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Die Schwestern Severe lebten in beständiger unaufhörlicher Aufregung seit jenem grauenden Morgen, an dem ihr Pensionär in bewußtlosem Zustand in ihr Heim gebracht worden war. Der herbeigerufene Arzt hatte nach einer gewissenhaften Untersuchung die Wunde, welche dem Manne, den die Schwestern Severe nur unter dem Namen Boschetti kannten, beigebracht worden war, für lebensgefährlich erklärt, und tatsächlich rang seine zähe Natur nun schon seit Wochen mit den Schatten des Todes. Ganz natürlich fügte es sich, daß die beiden sonst so gewissenhaften Schwestern in der Sorge um den Schwerleidenden ihre übrigen Pensionäre einigermaßen vernachlässigten, und wenn man auch, vom rein menschlichen Standpunkt aus ins Auge gefaßt, dies entschuldigen mußte, so gab es doch einzelne der ständigen Bewohner der Pension Severe, welche sich zurückgesetzt fühlten und ihren Groll sogar so weit gehen ließen, dem armen Schwesternpaar zu kündigen, anstatt dessen humane Handlungsweise lobend anzuerkennen. Dann plötzlich aber, ohne daß eine greifbare Ursache dafür sich bemerkbar machte, geschah es doch wieder, daß sich so viele Gäste einfanden, daß schließlich nur mehr ein einziger Raum, und zwar jener, der neben dem Krankenzimmer gelegen war, freistand.
»Den müssen wir billig abgeben, da bleibt nichts anderes übrig,« erklärte Albina Severe, sich an ihre Schwester wendend. »Du weißt ja selbst am besten, daß der arme Boschetti ein sehr unruhiger Nachbar ist. Seine wilden Fieberphantasien, sein Stöhnen und Schreien wird sicherlich niemand als eine sehr angenehme Zugabe bezeichnen können. Man hört ja schließlich doch alles im Nebenraum. Wir müssen folglich froh sein, wenn sich überhaupt irgend eine Menschenseele findet, die denselben bezieht. Das siehst du wohl selbst ein!«
Sylvia nickte. Ja freilich, sah sie es ein, wenn auch nicht gern, denn die Liebe zum Geld war eine Eigenschaft, die sie in höherem Maße beherrschte, als dies eigentlich notwendig oder wünschenswert gewesen wäre. Wochen aber vergingen, ohne daß man sich in die Lage versetzt gesehen hätte, das Zimmer teuer oder billig zu vermieten. Eines schönen Tages aber meldete sich eine junge Dame, die in der Pension Severe Unterkunft suchte und der man notgedrungen, da nichts anderes frei war, das Gemach anbieten mußte, welches sich neben dem Krankenzimmer befand. Einen Augenblick lang hatten die Schwestern zwar allerlei Bedenken gehegt, denn die Dame war nicht nur sehr auffallend gekleidet, sondern man mußte selbst bei flüchtigem Blick erkennen, daß sie geschminkt sei, daß der Glanz ihrer Augen kein natürlicher, sondern durch irgend einen jener Kunstgriffe hervorgerufen war, die zwar anscheinend feurig wirken konnten, aber gar leicht einen Organismus zerstören. Zu allem Überfluß gestand die Dame auch noch, daß sie dem Theater angehöre. Und wenn auch die Schwestern Severe gern für kunstsinnig galten und ab und zu Schauspielhäuser besuchten, so hatten sie es bisher doch immer noch vermieden, Angehörigen einer Theatergesellschaft Obdach zu gewähren. Eine Zubuße für das Hauswesen, so gestand sich Fräulein Elvira, war schließlich nie zu verachten, und der Patient im Hause brachte ja manche Auslage mit sich, die freilich später vergütet werden würde, die aber momentan doch der Börse der Schwestern entnommen werden mußte. Und so kam es denn, daß, als Fräulein Anita Fiori zum zweitenmal in der Pension Severe erschien, da man ihr bei dem ersten Besuch gesagt, man müsse Bedenkzeit haben, um zu überlegen, ob die Abgabe eines Zimmers sich einteilen lasse, sie die Nachricht erhielt, es habe sich zwar ein Gemach für sie gefunden, doch wisse man nicht, ob sie damit einverstanden sein werde, da im Nebenraum ein Kranker liege.
»Wer ist es denn?« fragte Fräulein Fiori mit einer gewissen Hast.
»O, ein vornehmer, eleganter Herr, der Cavaliere Boschetti,« lautete die Entgegnung, welche den Zweck hatte, die Fremde zu beruhigen, und etwas zögernd fügte Elvira dann hinzu: »Er ist eben krank!«
»Was fehlt ihm denn, doch nichts Ansteckendes?«
»O nein, nein … er ist … ist … in einem Duell verwundet worden,« entgegnete Elvira mit einer Hast, der man anmerkte, wie unlieb ihr das Fragen sei.
Der Zustand Boschettis fing denn auch langsam an, sich zu bessern, seine wilden Fieberphantasien hatten ganz aufgehört, der Heilungsprozeß der Wunde nahm einen normalen Verlauf, und anstatt des schmerzlichen Stöhnens und des rastlosen Hin- und Herwerfens trat eine Apathie ein, die ihrerseits auch wieder anfing, den Arzt zu beunruhigen.
»Trachten Sie, sein Interesse für irgend etwas zu erwecken, bemühen Sie sich, ihn zu zerstreuen,« sagte der Arzt zu den beiden Schwestern, und diese, deren Ideengang und Bildungsgrad auf jener niederen Stufe stand, wie man ihn bei italienischen Frauen nur allzu häufig findet, wußten sich nicht recht zu helfen, wußten nicht, womit sie den vornehmen Herrn Cavaliere zerstreuen oder anregen konnten. Stadtklatsch, Theaterbegebenheiten, Medisance, das war der einzige Horizont, für den die beiden Damen ein gewisses Verständnis hatten, in dem sie sich zu Hause fühlten. Aber eine innere Stimme sagte ihnen, daß alles, was sie zu reden und zu erzählen wußten, nicht in den Rahmen dessen paßte, was Boschetti möglicherweise würde interessieren können. Gern wären sie bereit gewesen, seine Freunde aufzufordern, ihn zu besuchen, aber wer waren diese Freunde? Sie wußten es nicht, und erst jetzt fiel es ihnen auf, daß er eigentlich immer inmitten ihres Heims ein ganz in sich selbst abgeschlossenes Leben geführt hatte und sie von ihm eigentlich nichts oder so viel wie nichts wußten. Solange er wohl gewesen, ausgegangen war, zuweilen ein paar scherzende Worte mit ihnen gewechselt hatte, war es eigentlich ihnen nie in den Sinn gekommen, sich die Frage zu stellen, ob denn bei ihm auch wirklich immer alles in vollster Richtigkeit gewesen. Jetzt mit einem Male empfanden sie eine unerklärliche Angst und würden viel darum gegeben haben. Näheres über ihn, über seine Herkunft, über sein Tun und Lassen und über seine Freunde zu wissen. Er aber ging achtlos über diese oder jene neugierige Frage hinweg, mit der sie sich an ihn herandrängten. Er verstand nicht oder wollte nicht verstehen, was sie wissen wollten, und Tag um Tag verging, ohne daß es ihnen gelungen wäre, ihn aus der ihn belastenden Apathie aufzurütteln oder ihn zu bewegen, den Schwestern Severe menschlich näherzutreten, indem er ihnen über sich und über sein Leben und Treiben Rede und Antwort stand. Leichtlebige Italienerinnen, wie die Schwestern Severe nun einmal waren, begannen sie es gründlich langweilig zu finden, daß sie nun schon so lange die Rolle als Krankenwärterinnen spielten und es nicht absehbar schien, wann dies aufhören solle. Eine Zeitlang ließ man es sich ja gefallen, von Mitleid hingerissen, nur für den Patienten und sein Wohlergehen zu sorgen, auf die Dauer aber fanden sie solche Tätigkeit ermüdend und würden es nicht nur aus Menschlichkeit, sondern aus Selbstsucht gern gesehen haben, wenn der Cavaliere wieder wohl und frisch gewesen wäre wie früher.
»Wissen Sie was, Signorina,« bemerkte Elvira eines Tages, als sie, aus dem Krankenzimmer tretend, auf dem Korridor mit Anita Fiori zusammenkam, die eben das anstoßende Gemach verließ, um sich, wie sie erzählte, in die Probe zu begeben. »Wissen Sie was, Signora, wenn Sie heute nach Hause kommen, müssen Sie einmal unsern Patienten aufsuchen. Der Anblick Ihres frischen, jungen Gesichtes wird ihm nur gut tun, und wenn Ihr heiteres Wesen nicht wohltuend auf ihn wirkt, dann ist bei dem guten Manne wirklich Hopfen und Malz verloren. Der Arzt sagt ja immer, man müsse versuchen, ihn anzuregen, vielleicht gelingt es auf diese Art!«
»Warum nicht, Fräulein, gern!« entgegnete Anita, während ihr helles Lachen ihrem Kaprizengesichtchen einen eigenen Reiz verlieh. »Vielleicht entdecke ich noch das Talent zur Krankenwärterin in mir. Das wäre ja sehr gut; wenn alle Stricke reißen und ich auf der Bühne nichts mehr leisten kann, entpuppe ich mich vielleicht als ganz brauchbare graue Schwester. Ich entsinne mich, daß ich in den fernabliegenden Tagen meiner Kindheit meinen Vater, der oftmals an heftigen Kopfschmerzen litt, kalte Kompressen auflegte. Vielleicht war das schon eine Vorahnung kommender Pflegerinnentalente, die sich erst spät entwickeln sollten. Rufen Sie mich also nur, wenn Sie meiner benötigen!«
Noch im Laufe desselben Abends war es Elvira Severe, die, von Sylvia dazu veranlaßt, Fräulein Fiori bat, sie doch zu dem Kranken begleiten zu wollen, der von einer ganz merkwürdigen, bei ihm noch nie dagewesenen Unruhe befallen sei und plötzlich Interesse für Dinge an den Tag lege, die ihm bis nun höchst gleichgültig gewesen. So zum Beispiel habe er wissen wollen, mit wem Sylvia am Nachmittag vor der Tür seines Zimmers gesprochen, sie aber habe keinen Namen nennen wollen, ohne Fräulein Fiori vorher zu fragen, ob sie dies tun dürfe, denn man kennt sich in dieser Hinsicht bei den Damen vom Theater nie so ganz aus.
»Ich habe keine Ursache, Verstecken zu spielen,« entgegnete Anita gleichmütig, »und wenn Sie glauben, daß eine kleine Abwechslung Ihrem Patienten gut tut, so bin ich recht gern bereit, ihm diese zu verschaffen. Kommen Sie, lassen Sie uns gleich zu ihm gehen!«
Sie legte ihre mit zahllosen Ringen geschmückte Hand aus Elviras Arm und schritt mit dieser dem Krankenzimmer zu. Auf der Schwelle kam ihnen Sylvia einigermaßen erregt entgegen.
»Ich weiß nicht, was der Cavaliere heute hat, er bestürmt mich mit Fragen und will um jeden Preis Antwort auf Dinge haben, die ich ihm nicht zu sagen vermag. Ich soll Rede und Antwort stehen, ob eine Dame aus Triest hier angekommen, die nach einem gewissen Ettore Baldoni fragte. Ich mußte das verneinen, es scheint ihn aber nicht beruhigt zu haben und …«
Ein Schrei erscholl aus zwei Kehlen, gleichzeitig, und ehe Sylvia wußte, wie ihr geschah, hatte Anita Fiori sie zur Seite geschoben, stürzte sie auf das Lager des Kranken zu und sank erschüttert vor demselben auf die Knie, als sie sah, welche Verheerung die lange Krankheit in den Zügen des Mannes hervorgebracht, den sie vor Jahresfrist oder wenig länger noch in der Vollkraft der Jugend und Schönheit gekannt und – geliebt! Ja, es ließ sich nicht in Abrede stellen, vergessen war jetzt alles! Im Moment dachte sie nicht mehr daran, daß er, der hilflos und erschöpft vor ihr lag, ein Landesverräter sei, auf dessen Stirn das Brandmal der Schande glühte. Sie dachte auch nicht daran, daß er durch ein Verbrechen einen Schuldlosen ins Verderben gestürzt, entsann sich nicht einmal der Tatsache, daß er ihr die Treue gebrochen. All das war vergessen in dem überwältigenden Bewußtsein jener Liebe, die, das fühlte sie klar und deutlich, nur mit ihrem Leben enden würde. Wunderbare Wechselfälle des Frauenherzens, das selbst dann es nicht vermag, die Liebe zu verleugnen, wenn sogar die Achtung in Brüche ging.
Bange Minuten vergingen, Minuten, in denen sowohl der Kranke als auch sie, die an seinem Lager kniete, nach Fassung rangen, nach Worten suchten, ohne, daß diese auf ihre Lippen getreten wären. Ihre Blicke ruhen ineinander, und diese verrieten deutlich, was die Worte verschwiegen.
Die Schwestern Severe weilten zögernd auf der Schwelle und wußten nicht, wie die seltsame Szene, die sich da vor ihren Augen abspielte, zu deuten sei. Anita Fiori aber war die erste, die, nachdem die ersten Minuten grenzenloser Verblüffung dahingeschwunden, die Fassung wieder erlangte und, sich aufrichtend, zu den beiden Damen sprach:
»Ich habe in dem Herrn, der hier in Ihrem Hause Obdach und Pflege gefunden, einen Freund meiner Jugend wiedererkannt, den ich schon lange aus dem Gesicht verloren. Verzeihen Sie, wenn ich Sie bitte, mich zunächst mit ihm allein zu lassen. Wir haben Dinge zu besprechen, die nur uns berühren und bei denen nicht Fremde zu Zuhörern werden sollen. Sie kennen mich nicht,« fügte sie hinzu, ein gewisses banges Zögern an den Schwestern bemerkend, »aber wenn ich es auch begreiflich finde, daß Sie Bedenken hegen, eine Fremde mit Ihrem Schutzbefohlenen allein zu lassen, so kann ich doch Ihnen die heilige Versicherung geben, daß ihm durch mich kein Leid widerfahren wird, im Gegenteil, daß ich nur bestrebt bin, ihm zu helfen, eine schwere Last von ihm zu nehmen, die ihn bedrückt. Sie werden sehen, daß seine Genesung rascher vorwärts schreiten wird, wenn seinem Gemüt die Erleichterung zuteil geworden, nach der er begehren muß.«
»Das mag alles sein, liebes Fräulein,« entgegnete Elvira Severe ernsthaft, »trotzdem aber können wir die Verantwortung nicht auf uns nehmen, den Patienten einer Aufregung auszusetzen, ohne daß der Arzt uns die Beruhigung gewährt, daß ihm eine solche nicht Schaden bringen könne. Stehen Sie also jetzt von dem Begehr einer längeren Unterredung mit dem wiedergewonnenen Freunde ab, und lassen Sie uns zuerst den Arzt zu Rate ziehen.«
Anita war mit diesem Vorschlag nicht einverstanden, denn neben der in ihrem Herzen plötzlich wachgewordenen lebhaften Freude über die Wiedervereinigung mit dem einst Geliebten regte sich auch das heiße Verlangen in ihr, möglichst rasche Klärung in das Dunkel zu bringen, das Ettore umgab, und diese Klärung war nur dann möglich, wenn man ihn zu einem umfassenden Geständnis all der Vorfälle brachte, die vernichtend in ein andres Menschenleben und in das Glück einer anderen Familie eingegriffen hatte. Ihr Drängen, ihr Wunsch nach Aufklärung war so groß, daß sie sich von heftiger Ungeduld erfaßt fühlte, als sie bemerkte, daß der Kranke, in dessen Zügen sich in den ersten Augenblicken des Wiedersehens lebhafte Bewegung verraten hatte, nun ganz apathisch dalag und seine Finger, welche ihre Hand mit krankhaftem Druck umspannt hatten, dieselbe freigaben. Sie war eben im Begriff, sich mit stürmischen Fragen an ihn zu wenden, als ein erschreckter Ruf des einen Fräuleins Severe sie befremdend aufblicken ließ.
»Mein Gott! Sehen Sie denn nicht, daß der Ärmste die Besinnung verloren hat? Den Arzt! Nur schnell den Arzt, sonst stirbt er uns unter den Händen! Sylvia, geh doch und telephoniere, daß er sofort kommen möge!«
Der Kranke hatte tatsächlich das Bewußtsein verloren. Fahle Blässe bedeckte seine Züge, und Anitas Herz pochte angstvoll. Sollte sie ihn nun, da der Zufall ihn ihr ganz unerwartet in den Weg geführt, verlieren, noch bevor durch seine Aussage die Unschuld des armen Robert von Marfen erwiesen war? Schloß der Tod die Lippen Ettore Baldonis, so blieb jener andre arme Schuldlose sein Leben lang ein Geächteter, ein Verfemter! Anita gestand sich, daß alle Rachegedanken der Verlassenen, welche sie ursprünglich dazu veranlaßt hatten, sich zum Werkzeug irdischer Gerechtigkeit gebrauchen zu lassen, in dem Augenblick, in welchem sie den Geliebten wieder vor sich sah, in nichts versunken waren, und sie jetzt wirklich nur danach strebte, ihn zu einem Bekenntnis der Wahrheit zu bringen, durch das Marfens Unschuld klar und deutlich bewiesen werden sollte. Bange Augenblicke schlichen quälend dahin; man machte die verschiedensten Belebungsversuche, doch führten sie zu nichts, und mit ängstlicher Spannung erwartete man die Ankunft des Arztes.
Kopfschüttelnd stand er endlich am Lager des Cavaliere und fragte befremdet, was sich denn zugetragen und welche Umstände diesen offenbar sehr heftigen Rückfall verschuldet haben konnten.
»Die Wahrheit voran,« sprach endlich Anita, welche den verlegenen Gesichtern der beiden Schwestern Severe recht deutlich anmerkte, daß von ihnen keine Klärung der Situation zu erwarten sei. »Ihr Patient, Herr Doktor, ist ein alter Freund von mir, den ich aus dem Gesicht verloren, und zwar unter Umständen, die für ihn gerade keine vorteilhaften gewesen sind, die, in klaren Worten gesagt, ein schlechtes Licht auf ihn warfen. Das unerwartete Wiedersehen hat uns beide demzufolge sehr erschüttert, und,« fügte sie zögernd hinzu, »es ist unerläßlich, daß wir zu einer Verständigung kommen. Ich will nur wissen, ob diese bald erfolgen kann, ohne dem Kranken ernstlichen Schaden zu bringen, und ich bitte Sie daher, mir schlankweg, ohne jede Rücksichtnahme auf meine Person, die Wahrheit zu sagen, Herr Doktor!«
Die ernste Miene des Arztes wies, noch bevor er gesprochen, deutlich darauf hin, daß es nichts Erfreuliches sei, was er zu sagen haben werde, und zögernd fragte er:
»Stehen Sie in nahen verwandtschaftlichen Beziehungen zu dem Kranken?«
»Ich – ich war seine Braut, aber es sind Störungen eingetreten, die uns trennten. Ich weiß, daß man den Arzt wie einen Beichtvater betrachten kann, und ich nehme daher keinen Anstand, Ihnen zu sagen, daß es wichtige Lebensfragen sind, die auf dem Spiele stehen und es mir zur heiligen Pflicht machen, alles daranzusetzen, um den Kranken zur Beantwortung von Fragen zu veranlassen, von denen nicht so sehr mein Glück, sondern vielmehr das Wohl und Wehe andrer abhängig sein wird. Lassen Sie mich also die Wahrheit wissen, die reine, ungeschminkte Wahrheit, und nichts als diese!«
»Da Sie die Wahrheit zu hören wünschen, mein Fräulein, so dürfen Sie es mir nicht übel anrechnen, daß Ihnen meine Worte hart, ja vielleicht vernichtend erscheinen werden. Ich hatte von allem Anfang an nicht viel Hoffnung, das Leben des Patienten erhalten zu können, denn die Verletzung, der er zum Opfer fiel, war eine schwere, und sein Organismus besitzt überhaupt nicht viel Widerstandskraft. Nach dem Rückfall, unter dem er jetzt zusammenbrach, ist jede Hoffnung auf die Erhaltung seines Lebens geschwunden, und wenn er auch noch einmal das Bewußtsein erlangen sollte, was absolut nicht mit apodiktischer Sicherheit anzunehmen ist, so dürfte dies eben nur ein letztes Aufflackern seiner Kräfte sein, das nicht von langer Dauer ist!«
»Gott, mein Gott!« rief Anita Fiori sichtlich erschüttert, »ich flehe Sie an, Herr Doktor, tun Sie, was in Ihren Kräften steht, um ihn wenigstens für Stunden dem Leben und dem Bewußtsein wieder zuzuführen. Er soll, er kann, er darf nicht in das dunkle Schattenreich eingehen, ohne vorher Klarheit in eine Angelegenheit gebracht zu haben, Klarheit, die einem verfemten Menschenleben wieder zu Glück und Ansehen verhilft. Bei der heiligen Mutter Gottes flehe ich Sie an, zu tun, was in Menschenmacht liegt, um ihn wieder zum Bewußtsein zu bringen!«
»Seien Sie überzeugt, daß ich es redlich versuchen werde. Wir wollen jetzt eine Kampferinjektion vornehmen, durch die es uns vielleicht gelingt, die schwindenden Lebensgeister aufzufrischen!«
Dem unermüdlichen Eifer des Arztes gelang es denn schließlich auch, den Kranken nach einiger Zeit wieder zum Bewußtsein zu erwecken. Seine Blicke suchten Anita Fiori, aber es lag in diesen Blicken eine gewisse scheue Ängstlichkeit, denn sie dünkten ihr ein stummes Schuldbekenntnis, und sie empfand so viel Mitleid mit ihm, daß sie unter der Erkenntnis litt, sich mit diesem stummen Schuldbekenntnis doch nicht zufrieden geben zu können. Er mußte sprechen, er mußte klarlegen, was geschehen war, und sie, sie wollte schlecht und recht, so wie sie es eben konnte, sein Bekenntnis zu Papier bringen; er sollte es unterschreiben in Gegenwart von zwei Zeugen, und dann mochte es als Dokument dienen, durch das es gelingen mußte, die Unschuld des Hauptmanns von Marfen über jeden Zweifel erhaben ans Tageslicht zu bringen. Freilich war ihr das Bewußtsein unermeßlich schmerzlich, daß, selbst wenn Marfen und die Seinen großmütig verzeihen konnten und alles geschah, um Baldoni vor den Folgen seines Verbrechens zu schützen, er kaum mehr in die Lage kommen werde, diese Großmut dankbar anzuerkennen, weil nicht nur seine Tage, ja sogar seine Stunden gezählt waren. Trotz seiner durch die Krankheit bedingten Schwäche und Erschöpfung bäumte sich Ettore Baldoni doch noch dagegen auf, als er mit Anita allein war, nachdem sie alle andern aus dem Zimmer geschickt, zu tun, was sie von ihm forderte, nämlich ein umfassendes Bekenntnis der Umstände abzulegen, wie es ihm gelungen sei, in den Besitz jener Pläne zu gelangen, deren Verschwinden man dem Hauptmann von Marfen zur Last legte. Die geistigen Fähigkeiten Baldonis waren offenbar bei dem zurückgekehrten Bewußtsein nicht mehr erlahmt, und er legte sich über die Konsequenzen dessen, was ein Bekenntnis zur Folge haben konnte, genaue Rechenschaft ab, und schrak somit davor zurück. Erst als Anita ihm wiederholt beteuerte, sie stehe dafür ein, daß ihm nichts Unliebsames widerfahren werde, versprach er ihr endlich mit matter Stimme, alles bekennen zu wollen, worauf sie hastig ein Tischchen an sein Lager schob, alle nötigen Schreibutensilien herbeiholte, um mit pochendem Herzen zu Papier zu bringen, was er ihr zu sagen haben werde.
Unter die Türe des Nebenzimmers tretend, bat sie den Doktor, in dem Gemach ihrer harren zu wollen, da man seiner und einer zweiten Unterschrift bedürfen werde, durch welche die Unterschrift des Kranken auf einem Akt bestätigt werden mußte, welchen er selbst Anita diktierte. Sie fragte ihn, ob als zweite Unterschrift jene einer der Schwestern Severe als vollwertig angesehen werde, und auf seine zusagende Erklärung bat sie den Arzt mit Fräulein Severe zu warten, bis sie zu dem Kranken gerufen werden würden. Als sie sich dann dem Lager desselben wieder zuwandte, waren ihre Hände unwillkürlich wie zum Gebet gefaltet, denn sie begriff, daß sie vor einer ernsten Stunde der Entscheidung stehe, daß das Dokument, in dem die Unschuld Marfens, die sie keinen Augenblick bezweifelte, klar und deutlich erwiesen wurde, auch gleichzeitig den untrüglichen Beweis erbrachte, daß der Mann, den sie mit dem ganzen Feuer ihres südlichen Temperaments liebte, ein Landesverräter, ein Verbrecher sei, und sie es gewissermaßen als versöhnliche Lösung anerkennen mußte, daß in der Stunde, in der ihr diese niederschmetternde Klarheit geworden, ihr auch durch den Ausspruch des Arztes die Erkenntnis kam, daß er ein Todgeweihter sei.