tarb Worte ein, wie sie sonst nur die Leidenschaft findet. Sein ihr zugewandtes Gesicht war verzerrt vor überheftiger Begier. Sie ging wortlos neben ihm her, gesenkten Hauptes lauschend oder auch nicht, der Hauch eines Parfüms, so zart und leicht, daß es vom Mondlicht zu kommen schien, wehte vor ihr her. Er schwieg atemlos.

»Ist er auf seinen Proben eigentlich auch so schweigsam?« sagte sie, »nie habe ich ihn mehr sprechen hören als zehn Worte nacheinander.«

Es gab Tarb einen solchen Schlag, daß er stehenblieb und sie allein weiterwandeln ließ. Nach einer Weile besann er sich auf das Schickliche, holte sie ein, und sie gingen wortlos bis zum Schloß. Am Eingang verabschiedete er sich.

In der Bibliothek waren Erfrischungen bereitgestellt. Nur ein Wandleuchter und eine Stehlampe brannten. Der Raum war so hoch, daß sich die Decke im Ungewissen verlor. Zwei Galerien zogen sich übereinander hin, die untere rings umgeben von den geschweiften Bücherborden, die zweite ziemlich hoch darüber. Sie lief durch das ganze oberste Stockwerk und bot Zutritt zu den Einzelzimmern. Die beiden Männer warteten, bis die Prinzessin den Podest erreicht hatte, ihr silbernes Gewand rauschte leise die Treppe zum obern Umgang hinauf.

Sie setzten sich einander gegenüber. Eisenreich nahm einen Pack Zeitungen zur Hand und entfaltete ein englisches Blatt, dessen ungeheure Breite ihn völlig zudeckte. Meskart hatte sich eine Zigarre gewählt und ruhte ihm gegenüber, in die leere Stille schauend. So hatten sie in diesen Jahren in vielen Zimmern und Hallen einander gegenübergesessen. Es ist nicht Gespräch, was zwei Männer verbindet.

Meskart fühlte seinen Blick auf unbestimmte Art nach aufwärts gezogen. Da sah er sie oben auf der höheren Galerie. Sie beugte sich über die geschwungene Rampe. Ihre Schultern und ihr silbernes Kleid schimmerten. Sie blickte unverwandt, lautlos auf ihn herab. Er zögerte noch einen Augenblick.

Als Eisenreich nach einer Weile sein Blatt sinken ließ, sah er auf dem Rande des Aschenbechers die weggelegte Zigarre blau qualmen.

*

Meskart trat heran, als der erste Aufzug schon im Gange war. Er blieb im Hintergrund stehen, sein Rücken streifte knisternd die Hecke. Über die Geladenen hinweg blickte er auf die vom wehenden Fackellicht beleuchtete Szene. Phädra sprach zu Önone. Sie bekannte der Vertrauten die ehebrecherische und blutschänderische Liebe zu Hippolyt, dem Sohn.

Wieder beleidigte seinen Verstand das Künstliche dieser Konflikte. Warum quälte sich Phädra? Hippolyt, dieser edle Junker vom Lande, ist ja gar nicht ihr Sohn, nur der des Theseus. Und den Theseus hält sie für tot, was bleibt da noch übrig von Frevel? – Pedanterie war das, allzu genauer Wirklichkeitssinn, Erbschaft seines Blutes!

Ein leidenschaftlicher Wille zur Reinheit der Seele sprach.

»Ganz unbefleckt genießt sich nur das Herz«: das tiefe, gleich einer Orgel tönende Wort Iphigeniens, es galt auch hier. Aus diesem gleichen strengen und wohllautenden Mund, der jetzt barocke Hofsprache formte, hatte es Meskart gehört. Vor manchem Jahr. Er träumte.

Nichts regte sich unter den Zuschauern. Man saß in mustergültiger Stille, aber es war die Stille eines Salons. Ein dunkelblauer Sommernachtshimmel spannte sich über dem Schauplatz, ein ganz leichter, kühlender Hauch wehte, der Pfiff eines späten Zuges kam langgezogen, schwach, aus der Rheinebene herüber, dann war wieder nichts vernehmbar als der Schritt der übertragenen Alexandriner.

Es funkelte und blitzte undeutlich in den Sitzreihen von Juwelen der Damen, Halsketten und Ohrgehängen. Alle Herren sahen ganz gleich aus von hinten, bei allen überragte der weiße Kragen um eines halben Fingers Breite das seidig schwarze Fracktuch. Ein kosmetischer Hauch strich von den Versammelten her und verlor sich in der leuchtenden Nacht.

Gelassen blickte er zur Bühne. Was da oben vorging, entsprach genau seiner Absicht. Er hatte sich in den Spielern, die dort das würdevolle Werk vorüberführten, Instrumente erzogen, die jeden seiner Winke aufnahmen. Bei den Proben hatte er es selten mehr nötig zu erläutern und, wie es seine Meisterschaft war, andeutend vorzusprechen. Seine Gegenwart, sein Auge genügten beinahe, um einer Aufführung den Rhythmus zu geben; er hätte kaum dasein müssen, es hätte genügt und hatte auch schon genügt, wenn sich in seiner Abwesenheit die Darsteller fragten: wie würde er blicken zu diesem Ton, dieser Geste. So enttäuschte ihn niemand.

Droben wurde nicht mehr gesprochen. Wie Phädra und die Alte verschwanden, nahm sie jenseits der Hecke feierlich klagende Musik auf. Dort stand jetzt Tarb und leitete mit leuchtend weißbekleideter Hand sein Orchester, verzerrten Gesichts. Er litt bei jedem Ton, denn jeder war wichtig ... Niemand hörte zu, niemand bemerkte recht, daß Musik spielte. Schwirrendes Gespräch hatte sich sogleich erhoben, man begrüßte einander, reckte sich ein wenig nach der begonnenen Langeweile. Meskart war um das Theater herumgegangen. Die Schar der Spieler stand beieinander, es waren nur acht. Ein kleines Garderobengebäude aus Holz, zweigeteilt, war errichtet, die Gotin verließ es eben.

»Zufrieden, Meister?« fragte sie lächelnd. Er nahm ihre Hand und antwortete nicht. Seltsam standen sie umher auf der Wiese in ihren gebauschten Gewändern, weiß und indigoblau. Theseus hatte seinen barocken Kriegshelm irgendwo auf einen Schemel gestellt, der schimmerte bläulich im Mondlicht, und der Helmbusch flatterte. Die Musikanten saßen vor ihren Pulten, an denen kleine elektrische Lampen brannten. Sie setzten ihre Instrumente ab. Aricia, die blond und vergnügt war, stieg mit Ismene das Treppchen zur Bühne hinauf. Der Gleichschritt der Alexandriner begann von neuem.

Meskart betrat den eingefriedeten Raum nicht mehr. Draußen auf der Wiese umwandelte er ihn, auf gebahntem Wege, wo einer war, sonst auf dem kurzen Gras, so daß seine Lackschuhe im Nachttau feucht wurden. In regelmäßigen Abständen sahen ihn die Spieler, die hinter der Szene warteten, bei sich auftauchen, er machte nicht halt, sie blickten zu ihm hin, er zog vorüber. Tarb nickte ihm zu, mit verzerrtem Gesicht, er sah es nicht einmal. Ein Hall der Verse drang zu ihm, ein erhoben gesprochenes Wort, dann bei den Aktschlüssen höflicher Beifall und ein wenig von Tarbs Musik.

Vielerlei Gedanken gingen durch seinen Kopf. Ihm widerfuhr, was ihm selten geschehen war: er erstaunte über sich selbst. Sein Leben lang war er in Übereinstimmung mit sich selber vorwärts gegangen, nie verwundert, sich an irgendeiner Stelle zu finden, von seinem Instinkt wie auf einem Fittich aufwärts getragen. In diesem Sommer, vielleicht seit dem letzten schon, war es nicht ganz mehr so. War er es eigentlich, der hier auf Bergesrand das Schloß erweckt hatte, der hier Hof hielt, der hier ein leises und höfliches Hoftheater spielen ließ? War dies notwendige Begleitung seines Ruhmes? Dieser Ruhm, war er wirklich? Zerging das nicht wie ein Spuk? War es fühlbar wie hier die Nässe im Gras? Klang dieser gesittete Beifall eines Parketts von Geladenen, den sein Ohr eben jetzt wieder aufnahm, nicht völlig geisterhaft? War diese Musik, die da einsetzte, Musik von heute und hier und nicht Geistergezirp von Abgeschiedenen? War er's, der dies wohlerzogene Schauspiel erwählt hatte ...?

Was für Menschen sprachen da eigentlich? Salonmenschen eines vergangenen Salonjahrhunderts, voller Anstand, Gehaltenheit, Weltgesittung. Waren sie nicht mehr als das? Er wußte wenig von diesem Racine, mit einem Male wünschte er ihn gekannt zu haben. In einem ovalen Zimmer, braungolden getäfelt, mit einem offen brennenden Leuchter auf dem Tisch, wäre er ihm gegenübergesessen und hätte in sein redendes Gesicht unter der vollen Perücke geschaut. Er war stehengeblieben und blickte von dem Theater fort ins Land hinein, wo hinter Mondweben die Odenwaldhügel anstiegen. »Ihre schuldige Phädra, Racine«, fragte er, »ist doch die Enkeltochter der Sonne, Ihre reizende kleine Aricia hat doch die Erde zur Ahnin? Der Minotaurus, nicht wahr, und Prokrustes der Schreckliche werfen ihre Riesenschatten in den Salon. Damit der dramatische Knoten sich entwirre, steigen gehörnte Drachen aus dem Meer und töten Ihren Hippolyt, diesen biedern jungen Edelmann aus der Provinz. Lugt nicht die Urzeit doch herein durchs œil-de-bœuf auf Ihr Parkett? Und schlägt nicht wahrer Lebensernst und Todesernst doch unter den gekämmten Versen? Verlangen nach dem wilden Element, nach Starkem, Uranfänglichem. Oder haben Sie die mythischen Zeichen nur benützt als Requisit, um vor den Armsesseln Ihres Hofes Boudoirtragödien schuldgefällig zu verbrämen? Ihr stilles Gesicht verweigert mir die Antwort. Sie geben keine Auskunft über sich, wissen vielleicht gar keine zu geben. Wie ein ruhiger, bescheidener und frommer Mann sitzen Sie da mir gegenüber am runden, spiegelnden Tisch und blinzeln nicht über den Kerzen und wissen nicht, was ich eigentlich frage.«

Er lauschte. Die innige Stimme von edler Schärfe, die einmal Iphigeniens Stimme gewesen war, drang mit Klarheit zu ihm:

Wagt noch mein frevles Aug zur Sonne aufzufliegen,
Aus ihrer reinen Glut bin ich herabgestiegen,
Der Götter Oberster und Zeuger ist mein Ahn,
Der Himmel ist, das All, den Meinen untertan,
Wo berg' ich mein Gesicht? Flieh' ich zur Unterwelt?
Dort thront mein Vater, der die Schicksalsurne hält!

Er nahm seine Wanderung wieder auf. Aufs Geratewohl streifte und stapfte er durchs Gras, so daß seine Beinkleider naß wurden und unordentlich hingen. Ja, die Welt war ein überhelles Zimmer. Das Glück jenes halbdunklen Anfangs, es war lange dahin. Es war eingetauscht gegen die äußeren Zeichen der Meisterschaft: Name, Wohlstand, herrenhafter Sitz am Gebirgsrand. Beifall der Welt, was hieß das? Selbstverständlich plätscherte er einher. »Ich bin eine Einrichtung für sie«, sprach er zu sich. »Einst war es anders. Warum Versteckenspielen vor mir?« O Fieber des dunklen Hauses, Spannung, Glücksbereitschaft, Kampfbereitschaft, die über die Rampe springt und die Hörer entzündet! Und er selber in der Kulisse, mit jeder Wesenszelle eins mit denen, die sich hier einsetzten, mitahmend, ohne daß er es merkte, jede Geste, jedes Lächeln, jede Schmerzverzerrung eines Mundes. Alles vorbereitet, durchdacht und gelenkt, und doch am Abend so völlig anders, jeder der Darsteller ein Neuer, Unbekannter, sich selber neu und gewaltig entbrennend im Fieber der Entscheidung. Einer, mit dem er sich gemüht und vielleicht zweifelnd gemüht hatte, ein junger Mensch, tat plötzlich anders den Mund auf und war in Leidenschaft ein Meister. Aus einer Szene, die im Dunkel gelegen hatte, schoß die Feuergarbe und goß blendendes Licht über das ganze Werk. O Überraschung, Ungeahntes, Abenteuer! Wie wurde Dichtung, Spielerschar und Publikum eins in einer gewaltigen Geistes- und Sinnenhochzeit, und wie überwältigte ihn selbst diese heiße Verschmelzung – bis zur Erschöpfung, so daß er sich, wenn alles aus und dunkel war, in einem Kulissenwinkel hätte zusammenrollen und schlafen mögen wie ein Stein, erschlafft durch Kampf und Glück. In den Kulissen des Prager Vorstadttheaters sah er sich wieder, er hörte ganz nahe die leidenschaftlichen Jargonschreie seiner Spieler. Über die Rampe lugte er seitlich ins Parkett ... es wogte grau über den Zuschauern, denn dort wurde geraucht. Aber im dritten Akt, wenn das Schicksal zur Höhe stürzte, gingen ihnen die Zigaretten aus. Er lauschte, stiller, methodischer Schritt der Alexandriner. Höfliche Stille unter der Sternennacht.

Jemand kam ihm entgegen und stand auf der Wiese vor ihm.

»Wissen Sie, wer gekommen ist, Meskart?« fragte Eisenreich. Und er nannte flüsternd einen Königsnamen. »Dort sitzt er, links in der zweiten Reihe.« Er trat an die Hecke, um Meskart hindurchlugen zu lassen. Dann ließ er's. Des Theseus starker Bariton sprach eben diese Verse:

Mein großer Name wird mir zum verhaßten Schergen,
Genöß ich mindern Ruhm, ich könnte mich verbergen!

Sie hörten es beide sehr deutlich. »Ein König«, sagte Meskart. »Ja, lieber Eisenreich, Sie haben viel für mich getan.«

Sie blieben stehen und hörten die wenigen Verse an, die noch übrig waren.

Im großen Saal an der Längsseite war ein Buffet errichtet, genau unter dem berühmten Luca Giordano, der die Speisung der Fünftausend darstellte. Eisenreich hatte sich wie stets um alles gekümmert. Auf silbernen Platten war kaltes Wild, Geflügel und Braten bereitgehalten, in Kristallschüsseln Salate von vielfältiger Mischung, appetitlich davon geschieden jede Art von süßen Leckerbissen. Vier Diener in einer ruhigen, dunkelblauen Livree, mit einer schmalen Goldlitze am Kragen, halfen umsichtig. Diese Livree hatte Eisenreich entworfen. Übrigens waren die vier noch wenig beschäftigt, da man einstweilen umherstand, kaum aß, kaum sprach und die Darstellung des Königs genoß.

Der König hielt sich bei Meskart an dem großen Mitteltisch, ein ziemlich kleiner, schmalgesichtiger Herr mit auffallend hellen Augen, ein wenig fröstelig anzusehen. Um die beiden war eine höfische Leere. Der Adjutant, ein schwerer Kriegsmann, hielt sich einige Schritte entfernt.

Der König rühmte zuerst mit einigen allgemeinen Wendungen die Aufführung und verbreitete sich dann über die wundervolle Annehmlichkeit dieses Theaters im Freien, man säße luftig und dabei doch bequem. Es war ihm anzumerken, wie sehr er unter ausgedehnten Festlichkeiten in heißen, geschlossenen Räumen zu leiden pflegte. Das Arrangement heute abend habe ihn an die berühmte Kolonnade im Park von Versailles erinnert, den runden offenen Bau aus marmornen Säulen, Ort der Hofkonzerte Ludwig des Vierzehnten. Es sei eine so außerordentliche Annehmlichkeit, im Freien zu sitzen und dabei etwas Schönes zu genießen. Höchst dankenswert wirklich und nachahmungswürdig. Der König sprach schnell, mit einer kleinen, ängstlich fragenden Hebung am Ende jedes Satzes. Meskart dankte. Es war ein Schauakt.

Dann drückte der König sein Bedauern aus, daß er gezwungen sei aufzubrechen. Es geschehe ungern. Er werde erwartet. Meskart geleitete ihn durch den großen Raum, in dem jedes Gespräch vollends erstarb und die Anwesenden nur zur Seite wichen, statt sich zeremoniös zu verneigen, da ja das Inkognito doch gewissermaßen zu achten war. Zweimal machte der König halt. Erst reichte er dem Botschafter die Hand und dann auch der Prinzessin Anna, dieser ungefähr mit der Miene, mit der ein geachteter Kaufmann ein Familienmitglied begrüßt, das sich in zweifelhaften Vermögensverhältnissen befindet.

Im Vestibül wartete der Chauffeur mit den Mänteln. Der König umfing mit dem Blick die weite Vorhalle und erkundigte sich nach dem Architekten. Er erfuhr, es sei Dientzenhofer gewesen, der Meister von Ebrach und Bamberg. Der Adjutant, der furchtbare Langeweile durchgemacht hatte und schläfrig lächelte, schritt hinter ihnen drein zum Portal. ›Schlaf nur gut in deinem Frankfurter Hotelbett‹, hätte Meskart gerne zum König gesagt, ›ich weiß ja, daß du nichts mehr zu tun hast, heute nicht und morgen nicht. Und hoffentlich hat dir dein Kammerdiener einen amüsanten Kriminalroman auf den Nachttisch gelegt! Ich verrate nichts.‹ Er verbeugte sich, als die beiden saßen, und verharrte noch einige Augenblicke, während das Auto begann, die Schleife hinunterzurollen. Dann kehrte er zu seinen Gästen zurück.

Inzwischen hatte man sich bedient und saß an runden Tischen, die ziemlich weit voneinander entfernt standen. Nur Kerzen brannten, sehr viele Kerzen, in schönen Leuchtern und Wandarmen und in einer riesigen Krone, die aus der Höhe inmitten herabhing. Dennoch war es nicht heiß. Der Raum war so groß, daß er leer wirkte mit seinen achtzig oder neunzig Personen. In einer Ecke saß das kleine Häuflein der Schauspieler beieinander. Meskart hatte nach der Vorstellung draußen zu ihnen gesprochen, es trieb ihn, sich wieder zu ihnen zu gesellen. Aber er scheute die Geste, er scheute die Kommentare. Schon las er gedruckt, wie er, ganz schlichter Theatermensch, eine hohe Gesellschaft und den Reichtum der Welt vernachlässigt habe, um bei seinen Getreuen zu sein. Er ging an dem Tisch vorüber mit verschlossener Miene, nickte Phädra und Theseus steif und befangen zu und begab sich zu dem Mitteltisch, wo ihm zwischen dem Botschafter und Frau Dorothy Callman der Sessel frei gelassen war. Auf einmal kam ihm zum Bewußtsein, daß es ihm vorbestimmt schien, allenthalben neben dieser alten Geldfürstin mit den großen Zähnen zu sitzen; in wieviel Bankettsälen und Salons war ihm dies Los schwergefallen, nur einfach, weil sie über gewaltige Pakete amerikanischer Eisenbahnaktien gebot. Das war ja ein seltsamer Grund, und ein andrer war nicht vorhanden. Wie kam er eigentlich dazu, die Macht des Geldes anzuerkennen, er tat es doch im Grunde gar nicht und hatte auch keinen besonderen Anlaß dazu, da er selbst wohlhabend war, Theater in verschiedenen Ländern besaß, das schöne Haus hier, dazu Villen in der Schweiz und in Frankreich und auch Geld, jawohl, das durch Eisenreichs Umsicht bei mehreren Banken äußerst vernünftig angelegt war. Was also brachte ihn dazu, die raffzähnige Alte gelten zu lassen? Er sah ihren Mund gar nicht gern. Menschen mit allzu entblößten Zähnen hatten ihn immer erschreckt. Man trug doch nicht so aufdringlich einen Teil seines Skeletts zur Schau! Mit diesem entsetzlich vollständigen Gebiß, das vom Tode sprach, zermalmte sie zufrieden ein Stück Fasan und stieß dabei in einem unangenehm korrekten Deutsch ihr Kompliment über »Phädra« heraus.

Und damit begann es. Er hörte von jedermann den vorbereiteten Spruch. Was der Botschafter sagte, war noch das Beste. Er vermochte nicht ganz zu verhehlen, daß das geheiligte Werk seiner nationalen Literatur ungewohnt gespielt worden war, fremd von Fremden, ein wenig falsch im Grunde, den Hochmut eines traditionellen Besserwissens konnte er nicht völlig verbergen; aber er sprach doch wenigstens wirklich über Racine, außerordentlich richtig und klug, und jeder seiner Sätze hatte gerundete Form, zu sehr vielleicht. Er hätte viel zu sagen gehabt, alles nämlich, was jeder Franzose hierüber zu äußern hatte, und es tat Meskart beinahe leid, als er endete. Dies war sein bester Zuhörer gewesen. Er sagte tonlos ein Wort des Dankes und beschäftigte sich mit seinem Teller, während einer nach dem andern vor seinen Ohren sein Pensum erledigte. Er hatte nichts zu trinken, aber in dem Moment, als ihm zum Bewußtsein kam, daß er durstig war, erschien neben seinem Ärmel ein bleicher und schöner Arm. Die Prinzessin Anna stellte ein Glas Champagner neben seinen Teller. Er wandte sich halb um, ihr zu danken, und ließ sich bescheinen von der edlen und leeren Schönheit ihres Gesichts.

Sie preßte den Arm gegen seine Schulter, es war ein Versprechen oder eine Mahnung für nachher, und sein Herz begann stärker zu klopfen, erregt von der stillen Schamlosigkeit dieser Schönsten, die er nicht begehrte. Er sah plötzlich Eisenreichs gescheite Augen aus einer Ecke des Saales auf sich gerichtet, fühlte sich erkannt, fröstelte und leerte hastig das Glas. Er sah Tarb von Gruppe zu Gruppe gehen, bereit und begierig, Lobpreisungen seiner Musik einzukassieren, nun war er hier am Tisch, schon ganz verfallen, da er keine vernahm, und Meskart, dem ein wissendes Mitleid durchs Herz stach, begann über Tarbs Musik zu reden, würdigend, mit Übertreibung sogar. Tarbs bitteres Gesicht entspannte sich, befreit, erlöst, es tat Meskart weh, das zu sehen, und gleichzeitig war er nicht ohne Neid auf solche Genügsamkeit. Alle stimmten nun ein, einige Augenblicke war nur von dieser Musik die Rede, an die sich niemand erinnerte.

*

Er stand in einem langen dunklen Schlafrock vor ihrem Lager und beugte sich über die Hand, die sie ihm zum Kusse reichte. Im Halblicht der niedrigen Bettlampe lag ihr schönes Gesicht auf dem Kissen, vom nachtschwarzen Helme gekrönt. Ihr Atem ging ganz ruhig, nicht wie nach einer Liebesstunde, sondern wie nach einer Zeremonie. Und während Meskart rückwärts zur Tür ging und mit der Hand noch einmal grüßte, erinnerte er sich der vielen Hofherren, die er in so vielen Stücken aus so vielen dynastischen Gemächern hatte rückwärts schreiten lassen.

Draußen auf dem breiten Gang des Seitentrakts war es völlig still und beinahe dunkel. Nur weit drüben, jenseits der Biegung, dort wo die Galerie über dem großen Saal hinlief, schimmerte ein ganz matter Lichtschein. Er tat ein paar Schritte, dann ließ er sich auf einer Wandbank nieder, die mit alten Sammetkissen bedeckt war, und lauschte ins Schweigen seines prunkvollen Hauses hinein. Sein Gesinde schlief, und schon schlief gewiß auch die eben Verlassene, nach einer Umarmung ohne Aufrichtigkeit, deren er sich fröstelnd schämte. Keine wohltätige männliche Eitelkeit spiegelte ihm vor, daß diese Bleiche und Kostbare ihn begehre. Sie umarmte in ihm einen Begriff. Diese Liebesnacht und manche ähnliche, sie waren ein Zeremoniell des Ruhmes, nichts anderes. Seine Phantasie stand auf. Er stellte sich vor, wie er in das Schlafzimmer dieser Alba-Enkelin träte, er, Meskart, aber nicht als ein gepflegter Herr von großem Namen in solch dunkelgrauer Seide – seine Hände umfaßten den Brustaufschlag seines Schlafrocks –, sondern in andrer Gestalt, die auch wahr gewesen wäre: als ein gebeugter, alternder Jude mit Schläfenlocken, in einem andern langen Gewand, dem Kaftan, den sie im Osten noch tragen. Wie wäre sie aufgezuckt aus ihren Kissen!

Er träumte den Abend zurück. Er sah sich wieder den Heckenumriß seines Hoftheaters umwandeln, unterm dunkelblauen Schein der Juninacht, die voll war von heimlichen Möglichkeiten des Lebens und des Glücks. Von einem Schemel schimmerte traurig der Kriegshelm des Theseus. Er führte die Akte des Schauspiels an sich vorüber, die er so völlig kannte, des edlen Werks, so unnotwendig heute, so ohne Blut, so geisterhaft. Die Alexandriner schlichen im Zuge an seinem Ohr vorüber, und ihr Rhythmus schien ihm ein Rhythmus des Todes.

Er hatte sich mit beiden Händen auf die Kissen hingestützt, sein müdes Gesicht, entspannt, hing auf die Brust hinab, der große Mund unter der Hakennase stand leicht geöffnet. Wer ihn so gesehen hätte, dem wäre er nicht als ein eleganter Liebling des Weltruhms erschienen, sondern alternd, welk, schwermütig an seinen dunklen Ursprung gemahnend. Endlich stand er auf, um zur Ruhe zu gehen. Er schritt den langen Korridor entlang, jenem Lichtschein entgegen. Seine Schritte in den weichen Nachtschuhen waren unhörbar. Nun stand er dort an der Rampe, über die man in große Tiefe niederblickte zum Saal. Er beugte sich über den Abgrund. Seine Hände faßten nach dem Marmor ... Er sah.

Der große Saal nahm sich chaotisch aus. Nach dem Fortgang der Gäste war nicht aufgeräumt worden, dies war auf die frühen Morgenstunden verschoben. Sessel und Stühle standen wirr. Sehr wenig Licht brannte. Nur auf dem Buffettisch waren in einem der fünfarmigen Leuchter zwei Kerzen entzündet. Ihr schwacher Schein flackerte. Riesige Schatten, balkengleich, liefen durch das gewaltige Oval.

Ein Mann und eine Frau waren im Raum. Meskart erinnerte sich nicht, sie gesehen zu haben. Ihm waren jetzt viele Menschen untergeben. Es mochten junge Leute sein, die in der Küche oder im Garten beschäftigt waren. Sie aßen. Noch war die lange Kredenz bedeckt mit dem, was man übriggelassen. Dies war sträflich. Alle die Reste an Fleisch und Fisch und Süßem gehörten hinunter in die Kühlräume, sollten sie nicht verderben. Ein Ordnungs- und Sparsamkeitssinn, von armen Voreltern überkommen, protestierte in ihm. Aber sogleich vergaß er seine Mißbilligung. Er schaute aus seiner Höhe auf ein lautloses und gieriges Stück Leben:

Der Mann, in gestreifter Dienerweste und hemdärmelig, umkreiste langsam den Tisch, er nahm da einen Bissen und dort, hob Flaschen empor, hielt sie gegen das Kerzenlicht, prüfte den Inhalt und tat einen Schluck. Das Mädchen aber saß. Sie hatte sich gerade unter jene »Speisung der Fünftausend«, mitten an die Längsseite des Tisches, einen Sessel gerückt. Meskart erkannte ihn: es war ein herrlicher Sessel, in Sammlerkreisen genannt, gearbeitet von einem Schüler des Boulle, es hieß, er sei einmal im Besitz der Frau de Sévigné gewesen. Die Kerzen beleuchteten deutlich das breite, gesunde Gesicht des Mädchens unter rötlichblondem Haar. Viel mehr sah man nicht von ihr, denn der Sessel war niedrig, und der Tisch war hoch. Aber ihre nackten, kräftigen Arme griffen aus und holten heran, was zu fassen war. Sie schwelgte lautlos, ohne Unterschied. Sie griff ein Stück Braten mit ihrer Hand und verschlang es, sie grub den Löffel tief in eine Schüssel mit Fischsülze und strich sich den Mund voll. Es war zu spüren, wie ihr fester zwanzigjähriger Leib sich in den Kissen des Fauteuils vor Behagen dehnte. Meskart ahnte mehr als daß er es sah, wie ihre Augen vor Vergnügen schmal wurden, wie sie den Kumpan suchte, um ihm triumphierend zuzulachen. Aber sie fand ihn jetzt nicht. Auf seiner Wanderung um den Tisch war er just an die Stelle gelangt, wo sie saß. Er beugte sich über sie und griff ihr mit seiner Knechtshand von hinten her tief ins Hemd. Meskart gab es einen Schlag. Er fühlte die hohe und feste Halbkugel so deutlich in seiner eigenen Hand, daß er sie schloß. Das Mädchen quiekte auf. Ihr Schrei gab ein schepperndes Echo.

Meskart an seiner marmornen Rampe erzitterte. Im flackernden Halbdunkel die beiden, ganz ihrem Trieb hingegeben, ganz Gier und fleischliche Gegenwart, er konnte nicht satt werden an ihnen nach soviel blutleerer Künstlichkeit des Abends, nach bleichem Mythenspiel und bleicher Geselligkeit und bleicher Umarmung. Das Unwirkliche, Beziehungslose seiner Existenz, es ging ihm auf an einem simplen und rohen Widerspiel. Die zwei, die dort unten stahlen und kauten, sie hatten mehr von Glück und Rausch und selbst von Kampf als er nach vorausbestimmten Theatersiegen, über die in der gleichen Nacht der Telegraph gewohnheitsmäßigen Enthusiasmus über die Erde hinzuckte. War er nach Herkunft und Art dazu gemacht, dem sterbenden Adel und dem frevelnden Reichtum der Welt mit blasser Kostbarkeit die Zeit zu vertreiben? In ihrem Prager Hinterzimmer hatten seine verschwitzten und aufgeregten Jargonspieler sich über dem klebrigen Wirtshaustisch zugeschrien und hatten gedacht, Kunst und Menschengewissen zu revolutionieren. Auch in der Bestialität der zwei dort unten war Auflehnung. Sie schmeckten nicht bloß Speisen und Wein, sie schmeckten den Triumph über den verschwenderischen Herrn, dem sie im Grab der Nacht das Seine stahlen. Er sah sie beide kaum, aber er kannte sie ganz. Bei der Abfahrt der Gäste, Stunden zuvor, hatten sie hinter den Büschen gestanden und, die Hand vorm Munde, Grimassen gerissen über die Fetten und über die Ausgezehrten, die da wegrollten in ihren erleuchteten Wagen ... Meskarts Phantasie war entzündet. Ihm war das Fieber ins Hirn und ins Herz geschlagen vor dieser Szene im flackernden Abgrund, fleischlich real und ein Sinnbild zugleich: Theater, so wie es sein mußte. Übermorgen war er ein alter Mann – er würde es nicht sein!

Das Mädchen hatte sich eine neue Schüssel herangeholt, dorther, wo die Nachspeisen standen, schräg hielt sie die halbgeleerte vor sich hin und stieß den Löffel in die süße Paste und führte ihn tief in den Mund und schleckte ihn aus und abermals und kratzte das Letzte zusammen im Kristall und schmatzte glücklich, so daß Meskart es hörte. Und plötzlich war der Bursche über ihr. Er hatte sich an dem kleinen Seitentisch bei den Likören zu schaffen gemacht, und voll von Süßem und Scharfem, gab er jetzt ihrem Fest die rechte Krönung. Er packte mit beiden Armen den kostbaren Sessel und drehte ihn seitwärts, so daß Raum für ihn wurde, und Meskart sah noch, wie er sich ausstreckte über ihr. Sie war überrumpelt, noch hielt sie in einer Hand die geleerte Schüssel, in der andern den Löffel. Beides entfiel ihr.

»Mach's Licht aus!«

»Warum denn?«

Aber er griff doch hinüber. Er erreichte die Flammen nicht mit der Hand, und, zu gierig, um sich noch aufzurichten, brachte er den Leuchter zum Sturz. Geklirr und Gelächter. Und aus der dunklen' Schlucht nur noch Schnaufen und Knacken und Stöhnen ...

Meskart ging auf seinen unhörbaren Sohlen den völlig finstern Gang entlang, hinüber in den Trakt, wo Eisenreich wohnte. Er kannte seine Gewohnheiten. Noch schimmerte Licht unter der Tür. Er pochte.

Eisenreich lag im Bette, die Fenster weit geöffnet gegen die mild atmende Nacht. Er las. Meskart sah, daß er ein Nachthemd trug, wie es die Großväter getragen haben, rund ausgeschnitten am Halse, mit einem roten Muster dort eingefaßt. Sein kluges, volles Gesicht schaute ihm entgegen, ohne Erstaunen.

»Sind Sie schläfrig, Eisenreich«, sagte Meskart. »Ich muß mit Ihnen reden.«

»Ich bin wach«, sagte Eisenreich. Meskart zog sich einen Stuhl ans Bett und schwieg.

»Was ist's denn also?« sagte Eisenreich. »Ich denke es mir. Sie wollen fort.«

*

Am andern Tag wurde niemand so bald Meskarts Verschwinden gewahr. Es war nichts Ungewohntes, daß er unsichtbar blieb. Abends fuhren die Gäste an, nicht geladene mehr, sondern zahlende Besucher. Im ganzen waren zehn Aufführungen der »Phädra« geplant. Wieder begannen die Alexandriner den Gleichschritt, edel und tot.

Wer im Schlosse wohnte, fand sich um die zehnte Stunde in der Bibliothek ein. Jetzt erst erfuhr man, daß Meskart verreist sei. Das Erstaunen war mäßig. Niemand sprach sich ein Recht zu, seinen Wegen nachzuforschen. Die Prinzessin Anna zog die Brauen hoch in ihrer Göttinnenstirn; Tarb näherte sich ihr und begann mit neuer Dringlichkeit seine Werbung. Mitten in einem seiner Sätze stand sie auf und war aus dem Raum. Sie weckte ihre Jungfer und ließ packen.

Tarb war der einzige, der sich nicht sogleich zufriedengab. Er empfand Meskarts Verschwinden als eine persönliche Kränkung, ganz als habe der sich damit nur dem wiederholten Anhören seiner Musik entziehen wollen. Bei Eisenreich nachzufragen, wagte er nicht. So erkundigte er sich wie von ungefähr bei der Dienerschaft. Er brachte nur in Erfahrung, daß niemand außer einem Chauffeur fehle.

Die Aufführungen gingen weiter, es war, als würden sie mit jedem Abend ferner und leiser. Die Gäste kamen und saßen und applaudierten matt, so als hielte der Blick dessen, der fehlte, sie in Respekt; kaum war der letzte Vers vertönt, so drängte alles zur Abfahrt. Tagsüber wurde langsam schon das Schloß aufgeräumt. Im großen Saal trugen die Sessel ihre Überzüge. Vorhänge aus grünem Serge waren in der Bibliothek vor die Bücherreihen gezogen.

Hie und da des Nachts erschien Eisenreich auf der untern Galerie, hob einen Vorhang, zog mit kundigem Griff einen Band hervor und begab sich mit ihm zu Bette. Im übrigen hatte er viel zu verhandeln, er unterhielt telephonischen Verkehr mit Berlin und mit Wien, Regisseure und Verwaltungsleute reisten an und empfingen ihre Weisungen. Er hielt eine Vollmacht in Händen, ein Stück Papier, nächtlicherweise flüchtig beschrieben, unbezeugt. Niemand verlangte auch nur, es zu sehen. Am vorletzten Spieltag traf ein Bankier aus Frankfurt ein. Ihm wurde das Blatt gezeigt; er erklärte sich für befriedigt. Abends sah sich der Bankherr »Phädra« an. Es herrschte Gewitterschwüle, er langweilte sich, er schlief ein.

Als alles zu Ende war, blieb Eisenreich noch wenige Tage allein zurück auf dem Schloß. Er überwachte und bedachte genau jede Einzelheit. Eindringlich besprach er mit dem Hausverwalter, wie oft gelüftet werden sollte. An jedem beliebigen Morgen mußte der Zauberort frisch wieder aufspringen können zum Fest. Er bestimmte, wann die Hecken gestutzt werden sollten, die das Theater umfaßten. Er inspizierte auch eingehend das Winterquartier für die Kraniche. Bei einem letzten Rundgang sah er in einem Raum zu ebener Erde ein paar Blätter und kleine Äste am Boden liegen; das Gewitter kürzlich hatte sie hereingeweht. Ein Mädchen von der Dienerschaft kam mit einem Besen. Es war ein junges Ding, stämmig, mit einem gesunden, breiten Gesicht und kleinen Augen unter rötlichblondem Haar, Eisenreich sah ihr mit Wohlgefallen zu, wie sie mit ein paar festen, raschen Bewegungen alles hinausfegte.

Dann umwandelte er noch einmal den schönen Besitz und sah befriedigt überall die Läden geschlossen. Stille herrschte und neu beginnender Traum. Das von auswärts bestellte Automobil fuhr vor. Ein junger Mensch, hemdärmelig, in gestreifter Dienerweste, trug ihm aus dem Hause die ungeheure rindslederne Handtasche herunter, die sein einziges Gepäckstück war. Sie wurde neben ihn in den Wagen gestellt, und Eisenreich fuhr ab, die weite Schleife zur Rheinebene hinunter. Er sah sich nicht um.

*

In New Orleans, dem großen Südhafen der Union, tausend Meilen entfernt von New York, spielte seit diesem Jahr eine Negertruppe, eine unter mehreren, eine nach vielen. Ihr Theater lag nicht an der breiten Hauptstraße, die vom Kai weg schnurgerade quer durch die Stadt zieht und die ihre strahlenden Schau- und Kaufhäuser hat und sogar ihre Wolkenkratzer. Sie spielte in einem der alten Viertel, wo die französische und die spanische Vergangenheit der Siedlung sich in Gassenführung und Bauten noch ausdrückt, mitten unter einem südländischen Bevölkerungsgemisch aus romanischen und dunkleren Elementen.

Hunderttausend Neger leben in dieser Stadt. Sie sind gemieden und mißachtet, die Sklavenzeit ist im Gefühl der Weißen noch immer lebendig. Sie wohnen armselig. In den Vorstädten landeinwärts kann man ihre Bretterhäuser sehen, die im Schlamm auf Pfählen errichtet sind. Durch eine sumpfige Feuchte rollt dort der ungeheure Mississippi, der jene Brücke zerreißt, seine schweren, erdgelben Wasser dem Delta zu.

Anders als in New York, wo Negertheater Triumphe erleben, fällt es hier keinem Weißen ein, sich um die Tänze und Sänge und Spiele dieser Verachteten zu kümmern. So konnte es geschehen, daß diese neue Truppe schon Wochen hindurch ein Stück aufführte, das nach den hier herrschenden Begriffen bedenklich heißen mußte. Wie hätte man übrigens Ungehöriges vermuten sollen, da sogar ein weißer Direktor diese Truppe zusammengestellt hatte und führte. »Das Arsenal von Harpers Ferry« hieß ihr Stück, und es brachte jenen kühnen Handstreich des Farmers John Brown auf die Bühne, mit dem einst die Sklavenbefreiung in Amerika ihren Anfang nahm.

Sie hatten Erfolg. Wenn auf dem Höhepunkte der Aktion das von der Regierung ausgeschickte Militär in das Arsenal einrückte und den wunden Helden gefangennahm, erhob sich jedesmal im Parkett ein Stöhnen und Wehrufen, und die wolligen Häupter begannen zu wogen. John Brown hielt dann eine Rede an den weißen Kommandanten, wie er sie rührender gewiß nicht gehalten hat: er sprach von den heimatlichen Wäldern über der See, wo man die Brüder wie Tiere einfing, von den Transportschiffen, auf denen die Zusammengepferchten hundertweis starben, von der Peitsche des Aufsehers, den eingebrannten Viehmarken, der Feilhaltung am Markte, wo der Bequemlichkeit halber die schwarze Ware mit dem Ohr angenagelt am Pfosten stand.

Aber die mächtigste Wirkung kam mit dem letzten Auftritt. Da wurde John Brown von den Weißen hingerichtet. Sie hängten ihn nicht auf offener Szene, wie das Stück es eigentlich vorschrieb, der weiße Direktor hatte das anders bestimmt. Man sah nur die Bühne erfüllt von dunklem Volk, das, die nackten Rücken dem Beschauer zugewendet, verzweifelt nach draußen starrte. Ihre Klagen begleiteten den Tod ihres Helden. Es war eine lange, unglaubliche Szene. Mit Gemurr und Gemurmel begann es. Dann löste sich eine einzelne milde und süße Stimme los, und sie sang ein Lied von abgründlicher Melancholie, einen Sterbegesang aus Urzeittiefen. Aber Schreie kamen ringsum, Angstschreie, Wehschreie, sie nahmen überhand, sie deckten das Lied zu, nach ihrem Rhythmus entstand auf der Bühne Bewegung, ein zuckender ruckender Tanz auf der Stelle, schon war kaum unterscheidbar, ob dies noch gewaltiger Jammer war oder ein Volksfest, Ströme eines burlesken Humors schossen ein, in einem düstern und scharfen Takt schlugen Hände zusammen, ältliche Weiber in weißen Fetzen, halbnackt, standen plötzlich im Vordergrund, sie heulten aus weiter Kehle, sie schüttelten sich wie im Krampf, ihre Brüste flogen und klatschten, dann, wie auf einen Zauberschlag war alles still, und jene erste Stimme, die eines jungen Weibes, blieb allein wieder übrig: sie sang wie ein Engel, hoch aufsteigend, ein schwermütiges und tröstliches Lied von besserer Zukunft, von Erlösung und Heimat und Frieden.

Als dies Stück etwa dreißigmal gespielt worden war, mischte sich auf Grund irgendeiner Denunziation der Staat Louisiana ein. Eine Polizeiperson wohnte der Vorstellung bei, hielt am andern Tag der Behörde Vortrag, und es wurde beschlossen, den weißen Direktor zu vernehmen und ihm die Tilgung gewisser anstößiger Stellen aufzugeben. Aber man fand ihn nicht. Immer war er gerade fortgegangen, zweimal hatte er soeben das Quartier gewechselt. Aus den Schwarzen war nichts herauszubekommen. Und als man sich endlich zu einer Verfügung entschloß – man tat es ungern, es hieß einer Angelegenheit unter Farbigen, also einer Bagatelle, Gewicht beilegen –, da war die Truppe im Aufbruch. Sie begann eine Tournee. Man war sie los. Mochte sie glücklich werden.

Sie durchzogen die Südstaaten, das Land von Baumwolle, Zucker und Reis. Sie fuhren samt ihren simplen Kulissen in langsamen Zügen, eine wahrhaft bunte Gesellschaft, abgeschattet vom hellen Grau, durch das rosige Fleischtöne schimmern, bis zum rechten Höllenschwarz, schöne, gestreckte Männer mit den Gliedern des adligen Jägers und schwer tappende Kalibane von grotesker Seltsamkeit; watschelnde komische Mammies und jene Schlanke, Junge, Hellbraune mit der holdseligen Stimme. Sie reisten in Waggons, welche die Aufschrift trugen: »Nur für Farbige«. Dennoch war der weiße Direktor oft unter ihnen. Sie hingen an dem Kunstreichen, Schweigsamen, mit halb abergläubischer Achtung, der nicht ganz unähnlich, die sie vor zweihundert Jahren in ihren Wäldern dem Zauberpriester bezeugt hatten.

Lang waren die Fahrten. Sie sangen. Sie schliefen. Baumwollfelder ringsum, unendlich, bedeckt mit dem wattigen Schnee ihrer Frucht. Die farbigen Erntearbeiter standen in Reihen, ihre Säcke gleich langen Schürzen um den Leib gebunden. Wo der Zug eine Straße kreuzte, hielt immer ein Karren, mit Schnee angefüllt, ein Maultier davor, ein Schwarzer mit breitem Hut ließ seitlich seine nackten Füße herunterhängen. Auf den kleinen Bahnhöfen, wo sie oft lange zu warten hatten, lagerten Tausende von Baumwollballen, flachgepreßt, sieben auf sieben. Sie reisten durch Alabama, durch Tennessee, Georgia und South Carolina. Sie spielten in Memphis, in Birmingham, in Montgomery, steil überm Alabamafluß, in Atlanta, im schattigen Augusta, im schönen Columbia, in Charleston, am Ozean. Der Zulauf war groß. Es geschah das Ungewöhnliche, daß ein rassestolzes Publikum sich für die Darbietungen dieser Parias zu interessieren begann, nicht anders als in den unbefangenen Städten des Nordens. Immer zahlreicher mischten sich helle Zuschauer unter die nächtigen, in zwei Fällen verlangte die Polizei, daß die Trennung durchgeführt werde: auf der Galerie saßen die Neger, die Weißen unten.

Die Geschichte des Arsenals von Harpers Ferry hatten sie nicht häufig mehr dargestellt. Sie verursachte überall Schwierigkeiten. Das Stück, das jetzt gespielt wurde, hieß »Mr. Greeley«, es mutete an wie geschrieben zur Zeit von »Onkel Toms Hütte« und war wohl auch etwas dergleichen, bescheiden nur modernisiert. Mr. Greeley ist ein Pflanzer, der seine schwarzen Arbeiter und Diener schlecht behandelt und ihnen nicht einmal satt zu essen gibt. Mit schönen Gesängen, mit kunstvollen Tänzen, mit berückenden Pantomimen suchen sie sein erwerbsgieriges Herz zu erweichen, vergebens. Aber Mr. Greeley hat schließlich kein Glück. Die Behörde mischt sich ein, die Behörde des freien Amerika, die bekanntermaßen auch für die Schwarzen ein Herz hat, und zwar in Gestalt eines höchst weisen Richters, der sich nichts vormachen läßt und der den niedrigen Mr. Greeley wegen verschiedener Vergehen ins Gefängnis abführen läßt. Ein großes Sternenbanner wird über die ganze Bühne geschwenkt.

Nichts ließ sich einwenden gegen eine solche Gesinnung. Keine Behörde fand in der Wirklichkeit hier Anlaß, einzugreifen. Und mit ruhigem Behagen genossen die weißen Besucher auch den abschließenden Auftritt des Stückes, seinen eigentlich bedenklichen Clou.

Als nämlich Mr. Greeley abgeführt ist und die Schwarzen Herr sind in seinem prächtigen Hause, da treten sie nicht etwa zusammen und singen fromm einen Dankchoral. Sondern sie stillen zunächst einmal ihren Hunger. Sie tun, als hätten sie tatsächlich seit Monaten keinen Bissen im Munde gehabt, sie stürzen sich auf seine Vorratskammern, sie schleppen auf die Bühne, was an Eßbarem irgend sich findet, an Fisch und Fleisch, Gesottenem und Gebackenem, und vor allem an Süßem, an Süßem, und es beginnt eine Freßorgie aus dem afrikanischen Wald, ein Riesenschmaus, nach dem die Teilnehmer wie Säcke leblos liegen bleiben und mit gespannten Wänsten im bleiernen Schlafe rülpsen – ein toller, geiler und herrlicher Racheakt des Bauches.

Kein weißer Schauspieler war bis hierhin aufgetreten. Der Held John Brown in dem früheren Stück und auch Mr. Greeley und der edle Richter waren geschminkte Neger. In dieser letzten Szene aber, nur in ihr, spielte ein Weißer mit, ein etwas gebeugter Mann mit einer Hakennase, der den Haushofmeister oder Hausverwalter des sündigen Mr. Greeley darstellte. Er war, dem Stück nach, schon ein Greis, freundlich und sanft, und die triumphierenden Schwarzen wollten ihm im Grunde nichts Übles. Aber da er, ehrenhafterweise und obgleich er selbst nicht viel Gutes von ihm erfahren, noch immer für seinen Herrn eintrat und um sein Eigentum bangte, führten sie immerhin eine Pantomime der Verhöhnung mit ihm auf. Er blieb stumm dabei, er bat nur mit Händen und Blicken. Ein einziges Mal raffte er sich zu einer ohnmächtigen Gebärde der Drohung auf; er reckte sich empor, er machte sich groß, er wirkte auf einmal schlotterig hochgewachsen nach Art des Don Quixote, und schüttelte seine schwachen Greisenfäuste gegen die Räuber, wobei seine alten Augen traurig blickten. Ein Chor von Gelächter, kunstvoll abgestimmt, antwortete seiner Bemühung. Er sank zusammen, saß auf einem Stuhl in der Mitte des Hintergrunds und wendete den ausdrucksvollen Kopf gepeinigt weg, links hin, rechts hin, im Rhythmus des Vorgangs.

Denn einer nach dem andern trat oder tanzte nun heran gegen ihn und gab ihm seine Solonummer zum besten: jeder fraß ihm etwas vor, es war nicht anders zu nennen. Der schwenkte vor ihm eine Keule vom Reh und schien gierig an ihr zu schwelgen; der hielt ein ungeheures goldbraunes Brot, darin vergrub er den Schädel, so daß nur noch der Astrachan seines Wollhaares hervorschaute, und brummte mit tiefem Behagen aus der Wölbung; der nächste trat an, zwei mächtige Flaschen schwenkend, rot die eine, giftgrün die andere, und tänzelte schwankend, als habe er den Inhalt schon in sich. Und zu alledem wiegten sich alle im Takt und begannen den Step, trocken klappten die Sohlen, andeutend nur, sachte, höhnisch verhalten. Leise ward alles.

Da aber stand die Braune, Junge vor dem ängstlichen Alten, ganz in der Mitte, man sah ihren schimmernden Rücken. Die nackten, schmalen Füße wirbelten und hielten still und stepten dann wieder mit langsamem Behagen. Klingend schlug sie den Takt. Sie wandte sich seitwärts. Man sah, daß sie eine Kristallschüssel hielt und den Löffel. Das Gefäß enthielt nichts. Aber sie tauchte den Löffel tief ein und führte ihn zum Mund und schleckte und seufzte vor Wonne, und jeder schmeckte die süße Paste. Dann aber, heftig, laut klirrend, schlug sie aufs Glas, ließ alles fallen, stand mit der Front zum Parkett, reckte die Arme empor, hob sich auf die Zehen, und ein heller, holder, wollüstiger Ruf, ein Triumphschrei, entstieg ihrer Kehle, stark, hoch, jubelnd, zum Schwindeln. Man sah leibhaftig eine schwarze Lerche zum Himmel schießen.

So schloß das Spiel von Mr. Greeley. Sie gaben es oft, viele Monate lang, zuletzt im Hafen Savannah. In Savannah endete die Tournee. Hier ging eines Tages der weiße Direktor an Bord, mit unbekannter Bestimmung. Sie blieben zurück, mehr Geld in den Händen, als sie jemals besessen hatten. Sie beabsichtigten nicht, es zu sparen. In fünf Monaten, war ihnen versprochen, würde er hier wieder ans Land steigen.

Eine neue Kunstreise soll dann beginnen, in anderer Richtung diesmal, nach anderen Städten. Sie erzählen einander sogar, er sei eingeladen worden, mit ihnen in St. Louis zu spielen, der Millionenstadt mit lauter Weißen, in einem neuen, großen Theater.

Aber sie glauben doch nicht, daß er das wagen wird.


 << zurück