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Im Schwarzatal

Mein Schicksal auf dieser Reise bleibt immer dasselbe; ich komme stets an einen andern Ort, als ich geplant habe. Weil ich von Wittenberg nach Oberhof wollte, saß ich eine Woche in Erfurt fest und bin nun ebensolang in Schwarzburg. Natürlich schüttle ich darüber selbst den Kopf, lasse ihn aber nicht hängen. Denn das müßte schon ein arger Ort sein, der mir in meiner Reiselaune nicht für einige Tage als der schönste der Welt erschiene. Jetzt ist mir Schwarzburg dieser schönste Ort.

Grundlos habe ich übrigens nicht auf Oberhof verzichtet. Zwei Tage vor meiner Abreise aus Erfurt war ich Zeuge der Verzweiflung zweier Menschenseelen, denen sämtliche Oberhofer Gastwirte auf ihre telegraphische Anfrage geantwortet hatten: »Alles besetzt.« Es waren Mutter und Tochter, die eine so fett und die andere so mager, als stammten sie aus Pharaos Traum; übrigens war die Tochter schon lange ein junges Mädchen. Ein sehr verheirateter Mann in meinen Jahren erwirbt sich leicht das Vertrauen alter Damen; so hatte mir die Mutter gestanden, daß sie um der Tochter willen nach Oberhof wolle, weil sie gehört habe, daß sich dort »leicht etwas knüpfe«. Ich begriff ihre Verzweiflung über die Absage und riet ihr dann, nach Friedrichroda zu gehen, denn, dachte ich, in diesem Falle kann sich nur noch durch ein Wunder Gottes etwas knüpfen, und will er dies, so kann er's in Friedrichroda ebenso machen wie in Oberhof. Sie folgte diesem Rate; nun aber machte ich mich ans Telegraphieren. Zwei Antworten lauteten ablehnend, die dritte aber: »Provisorisches Zimmer reserviert.« Das war ein mir neuer Terminus, ich wollt es versuchen und nahm meine Karte nach Oberhof.

Sicherlich wäre ich auch hingelangt, wenn die Sonne geschienen hätte. Ist's draußen hübsch, so guckt man eben zum Fenster hinaus und denkt nicht nach. Aber nun begann es zu regnen, kaum daß der Zug bei Neudietendorf in die Berge lenkte. Da kam mir der Gedanke, daß der Begriff des provisorischen Zimmers doch eigentlich auch ohne Erfahrung zu ergründen sei: ein Zimmer, in dem man keinem Menschen zumuten kann, länger als eine Nacht zu bleiben – und ich blätterte im Baedeker nach einer anderen Sommerfrische. Dabei fiel mir Schwarzburg in die Augen: »Weißer Hirsch, mit prächtiger Aussicht auf Wald und Wiese, wo allabendlich ein 70 bis 80 Stück zählendes Rudel von Hirschen zur Tränke im Schwarzabach erscheint« – und ich griff nach dem Kursbuch; in Arnstadt mußte ich aussteigen. Aber halt – wenn es da nicht einmal ein »provisorisches« Zimmer gab? Ich sah mir meine Fahrtgenossen an; mir gegenüber saß ein altes, rundliches Ehepaar aus Berlin, das immerzu lachte; das sah mir wohlgenährt und spießbürgerlich genug aus, in Thüringer Sommerfrischen genau Bescheid zu wissen. Aber sie wußten's nicht; »wir gehen ja zu Fuß nach Kissingen!« sagten sie und lachten hell auf. Ein Witz also, aber was steckte dahinter? »Zu Fuß nach Kissingen«, wiederholten sie, und erst, nachdem sie sich Tränen über die Backen gelacht hatten, kam die Aufklärung: sie hatten bei einem Herrn Fuß in Kissingen Zimmer gemietet. In einer Ecke saß ein düster dreinschauender Herr mit einer Aktenmappe; er lachte nicht, sagte aber herablassend: »Dieses ist ein guter Witz!« und fragte auch, was ich zu wissen wünschte. »Der ›Weiße Hirsch‹ ist nicht voll!« versicherte er dann. Woher er dies wisse? »Dieses weiß jedermann.« Diese Bestimmtheit des Ausdrucks und die ungemeine Würde fiel mir auf; das war kein Richter oder Rechtsanwalt, sondern vielleicht sogar ein Gerichtsvollzieher. Und dem war auch so.

In Begleitung des düstern Würdenträgers, der nach Stadtilm wollte, kletterte ich im Arnstädter Bahnhof einige Treppen auf und nieder, bis das Perronchen erreicht war, von dem das Züglein ins Schwarzatal abgeht: alles klein und niedlich. Der Himmel begann sich aufzuklären, der Blick ins Geratal, das die Bahn auf einem Viadukt überschreitet, war hübsch, aber mich lockte die Gelegenheit, Näheres über die Weltanschauung eines Gerichtsvollziehers zu erfahren. Es kam jedoch nicht viel dabei heraus. »Einige zahlen«, sagte er gewichtig, »aber die meisten muß man pfänden.« Da er in Arnstadt geboren war, so fragte ich ihn, ob er die Marlitt persönlich gekannt habe. »Marlitt?« fragte er langgedehnt. »War das eine Geschäftsfrau?« Das konnte ich mit gutem Gewissen bejahen, ließ dann aber auch dies Thema fallen.

In Stadtilm bekam ich einen weit netteren Reisekumpan. Gleich wie er einstieg, gefiel mir der angegraute Herr mit dem freundlichen Ausdruck und den klaren, wohlwollend und doch forschend blickenden Augen ausnehmend gut. Kein Wunder, er erinnerte mich an den mir teuersten Menschen, meinen Vater, nicht im Schnitt der Züge, aber in ihrem Ausdruck und diesem Blick der Augen. Das muß ein Arzt sein, dachte ich, ein Landarzt, wie mein Vater war, und sprach ihn kurzweg »Herr Doktor« an. Da er zudem meinen Namen kannte, so gab das bis Oberrottenbach, wohin er zu einer jungen Mutter fuhr, eine vergnügte Plauderei zwischen zwei alten Knaben, denen das Leben die Freude an Welt und Menschen nicht hat vergällen können. Auf jeden Fels und Baum am Wege, der ihm gefiel, machte er mich aufmerksam und erzählte von den Gräberfunden am Singer Berg, als die Bahn gebaut wurde: Trinkgefäße und Frauentand; »die Männlein und Weiblein waren nicht viel anders als heute«. Dann fragte er mich nach meinem Ziel und als ich's nannte, beruhigte er mich zunächst mit derselben Bestimmtheit wie der Herr Gerichtsvollzieher, daß es im »Weißen Hirsch« ganz gewiß Platz gebe, und fragte dann tiefernst, ob im deutschen Volke plötzlich die Bücherkaufwut ausgebrochen sei. Als ich erwiderte, daß derzeit noch keinerlei Anzeichen einer so bedenklichen Wandlung des Volkscharakters vorlägen, riet er mir, anderswohin zu gehen, und nannte gleich ein paar Orte, die freilich nicht an der Bahn lagen. »Da sitzen Sie mitten im Volk«, meinte er, »der ›Weiße Hirsch‹ taugt besser für holländische Königinnen und dito Bankiers.« Zum Schluß erzählte er von der jungen, reichen Bauersfrau, zu der er fahre. »Sie hat ja alles getan, sich und das Kind gesund zu erhalten. Eine Schwangere darf kein Wasser schöpfen, über kein Beet steigen, keine schadhafte Tanne ansehen, weil sonst das Kind eine Hasenscharte bekommt, keine Leiche ansehen, weil es sonst blaß bleibt; das hat die Hanne vermieden. Auch hat sie bis heute allnächtlich Licht gebrannt, weil die Kobolde ihr sonst einen Wechselbalg untergeschoben hätten; und weil der Rottenbach nah ihrem Haus vorbeifließt, so hat sie sich hingeschleppt, sobald sie konnte, hat ein Pfennig-, ein Fünfpfennig- und ein Zehnpfennigstück hineingeworfen und dazu gesagt: ›Da hast du das Deine, laß mir das Meine‹, das stimmt nämlich den bösen Wassermann sanft. Auch ist das Kind am Donnerstag zur Welt gekommen, nicht etwa am Freitag, sonst hätte es kein Glück, auch nicht am Sonnabend, sonst müßte es von den Juden Geld leihen; wäre es gar am Dreifaltigkeitstag geboren, so müßte es am Galgen sterben. Selbstverständlich hat sie auch den Säugling nie in den Keller tragen lassen, sonst käme er ins Zuchthaus, sich ihn nie durchs Fenster reichen lassen, sonst bliebe er klein, und damit er einst fein singe, hat er ein Lerchenei verschlucken müssen. Bei solcher Fürsorge für sich und das Kind begreift sie gar nicht, warum sie seit acht Tagen so elend ist und auch ihre Milch nichts taugt. Und da unbegreiflicherweise das Besprechen, eine Latwerge und sogar ein Aderlaß nichts genützt hat, so hat sie mich vorgestern endlich holen lassen. Diagnose: gründlich verdorbener Magen infolge unmenschlichen Überfressens bei der Taufe. Natürlich glaubt sie mir nicht, hat aber hoffentlich meine Medizin genommen; gewiß weiß man das nie.« – »Es ist noch viel Aberglauben hier?« – »Wo nicht im Volke? Aber daneben viel Liebe und Hunger, viel Poesie, Sagen und Lieder, daß die Berge widerhallen. ›Thuringia cantat!‹ Und darum: ins Volk, lieber Herr!« Das wiederholte er, als wir auf dem Bahnsteig in Oberrottenbach schieden. Denn unser Züglein dampfte nun nach Blankenburg weiter, ich aber bestieg ein anderes, noch zierlicheres, das hier ins Schwarzatal abzweigt.

Ich war nun allein im Coupé, und während mein Blick (die Wolken ballten sich wieder, aber noch schien die Sonne) über das Bergland hinschweifte, in das wir sachte emporklommen, über die triefenden Tannen des Buchbergs zur Rechten des Kesselbergs zur Linken, über die grauen raschen Wellen der Rinne und die Hütten von Köditz, da erwog ich in meinem Gemüte, wohin es mich mehr ziehe, in ein Luxushotel im Tal oder in einen alten, behaglichen Gasthof oben, wo ich »ins Volk« konnte, und war damit in einer Sekunde fertig. Bis Sitzendorf also wollte ich im Zuge bleiben und dann in einem Wägelchen nach Oberweißbach fahren. Aber da öffnete, als das Lokomotivchen immer langsamer, immer schwerer keuchend nicht mehr talaufwärts, sondern durch tiefe Einschnitte gegen Bechstein emporklomm, zur Wasserscheide zwischen Rinne und Schwarza, der Himmel alle Schleusen, daß ich vor lauter Plätschern, Prasseln und Gurgeln der Wasser kaum noch hören konnte, was die Waggonräder sagten. So ein Bergbahnchen hat keinen Sturmtakt wie ein Schnellzug im Flachland; das geht ganz behaglich: — U/ — U/ — U/ — U/ — »Langsam, langsam, ich hab Zeit.« Aber was riet mir dies Orakel nun? Ich schwankte. Bald hörte ich ganz deutlich »Königinnen, Banker – nein!« und dann wieder: »Nässe, Nässe, geh doch hin!« Und als bei der Einfahrt in den Schwarzburger Bahnhof der Regen wie eine Wand vor dem Coupéfenster stand, flüchtete ich unter aufgespanntem Schirm auf den Bahnsteig.

Er war ganz menschenleer; nur der junge Stationschef mit roter Mütze, dem man sofort den ehemaligen Offizier ansah, ging händereibend auf und nieder, denn für einen Augusttag war's recht empfindlich kühl. Das Züglein glitt weiter, der Beamte wollte in seinem Büro verschwinden, da fragte ich ihn, ob es hier keine Omnibusse gebe. »Freilich«, erwiderte er, »aber wo stecken die Kerrels? Die sind in diesem sojenannten Sommer Jäste jar nich mehr jewohnt! ... He, Wirtschaft!« Und darauf erschienen wie auf einen Zauberruf zwei Kutscher in triefenden Mänteln, der eine lang und dünn, der andere kurz und dick, und erhoben bei meinem Anblick ein betäubendes Gebrülle. »Thüringer Hof!« schrie der Dicke, »Weißer Hirsch!« der Dünne. Dem übergab ich meinen Koffer und fragte, ob ein Zimmer mit der Aussicht auf die Hirschwiese frei sei. Er bejahte, und die Konkurrenz bestätigte liebenswürdig: »Fünfzig solche Zimmer können Sie dort haben, aber Hirsche – hehe!« Es war ein wahrhaft diabolisches Lachen, das aber der »Weiße Hirsch« durch eine vernichtende Äußerung über die Kost des »Thüringer Hofs« in ein Wutgeheul verwandelte, worauf wir als Sieger abfuhren.

Es ist ein langer Weg, denn der Bahnhof liegt hoch oben auf einer Berghalde, das Hotel aber auf dem Schloßberg, und so führt die Straße in Windungen hinunter und dann wieder empor. Da rechts und links nichts zu sehen war als die nassen Schutzdecken des Omnibus, so knüpfte ich ein Gespräch mit dem Kutscher an. Ob die Saison gut sei? Sehr gut, versicherte er, obwohl diesmal die Stammgäste fast ganz fehlten, »denn die Leipz'ger haben noch mit deme Krach z'schaffen und die Holländer tun alles Geld dene Buren geben. Aber wir sind ja 's feinste Haus in Thüringen, da darf's nimmer voll sein. Ja, wenn wir jeden nehmen täten wie der ›Thüringer Hof‹ – die nehmen sogar Engländer!« – »Ihr nicht?« – »Wenn sie kommen täten«, erwiderte er stolz, »würden wir sie abweisen tun, aber der ›Weiße Hirsch‹ is für die Buren, das weiß die ganze Welt, seit die Königin Wilhelmina hier war, und da fragen sie nich erst an!« Dann erzählte er von dem Aufenthalt der jungen Fürstin; die Wahrheit zu sagen, hatte ihm nicht so sehr ihr Trinkgeld als ihr Wuchs imponiert: »Rundere Mädelchen gibt's nich mal in Rudolstadt!« Ich fragte, warum der »Thüringer Hof« die Hirsche angezweifelt habe, sie stünden sogar im Baedeker. Er zuckte die Achseln. »So 'n Volk! Dem ist nichts heilig, auch der Bädéker (Paroxytonon) nich.« Aber während er so loslegte, verstummte er plötzlich, hielt die Pferde an und zog den Hut: uns überholte eben ein reitendes Paar, der Fürst und die Fürstin von Schwarzburg-Rudolstadt. Da sie auf Schloß Schwarzburg hausen, so bin ich ihnen seither fast täglich begegnet; er ein stattlicher, freundlicher Herr, immer in derselben Uniform, sie eine schlanke Dame, immer im selben Reitkleid. Man kann sich ein schlichteres Auftreten kaum denken.

Kurz, nachdem ich den Herrscher des Ländchens zuerst gesehen, wurde ich von dem Gebieter des »Weißen Hirsch« in seinem Audienzsaal, dem Vestibül des Gasthofs, empfangen. Ich bat um ein Zimmer mit Aussicht; »Sie bekommen eines nach vorn heraus«, lautete die Entschließung. Als ich nun dies Zimmer in Begleitung eines Adjutanten des Gebieters betrat, konnte ich mich überzeugen, daß es wirklich eine Aussicht hatte: trunken schweifte mein Blick über den Biergarten des »Thüringer Hof«; das Postgebäude im Hintergrunde war auch recht malerisch. Ich wandelte den Korridor auf und nieder; dabei konnte ich, da die Zimmertüren offen standen, eine Reihe hübsch möblierter Zimmer sehen, aus deren Fenstern sich ein prächtiges Waldbild bot. »Die Zimmer sind wohl alle besetzt?« fragte ich eine würdige Greisin, die eben mit Staubtuch und Besen herankam, worauf diese Seniorin aller mitteleuropäischen Stubenmädchen seufzend erwiderte: »I du meine Güte – merschtentels nich! Sie müssen nor natürlich feste druf drücken, denn sie geben doch natierlich lieber zuerscht nor die Stuben nach vorn naus wech!« Da suchte ich nochmals um eine Audienz nach, drückte aber nicht feste, sondern erklärte nur: »Wenn ich das Postgebäude allein bewundern darf, so will ich's doch wenigstens in seinem ganzen Reiz genießen; ich glaube, vom ›Thüringer Hof‹ macht es sich noch malerischer«, worauf ich ein Zimmer nach hinten hinaus bekam, etwas hoch zwar, aber ein schönes Zimmer mit Balkon und herrlicher Aussicht auf Wald und Wiese.

Diese Aussicht hat mich die acht Tage hier festgehalten, wenn ich minder angenehmer Dinge wegen gehen wollte, und ich werde sie nie vergessen, aber das Bild zu beschreiben wird mir schwerlich glücken, obwohl ich es ja nun noch vor mir sehe. Ich sitze hier wie im Mittelpunkt eines riesigen Halbrunds, vor mir eine weite, smaragden schimmernde Wiese, die sich in sanfter Neigung zu einem blaugrünen, rauschend und blinkend über Geröll und Felsen hinschäumenden Flüßchen hinabsenkt; rings um die Wiese aber Wald und Wald und Wald, immer höher emporsteigend, immer ferner und blauer dem Auge, bis dies Blau der hohen Forste mit dem des Himmels verschmilzt; mit unbewaffnetem Auge kann ich ihre Grenzlinie kaum erkennen. Das ist alles; nur im Vordergrund zur Linken erhebt sich auf einem Felsvorsprung ein mächtiges, graues Mauerwerk, das Schloß. Also ein eintöniges Bild, wird man denken. Eintönig? – ich habe in diesen Tagen oft die Empfindung gehabt, als hätte ich noch keine belebtere Landschaft gesehen, keine an Farben und Formen reichere. Schon wie sich die Hügel hintereinander aufbauen, dieser sanft und jener schroff, dieser breit und jener schlank, höher und höher, alle wie Stufen einer Riesentreppe aufwachsend bis in den Himmel hinein und so dem Blick zu einer Einheit gebunden und doch keiner dem andern gleich oder ähnlich, schon dies kann wahrlich das Auge beschäftigen und ergötzen. Auch die Bäume sehen selbst aus dieser Entfernung verschieden genug aus: die Tannen hoch, spitz und schlank, die Kronen der jungen stolz nach oben strebend wie eine Flamme, die der alten abgeplattet und verwachsen, als trügen sie ein Nest; die borkigen Föhren, dort, wo sie dicht zusammenstehen, mit dünner, wo sie unter Laubholz stehen, mit weit ausgreifender, kuppelförmiger Krone, als wäre ihnen auferlegt, unter ihresgleichen nicht recht gedeihen zu können, und – ich nenne nur eben die häufigsten Baumarten, aus denen diese ungeheuren Forste bestehen – die Buchen mit dem platten, starken Stamm und dem Gewirr länglicher Blätter. Aber nun erst die Farben: wie hebt sich das satte, leuchtende Grün des Wiesengrases von dem ernsten, fast schwärzlichen Farbenton der Tannen ab; dazwischen stehen die grauen Föhren mit braunrotem Stamm und die lieben Buchen mit den rötlich-weißen Ästen und den hellen glänzenden Blättern. Es ist wahr, das tiefere Grün herrscht immer vor und gibt dem Bilde etwas Ernstes und Erquickliches zugleich; aber selbst bei bedecktem Himmel ist's zwar kein buntes, aber ein farbiges Bild, und nun erst, wenn die Sonne alles Rot und Weiß aufleuchten und das Grün in hundert verschiedenen Farbtönen schimmern läßt. So lebendig wie das Meer ist der Wald nie, schon weil sich das Licht im Gezweig nicht so märchenhaft verschieden brechen kann wie in den Wassern, aber das Auge, dem er tot und einförmig erscheint, ist auch für alle andere Schönheit dieser Erde stumpf. Der Wald lebt und spricht mit tausend Stimmen. Zwar das Zwitschern seiner Vögel kann man hier zumeist nicht vernehmen, es ist zu weit; nur zuweilen trägt mir ein jäher Windstoß etwas von dem feinen Konzert zu, das fortwährt vom Morgengrauen bis gegen Mitternacht. Aber der helle Ruf des Falken wird oft hörbar, noch öfter läßt sich der Kuckuck vernehmen, und nicht selten hört man schon jetzt das seltsame, aufregende, dem Stiergebrüll ähnliche, aber stürmischere »Orgeln« des Hirsches. Zuweilen auch fällt ein Schuß, hoffentlich auf Wild, vielleicht auch auf einen Menschen; es wird hier viel gewildert. Nie aber erstirbt ein zwiefaches Rauschen, das hellere des Bachs, das dumpfere des Laubs und der Nadeln. Es ist, als wüchse ihnen mit dem schwindenden Licht die Kraft des Tons; in der dunklen Nacht klingt es gewaltiger, sanfter im Mondschein. Wir haben jetzt Vollmond; wie so das silberne Licht die Dünste des Abends niederkämpft und dann sein Netz über die dunklen, leise rauschenden Forste spannt, ist märchenhaft anzusehen ...

Ja, es war der Mühe wert, daß ich mir die Aussicht auf die Hirschwiese erkämpft habe, obwohl man da nie einen einzigen Hirsch sehen kann. Am ersten Tage – dem regnerischen Wetter war ein herrlicher Abend gefolgt – stand ich mit sinkender Sonne auf meinem Balkon und spähte erwartungsvoll hinab. Ich habe einst, in meiner frühen Jugend, im wald- und wildreichen Vorgebirg der Karpaten das schöne Bild oft genug gesehen; wie gegen Abend aus dem Dunkel des Waldes zuerst das starke Leittier mit gestrecktem bärtigem Hals und spähenden klugen Augen hervortritt, dann sein kleineres Weibchen und endlich das ganze Rudel der edlen Tiere mit breiter Brust, schlanken Beinen und feinem Kopf, zu äsen und zwischendurch aus dem Bach zu trinken. Und diesmal sollten's gar 70 oder 80 sein! Aber die Zeit verstrich, die Sonne ging rotglühend hinter dem Lieberholz nieder, und sie kamen nicht. Ich ging zum Abendessen ins Restaurant und fragte den Kellner, warum denn heute die Hirsche ausgeblieben wären. »Unmöglich«, sagte er kaltblütig, »Sie werden's übersehen haben!« Am nächsten Tage erwiderte er auf die gleiche Frage: »So? Ja, man hört jetzt oft darüber klagen, die Hirsche sind in letzter Zeit nicht pünktlich.« Kein Wunder, dachte ich, das machen sie ihren Nachbarn, den Kellnern, nach. Am dritten Tage aber begann ich zu ahnen, daß das diabolische Lachen des »Thüringer Hofs« trotz Baedeker seine Berechtigung gehabt, und so war es auch. »Es ist eine Entrikuhe unserer Feinde«, gestand mir derselbe Jüngling. Es ist aber, obwohl der »Weiße Hirsch« dadurch ein hübsches Schaustück verloren hat, doch keine Intrige seiner Feinde, sondern eine sehr berechtigte Maßregel des fürstlichen Oberforstamts, wenn es den Tieren den Weg zu dieser Wiese verrammelt und zu einer anderen ganz abgelegenen geöffnet hat. Die edlen Tiere wurden hier von bösen Buben wiederholt durch Geschrei und Steinwürfe behelligt. Wer die Missetäter waren, ob, wie die einen sagen, alte holländische, oder, wie die andern meinen, junge thüringische Buben, weiß ich nicht.

Trotzdem habe ich in den acht Tagen wohl ein Dutzend Hirsche gesehen, weil ich den Wald nicht bloß von meinem Fenster aus genoß. Aber auch das Nächste und Nahe habe ich mir genau angeguckt, worüber freilich nicht viel zu sagen ist.

Das Schloß abgerechnet, das für sich eine ganze Siedelung mit allem Zubehör ist, besteht der Ort aus zwei Teilen, dem Hotelviertel auf dem Schloßberg, dem Dorf Talschwarzburg an seinem Abhang und im Flußtal. Das Hotelviertel besteht aus fünf stattlichen Häusern, von denen dem Gebieter des »Weißen Hirsch« drei zugehören, lebt schlecht und recht oder vielmehr, da Friedrichroda und Oberhof zu seinen Ungunsten emporgekommen sind, mehr schlecht als recht vom Taler des Fremden und wird im Durchschnitt nicht besser noch schlechter verwaltet als das Thüringer Gasthofwesen überhaupt. Die herrliche Waldlandschaft, die günstige Lage im Herzen Deutschlands sorgt für Zuspruch; der Mensch tut nicht viel dazu. Gründliche Wandlung könnte nur ein Gesetz bewirken: »Jeder Thüringer Wirtssohn muß, eh er das väterliche Geschäft übernimmt, ein Jahr im Schwarzwald, zwei am Rhein und drei in der Schweiz Kellner sein und bei Übernahme des Geschäfts seine Eltern ins Ausgedinge setzen. Dreinzureden haben sie nichts, namentlich nicht bezüglich der Betten, der Küche und der Notwendigkeit des Staubwedels.« Wer in Thüringer Gasthöfen Bescheid weiß, wird diesen Gesetzentwurf nicht allzu drakonisch finden, auch hier nicht die Stimme eines Feindes, sondern die eines Freundes des schönen Landes heraushören.

Das Dorf Schwarzburg gleicht hundert anderen in Thüringen, höchstens daß es der vielen neuen, für die Sommergäste in städtischem Stil aufgeführten Häuser wegen noch etwas unhistorischer, man möchte sagen künstlicher aussieht als viele seinesgleichen; selbst die Kirche ist ein Neubau und nur die Barockkanzel von 1712. Und doch ist es eine uralte Wohnstätte; zwar erst 1072 in Urkunden genannt (»Swartzinburc«), aber zweifellos noch Jahrhunderte älter. Gleichwohl trügt der erste Eindruck nicht; es ist ein Ort, der gleichsam nie um seiner selbst willen bestand, und solche Orte haben keine charakteristische Prägung, weil sie keine eigene Geschichte haben. Lange war »Swarsburg villa« nur um des »castrum Swarsburg« willen da, der Wohnsitz der Dienstleute, Tagelöhner und Handwerker, die im Schloß nötig waren, und jetzt ist's daneben auch gleichsam die Arbeitsstube des Hotelviertels: hier wird für die Fremden gebacken, geschlachtet, die Wäsche gewaschen. Daneben ist's eine bescheidene Konkurrenz dieses Viertels: an jedem Haus ein Aushang: »Möblierte Zimmer mit Frühstück« und fast an jedem das Schild eines Handwerkers. In einem der Häuser am Bergabhang zu hausen mag nicht übel sein; der Blick auf dies Tal ist zwar nicht mit der Waldaussicht zu vergleichen, aber doch hübsch; auch ist die Luft rein. Warum aber die Leute, die unten im schwülen Tal bei Schuster und Gerber, Tischler und Fleischer ihre Sommerfrische halten, nicht lieber – es sind viele Berliner – in ihren Wohnungen bleiben, verstehe ich nicht; denn wenn sie etwa in Berlin C hausen, so haben sie im August auch dort ähnliche Düfte. Übrigens sieht man auch in Talschwarzburg viele elegante Toiletten und hübsche Gesichter; gestern, als ich auf einem Bänkchen am Schwarzaufer saß, sah ich sogar ein traumhaft schönes. Es war ein herrlich erblühtes blondes Mädchen mit einem Antlitz, in dem jede Linie »Reiz und Geist und Leben« war; sie saß auf dem nächsten Bänkchen neben ihrer Mutter und sah träumend in die Wellen; ihr Antlitz hatte dabei einen Ausdruck so heißer Sehnsucht, daß er mich ergriff und rührte. Was das arme schöne Kind so bewegen mag, dachte ich. Da rührten sich die Lippen, und sie flüsterte: »Mama, gelbe Schuhe muß ich haben!«

Das interessanteste Bauwerk Schwarzburgs ist natürlich das Schloß. Es ist an sich nicht schön, aber es hat eine herrliche, unter allen Fürstensitzen Deutschlands vielleicht die herrlichste Lage, und vor allem: es hat Charakter. Etwas nüchtern, aber gediegen und heiter, nach Zweck und Emblemen ein riesiges Jagdschloß, paßt es zu dem gesunden, frohgemuten, nie hervorragenden, aber im Durchschnitt pflichttreuen Geschlecht der Wald- und Jagdgrafen, deren Wohnstätte es seit grauen Tagen ist, der einstigen Erbjägermeister Deutschlands. Mit den Schwarzburgern verglichen sind, was ihren Stammbaum betrifft, die meisten deutschen Fürstenhäuser Emporkömmlinge; zwar ihr Ahnherr Günther, der von Bonifacius getaufte heidnische Thüringer, ist in Wahrheit nicht von trotzigen Heiden, sondern von devoten Christen erzeugt worden, von Hofgenealogen des 16. Jahrhunderts, aber wenn nicht schon vor 1300, so saßen doch die Schwarzburger sicherlich bereits vor 1000 Jahren auf dieser Burg und waren die Beherrscher dieser Jagdgründe, anfangs als Dynasten, dann als Reichsgrafen. Ihre Geschichte war immer die ihres Gaus; ihr Tun, ob nun weise oder töricht, nutzlos oder erfolgreich, immer nur auf dies Waldland gerichtet und in seine Grenzen gebannt; einen einzigen abgerechnet, haben sie sich nicht um die Welt gekümmert und die Welt nicht um sie. Auch diesen einzigen hat nicht sein eigener Wille, sondern das Drängen anderer zu kurzem, ihm verhängnisvollen Glanz erhoben; Günther XXI. war schön und stark, tapfer und ritterlich, aber weder klug noch ehrgeizig; 1349 von den Gegnern des Papstes und der Luxemburger zum deutschen König gewählt, wurde er wenige Monate später durch Gift hinweggeräumt. Zur Erinnerung nahmen seine Nachkommen den Reichsadler zum Wappen an, aber hervorgetan hat sich seither keiner von ihnen, durch Gutes so wenig wie durch Schlimmes. Die Herren taten immer wie ihre Nachbarn, sie fügten sich der thüringischen, dann der sächsischen Oberhoheit, so lang es sein mußte, und schüttelten sie ab, so bald es sein konnte, sie rafften an Land und Rechten zusammen, was erreichbar war, teilten es, als dieser verhängnisvolle Brauch unter die deutschen Fürsten kam, in die winzigsten Parzellen und suchten sie dann, als er aufhörte, wieder zu vereinigen, mit Güte, noch öfter mit Gewalt. Gleich den anderen wurden sie im 16. Jahrhundert evangelisch, kauften sich im 17. Jahrhundert einen höheren Stand (die Reichsfürstenwürde) und die damals gleichfalls allgemein üblichen Mätressen, trieben im 18. die Soldatenspielerei und wurden im 19. konstitutionell, um es mit kleinen Seitensprüngen ins Reaktionäre zu bleiben. Viel Geld hatten sie nie, aber auch nie viel Schulden. Und dies sieht man auch ihrem Hause an; es ist stattlich und wohnlich, aber nicht prunkvoll.

Die Erbauung des Schlosses wird von der Sage auf Karl den Großen zurückgeführt; kein Wunder, im frühen Mittelalter wurde ihm fast alles zugeschrieben, was den Menschen verdienstvoll erschien. Denn es ist auf Erden mit dem Ruhm genauso bestellt wie mit dem Gelde; der Besitz des Reichen wächst ohne sein Zutun immer mehr, der des Ärmeren zersplittert sich und geht auf den Reichen über. Vielleicht auch stand hier schon zur Frankenzeit ein Kastell gegen die Sorben; die Lage spricht dafür, denn die Grenze war nahe und der Schloßberg ist an sich eine natürliche Festung: steil ragt er aus dem tiefgerissenen Tal empor, auf drei Seiten von der wilden, raschen Schwarza umschlossen. Dann, als die Slawen verdrängt waren, wurde es das Jagd- und Sommerhaus des Geschlechts, bis nicht der freie Wille, sondern die harte Notwendigkeit es vom 16. Jahrhundert ab auch zum Wintersitz machte: die Erbteilungen hatten den Besitz so zersplittert, daß wer Schloß und Dorf Schwarzburg bekam, kein anderes Obdach hatte. Aber damit nicht genug; als die Teilungen noch immer weiter gingen, wurde es Residenz und wichtigster Besitz zweier souveräner Grafen, die nun natürlich mittelst Vertrags ihr »Reich« gegeneinander abgrenzten, so gut es gehen wollte. Es sind zwei solche Urkunden erhalten, die Hesse in seinem Buch »Thüringen und der Harz« mitgeteilt hat; da ich den Schmöker hier auftreiben konnte und diese Grenzverträge eine köstliche Illustration der mittelalterlichen Zwergstaaterei sind, so teile ich einiges daraus mit. Als 1371 Johann II. von Wachsenburg-Schwarzburg und Günther XXII. von Schwarzburg-Schwarzburg die Burg teilten, bekam Johann ein Haus für sich und eins für seine Jäger; nicht größer war die Grafschaft Günthers, obwohl er der Sohn des deutschen Königs war; die Türme und Ringmauern, das Back- und Hundehaus sowie ein gewisser unscheinbarer, nicht gern zu nennender, aber unbedingt nötiger Raum waren gemeinsamer Besitz, was immerhin auf gutes Einvernehmen zwischen den beiden Souveränen schließen läßt. Achtzig Jahre später (1450) teilten Heinrich XXVI. von Schwarzburg-Arnstadt und Heinrich XXV. von Schwarzburg-Leutenberg das Schloß; das Reich des Sechsundzwanzigsten begann »am Pfeiler rechts vom Eingang« und ging »bis an die Mauer der Vogtei, wo selbige einen Riß zeigt«; dort begann die Monarchie des Fünfundzwanzigsten und endete am Pfeiler links. Gemeinsamer Besitz waren auch diesmal die oben genannten oder zart angedeuteten Lokalitäten. Wie man sieht, wurde der Riß in der Mauer wie etwas Unabänderliches, ja Heiliges betrachtet; ein Überstreichen mit Kalk hätte die Grenze verwischt und leicht einen Krach zwischen beiden Staaten verursacht, der angesichts des Umstandes, daß unentbehrliche Räumlichkeiten gemeinsamer Besitz waren, gewiß zu schlimmen Dingen, ja zu Katastrophen hätte führen können. Erwägt man, daß sowohl der Fünfundzwanzigste als der Sechsundzwanzigste sonst nur karges Gut ihr eigen nannten, so wird man sich von dem Glanz ihrer Hofhaltung leicht ein Bild machen können; der notleidendste Agrarier der Gegenwart ist dagegen ein Krösus. Gut, daß es dabei blieb und nicht oben noch ein drittes Reich gegründet wurde, sonst hätte sein armer Herrscher wohl gar nur über den gemeinsamen Besitz verfügt. Es kam anders; bald wurde Schloß Schwarzburg wieder nur ein Reich und, seit es 1584 an die Linie Schwarzburg-Rudolstadt kam, nur Sommerresidenz wie im frühen Mittelalter; des Winters hausten die Herren lieber in Rudolstadt, dem lustigen Nest an der Saale. Nur einer, Friedrich Anton, ein Zeitgenosse Friedrich Wilhelm I., kam auf den schrulligen, sein langes Leben lang hartnäckig festgehaltenen Einfall, das Schloß zum Sitz der Landesverwaltung zu machen; ein Land müsse regiert werden, gab er zu, aber ob dies von einer »Hauptstadt« oder von einem »Hauptschloß« geschehe, sei gleichgiltig. Nur der Brand des Schlosses (1726) verzögerte die Ausführung, und als es wieder aufgebaut war, war Friedrich Anton tot.

Es ist also in seiner heutigen Gestalt ein Bau aus der Zeit, wo noch das Rokoko in Deutschland herrschte, wirkt aber in seiner Nüchternheit und Steifheit wie ein Vorläufer des Zopfstils; einige Partien, die später hinzukamen, namentlich der Mittelbau des westlichen Flügels mit seinen ionischen Säulen und korinthischen Pilastern zeigen diesen Stil in scharfer Ausprägung, namentlich auch in der rein äußerlichen Anfügung antikisierenden Schmucks an ungegliederte Kasernenwände. Der Bau ist natürlich von allen Höhen um Schwarzburg sichtbar, und das weißgraue gewaltige Gemäuer wirkt durch seine Lage, durch den Gegensatz zum Grün ringsum dem Auge immer freundlich; in der Nähe hat es wohl noch niemand schön gefunden. Aber gediegen und stattlich, sagt ich schon, ist es, und wer auf dem Schloßhof steht, übersieht ein Städtchen im kleinen: eine Kapelle, ein Palais, ein Zeughaus, eine Schloßwache, Wohnhäuser der Beamten, Dienerhäuser, Ställe und Schuppen, alles praktisch und sauber und ebenso solid wie nüchtern.

Selbst die offenbar kürzlich restaurierte Kapelle macht diesen Eindruck; im Innern ist sie mit schwarzen Marmor- und weißen Alabasterplatten geschmückt. Als ich eintrat, waren zwei Damen in der Kapelle. »Herrlich schön!« sagte die eine. »Und sieh nur: die preußischen Farben!« fügte die andere begeistert hinzu. Das letztere finde ich richtig, das erstere nicht. Unter der Kapelle ist eine Gruft, in der Schwarzburger Fürsten des 17. und 18. Jahrhunderts beigesetzt sind. Sie ist nicht zugänglich, aber ein Kaufmann aus Bremen erzählte mir an der Table d'hôte stolz, er habe sich durch Geld und gute Worte den Eingang verschafft. »Ordentlich appetitlich sieht's da aus«, versicherte er, »wie in einer Küche! Und wenn man so denkt: das waren einst Fürsten« – er hob den Zeigefinger – »regierende Fürsten, und jetzt sind sie tot! Denken Sie mal darüber nach: wie vergänglich ist irdische Größe!« Der Mann hat überhaupt viel für meine innere Vertiefung getan; einige andere Proben davon werde ich noch mitteilen.

Das Innere des Schlosses habe ich gesehen. Das Schönste daran ist die herrliche Aussicht, fast aus jedem Raum ein anderes Landschaftsbild und jedes gleich entzückend, aber hübsch ist auch die Einrichtung mehrerer Gemächer, einheitlich in Rokoko oder Zopf, nichts Besonderes, aber geschmackvoll. Nur von den Bildern ist bei bestem Willen wenig Gutes zu sagen; viele sind nur Kuriosa. So enthält zum Beispiel das Pferdezimmer 246 (kein Schreibfehler!) kleine Porträts von Pferden und Reitern; die meisten hat Fürst Ludwig Günther IV. (1767-1790) eigenhändig gemalt. Wie die Gemälde Friedrich Wilhelm I. im Potsdamer Stadtschloß eine kleine Eigentümlichkeit aufweisen – die Menschen haben zwei linke Beine –, so auch diese eines kleineren Potentaten: die Köpfe der Pferde und Reiter sind zu klein, hingegen die Hälse zu lang und dick und die Hinterteile von Mensch und Tier geradezu gigantisch. Anders als in anderen Köpfen malte sich in diesem der allerdings unentbehrliche Körperteil. Mein Bremer war entzückt. »Dritthalb hundert Bilder – und dabei hat er immerzu regiert! Wenn das ein Künstler tut, so tut er's für Brot; er hat's für die Kunst getan. Und die rechte Schulung fehlt, sagen Sie? Nun also! Denken Sie mal darüber nach: jedes Talent ist angeboren!«

Weniger verschieden urteilten der Kaufmann und ich über den Kaisersaal; wir hatten beide was auszusetzen, nur eben jeder anderes. Das ist in seiner Bauart wohl der seltsamste Raum, den ich je im Leben gesehen habe: er geht durch zwei hohe Stockwerke, aber die Wände sind nur etwa von doppelter Mannshöhe, darüber beginnt bereits in drei Absätzen die Decke. Der erste Absatz ist – derlei Schätzungen mit den Augen sind ja allerdings unsicher – etwa drei Meter hoch, sacht abgeschrägt und gewölbt, darüber erhebt sich senkrecht aufstehend, etwa, acht Meter hoch, der zweite Absatz; ein spitzes, steiles Spiegelgewölbe bildet hoch oben den Abschluß. Wer unten steht, hat gar nicht den Eindruck, als stünde er in einem Saal, sondern im Unterbau eines gewaltigen Kamins, der eigentlich die Hauptsache ist. Auch die gleich unerhörte Lichtverteilung erhöht den Eindruck, als ob das Ganze um jenes Riesenschlots willen geschaffen wäre; in ihn flutet durch breite hohe Fenster an der Decke von allen Seiten Licht herein, während der eigentliche Saal überall da, wohin nicht das Licht von oben dringen kann, fast dämmrig ist, denn er hat nur kleine Fenster, deren Scheiben zudem bunt bemalt sind. Der Kaisersaal, vermutlich um 1600 erbaut, ist bei dem Brande von 1726 verschont geblieben; weniger glimpflich hat die Restaurierung von 1869 mit ihm verfahren. Hier war, glaub ich, jede Modernisierung von vornherein ein bedenkliches Beginnen; es handelte sich ja um ein Kuriosum, eine historische Reliquie, die gewiß nur der individuellen Laune des Erbauers ihr Dasein verdankt; derlei kann man wegtun, wenn das künstlerische Empfinden die Pietät überwiegt, oder erhalten, wenn das Gegenteil der Fall ist, aber modernisieren darf man's nicht; »sint, ut sunt, aut non sint.« Zudem war hier die Renovierung keine glückliche; der untere Saal macht durch die bunt bemalten Fensterscheiben, die kleinen, durch Spruchbänder unterbrochenen Friese mit Tuschbildchen aus der Geschichte des Geschlechts und Landes, die modernen, alten Mustern kümmerlich nachgeahmten Kamine einen schielenden Eindruck: Pseudorenaissance; so was macht man für einen Bankier, der sich ein Nürnberger Zimmer bestellt hat. Dem untersten, dem schrägen Absatz der Decke waren einst Medaillons eingefügt, welche die Brustbilder römischer Kaiser von Julius Cäsar bis auf Karl VI. enthielten; die Rahmen sind erhalten, aber die Porträts mit hellgelber Farbe übertüncht. Die Bilder mögen nicht schön gewesen sein, das glaube ich gerne; sie waren eben kurios wie der ganze Raum und ihm angepaßt; heute machen die getünchten Flächen innerhalb des erhaltenen Rahmens nicht bloß den Eindruck des Unbegreiflichen, sondern auch der Leere und Öde. Nicht viel besser ist bei der Umgestaltung der hohe, helle Schlot fortgekommen. Auch er war einst mit Kaiserbildern bedeckt, heute hat man darüber helle Rahmen gespannt und auf diese Rahmen je ein Bild eines deutschen Kaisers gehängt: so baumeln da oben Karl der Große, Heinrich I., Friedrich Barbarossa und Günther von Schwarzburg ganz verloren im grellen Licht auf den großen kahlen Flächen; einige winzige Putten, die man außerdem angebracht hat, machen die Kahlheit dem Auge noch empfindlicher. Der Bremer nun war in allem anderer Meinung; ihm schien der Kaisersaal »einfach erhaben – erhaben, verstehen Sie – wie das ganze Schloß.« Vielleicht war's ehrlicher Enthusiasmus, vielleicht auch hatte ein Tischnachbar aus Rudolstadt recht, der mir sagte: »Hätte ich ihm nur nicht erzählt, daß Schwarzburg-Rudolstadt ein so hübsches Ehrenkreuz am blaugelben Bande verleiht!« Eins aber, was mir begreiflich schien, tadelte der Republikaner: daß keines der vier Kaiserbilder von 1869 den Kaiser Wilhelm darstellte. Als ich ihn auf die Jahreszahl aufmerksam machte, stutzte er einen Augenblick und rief dann: »Nun gut, aber jetzt müßte einer von ihnen 'runter und Kaiser Wilhelm 'rauf!« – »Ja, aber welcher?« Er dachte nach. »Mein Liebling Günther von Schwarzburg muß natürlich bleiben, aber von den drei anderen hat keiner solche Verdienste wie Kaiser Wilhelm. Denn« – der Zeigefinger hob sich – »denken Sie mal darüber nach: die Einigung Deutschlands war ein wichtiges Ereignis!« Gewiß, es wirft mir sogar ein Licht aufs ganze Leben, daß ich dies »wichtige Ereignis« bereits als denkender, fühlender Mensch mit erleben durfte – aber hm! das mit dem Ehrenkreuz war doch wohl richtig. Hätten die Karolinger, die Nachkommen Heinrich I. und die Staufen, dachte ich, auch noch Orden zu vergeben, dann wäre am Ende gar nicht Günther von Schwarzburg sein »Liebling«!

Besser als die Kunst ist im Schwarzburger Schlosse das alte Kunstgewerbe vertreten, namentlich im Zeughause, der Bau ist dürftig, der Inhalt wertvoll, in mancher Hinsicht einzig. Schönere Jagdgeräte aus dem 15. und 16. Jahrhundert habe ich nirgendwo gesehen; schönere Gewehre und Schwerter aus derselben Zeit selten. Sehr merkwürdig sind die Männerhüte, Filz mit Silberstickerei; nicht bloß dies, sondern auch wunderschön die Rokokoschlitten, einer, der Drachenschlitten, offenbar das Werk eines wirklichen Künstlers voll überschäumender Phantasie. Auch die Kummetgeschirre mit reichster Holzschnitzerei mag man sich genau ansehen, um zu erkennen, wie reich selbst eine vergleichsweise öde Zeit – das 17. Jahrhundert – noch an guten Traditionen und künstlerischen Talenten war. Zu loben ist auch, daß die bedenklichen Kuriosa nun ausgemerzt sind; so gab es hier auch das breite Ehebett des Grafen von Gleichen; nun ist es verschwunden.

Auch im Schloß selbst findet sich manches hübsche Schnitz- und Gießwerk. Da ist – auf einem der Kamine des Kaisersaals aufgestellt – ein aus Holz geschnitzter Löwe, mit Pergament überzogen, mit Reliefs geschmückt; sicherlich uralte, etwa aus dem 13. Jahrhundert stammende oder nicht viel später einem Meister jener Zeit nachgebildete Arbeit. Der Löwe ist ein Kasten; ein anderes Schaustück, die »güldene Henne« (eine Auerhenne aus vergoldetem Silber), ein Trinkgefäß. Aus der Henne tranken im 16. Jahrhundert die Gäste, die zum ersten Mal an der fürstlichen Tafel erschienen, den Willkomm und bekamen dabei das »Geschmeide«, einen schweren Holzklotz, an einer Kette um den Hals gelegt. Das war ein Spaß im Stil jener Zeit, aber daß er noch heute geübt wird, hörte ich mit Staunen. Der Bremer aber mit Entzücken: »Das muß 'n Hochgenuß sein!« – »Der Klotz um den Hals?« – »Aber als Gast eines Fürsten! Und der Klotz muß wohl ein Symbol sein!« Wieder hob sich der Zeigefinger. »Denken Sie mal darüber nach: Symbole haben oft ihre Bedeutung.«

Weit früher als das Schloß habe ich das Juwel Schwarzburgs, den Trippstein, besucht und bin seither noch zwei Male dagewesen; der Eindruck wurde nur immer stärker; das ist ja der Prüfstein alles wirklich Schönen, daß es um so mehr entzückt, je vertrauter es uns wird. Vielleicht auch lag es daran, daß ich die beiden letzten Male allein hinging und wenige Leute oben fand, während der Gipfel des Hügels das erste Mal von Menschen wimmelte und ich auch schon in Gesellschaft emporstieg.

Mein Wille war's nicht. Als ich an das Rondell gekommen war, wo der Fußsteig von der Blankenburger Chaussee abzweigt, standen dort drei Damen unschlüssig da. Sie repräsentierten gleichsam das Altertum, das Mittelalter und die Neuzeit; am nettesten war noch das Altertum, weil es zwar unablässig schwatzte, aber doch ein gutes, ehrwürdiges Gesicht hatte, wogegen das Mittelalter überstark war und unfreundlich dreinsah; die Neuzeit war noch in jeder Hinsicht grasgrün und lachte aus Verlegenheit immerzu. Das Altertum sprach mich an; man hätte ihm gesagt, am Rondell zweige der Fußsteig ab und auf einem Steine stehe auch »Zum Trippstein«; nun sei hier das Rondell, aber auf dem Stein stehe »Fürst Günther«; ob das etwa gleichbedeutend sei? Ich mußte dies verneinen; auf diesem Fels am Rondell da stehe »Fürst Günther«, weil das ein Denkmal des Herrschers sei, der das Ländchen durch sechzig Jahre (1807-1867) regiert habe, und auf diesem weit kleineren Stein gegenüber stehe als Wegweiser »Zum Trippstein«. Nachdem ich mich durch diese Mitteilung, deren historischen Teil ich von der Ehrentafel ablas, als ein geschichts- und ortskundiger Mann erwiesen hatte, fragte mich das Altertum, ob ich ihnen gestatten wollte, mit mir zu gehen, denn im Walde sei es mit einem Herrn für Damen immer heimlicher. So wandelten wir zu viert unter herrlichen Buchen und Tannen empor, und ich erfuhr, daß ich die Ehre hatte, die Mutter, Gattin und Tochter eines Zeitungsverlegers in einer sächsischen Mittelstadt geleiten zu dürfen. »Wir sind bardheilos!« sagte das Großmütterchen, und als ich meinte, dafür hätte ich immer Bewunderung gehabt, denn es gehöre eine fast göttliche Unbefangenheit und Gerechtigkeit dazu, nickte das Mütterchen: »Mein Sohn is werklich ein sehr dichtiger Mensch, er hat auf Buchdrucker gelernt, aber nu ghann er ooch die Zeitung machen und werklich bardheilos!« Das unfreundliche Mittelalter aber sagte: »Das is nich so schwer; man schneid't merschtendhels aus'm ›Dräs'ner Journal‹ und aus der ›Leib'zer Zeitung‹, bringt nichts gegen den Herrn Ghreisdiregder und den Herrn Bergermeester und is natierlich gegen die Freisinnigen, die Juden und die Sozialdemagraden!« Daß ich mich notgedrungen – die Damen fragten darnach – als Schriftsteller aus Berlin vorstellen mußte, verschlechterte meine anfangs so günstige Position, und als ich auf die weitere Frage, bei welcher Zeitung ich angestellt sei, antworten mußte: »Bei keiner!«, war ich gar unten durch. »Ach Herr Jeses!« sagte das Mütterchen mitleidsvoll, und das dicke Mittelalter meinte höhnisch lächelnd: »Weeßte, Mamma, wie bei uns der Herr Köhler!« Dieser mein Kollege und Schicksalsgenosse war, wie ich dann erfuhr, Schreiber beim Herrn Justizrat und berichtete sowohl für die »Bardheilose« wie für die »Ghongurrenz« über Unglücksfälle und Vereine, wofür er monatlich »ä Bauschal« bekam. Wie hoch dies Pauschale war, erfuhr ich nicht; als Optimist schätzte ich es auf einen Taler. Da das Mittelalter wissen wollte, wie derlei in Berlin bezahlt werde, so mußte ich gestehen, daß ich das nicht wüßte, ich schriebe größere Sachen, Feuilletons, auch Romane. »Da ghönnten Se mal auch uns was schicken«, sagte das gutherzige Altertum, aber das harte Mittelalter zertrat mit der Bemerkung: »Wir sind versorgt, wir drucken merschtendhels Übersetzungen« die Saat meiner Hoffnungen. »Die von die Dehdegdiffen sind noch die besten«, fügte sie bei; sie meinte Detektive-Romane. Unter diesen Gesprächen waren wir dem Gipfel nahe gekommen, und da sich hier der Weg gabelte, zog ich Meyers »Thüringen« hervor, orientierte mich und las dann den drei Damen den Rat vor: »Will man sich eine angenehme Überraschung bereiten, so wende man die Augen, sobald man zwischen den Bäumen bemerkt, daß man dem Borkenhäuschen, welches die Spitze des Trippstein krönt, nahe kommt, so lange nach links, bis man hinter das Häuschen, welches die Aussicht ins Tal verbirgt, zu stehen kommt.« Der Stil ist ja bedenklich, aber der Rat gut – und warum sollten wir uns nicht eine angenehme Überraschung bereiten? So wanderten wir denn, Augen links, im Gänsemarsch weiter, die Neuzeit, die nun unablässig laut meckerte, an der Spitze. Plötzlich verstummte sie verlegen, und auch wir andern wurden still. Wir standen auf einer Waldblöße, rings von dicht verwachsenen Bäumen umschlossen; auf einen Gipfel, eine Aussicht deutete nichts: vor uns aber stand, noch keine zehn Schritt entfernt, ein niedriger Holzschuppen mit zwei Türen, in deren jeder ein Schlüssel steckte. »Nee!« sagte das undiplomatische Altertum, »das ist keen Aussichtsbungd, das is was anderes!« – und auch ich begann zu zweifeln, es war wirklich das Borkenhäuschen und die Aussicht aus seinem Fenster wirklich schön. Sie hat mir, sagt ich schon, die anderen Male, wo ich oben nicht so viel albernes Zeug anhören mußte, besser gefallen, aber auch diesmal fesselte sie mich so, daß ich die Damen trotz der anbrechenden Dämmerung allein hinuntergehen ließ, denn meiner Menschenpflicht hatte ich genügt, und mit der Geschäftsverbindung war's ja doch nichts.

Die Aussicht vom Trippstein ist eine der hübschesten Deutschlands und wohl die malerischste Thüringens. Während in den andern Teilen des Thüringer Waldes die benachbarten Hügelrücken fast gleich hoch sind, auch sacht aus seichten Tälern oder Hochebenen emporsteigen, streben sie hier jäh und in den verschiedensten Formen aus dem tief gerissenen Tal der Schwarza wie zum Himmel auf. Denn eben weil das Tal so tief ist, so täuscht sich das Auge über die an sich sehr bescheidene Höhe des Gipfels (noch nicht 500 Meter über dem Meeresspiegel), und die Weite des Gesichtskreises, die sich aus der Breite des Tals und dem Einmünden einiger Nebentäler ergibt, vermehrt diese Täuschung. Ähnlich ist der Eindruck, den man auf anderen Höhen dieses schönen Tals empfängt, zum Beispiel auf der etwas höheren Schapsheide, die dem Trippstein gegenüber am rechten Schwarzaufer liegt; was aber die Aussicht vom Trippstein vor den anderen auszeichnet, ist die Geschlossenheit des Bildes, die Mannigfaltigkeit und Schönheit der Farben und Formen. Die junge Frau Oberlehrer, die ich gestern hier oben sagen hörte: »Das ist wie das Bild eines großen Malers!« hat nichts Dummes gesagt und die hochmütige Reprimande des Herrn Gemahls: »Das ist ein kurioses Kompliment für die Natur« nicht verdient. Denn der große Landschaftsmaler tut ja der Natur keinen Zwang an, er gibt sie getreulich wieder, nur ist er kein Photograph, auf dessen Platte auch alles Störende und Zufällige erscheint, sondern läßt dies weg oder ändert es im sonstigen Charakter der Landschaft. Hier nun hätte er dies fast gar nicht nötig; die Natur hat gleichsam selbst das Kunstwerk gestaltet. Die Komposition ist unübertrefflich: zu Füßen des Beschauers, im Mittelpunkte des Gemäldes, das Schönste an dem Bilde: auf dem steilen Vorhügel das Schloß, hier dem Aug so ferne, daß die plumpen Formen nicht stören, wohl aber die Lage entzückt; zu seinen Füßen das Dorf mit dem Schwarz und Rot seiner Dächer; zur Rechten und Linken das breite, von Felsen und Matten, Hütten und Palästen (freilich sind's nur Fabriken) erfüllte Tal; im Vordergrund der waldige Abhang des Trippstein, im Hintergrund Berge und ringsum, das Bild umschließend, die tiefgrünen Wälder, die sich auch hier dem Blick wie ins Unendliche dehnen. Dazu der Reichtum an malerischen Formen: man kann nicht oft Reizvolleres sehen als die Linie, in der, von hier gesehen, der Schloßhügel ins Tal abfällt, die Schwarza durch die Matten und Forste strömt, die Waldberge, namentlich die Cursdorfer Kuppe emporsteigen. An Farben aber fehlt's hier, wo das Weiß der Häuser, das glänzende Schwarz der Schiefer- und das Rot der Ziegeldächer hinzutritt, noch weniger als bei dem Blick auf die Hirschwiese, und die Landschaft erscheint, eben weil das Auge weiter reicht, noch ungleich belebter; die Beleuchtung ändert das Bild, macht es heiter oder ernst oder düster. Am schönsten ist es bei sinkender Sonne, wenn unten schon die feinen blauen Schleier der Dämmerung weben, während oben der Kranz der Wälder noch in tiefem flammendem Rot leuchtet.

Auf den Wänden des Häuschens wimmelt es natürlich von Namen, Sprüchen und Versen. Am schönsten sind die eines Lyrikers, der Macheleidt heißt; er tut, was ihm sein Name befiehlt. Außer Poesie und Landschaft kann man aber auf dem Trippstein nichts genießen; der Fürst ist geschmackvoll genug, dort oben keine Wirtschaft zu dulden. Hingegen kann man sich nicht allzuweit davon in einem fürstlichen Jagdschloß, der Fasanerie, erquicken. Es werden dort namentlich zwei hellbraune Flüssigkeiten geschenkt, die in ihrer Art einzig sind; mich wenigstens haben sie im Geschmack an nichts erinnert, was ich vorher im Leben getrunken habe. Die eine Flüssigkeit wird lauwarm in Gläsern gereicht und heißt dort Bier, die andere, die etwas heißer in Tassen geschenkt wird, nennt man dort Kaffee. Im Hause sind einige Zimmer mit Hirschhornmöbeln ausgestattet; sie schön und geschmackvoll zu finden hat nicht einmal unser Republikaner gewagt. Unter den Eichen der Fasanerie pflegten viele Schwarzburger Sommergäste den Nachmittag zu verbringen; die Damen stricken und erörtern die sozialpolitischen Aufgaben der deutschen Hausfrau gegenüber ihrem Mädchen für alles; die Herren spielen Skat; es soll dort sehr anregend sein.

Das weiß ich aber lediglich vom Hörensagen. Ich bin nur einmal dort gewesen, habe zuerst das Braune im Glas, hierauf, da dies nicht ging, das Braune in der Tasse verkostet und bin dann gegangen. Denn meine Zeit ist hier kostbar, ich muß ja das ganze Schwarzatal ablaufen.

Befohlen habe ich mir dies freilich nur selber, aber es war ein weiser Befehl, denn das Tal ist, den Unterlauf abgerechnet, sehr schön. Das letzte Stück freilich, von Blankenburg bis Dorf Schwarza, wo der Fluß in die Saale mündet, ist nüchtern: eine breite, fruchtbare Ebene, durch die das früher so wilde Gewässer nun zahm dahinschleicht, wie das so bei allem Lebenden gegen das Ende Brauch ist. Was aber nun den schönen Teil des Flußtals betrifft, so zerfällt er, selbst dem stumpfen Blick erkennbar, wieder in zwei verschiedene Teile, einen längeren vom Ursprung des Schwarzabachs bei Scheibe bis Schwarzburg und einen kürzeren von hier bis Blankenburg. Da nun aber dies Mittelstück der weitaus schönere Teil ist, so läßt sich leider kein Vergleich mit dem Menschenleben daran knüpfen. Denn der Mensch ist in der Jugend am schönsten, äußerlich immer und innerlich – das ist die traurigste Erfahrung, die uns das Leben lehrt, aber es lehrt sie – innerlich fast immer ...

Womit ich nun hier beginnen soll, kann scheinbar nicht zweifelhaft sein; mit der Schilderung des oberen Teils von Scheibe bis Schwarzburg, denn das Schönste muß man sich für den Schluß aufsparen. Ich mach's aber umgekehrt, denn zwischen Schwarzburg und Blankenburg bin ich wie jedermann fast nur unter Touristen gewandelt, im oberen Tal aber unter Köhlern und Hirten, Balsamträgern und Arbeitern. Und das dunkelste Leben, wenn man's recht zu erfassen bemüht ist, ist fesselnder als die schönste Natur.

Der Weg von Schwarzburg nach Blankenburg geht immer durch Wald, fast immer zwischen Felsen und die rauschende Schwarza entlang; und wenn es nicht die hübschesten zehn Kilometer deutscher Erde sind, so gehören sie doch mit zu den hübschesten. Eine breite, wohlgepflegte Chaussee führt hindurch, auf der viele Wagen und Omnibusse hin und her rollen, und schon dies verträgt sich mit dem Charakter dieses wilden, tief und eng gerissenen Waldtals nicht recht. Daß aber hier keine Bahn pfeift und qualmt, tut wirklich nur den Wirten beider Orte weh, hingegen nicht bloß den Kutschern im Schwarzatal, sondern auch allen Naturfreunden wohl. Der Fürst duldet's nicht und hat sehr recht daran; es wäre nicht hübsch und selbst die Dividende fraglich. Denn wer sich begnügte, hier in fünfzehn Minuten hindurchzusausen, wäre so dumm, daß man sich's höflicherweise gar nicht denken kann.

Schon im Omnibus hat man wenig von der Fahrt, denn das Bild ist, so betrachtet, scheinbar immer dasselbe, Bäume, Felsen und der Fluß; zudem sieht man aus dem Fensterrahmen nur immer das Nächste und hat keinen Überblick. Sonst kein Freund solcher Vehikel, ließ ich mich in den ersten Tagen verleiten, in den Kasten des »Thüringer Hofs« zu klettern, weil ich mir Blankenburg und die Höhen ringsum ansehen und frisch hinkommen wollte. Auch lockte es mich, daß drinnen nur zwei Ehepaare saßen, die beide schwiegen. Aber kaum, daß der Kasten knarrend dahinzog, begannen sie beide rastlos ihre Gedanken auszutauschen, obwohl doch keines von ihnen dabei gewann. Der eine Herr war Dampfwäscher aus Berlin, der andere, gleichfalls ein Berliner, hatte einen freien Beruf, der sich bald schrecklich offenbaren sollte; die Damen aber waren zweifellos ihre Gattinnen, das bewies ihr Äußeres. Nun, Dampfwäscher muß es geben, aber einen Beruf, wie ihn jener andere Berliner und seine Gattin übten, sollte es nicht geben. Sie reisten nämlich nur zu ihrem Ärger und führten daher eine Liste sämtlicher verdorbenen Fische und unreinlichen Betten in Mitteldeutschland. Das wirkte auf das andere Paar so wie etwa ein Magnet auf gewöhnliches Eisen, sie hingen zunächst an den Lippen der Ärger-Reisenden, wurden dann aber selber magnetisch und erzählten ähnliches. So ging das lange zwei Stunden fort; nur einmal unterbrach der Dampfwäscher die Schilderung seiner Gattin von einem Rudolstädter Milchkaffee mit Fliegen durch den Hinweis auf die Aussicht, aber die Ärger-Reisende wies ihn scharf zurecht: »Lassen Sie man, das is interessant!« Mir wird immer bei derlei Gesprächen, die man so oft hören kann, ganz traurig zumut. Da ziehen diese Leute, als ob sie fühlende, empfindende Menschen wären, nach harter Arbeit für einige Wochen zur Erholung in die Welt, wo sie am schönsten ist, und wenn sie mitten drin sind, so gucken sie sie gar nicht an, sondern wühlen sich nur in dieselben kleinen Erbärmlichkeiten hinein wie daheim. Als ich den Omnibus zur Heimkehr bestieg, da saßen wieder zwei Ehepaare drin, und auch sie schwiegen. Aber ich traute dem Landfrieden nicht mehr und setzte mich lieber neben den Kutscher. Das war ein frischer, treuherziger Mensch, der an jeden Fels am Wege eine Sage hing und an jede Schürze ein harmloses Neckwort; dazu trank er bei jedem Wirtshaus, an dem wir vorbeikamen, ein Glas Bier auf meine Gesundheit. Drinnen aber hörte ich nach kurzem Schweigen bereits die regste Unterhaltung: »Licht besonders berechnet ... täglich Kalbfleisch ... fünf Mark das Zimmer ...« So mag Daniel in die Löwengrube hinabgelauscht haben, nachdem er draußen war.

Recht habe ich dies schöne Stück Erde erst kennengelernt, als ich es zu Fuß durchschritt. Es ist der Mühe wert, obwohl man dabei weniger Überraschungen erlebt als in anderen kürzeren, weniger berühmten Tälern, namentlich der Alpen. Immer geht's zwischen Fels und Wald an der Schwarza dahin, und das Bild ist wohl hier heiterer, dort düsterer, aber stets wild und anmutig zugleich; Unheimliches oder auch nur Gewaltiges ist hier nicht zu sehen, so wenig wie Zahmes und Artiges. Darum kann man wohl auch von Menschen mit übersatten Sinnen, denen Fackeln ins Auge stechen müssen, damit sie Licht sehen, oder von der Legion anderer, die vortreffliche Augen haben und doch nicht sehen, die Äußerung hören, für einen Kilometer reiche der einförmige Reiz aus, aber nicht für zehn. Mir aber war die Wegstrecke für die Beine gerade lang genug, aber den Augen wäre die dreifache zu kurz gewesen. Denn in Wahrheit ist kein Streckchen dem andern gleich, und jedes hat seinen besonderen Reiz. Freilich, die Schwarza gibt's auf dem ganzen Wege und Wald und Felsen auch, aber wie verschieden sind sie!

Wer von Schwarzburg auszieht, kommt zuerst durch hellen, heitern Buchenwald, und auch die Felsen, deren einer die Aufschrift »Fürst Günther« trägt, sehen nicht finster drein. Dann weicht die Buche der Tanne, ohne sich doch ganz verdrängen zu lassen, und während der Wanderer so den schattigen Fußsteig dahinschreitet, dicht zur Rechten die Schwarza, zur Linken aber in respektvoller Entfernung die Chaussee, kann er seine Freude dran haben, in wie unsäglicher Fülle der Variationen das glänzende Hellgrün des Laubs und das stumpfe Tiefgrün der Nadeln gegeneinander spielen; bald sind dem Tannenmeer die Buchen nur eingesprengt wie leuchtende Inseln, bald den Buchen die Tannen wie ragende Hügel, und an anderen Hängen schlingen sie sich ineinander.

Verschieden ist auch die Schwarza anzusehen. Bald fließt sie in tiefer, breiter, schattiger Schlucht dahin; man hört sie nur leise murmeln, und tritt man ans Ufer, dann schießt unten die Flut glatt, rasch und dunkel dahin. Aber nun senkt sich das Ufer, die Bäume treten zurück, da schimmert die Flut blaugrün in der Sonne und schäumt über die Steine im Bette. Die Steine werden zu kleinen Felsen, rings um sie bahnt sich der Fluß im schmalen Bette den Weg talab, daß sein Grollen das Gezwitscher der Vögel, selbst das mächtige Rauschen und Klingen im Geäst übertönt und der Gischt emporspritzt; scheint die Sonne hinein, so zittert ein Stücklein Regenbogen über den Wassern. Dann wieder weichen die Ufer zurück, und der Fluß spielt seicht und kristallen über den Sand am Grunde, die flachen Steinchen und das Wurzelwerk der Tannen; an solchen Stellen sieht man erst, wie fischreich er ist; Hunderte von Fischlein durchschlängeln wohlig die warme Flut und schnellen sich mit den Wellen um die Wette ans Licht empor und bergen sich dann wieder im Dunkel. Das ist ein Blitzen, das einen blendet, als schimmerten tausend Goldkörnchen in der Sonne. Und vielleicht ist auch wirklich ein Körnchen darunter, die Schwarza ist ja goldhaltig. Freilich in so geringem Maß, daß der »Schwarzahort« immer mehr einen Fluch als einen Segen für die Talleute bedeutet hat. Um 1500, da das Goldfieber die Menschen noch stärker als gewöhnlich schüttelte, zudem der Preis des Metalls ein ungewöhnlich hoher war, wurden hier die ersten Seifen (Goldwäschen) eingerichtet; sie arbeiteten mit Verlust, aber etwas fanden sie wirklich, just so viel, daß andere glaubten, an tieferen Stellen und mit besserem Gerät glücklicher zu sein; dreißig Jahre später gab's zwanzig solche Gewerkschaften im Tal; sie gingen alle zugrunde, Hunderte von Talern gewann man, und Zehntausende verschlang der Betrieb. Aber die Opfer schreckten nicht, immer wieder fanden sich Unternehmer, und als 1800 zufällig ein größerer Fund glückte – man fand beim Graben eines Wehrs ob Schwarzburg auf Quarz aufsitzend ein Goldklümpchen von drei Dukaten Wert –, da verlockte der Golddurst zu neuen Mühen und neuen Verlusten.

Heute läßt man hier dem Fluß sein Gold wie im oberen Tal dem Quarz der Felsen. Nur wenn eine Verlobung im fürstlichen Haus stattgefunden hat, jagt man wieder den winzigen Goldplättchen im Geröll des Flusses nach; die Schwarzburger Fürsten haben immer Trauringe aus Schwarzagold getragen. Teure Ringe, denn mehr als um vier Groschen täglich kann man nirgendwo »seifen«. So erzählte mir ein altes Schusterlein, das die Gasthöfe im Tal ablief, ob's nirgendwo was zu flicken gebe, und ein Stück Weges mit mir ging. Mit Schustern rede ich immer gern, es sind nachdenkliche Leute, auch dieser da war's. »Ja, wie soll man sich das nu erklären dhun?« sagte er bedächtig. »Grad so viel Gold is drin, daß es lockt, und zu wenig, daß es langt. Und grad uns alleine auf der ganzen Welt ist so 'n Fluß bescheret.« Das sei nicht so, meinte ich; in meiner Heimat, sehr weit von hier, sei auch so ein Fluß, die goldene Bistrizza. Die Talleute dort erklärten sich die Sache so, daß der liebe Gott das Gold hineingetan und der Teufel es verkrümelt hätte. Der Alte lächelte schalkhaft: »Das müssen Se den frommen Damens in Blankenburg erzählen, lieber Herre, die glauben rechtschaffen an den Teufel und freuen sich, von ihm zu hören. Ich aber möchte glauben dhun: das is einfach eine Naduhrsache, und darüber zerbricht man sich umsunsten den Kopp ... Solche merkwierdige Naduhrsachen gibt's gar viele«, fuhr er fort. »Zum Beispiel, was Cordobang is, werden Se wohl wissen, dieses ist das feinste Leder. Und da liegt nu – hören Se! – ein Viertelstündchen hinterm Schweizerhaus, gegen Fröbitz zu, ein armseliges Dorf, und dieses Dorf, wo die Leute nich mal am Sonntag Stiebeln tragen, sondern barfuß loofen, heißt – hören Se! – ooch Cordabang! Können Sie mir das erklären dhun?« Das hätte ich wohl gekonnt; das Leder heißt Corduan nach der Stadt Cordova und der Weiler Cordobang nach irgendeinem verstümmelten deutschen Eigennamen. Aber was hätte es genützt, wenn ich dem Manne diese eine »Naduhrsache« aufgeklärt hätte – es gibt so viele andere, mit denen wir beide zusammen nie hätten fertig werden können.

Das »Schweizerhaus«, wo der Weg nach diesem Rätsel abzweigt, ist die Wohnung eines Wildwärters, der durch eine stattliche Magd auch Bier und Milch ausschenken läßt, und diese Magd heißt – die Ästhetiker mahnen uns immer, in unsere Schilderungen durch Einzelheiten Farbe zu bringen, und ich sehe gar nicht ein, warum ich hier die Farbe sparen sollte, da ich sie zufällig auf der Palette habe – die dicke Kathrin. Als ich sie zuerst sah – der Omnibuskutscher hatte auch hier auf meine Gesundheit getrunken –, war sie sehr lustig, jetzt aber blickte sie ordentlich düster drein. Den Grund wollte sie mir nicht sagen, aber ehe ich aufbrach, fragte sie scheinbar unbefangen, ob ich denn schon die große Neuigkeit gehört hätte, von der alle Welt im Tal rede, der Kutscher habe sich mit dem Zimmermädchen vom »Chrysopras« bei Blankenburg verlobt. Ich wußte es noch nicht, aber nun verstand ich alles.

Bis zum »Schweizerhaus« sorgen eigentlich nur Fluß und Wald für die Abwechslung, Berg und Felsen bleiben sich an Höhe und Form ziemlich gleich. Hier aber beginnen sie jählings emporzuwachsen, und auch ihre Form und Farbe wechseln von Schritt zu Schritt. Das ist keine Übertreibung, denn es ist Tonschiefer, und man weiß, wie seltsam, scharf und zackig sich dies Gestein unter dem Einfluß der Sonne und des Wassers formt. Dazu die unzähligen schroffen Windungen des Tals; hundert Schritte lang drängt das Gestein links vor und dann wieder das rechts; so geht's immer im Zickzack, immer in kurzen tiefen Schluchten dahin, und immer hat man die Empfindung: dies ist die letzte, und es geht nicht weiter – aber da rauscht ja neben dem Wanderer fröhlich der tapfere Genoß und Pfadgräber, die Schwarza. Ihr ist auch die erst ein Jahrhundert alte Chaussee gefolgt; französische Schule: man trotzt der Natur nicht, sondern sucht sich ihr anzuschmiegen. Wer eine der steilen, aber unschwer zu erklimmenden Kuppen besteigt, den Griesbachfelsen zum Beispiel – auch die Teufelstreppe, die zu ihm emporführt, ist das Werk eines braven, vorsorglichen Teufels –, und nun hinabblickt, hat die Empfindung, als wäre das Gestein von launischer Kinderhand wie mit der Laubsäge entzweigeteilt; so abenteuerlich sind die Krümmungen des Flußtals. Darum wechselt auch so oft die Beleuchtung, immerzu hüpft der Sonnenschein von der linken zur rechten Bergwand und umgekehrt. Auch diese Wände zeigen alle Spielarten der Farbe und Form. Rot, braun, schwarz erscheint der Schiefer, je nach dem Grad der Verwitterung, dazwischen steht das Grau des Sandsteins; von hellgrünen Büschen durchwachsenes Geröll bedeckt die Abhänge, mittendrin leuchtet das Rot wilder Rosen, droben stehen schwarzgrüne uralte Tannen, deren Wurzeln wie mächtige Bogen die Luft durchschneiden, denn das Geröll, durch das sie sich einst wanden, den Felsboden zu erreichen, ist zur Tiefe gestürzt; über ihnen aber blinkt in sonnengetränktem Blau das schmale Band des Himmels. Auch an verschiedener Musik fehlt's nie: Wald und Fluß rauschen, Vögel singen, der Specht klopft. Freilich singen auch die Ausflügler »Wer hat dich, du schöner Wald« und andere Lieder dazwischen ...

Und wieviel Abwechslung gibt erst die Form der Felsen! Einer sieht wie ein Riesenbecher aus, ein anderer wie eine Lyra, und damit zu Wein und Gesang das Weib nicht fehle, steht drüben ein dritter, der wie eine Dame aussieht; freilich hat sie eine gewaltige Krinoline und gar keinen Busen, aber das erste war doch einmal Mode, und das letzte kann man auch heute noch sehen. Mitten zwischen den Felsen gewahrt man die gewaltige Ruine eines gotischen Doms, ganz deutlich sind die beiden wohlerhaltenen Giebel zu sehen – aber wer hätte da oben auf die steile Höhe einen Dom gebaut? – es ist auch nur ein Witz der Natur, der Kirchfelsen. Der alte Fürst Günther hatte solche Freude dran, daß er den Felsen dekorierte; er gab ihm die Auszeichnung der blaugelben Flagge, und die weht noch heute droben. Dann sieht man weiter zur Rechten auf schattigem Felsvorsprung einen Turm; mißtrauisch guckte ich zu ihm empor, aber eine Respektsperson, der Kutscher eines fürstlichen Fouragewagens, der hier seine Pferde ausschnaufen ließ, bestätigte mir: »Dieses ist ein gemauerter Turm; er schreibt sich Eberstein. Denn dort ist der Saupark, und der Mann von der Wildsau schreibt sich auf hochdeutsch Eber.« Da war ich ja an der rechten Schmiede und fragte, wie der Berg heiße, der sich über dem Turm erhebt. »Dieses ist die Hünenkuppe«, war die Antwort. »Hünen haben Se nämlich einst die langen Männer geheißen, die vor dem hochfürstlichen Schloß in Schwarzburg Wache gestanden haben. Auf dieser Kuppe ist Se vor fünfzig Jahren ein alter Mann gesessen, der hat die ganze Gegend abgeschrieben.« – »Steht oben ein Haus?« fragte ich. »Nee!« lachte er. »So im Wald is der Alte gesessen und hat immerzu geschrieben und geschrieben, und davon ist die ganze Gegend sehr beriehmt geworden. Wie er hieß – warten Se mal, ein Wochentag – Dienstag – nee, Freitag!« Nun wußte ich Bescheid; auf der Hünenkuppe beginnt Freytags »Ingo«, aber er hat ihn nicht dort geschrieben, sondern in seinem behaglichen Arbeitszimmer in Siebleben diktiert, »einem blitzdummen Kerl«, wie er mir im selben Arbeitszimmer erzählte, »denn vor einem denkenden Schreiber bewahr den Dichter der Himmel ...« – »Drüben steht auch'n Boom«, fuhr mein Cicerone fort, »der heißt nach ihm Freytagsboom.« Ich zog mein Reisebüchlein hervor. »Ja«, sagte ich, »und dann muß doch hier die Ingoklippe sein, die auch an Freytag erinnert.« – »I bewahre!« lachte der Kutscher. »Die Inchoklippe – das is richtig, die sehn Se gleich links oben! Aber mit deme Herrn Freytag hat das nichts zu dhun! Der Incho war Se nämlich ooch so 'n alter Hüne von der hochfürstlichen Schloßwache, ein braver deutscher Mann – jaa!« Dann gab er dem Gespräch eine praktische Wendung, indem er seinen leeren Tabaksbeutel hervorzog. Ich verstand den Wink, und er fuhr vergnügt davon.

Mit dem Denkmal des braven Schloßwachmanns Ingo, einer steilen Klippe, endet die Romantik des Schwarzatals, dann folgt die Reihe der großen Gasthöfe vor Blankenburg. Der ansehnlichste ist der »Chrysopras«, der kuriose Name erinnert an einen kuriosen Menschen. Danz hieß er und war um 1760 in Blankenburg Schneider, sogar ein ganz verdrehter Schneider, wie seine Mitbürger glaubten, denn statt auf seinem Arbeitstisch zu hocken, lief er die Berge ab und sammelte Steine; namentlich auf den Chrysopras, den zartgrünen Schmuckstein, war er wie versessen. Freilich teilte er diese Vorliebe mit einem berühmten Zeitgenossen, Friedrich dem Großen, der sein Sanssouci und das Potsdamer Stadtschloß überreich mit diesem milden, feinen Stein geschmückt hat; aber auch sonst wurde den Blankenburgern bald klar, daß ihr Meister Zwirn eigentlich ganz schlau war, nur eben mit einem Stich ins Närrische. Denn die Mineralien, die er sammelte, verhandelte er weiter, wurde allmählich ein wohlhabender und, da er unablässig mineralogische Studien trieb, in seiner Art gelehrter Mann, schließlich königlich-preußischer Bergrat und Besitzer dieses Hauses. In allem war er vernünftig, nur von Chrysoprasen konnte er nie genug haben und häufte ihrer eine schwere Menge auf, was aber dann seinen Erben recht angenehm war. Und so tauften sie das Haus pietätvoll nach seiner einträglichen Marotte, und es heißt bis heute so. Aber nur der Name ist ungewöhnlich, der Gasthof und seine Führung sind ganz landesüblich.

In diesen Gasthöfen des Schwarzatals und in denen des Städtchens halten viele Leute ihre Sommerfrische und tun recht daran; es wimmelt nur so von hübschen Anlagen nach allen Seiten. Und was mich an Blankenburg enttäuschte, stört nicht viele Menschen. Es ist ein uraltes Nest mit reich bewegter Geschichte, so rund tausend Jahre alt, vom 12. bis ins 14. Jahrhundert Residenz der Schwarzburg-Blankenburger Linie, aber noch bis ins 17. Jahrhundert hinein ein Mittelpunkt der Kultur dieser Landschaft. Davon müßte wohl doch noch was zu sehen sein, dacht ich, und mir wässerte der Mund, als ich einmarschierte; sogar auf Mauer und Graben wagte ich hier noch zu hoffen. Nun, sie sind seit einem Jahrhundert beseitigt, und auch nach alten Häusern guckte ich lange aus, bis ich zum mindesten ihrer zwei fand, das eine gegenüber der Kirche, das andere nah der Post, beide brave Steinhäuser mit Rundbogenportal aus dem 16. Jahrhundert und hübschem Zierrat von Rosetten, Nischchen und dergleichen. Das Rathaus ist ein dürftiger Bau aus öder Zeit (um 1750); älter sind nur zwei Tafeln rechts und links der Türe. Die zur Rechten zeigt das Blankenburger Stadtwappen, den aufsteigenden Löwen, von 1434, die zur Linken die Figur eines Bürgers aus gleicher Zeit, die als Wahrzeichen der Gerichtsbarkeit gedeutet wird. Also eine Art bürgerlichen Rolands. Das ist alles. Denn auch die Kirche ist modern restauriert, und selbst auf dem alten Kirchhof findet man nur Grabsteine aus dem 18. Jahrhundert; wohin mögen sie nur die älteren getan haben?

An die einstige Bedeutung Blankenburgs mahnt nur eine Ruine, allerdings eine der größten Deutschlands, der Greifenstein, auf einem steilen Hügel nördlich der Stadt. Wie ich so sacht emporschritt und mir das bröckelnde Mauerwerk immer gewaltiger entgegenwuchs, hatte ich einen starken Eindruck: als nahte ich einer zerstörten Stadt. Aber als ich nun oben zwischen Gestrüpp und Ginster umherkletterte, da sprach nur noch die Natur zu mir, der Ausblick ins helle breite Saaletal im Nordwesten, ins ernste zerklüftete Schwarzatal im Süden wirken jeder an sich und zudem durch den Gegensatz, aber das Mauerwerk sagte mir wenig. Es ist alles gar zu verwüstet; einen einzigen Bau abgerechnet, stehen eben, auch nur mit großen Lücken, die kahlen Mauern da, an manchen Stellen unter Mannshöhe, an anderen höchstens bis zum Doppelten und Dreifachen, und wie die Burg einst war, kann man sich nicht klar vorstellen, selbst den Zug der Umfassungsmauer nur mühsam erkennen. Es waren eigentlich drei Burgen, an denen fünf Jahrhunderte geschaffen haben; mit dem Verwüsten ging's ungleich rascher. Der älteste Teil ist die Burg, die man durch einen Spitzbogen zuerst betritt; die Quadern aus dem 13. Jahrhundert halten noch; was spätere Zeiten aus Muschelkalk und Ziegeln hinzufügten, ist fast verschwunden. Gegen West und Ost reihen sich, von dieser Burg durch tiefe Gräben geschieden, zwei andere an, von der westlichen sieht man wenig mehr, die östliche hingegen ist der besterhaltene Teil. Hier steht, von Buchen, Eichen und Flieder umwachsen, der frühgotische Chorbogen der Kapelle, hier, neu unter Dach gebracht, der Bau, in dem nun eine Wirtschaft betrieben wird. Auch aus der obersten Stube kann man die beiden Täler übersehen und das liebliche Rinnetal dazu; das sah ich mir, obwohl zwei Damen am nächsten Tisch geräuschvoll Leipziger Stadtklatsch breittraten, lange, lange an und ging dann mit wachen Sinnen und unbewegten Herzens zu Tal. Denn ins Träumen oder zu seelischer Anteilnahme bringen einen derlei Trümmerstätten nur, wenn sie an sich sehr schön sind oder Erinnerungen an große Schicksale wecken. Hier trifft beides nicht zu. König Günther ist auf dem Greifenstein geboren, hat oft hier verweilt – aber was ist uns der arme Schattenkönig? Die Namen der andern, die hier herrschten, meldet »kein Lied, kein Heldenbuch«, und die Beherrschten gar sind still und stumm ins Grab gesunken, wie sie still und stumm gelebt und gelitten haben. Denn Blut und Tränen sind auch hier geflossen, viel Blut und viel Tränen, aber nur im Kampf um Mein und Dein, um ein Dorf oder, wenn's hoch ging, um eine Geviertmeile. Wer auf dem Greifenstein steht, begreift sehr wohl, daß hier, an der Grenze zwischen Wald- und Ackerland, an der Mündung dreier Täler früh ein Flecken entstand, und ebenso, daß dieser Berg sehr bald zur Feste wurde. Sie beherrschte die Täler und war zur Zeit, da die Geschosse noch nicht weit trugen, fast uneinnehmbar. Kein Wunder auch, daß es andere danach gelüstete; mit wem immer die Schwarzburger in Fehde gerieten, um Stadt und Schloß Blankenburg ging's zunächst. Daher die rastlose Arbeit durch fünfzehn oder mehr Menschenalter, den Greifenstein zu festigen; immer neue Gräben wurden gezogen, immer neue Mauern getürmt; im Frieden aber weilten die Herren lieber anderswo als in der düstern, riesigen Burg. So erklärt sich's, daß der Palas, das Wohn- und Festhaus, sowie der Frauengaden hier bereits 1548 ein »Aufenthalt von Eidechslein und Nachtraben« waren, zu einer Zeit also, da noch neue Ringmauern angelegt wurden. Die Erfindung und Verbesserung der Kanonen nötigte dazu; der Kesselberg im Norden ist höher als der Schloßhügel. Als auch dies nicht mehr fruchtete, räumten die Herren den Greifenstein und verkauften das Gemäuer an die Bürger unten. Die bauten sich davon ihre Häuser, trieben auch Handel mit dem Gestein und Eisenwerk; widerstanden die Quadern, so wurde fleißig gesprengt. Daneben trieben hier Schatzgräber ihr Wesen, heimlich oder offen; es gab sogar im 18. Jahrhundert ordentliche Genossenschaften zu diesem Zweck, die auch emsig Gewölbe sprengten und Stollen trieben. Denn in der Thüringer Sage ist der Greifenstein eine einzige große Schatzkammer, was begreiflich ist; hier wurde ja tatsächlich in Kriegszeiten durch Jahrhunderte alles Gut und Geld des ganzen Gaus geborgen. Auch heute noch versuchen oben Schatzgräber ihr Glück, und ein alter Krämer nah dem Markt, bei dem ich um fünf Pfennige Zündhölzchen kaufte, teilte mir – bar Geld lockt, und hier hat man Zeit – ganz genau mit, wie man das mit Erfolg anstellen kann. Man muß am 1. Mai, dem Tag, wo die Hexen tanzen, oder am Johannistag, der in Thüringen den Toten gehört, oder zu Silvester, wo man in die Zukunft sehen kann, geboren sein, sich vor nichts fürchten, auch nicht vor der blassen Frau, die oben allnächtlich ein Grab für ihr Kind schaufelt, das sie im Burggraben ersäuft hat, und drittens muß man ein von einer reinen Jungfrau gewebtes Hemde durch drei Mondmonate, also zwölf Wochen tragen, ohne es zu wechseln. Harte Sachen, besonders die letzte; da wird man ja zuerst ein Kammerjäger und dann erst ein Schatzgräber.

Die Zeiten wandeln sich; einst hat der Greifenstein die Blankenburger zugleich geschützt und geplündert, und nun tun sie ihm das gleiche; er ist ihr Steinbruch, aber vor allzu argem Verfall wahren sie ihn doch – der Fremden wegen, von denen nun die halbe Stadt lebt (die andere Hälfte von allerlei Fabriken); den Sommergästen muß der romantische Aussichtspunkt erhalten bleiben. Daß der Greifenstein wie die schönste so die älteste Ruine Deutschlands ist, darauf schwört jeder Blankenburger; sie wissen auch ganz genau, wer die Burg erbaut hat, »ein Herr Greif vor zweitausend Jahren«, wie mir die Kellnerin in der Burgwirtschaft sagte und der Krämer stolz bestätigte. Dieser Herr Greif ist aber keine Erfindung der neuen Zeit, sondern des 17. Jahrhunderts; damals fand's ein Historiker: Greif war ein Sohn Karl Martells und erbaute die Burg 748; den Tag hätte der Mann auf Verlangen auch festgestellt; heute haben's die armen Geschichtsschreiber viel schwerer. Noch stolzer aber als auf den Herrn Greif sind die Blankenburger auf einen Mann, der nur acht Jahre (1837-1845) ihr Mitbürger war; sein Wohnhaus, dann seine Arbeitsstätte sind mit Gedenktafeln geschmückt, und zu seinem hundertsten Geburtstag (1882) haben sie ihm sogar ein Denkmal errichtet. Alles nicht zu viel, denn der Mann hat mehr für die Menschheit getan als alle regierenden Heinriche und Günther zusammengenommen und hat dem kleinen Nest einen unvergänglichen Ruhmestitel geschaffen; hinter der Kirche, im Kellerhaus – jetzt ist die Mädchenschule drin – entstand 1840 der erste Kindergarten der Welt. Nun weiß man, daß ich von Friedrich Fröbel spreche; im nahen Oberweißbach geboren, ließ er sich als Fünfziger hier nieder, um endlich seine Idee – die Erziehung des Kindes als »Gliedganzes« – praktisch durchzuführen; nachdem sie sich bewährt hatte, übersiedelte er nach Schloß Marienthal bei Liebenstein, wo ihm größere Räume und Mittel zur Verfügung standen. Kein Geringer im Geist, war er ein Großer im Gemüt, und die haben's immer noch etwas härter als andere Große; man versteht heut, welcher todernste Kampf um sein Ideal sein Leben war, versteht, daß man ihn verkannte und verhöhnte, selbst das Verbot der Kindergärten in Preußen (1851), das dem alternden Manne das Herz brach, ist verständlich; es ist immer dieselbe Geschichte, solang Menschen auf Erden leben, aber sie kreuzigen doch immer nur den Körper, nicht den Geist. Man hört jetzt oft die Mahnung, Fröbel nicht zu überschätzen, das steht mir fern; auch ich weiß, wie abhängig er von Pestalozzi war; der Mensch wie der Schriftsteller sind von Schrullen nicht frei; und neben Tiefsinnigem findet sich (wie freilich gerade bei Pädagogen nicht selten, die sich immer zum Kinde bücken müssen) auch Läppisches; zudem weiß ich, durch wieviel Arbeit anderer der Kindergarten von 1840 zu dem wurde, was er heut ist. Aber ohne Fröbel hätten wir ihn nicht, und darum ist weit mehr die Mahnung am Platze, ihn nicht zu unterschätzen. Durch ihn sind Milliarden Menschenkinder ein wenig besser, ein wenig gesunder geworden, als sie sonst gewesen wären – wessen Ruhm wäre schöner?

Am kleinen Fröbeldenkmal vorbei – unweit davon steht ein viel stattlicheres für den Fürsten Georg von Rudolstadt – geht's in die hübschen Anlagen am rechten Schwarzaufer, den Gasthöfen gegenüber. Schöne Buchen und Eichen, wohlgehaltene, sanft ansteigende Pfade, bequeme Bänke und kaum eine frei. Fast immer dieselbe Idylle: vier Frauen stricken, und eine fünfte liest ihnen einen Romanstrumpf vor, den eine sechste gestrickt hat. Schon hier mußte ich an des Schusterleins Wort von den »frommen Damens« denken, denn die »Gartenlaube« war wirklich noch das frivolste Blatt, das ich da sah, andere Kränzchen lauschten dem »Pfarrhaus« und labten sich am »Quellwasser fürs deutsche Haus«. Auch die Herren schienen mir nicht gottlos, wenn auch keine Asketen; auf dem Weg empor überholte ich nicht weniger als sechs dicke Männer, die schweißtriefend dahinschritten und nach den Markierungen am Wege schielten, denn Blankenburg ist ein Terrainkurort nach Örtels System und zwei von diesen dicken Männern lasen dabei im »Reichsboten«. Da wunderte mich's weiter nicht, daß mir auf dem Weg ins Werretal eine schwarzgekleidete Dame begegnete, die mir ein Traktätlein reichte, und hundert Schritte weiter eine andere. Neben dem Aufgang zum Katzenstein steht ein Schutzhüttchen; gerührt las ich die Inschrift: »Mit höchster Genehmigung SERENISSIMI zum Andenken des 25jährigen Badejubiläums des Herrn C. T. Böhmer, Jena.« Daneben aber saß eine dritte Dame in feierlichem Schwarz, von der ich ein drittes Traktätlein erhielt. Ich ging weiter, zur Rechten die Abhänge der Hünenkuppe, zur Linken das schöne Waldtal der Werre, bis zum Werresitz, wo sich das Tal teilt. Wald, so weit das Auge trägt, nur Wald – es ist sehr schön hier und sehr einsam. Dann kehrte ich zurück und kletterte die Felstreppe des Katzenstein empor, eine Art natürlichen Erkers, von dem man weithin ins Schwarzatal sehen kann. Es war ein heißer Tag, und wie ich oben zwischen den Felsen stand, die eine dumpfe Glut ausströmten, befiel mich ein Schwindel; auch war ich sehr müde und hungrig. Mit wankenden Knien kletterte ich wieder hinab und sank fast ohnmächtig auf das Bänkchen, auf dem auch die Dame mit den Traktätlein saß. Und da begegnete mir etwas, was mich sehr, sehr traurig machte, denn ein langes Leben hat mich gelehrt, zu erkennen, daß die Religion für die meisten Menschen der einzige Quell idealer Gesinnung ist, und darum tut's mir in der Seele weh, wenn ich sehe, daß gerade sie einzelne hart und roh macht. Die Dame, sie war noch jung und offenbar gebildet, sah mich scharf an: »Sie sind ja totenblaß? Sie scheinen sehr unwohl!« Ich dankte mühsam, es würde bald vorbeigehen. Darauf sie hart und schroff: »Woher wissen Sie das? Lesen Sie lieber dies Blatt und beherzigen Sie es.« Es war ein Traktätlein der Barmener Mission, das in derben Worten mahnte, die letzte Stunde sei nahe. Stumm las ich das Blatt und ging zu Tal ...

Im kühlen Speisesaal des »Chrysopras« fühlte ich mich bald wieder wohl. Ich saß an der Table d'hôte der Leipziger Dame gegenüber, die auf dem Greifenstein ihrer Freundin die Beiträge zur Sittengeschichte ihrer Stadt mitgeteilt hatte, und konnte leicht bemerken, daß mich da der Zufall sehr begnadet hatte, sie war sichtlich die Königin dieses Kreises, von allen verehrt, aber auch gegen jedermann huldvoll. Auch mich fragte sie leutselig, wie es mir oben gefallen hätte. »Ja«, sagte sie, »ä boetisches Blätzchen, aber fer Leide von Gefiehl doch ooch sehr wehmiedhig! Der arme Keenigk Gündher! So frieh sterben, und ä wiestes Weib hatte er ooch!« Das fiel mir auf, denn von Günthers Gemahlin weiß die Geschichte nichts zu sagen, als daß sie lebte. Ich fragte also. Sie zuckte die Achseln. »Hibsch war se ja un stark, aber eben ä brudale Berson! Wenn er nich barierte, gab's uff 'n Fleck Hiebe! Nur wenn ihm sein Schwager half, brachte er ihr Räsong bei; da bassierde viel, man gann als Dame nich alles erzählen ...« Ehrfurchtsvoll lauschte die Runde, ich aber fragte schüchtern, woher sie das wüßte. »Aus der Liddraduhr«, war die stolze Antwort, »ooch in Ferschen.« In Versen? Da durchzuckte mich die Erkenntnis, sie meinte Gunther, Brunhilde und Siegfried.

So hatte mir das Schicksal gegönnt, binnen einer Stunde eine wahrhaft fromme und eine wahrhaft gebildete Dame kennenzulernen. –

Das obere Schwarzatal, von Schwarzburg aufwärts bis zur Quelle bei Scheibe, ist ein breites, heiteres Tal, durch das die Schwarza sanft ihre klaren Wellen rollt wie durch eine Ebene, denn Scheibe liegt nur 300 Meter höher als Schwarzburg und die Entfernung zwischen beiden Orten beträgt 34 Kilometer. Wenig Felsen, nur zahme, mäßig ansteigende Waldberge. Das Schönste, was dieses Tal bietet, sind die Wälder und das Merkwürdigste die Art, wie die Menschen hier ihr Brot erringen. Beides darf man nicht auf der Landstraße suchen. Und so bin ich nur ab und zu von einem Dorf zum andern gegangen, meist aber gefahren und lieber durch die Wälder gelaufen.

Das ist das richtige Waldland; wie der schönste Schmuck der Landschaft ist der Wald auch der beste Freund, der Schützer und Ernährer dieser armen, hart ringenden Menschen. Sein bescheidener Segen ist ihnen geblieben; andere, lockendere Gaben hat ihnen die Natur nur wie zum Hohn gespendet und wieder entzogen. Wie es den Leuten mit dem Gold der Schwarza ging, habe ich bereits erzählt; nichts Besseres erlebten sie mit dem Gold der Felsen. Verfallene Schachte trifft man hier oft; auf dem Tännig ob Schwarzburg, bei Glasbach, Goldisthal, Reichmannsdorf usw. Ein unheimlicher Anblick: wie Riesengräber, die noch ihres Inhalts harren, starren einem die Schlünde entgegen, aber sie haben ihn längst erhalten – wieviel Hoffnungen sind hier versenkt und wieviel Goldbarren; hundertmal mehr als je herauszuholen wären. Denn goldhaltig ist ja zweifellos der Quarz des Schwarzatals, nur eben in so winzigem Maße, daß er den Bergbau nicht lohnt. Durch fünf Jahrhunderte ist's immer wieder versucht worden, zuweilen mit gewaltigen Mitteln, so 1596 von Nürnberger Kaufleuten auf dem Tännig, dann 1770 von einem österreichischen Oberstleutnant von Domnitz in Goldisthal. Er baute hier einen stattlichen Herrensitz; fremde und heimische Arbeiter hatten reichen Verdienst, bis nach vier Jahren das Kartenhaus zusammenbrach. An die einstigen Träume von Gold und Reichtum mahnen nur die Namen der Dörfer: Goldisthal, Reichmannsdorf, und sie klingen heut wie Hohn, denn es sind die ärmsten im Tal. Man wird hier sonst nie von Einheimischen angebettelt, nur von fahrenden Leuten: in Goldisthal allein streckte mir zuweilen ein blasses Kind das Händchen entgegen, und auch für diejenigen, die's nicht taten, bettelten die abgezehrten Glieder und die hungrigen Augen. Vielleicht ergriff mich das Schicksal des Dorfes deshalb doppelt, weil es mich an das gleiche erinnerte, das eine mir sehr teure Landschaft getroffen hat; im südwestlichen Winkel der Bukowina habe ich einst schöne Monate verbracht. Hier wie dort ein goldhaltiger Fluß – ich habe ihn bereits genannt: die Bistrizza – und Gold im Quarz und beide zu wenig und nach kurzem Rausch Armut ohne Ende. Das Schicksal liebt oft solche Parallelen bis zum äußersten zuzuspitzen; hier wie dort war's ein ehemaliger österreichischer Offizier, und auch sein Herrensitz ist, wie der von Goldisthal, nun ein armseliges Gasthaus. Armselig ist alles in Goldisthal, nur die kürzlich erbaute gotische Kirche nicht. Sie ist hübsch, das Werk desselben, vielleicht nicht allzu begabten, aber grundtüchtigen Mannes, der seit Jahrzehnten das meiste im Fürstentum gebaut hat, aber anderswo hätte sie mir besser gefallen. Ich bin kein Feind von Gotteshäusern – wahrlich nein; und gerade arme, von der Sorge erdrückte Menschen bedürfen am meisten einer Stätte, wo ihnen Trost und Hoffnung quillt; aber es wäre doch vielleicht besser gewesen, das alte Kirchlein zu restaurieren und statt des Neubaus eine Fabrik zu bauen, etwa eine Holzwarenfabrik, wie sie nun in Glasbach, das vom gleichen Schicksal getroffen war, den Leuten Brot gibt. Besser und – wie soll ich's nur ausdrücken? – zweckdienlicher; denn Menschen, die ohne ihr Verschulden ihre Kinder hungern sehen, werden nicht so leicht an die Allgüte und Allgerechtigkeit Gottes glauben, und predigtet ihr sie ihnen mit Engelszungen ...

Tauchte der Goldglanz bloß wie Irrlichtschein auf, so war ein anderer Segen nur eben zu früh erschöpft. Seit grauen Tagen bis ins 17. Jahrhundert hinein lohten hier die Rennfeuer; sie gewannen aus dem Erz direkt schmiedbares Eisen wie etwa heute die Völker Innerafrikas. Dann bauten sie Blauöfen, dann regelrechte Hämmer, aber der Eisengehalt war für lohnenden Betrieb zu gering; das Eisen Westfalens, um die Hälfte billiger herzustellen, schlug das thüringische tot. Und Tausende waren brotlos.

Anders, sagt ich schon, der Wald; er bleibt stetig wie das Grün seiner Tannen, und was er den Ahnen spendete, gewährt er nun den Enkeln. Wer die Forste in der Nähe der Dörfer durchstreift, trifft immer auf Leute, die hier dem Erwerb nachgehen, und vieles ist noch so wie vor Jahrhunderten.

Wie im Mittelalter ziehen auch nun im Morgengrauen des Montags die Köhler in den Hochwald, meist ihrer drei, den Sack auf dem Rücken, in dem sich für sechs Tage Proviant findet, ein schwerer Packen, denn es sind nur Kartoffeln drin und etwas Mehl. Die Arbeit beginnt mit dem Fällen der Stämme; es folgt das Stockmachen, das Zerkleinern in möglichst regelmäßige Scheite, dann werden diese zum halbkegelförmigen Meiler geformt, mit Erde und Kohlenschutt bedeckt und angezündet. Nicht dem Auge, aber der Nase verrät sich der rauchende Meiler weithin, oft auf eine Stunde Weges. Einmal bin ich ihm nachgegangen. Die Leute waren eben beim Essen, guckten mich mit erstaunten Augen aus den abenteuerlich berußten Gesichtern an und gaben Bescheid, nicht unfreundlich, aber spärlich. Ob das schwere Arbeit sei? Leichte nicht, namentlich das Stockmachen. Aber dann brenne es doch von selber? Ja, wenn man den Luftzug recht geregelt habe, nicht zu viel und nicht zu wenig. Wieviel Taglohn sie hätten? Sie sahen einander an und schwiegen, endlich sagte der Älteste: »Nicht zu viel!« – die Summe nennt kein Arbeiter in der ganzen Welt gern. Was sie da äßen? Darauf die freundliche Einladung zu kosten. Einer wischte seinen Holzlöffel manierlich an einer Handvoll Gras ab und reichte ihn mir hin. Ich holte mir aus dem Napf eine Probe; es war eine dünne Mehlsuppe mit Schwämmchen, die höllisch scharf schmeckte. Als ich den Mund verzog, lachten sie unbändig: »Das ist ja aber was Guts.« Es war Brennesselsuppe. Dann gab's als zweiten Gang gebratene Kartoffeln ohne Salz und Schmalz, und zum Nachtisch zog einer ein Stückchen harten Kornbrots hervor und teilte es mit den Genossen, dabei leuchteten ihre Augen auf; das war der Leckerbissen. Ob sie nie Schmalz und Salz zu den Kartoffeln täten? Schmalz nie, Salz wohl, aber heut sei Sonnabend, sie hätten sich's nicht gut eingeteilt; »wenn du praßt – du nichts hast!« verstand ich den Spruch, bin aber dessen nicht gewiß, denn der Dialekt der einsamen Waldleute war mir schwer verständlich. Ob sie Fleisch äßen? Ja, aber nur daheim an den höchsten Festtagen, da gäbe es Schweinefleisch. Zum Schluß erlebte ich mit den armen, rohen Menschen etwas, was mich ordentlich rührte. Ich fragte, ob sie auch rauchten. Freilich, wenn sie Tobak hätten. Ich zog meine Zigarrentasche hervor, es waren noch zwei Stück drin, die reichte ich ihnen. Aber davon wollten sie nichts wissen; bis ins Tal sei ein weiter Weg, und da ich's gewohnt sei, so würde ich's entbehren; ich möge die eine behalten und die andere »mit ihnen rauchen«. Wie das gemeint war, sollte ich bald erfahren. Sie baten mich, anzurauchen, ich ließ aber dem Ältesten die Blume. Nachdem er eine Minute wohlig aus der Zigarre gepafft, gab er sie dem zweiten, dieser dem Jüngsten, und der wieder wollte sie mir reichen. Da empfahl ich mich, meine Zeit sei um. Nun ja, feine Formen haben die Köhler im Schwarzatal nicht, aber ein gutes Gemüt.

Ein ähnliches hartes Leben führen die Holzfäller, aber nur anscheinend das gleiche wie einst; in Wahrheit ist's mit der geregelten Forstkultur nur immer beschwerlicher geworden. Einst durften sie die Stämme am Waldrand oder in der Nähe der Bergbäche schlagen, seit zweihundert Jahren schon sucht der Förster die Bäume aus. Denn Thüringen hat die älteste Forstkultur in Deutschland, eine ältere als Preußen, wo sie erst Friedrich der Große begründete, und im Fürstentum, wo der Wald etwa die halbe Bodenfläche bedeckt, wird sie besonders gepflegt. Das Fällen ist die geringere Arbeit als der Transport ins Tal. Vom November bis zum März sausen sie in Schlitten hinunter, im Frühling und Herbst müssen die Wildbäche, durch Schleusen gestaut und geregelt, die Arbeit tun. Unglücksfälle, wird mir gesagt, kommen nicht häufiger vor als in anderen Berufen; der Wäldler weiß mit seinem Wald Bescheid.

Auch Pechhütten gibt's noch im Schwarzatal, aber weniger als einst, denn das Lachten (Schälen), den Harz zu gewinnen, schadet der Tanne; es ist ja gleichsam das Blut, das ihren Wunden entquillt. Hier habe ich keine Pechhütte gesehen wie vor zehn Jahren um Ilmenau so viele. Hingegen mehr Holzleserinnen als anderswo. In den Morgenstunden ist der Wald oft wie besät mit roten, blauen und schwarzen Punkten; das sind die Kittel der jungen Mädchen und der Großmütterchen, welche die abgefallenen Äste in die Tragkörbe tun. Die Lese ist jetzt nur an zwei bestimmten Wochentagen gestattet, aber es kommt vor, daß so ein junges Ding sich den Tag nicht merkt. Auch darf man natürlich nur Äste lesen, die bereits herabgefallen sind, aber es kommt vor, daß man ihnen zum Abfallen verhilft. Vollends besteht bezüglich der Dicke der Äste, die man mitnehmen darf, zwischen den Förstern und den Leserinnen große Meinungsverschiedenheit. Es ist ja in Zentimetern vorgeschrieben, aber das kann man sich nicht merken; so hält man sich daran, daß ein Ast höchstens so dick sein darf wie ein Arm oder eine Wade, und die sind doch von verschiedener Dicke. Nur daraus ist es auch zu erklären, daß die Förster die Äste junger Leserinnen viel seltener ob ihrer Dicke bemängeln wie die der alten. Es wird eben der mitgebrachte Maßstab billig berücksichtigt.

Auch an Tagen, wo kein Holz gelesen wird, trifft man im Wald solche buntröckige Vögel, die zuweilen ein Liedchen piepsen, immer aber, wenn es ihrer zwei sind, schwatzen. Denn die Sommerfrischler, die in fast allen Dörfern des Tals sitzen, wollen Waldblumen und zahlen dafür. Das also ist, wie überall so auch hier, ein neuer Segen des Waldes, aber er wird hier verständnisvoller aufgenommen als anderwärts. Denn diese Leute lieben ihren Wald samt allem, was drin blüht, und wundern sich nicht wie zum Beispiel die im Salzkammergut über die närrischen Fremden, die Blumen hübsch finden; das tun sie selber. Freilich die Topfpflanzen gefallen ihnen viel besser; selten ein Haus, das nicht sein blühendes Fensterbrett hätte: »Origele und Nägele« (Aurikeln und Nelken), daneben Rosmarin, der getreue Geleiter des Wäldlers von der Wiege bis zum Grabe. Ein Zweiglein der stillen Blume liegt auf dem Polster des Täuflings, wenn er zur Kirche getragen wird; es wird ebenso ängstlich darauf geachtet, wie es vermieden wird, daß an dem Tage ein Grab in der Gemarkung offen stehe. Aus Rosmarin (und Preißelbeerenkraut) ist der Kranz gewunden, mit dem die Schwiegereltern die Braut schmücken, wo ihn nicht die neumodische Myrthe verdrängt hat; uralte Mode aber, die ewig jung bleibt, ist, daß viele ohne grünes Kränzlein im Haar zur Kirche gehen. Der Bräutigam hingegen – o Björnson, wo ist dein Handschuh? – trägt auch in solchen Fällen den Rosmarinstengel am Rock, ebenso die Brautführer. Auf dem Sterbekissen aber liegt wieder ein Rosmarinstengel, und auch das Geleit trägt diese Blume. Mit dem Hausgarten steht's lange nicht so gut wie mit dem Fensterbrett, aber selbst der dürftigste hat einen Strauch Rosen. Sie sind unentbehrlich, schon als Orakel. Will das Mädchen erfahren, ob's der Geliebte ernst meint, so setzt sie zwei Blättchen als Kähne in den Bach, das erste ist sie selber und das zweite er. Ist er nun eifrig hinter ihr her, »wie der Mönch hinter der Nonne« (so sagen die Slawen, und, seltsam genug, sagen sie's auch hier, obwohl sie nun seit vier Jahrhunderten keine Klöster mehr haben), so ist's gut; wo nicht, so läßt sie – zwei andere Rosenblättchen auf dem Bach schwimmen.

Ein neuer Erwerbszweig ist auch das Sammeln von Beeren: Erd- und Himbeeren, Heidel- und Preißelbeeren. Es ist vergnügliche Arbeit für die rotbackigen Dinger; wie die Bachstelzen hüpfen sie auf nackten Sohlen schwatzend durch den Wald und bergen den Fund zum Teil im Mund, zum Teil im Korb. So kann man ihnen schon an den frischen Lippen ansehen, welche Gattung von Vaccinium sie gelesen haben, die schwarze Heidel- oder die rote Preißelbeere. Um über die volkswirtschaftliche Seite der Sache ins klare zu kommen, habe ich die Hübschen unter ihnen darnach gefragt; die Häßlichen hätten's mir ja vielleicht auch sagen können, aber man muß sich das Studium möglichst angenehm machen. Die Hübschesten waren zwei blutjunge Dinger, die ich bei Katzhütte traf; sie sahen so verschieden aus, wie Kaukasier überhaupt untereinander sein können. Die eine schlank, blondhaarig, blauäugig, mit einem schmalen Gesicht, die andere klein, Aug und Haare schwarz, das Gesicht rundlich und breit wie die Gestalt. So verbildlichten sie mir zugleich sehr angenehm die beiden Menschentypen des Tals, deren Grenzlinie etwa der Katzebach ist; von dort bis über Goldisthal hinauf sitzt der kleinere schwarze, abwärts aber bis zur Mündung der längere blonde Schlag. Mischlinge zwischen Deutschen und Slawen sind sicherlich beide, nur schlägt bei den Blonden das germanische, bei den Schwarzen das slawische Blut mehr durch; es stimmt dazu, daß diese ihre Friedhöfe mit lebendigem Fichtenzaun umhegen, wie man's zuweilen am Balkan trifft; es sieht anmutig und tröstlich aus. Mit diesen beiden nun, weil sie die Hübschesten waren, veranstaltete ich die gründlichste Enquete; sie waren blutrot, lachten, steckten auch die Pfötchen in den Mund, gaben aber Bescheid. Die Ergebnisse meiner Forschung sind die folgenden: Erdbeeren waren bis zum vorigen Sommer nur für die Fremden zum Essen da; dies Jahr sind, ohne daß diese wichtigste Verwendung aufgehört hätte – »sie fressen's immerzu gar gern« –, zwei neue Sachen aufgekommen durch eine Berliner Familie. Die Köchin, Auguste heißt sie – »kennen Se se 'leicht, 'ne Dicke, Blonde?« –, macht Erdbeeren ein; sie hat's auch der Frau vom »Wurzelberg«-Wirt gezeigt, wie man's macht, und diese anderen; das wird man nun nachtun und ein kleines Versandgeschäft beginnen wie schon früher mit eingemachten Himbeeren. Die zweite neue Sache hat Augustens Fräulein aufgebracht – aber da platzten sie los, und es währte fünf Minuten, bis ich's endlich erfuhr: das Fräulein also macht aus den Erdbeeren einen Brei und schmiert sich ihn vorm Schlafengehen übers Gesicht. Warum sie das täte, fragte ich. »Weil sie geel (gelb) is un gar gerne rodhe Backen kriegen dhäte.« Ob sie das auch nachtun wollten? Und da sagten die beiden Dingerchen wie aus einem Munde, indem sie mich aus blauen und schwarzen Augen gleich schalkhaft anblitzten: »Wenn Se glauben, daß mer's nötig haben dhäten!« Ja, so sind sie – und wenn's nur sechzehnjährige Beerenleserinnen sind und vor ihnen steht ein angegrauter Mann, der im Schweiße seines Angesichts die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schwarzatals ergründet, kokettieren müssen sie. Was aber die Himbeeren betrifft, so werden sie nicht bloß den Fremden frisch verkauft und als Eingemachtes versendet, sondern man macht seit zwei Jahren auch Himbeersaft daraus; der Krämer hat eine Presse, verlangt aber für die Benutzung »ein Sündgeld«, und daher baut jetzt der Knöpfchehannes selbst eine Maschine; der will's billig tun. Die Heidelbeeren wieder werden nicht eingemacht, nicht gepreßt, sondern teils essen's die Fremden, teils verkauft man sie in Körben »wie'n Häusche« an die Weinhändler; »dadervon wird der Win sehre guet!« sagten diese ahnungslosen Geschöpfe. Schließlich die Preißelbeeren, die würden meist eingemacht gegessen; dann verkaufe man sie auch an die Branntweinbrenner, die machten den feinsten Schnaps daraus; ob ich noch kein Beerenwasser getrunken hätte. Ich mußte verneinen; in Likören bin ich überhaupt erbarmungswürdig schwach. Nun das Letzte: wieviel sie wöchentlich verdienten, da haperte es; »acht Groschen«, sagte die Hanne, »zwanzig« die Marie, beide ganz gedankenlos; das Geld bekam eben Mutter. Damit war der Kursus beendet; das ehrlich verdiente Honorar nahmen sie nur nach langem Zureden, obwohl sie doch sichtlich sehr arm waren; das erwiesen die geflickten Kittelchen. Für den Sonntag hatten sie wohl ganze; auch Schuhe, ein Schnürmieder und ein Halstuch, aber sicherlich nichts mehr von der alten Tracht. Die sieht man nur noch selten und dann an betagten, wohlhabenden Bauern. Außer im Erfurter Museum habe ich in den zwei Wochen, wo ich hier bin – denn nun sind's sachte so viel geworden –, diese Tracht ein einziges Mal gesehen, an einem behäbigen Paare in Mellenbach, sonntags beim Kirchgang. Er trug einen langen schwarzen Mantelrock, auf dem Kopf einen Dreimaster, im Haar den Bleikamm, der's zusammenhielt; sie einen schweren dunkelblauen Rundmantel über bauschigen Röcken; das greise Haar deckte eine schwarzseidene Mütze, deren Bänder unter dem Kinn gebunden waren. Nur diese sehr kleidsame Bandmütze sieht man noch oft, ab und zu auch das gestickte Mieder, aber die sieben Röcke übereinander – wie im Museum – sind vernünftigerweise verschwunden. Das war ja auch eine Tracht, die namentlich zur Sommerszeit außer dem Auge mindestens noch einen der vier anderen Sinne gröblich beleidigen mußte. Heute tragen die Frauen Blusen und Röcke, die sich nur durch die grellen Farben und den plumpen Schnitt von der städtischen Tracht unterscheiden; die Männer blaue Kittel und Mütze am Wochentag, sonntags Jägerrock und Hut oder Rock und Hose wie die Handwerker in den Marktflecken. Nur Zylinder habe ich noch nicht gesehen.

»Es ist anscheinend seltsam, in Wahrheit wohl begreiflich«, hat ein bekannter englischer Romandichter vor einigen Jahren nach zweitägigem Aufenthalt in Berlin an die »Times« berichtet, »daß die Berliner Droschkenkutscher zweiter Klasse dünne, die erster dicke Männer sind; diese verdienen eben mehr.« Ich würde vermutlich einen Ausspruch von derselben Richtigkeit leisten, wenn ich behaupten würde: »Die Beerenleserinnen im Schwarzatal sind jung, die Schwämmeleserinnen alt, denn dazu gehört mehr Erfahrung.« Die Wahrheit ist, daß die Frauen, die ich Schwämme sammeln sah, zufällig sämtlich alt waren. Die Ausbeute war groß, denn so reich an eßbaren Pilzen aller Art sind wenige Wälder Deutschlands; es ist eben der richtige Boden: sandig, mit Moos bedeckt, mit Nadelholz bestanden. Ganze Butten voll Morcheln, wilden Champignons, Steinpilzen und Pfefferlingen schleppten die alten Weiblein zu Tal. Ob sie so viel brauchen könne, fragte ich eine besonders eifrige Sammlerin. Du lieber Himmel, wenn's nur so viel wäre, das wäre schlimm! Jetzt, im Hochsommer, komme sie täglich dreimal. Was sie damit anfinge, fragte ich. Nun wollte sie sich gar ausschütten vor Lachen. »Man machet Feuer dadermit an«, neckte sie, »und stopfet's in die Bettpfühl, oh, da lieget man gut und drocken!« Dann aber, ob ich nicht wüßte, daß das »zum Fräßen« wäre, »zum Äßen« verbesserte sie sich manierlich, aber auch nicht ohne Ironie. Einiges verkaufe man an die Fremden, einiges esse man selber, das andere werde gedörrt oder eingemacht, das verkaufe man an die Händler oder bewahre es zum eigenen Gebrauch auf; das sei ein rechtes Labsal beim »äwigen Kartoffelfräßen; da därf man schon Fräßen sachen, das därfen Se glauben.« Ich glaubte es gern; die Schwämme sind den armen Leuten die einzige Würze ihrer dürftigen Alltagskost; von Kartoffeln allein werden sie ja satt, und das kann einem so ein langes Leben durch wirklich zuviel werden, auch wenn man's – und das ist freilich das Beste dran – nicht anders gewohnt ist und trotz aller Künste der Zubereitung. Die Kartoffeln werden abwechselnd gebraten, gekocht und geschmort, dann wieder gibt's Kartoffelbrei, zuweilen auch Zämpe (geschnittene, in Schweinefett gekochte Kartoffelstückchen) oder gar Pfannkuchen aus Kartoffeln (Scharbs), aber Kartoffel bleibt schließlich Kartoffel. Abwechselung in diese Alltagskost kommt nur am Sonntag, da gibt's bei den Wohlhabenden Bratwurst oder Hering, bei den Ärmeren zum mindesten Heringslake; auch bringt der Sonntag immer frisches Kornbrot, zumeist mit Fenchel oder Würze wie in Tirol, aber wie dort so geht es auch hier in der Woche häufig genug aus. »Fleisch mag ech nech«, sagte die muntere Alte auf meine Frage, »denn wenn ech's mächt, hätt ech's do nech!« Rindfleisch habe sie zuletzt vor zwei Jahren bei einer Hochzeit gegessen, Lammfleisch in den letzten Ostern bei einer Taufe, aber Schweinefleisch habe sie zu den höchsten Festtagen auch im eigenen Hause; ihr Sohn sei in der Fabrik und ein guter Mensch, und sie selbst verdiene durch das Schwämmelesen auch was. Sei's damit nichts, so sammle sie die »geele Blume«, die gebe, mit Branntwein aufgesetzt, das beste Heilmittel für Wunden. Sie meinte – ich ersah's dann aus Regels »Thüringen«, nebenbei bemerkt, einem so trefflichen Buche, wie wir es über wenige deutsche Landschaften haben – die Arnica montana, die der Älpler Mutterwurz nennt und ebenso verwendet. Auch für Tannensamen gäbe es ab und zu einen Groschen, freilich fielen selten brauchbare Zapfen herab, und wie ein Zapfensteiger könne sie's nicht machen; die kletterten auf die Tannen. Ich meinte, obwohl ich Widerspruch voraussah, das Leben müsse doch jetzt leichter sein als in ihrer Jugend; die Fabriken gäben guten Lohn, aber auch die Fremden brächten etwas Geld ins Land. Da kam ich aber schön an. Wer denn was von den paar Fremden hätte? Die Wirte und die Fleischer, und die wären auch früher schon in ihrem Fett erstickt. Und die Fabrikanten? Man schinde sich für sie das Mark aus den Knochen, und da sollten sie nicht zahlen? Sie wolle nicht so weit gehen wie ihr Sohn, der sage geradezu, das wären – mit Verlaub zu sagen – »Borschiss«, aber gute Menschen wären die Fabrikanten gewiß nicht. Nach einigen Hin- und Herreden wurde mir klar, daß sie »Bourgeois« meinte und damit allerdings einen üblen Begriff verband; ihr war's ein deutsches Wort und das entschuldigende »mit Verlaub« nicht überflüssig. Im Gegenteil, fuhr sie fort, in früheren Zeiten sei das Leben leichter und schöner gewesen, man habe vielleicht weniger verdient, aber das Geld sei mehr wert gewesen, ein Groschen soviel wie heut eine Mark. Und wieviel leichter, schöner Verdienst habe in dieser neuen, harten Zeit ganz und gar aufgehört. Ihre Mutter habe noch manchen guten Groschen für Zundschwamm eingenommen, jetzt sei er alle geworden, und wenn er noch aufzutreiben wäre, so gebrauche doch jeder die verdammten Zündhölzchen. Und dann der Handel mit Haaren! Sie selbst habe ihr Haar einem wandernden Friseur um zwei Taler verkauft, allerdings sei es »geel g'wesen wie Gold und lang wie drei Kuhschwänz« – die Frau erzählte davon, als wäre dieser Handel der Glanzpunkt ihres Lebens. Jetzt aber, seufzte sie, böte sich armen Mädchen kein solches Glück mehr. »Warum nicht?« fragte ich. Weil die Welt immer schlechter werde, war die Antwort; früher hätten die Stadtfrauen doch mindestens falsches Menschenhaar getragen, jetzt aber Wolle und Werg, und darüber zögen sie ihre eigenen »armseliche Ratteschwänzchen«. Zum Schluß aber bewies das scharfzüngige Weiblein doch sein gutes Gemüt. Wenn ich mich irgendwo im Wald setzte, möge ich ja darauf achten, daß mich keine Otter beiße, deren gebe es hier gar viele. Ich fragte, ob sie nie gebissen worden sei. »Nee«, sagte sie, »ech hab doch den Spruch!« Und weil sie gutherzig war, teilte sie ihn auch mir mit. Wenn man an eine Stelle kommt, wo man Ottern vermutet, so sagt man vor sich hin:

Otter, Otter, beiß mech nech,
Ech breng der o viel Beeren met.

Das muß man dann aber auch tun und einige Beeren für sie hinlegen. Ich dankte und fragte dann möglichst ernst, ob die Ottern diese Beeren auch äßen, denn meines Wissens seien sie sonst mehr für Mäuse und ähnliches Getier. Worauf das Weiblein mit schlauem Augenzwinkern: »Aber 's is ja o (auch) nur so 'n Zooberspruch!«

Ob ich auch einem Zapfensteiger begegnet bin oder nicht, weiß ich nicht; ein junger Mensch, mit dem ich vor einigen Tagen einen Waldweg ging, sagte es von sich, aber ich glaubte ihm nur anfangs. Da erzählte er anschaulich, auch in fast dialektfreiem Deutsch, was das für ein lustiges Handwerk sei, man schwinge sich, den Sack für die Tannenzapfen auf dem Rücken, von einem Baum zum andern, Stunde um Stunde, und dünke sich in der luftigen Höhe wie ein Vogel. Nun kam uns aber ein Forstwart entgegen, und mir fiel der finstere Blick auf, mit dem er meinen Begleiter maß; der wieder vergalt's redlich, während eine dunkle Röte über sein hübsches, keckes, scharfgeschnittenes Gesicht flog – recht wie Todfeinde sahen sich die beiden an, und ich dachte mir mein Teil. Er sagte aber nichts darüber, sondern erzählte nur von seiner Dienstzeit als Soldat; das sei er gern, herzlich gern gewesen. Dabei kamen wir an eine Stelle, wo sich im Moos die Fährte eines Wildes zeigte. Der junge Mensch fragte, ob ich wüßte, was das wäre. So weit reichte noch von den Karpaten her mein Wissen; es war eine Hirschfährte. »Ja, aber was für ein Hirsch?« examinierte er weiter, und das wußte ich nicht. »So ein Siebenender«, sagte er dann, »ein feistes Stück, und ganz gemächlich ist's hier spaziert!« – »Das wissen Sie so genau?« – »Freilich, wie jeder im Wald.« Nun fragte ich harmlos, ob es hier Wilderer gebe. »Ja«, sagte er lächelnd, »die gibt's hier. Diese dummen Leute glauben nämlich, daß der liebe Gott zuerst die Hirsche und die Rehe erschaffen hat und dann erst bedeutend später das hochfürstliche Oberforstamt. Und darum meinen sie, man weiß nicht ganz genau, ob der liebe Gott bei der Erschaffung der Welt schon ans Oberforstamt gedacht hat oder nicht. Wenn nicht, so wäre ja das Wildern keine Sünde.« – »Aber jedenfalls«, meinte ich, »verboten und darum gefährlich.« Er zuckte die Achseln und hieb mit der leichten Gerte, die er trug, durch die Luft. »Verboten? Es ist gar viel ohne Recht verboten und gar viel erlaubt, wofür Zuchthaus gebührt. Und gefährlich? – was ist nicht gefährlich? Da müßte man sein Leben lang fein im Bett liegen und stürbe schließlich doch.« Kurz darauf empfahl er sich. Nach fünf Minuten hörte ich im Wald hastige Schritte, da kam er wieder, aber nicht auf dem Pfad, sondern seitab, so hundert Schritte von mir, daß ich die Gestalt zwischen den Stämmen kaum erkannte, aber daß er nun keine Gerte mehr trug, sondern einen auffallend dicken Stock, sah ich doch. Wieder nach einer Weile setzte ich mich hin und ruhte ein wenig aus; da fiel ein Schuß in der Richtung, wo er verschwunden war. Wildfrevel kommen alle Tage vor, und es ist auch hier wie überall im Waldland: zwischen dem Förster und dem Wilderer ist ewiger Krieg, und alle Strafen schaffen das Wildern nicht hinweg. Auch Menschenblut fließt zuweilen, aber der Krieg wird doch minder grausam und erbarmungslos geführt als anderwärts, zum Beispiel in Oberbayern. Der Volkscharakter ist eben, ich will nicht sagen gutmütiger, aber zahmer. Auch ist der Waldreichtum dieser Forste ein so enormer, daß der Wilderer weder dem Vergnügen noch dem Geldsack des Jagdherrn erheblich Abbruch tut. Zudem hört man von häßlichem Massenmord der Tiere aus Blutdurst oder Tücke, wie sie anderwärts vorkommen, hier niemals. Die Wildsau abgerechnet, liebt der Wäldler alles Lebende, namentlich Hirsche und Rehe, und wenn er von ihnen erzählt oder den Fremden auf ein solches Tier aufmerksam macht, klingt seine Stimme fast zärtlich. Genaue Kenner des Wildes haben mich versichert, daß der Hirsch nirgendwo so zahm ist wie im Schwarzatal; das wäre er nicht, wenn ihm die Menschen gar zu übel mitspielten. In strengen Wintern flüchtet das hungernde Wild bis hart an die Dörfer, und dann hilft der arme Wäldler seine Not stillen und denkt nicht daran, daß es fürstlich ist. Das mag ein wenig mit der Tatsache versöhnen, daß er zur Jagdzeit auch nicht daran denkt.

Bedenklicher als das Wildern und Wildfischen ist ein anderer Erwerbszweig in diesem Tal, der auch mit dem Wald zusammenhängt, wenngleich nur locker: das Laborantenwesen. Volksmedizin gibt's ja überall auf Erden, unter den Eskimos und den Kamerunern, den amerikanischen Rothäuten und den Rixdorfern; in abgelegenen Winkeln der Erde – wie dieser hier – wuchert sie nur eben stärker. Gegen alles Siechtum des Körpers, alle Grausamkeit der Natur, alle Tücken der Menschen versucht man's hier wie überall vor allem mit dem Besprechen. Die uralten Feuer- und Wassersegen gehen noch von Mund zu Mund; da in neuester Zeit auch freiwillige Feuerwehren gebildet und Dämme gebaut wurden, so ist dies unschädlich; auch die Schutzsprüche gegen den bösen Blick, gegen wütende Hunde oder die Sperlinge, welche die Saat aus der frischen Furche picken, haben noch niemand geschadet. Schlimmer ist es schon, wenn die Leute ihr bißchen Vieh, statt es bei der Viehassekuranz anzumelden und in Krankheitsfällen den Tierarzt zu rufen, dadurch geborgen glauben, daß sie ihm den Segen, auf Papier geschrieben, zu fressen geben. Die beliebteste Formel dieser Art, die vor Jahrhunderten in ganz Deutschland üblich war, jetzt aber nur noch abseits der großen Heerstraße der Kultur angewendet wird, ist bekanntlich: »Sator arepo teret opera rotas«, was von vorn und hinten gelesen denselben Unsinn gibt. Das Schlimmste aber ist natürlich, daß sie es bei Krankheiten der Menschen genau ebenso halten. Zuerst das Besprechen, dann, wenn dies nichts hilft, Purganzen, daß ein Ochse davon zusammenbräche, Blutegel oder ein Aderlaß, dazu allerlei zum Teil recht bedenkliche Pflanzensäfte aus dem Wald; die harmlosesten Mittel sind noch die für Wunden: Arnika und Fichtennadelöl. Wie's nun geht: »Bauernmagen kann viel vertragen«; die Leute werden alt dabei, und daß im Wald tiefgeheime Kräfte wirken, ist uralter deutscher Volksglaube. Darum mühten sich schon im Mittelalter die Leute des Flachlands um die Heilmittel des Schwarzatals, bis sich ein findiger Kopf fand, der den Handel organisierte. J. G. Mylius hieß er und stammte aus Oberweißbach; seine Boten, die Öle, Fichten- und Schwefelbalsam vertrieben, nannte er Balsamträger; er starb um 1680 als schwerreicher Mann. An seine Stelle traten viele andere »Laboranten«, die dieselbe Ware erzeugten und bald durch Hunderte von Balsamträgern vertreiben ließen. Im 18. Jahrhundert florierte das Geschäft in kaum zu schildernder Weise; die Königsseer (so genannt, weil das Amt Königssee ihnen die Pässe ausstellte) überschwemmten ganz Mittel- und Osteuropa bis tief nach Polen hinein. Die harmlosen Pflanzenöle und die Kuriositäten, die sie feilboten (zum Beispiel Zigarren, die Harzwaldgeruch verbreiteten!), machten ihren Erfolg nicht; sie verkauften eben Mittel, die der Arzt nicht verschreiben wollte oder durfte: Aloe, Opium, Krotonöl, Arsenik, Quecksilber, Gummigutt usw. Die wachsende Fürsorge der Medizinalpolizei legte ihnen Hindernisse in den Weg; auch die heimische Regierung mußte schließlich, so ungern sie dies aus wirtschaftlichen Gründen in dem armen Lande tat, zum mindesten dem gröbsten Unwesen steuern, es blieb aber noch genug übrig. Um 1860 nahm der brave Keil in der »Gartenlaube« den Kampf gegen die Laboranten auf; da griff auch die Regierung nochmals ein; nun deckt aber die Gewerbefreiheit das Unwesen. Aus eigener Anschauung weiß ich da nichts; in ein Laborantenhaus Zutritt zu erlangen ist mir nicht gelungen; die Balsamträger aber, die einem in den Weg laufen, beteuern, sie hätten nur harmlose Sachen: Tannenpomade, Wacholdersaft, daneben Kindertropfen, Flußtinktur, Morrisonpillen usw. »Das hat schon vielen lieben guten kranken Nebenmenschen genützt«, sagte mir so ein Händler scheinheilig, aber da die Flußtinktur Aloe, die Kindertropfen Opium und die Morrisonpillen Krotonöl enthalten, so hätte ich diesem lieben guten gesunden Nebenmenschen gern eine Tracht Berichtigungen a posteriori gegönnt. Mit alledem ist aber noch das Schlimmste nicht gesagt. »Jedes Laborantenhaus«, berichtet ein so unbedingt verläßlicher Gewährsmann wie Fritz Regel, »hat seinen Giftschrank, aus welchem Arsenik, rotes und weißes Quecksilberpräzipitat pfundweise, Strychnin lotweise in unbekannte Hände wandert.« Ja, ja, der verwegene junge Mensch hatte nicht so unrecht: »Es ist gar viel erlaubt, wofür Zuchthaus gebührt.«

Auch eine andere, aber ehrliche und gesunde Industrie, die nun Brot ins Tal bringt, ist dem Wald zu danken: die Holzwarenfabrikation. Angefertigt werden Holzgeräte, Spielsachen für Kinder, als Wichtigstes aber Kisten und Schachteln. Die kleinsten Schächtelchen, die Safranschachteln, sind kaum einen Pfennig groß, die Pillenschachteln wie ein Zweipfennigstück, die Pomadeschachteln wie ein Zehnpfennigstück und größer, die Wichseschachteln wie ein Markstück usw. Das Sägen der Brettchen, das Ausmeißeln der Deckel besorgt die Maschine, das Zusammenfügen Knabenhand. Die Jungen sahen mit hellen Augen drein und förderten hurtig die Arbeit. Auch das Brot, das die Holzsägen ins Tal bringen, ist dem Wald zu danken. Zum guten Teil stammen die massiven Gebäude aus alter Zeit und waren einst Hüttenwerke. Als ich jüngst mit sinkender Sonne von Sitzendorf talaufwärts ging, die Station zu erreichen, überholte ich einen älteren Mann, der mich um Feuer bat; seines feierlichen schwarzen Rocks und seiner umständlichen Redeweise wegen hielt ich ihn für einen Küster; es war aber ein Schneider aus Oberrottenbach, der mit der Bahn heimkehren wollte, nachdem er in Sitzendorf Pate gestanden. »Gern ist's nimmer geschehen«, gestand er, »denn solches kostet zu Weihnachten ein Spielzeug oder ein Tüchlein, zu Ostern einen Wecken und zur Konfirmation gar ein Gewand, und es wäre eine falsche Philosophie zu glauben, daß der Schneider dieses umsonst hat.« Er habe es aber nicht abschlagen können, weil er diese Ehe gestiftet habe. Der junge Mann sei ein sehr tüchtiger Arbeiter in der Sitzendorfer Porzellanfabrik, sie eines wohlhabenden Bauern Tochter aus Rottenbach. »Darum haben sie füreinander gepaßt, aber ich habe viel reden müssen, bis sie es eingesehen haben, denn junge Leute haben eine falsche Philosophie und glauben, daß man von der Liebe satt wird. Nun, jetzt haben sie das dritte Kind und sind aneinander gewöhnt.« Da ich bereits gehört hatte, daß Schuster und Schneider im Tal die Heiratsvermittler seien, so war es pure Heuchelei von mir, als ich fragte, warum er so eifrig zugeredet habe. Er aber war kein Heuchler, denn wohl begann er: »Weil solches Gott wohlgefällig ist«, fuhr dann aber fort: »und weil man von der Schneiderei alleine schwer leben dhun dhäte. Auch ist dieses nur ein Geschäft für feine Hände, die den Zwirn einzufädeln verstehen; die Schuster pfuschen freilich drein, aber bei denen ist immer Pech dabei.« Nachdem er seinen Witz genügend belacht, kam jene Äußerung, um derentwillen ich die Begegnung an dieser Stelle erwähne: »Auch dhue ich es jetzunder als Agent für Versicherungen versuchen, denn so ist es in diesem Tale, immerzu muß sich der Mensch drehen und wenden, sein Leben zu fristen, und solches müssen hier sogar die Häuser dhun, wenn sie lebig bleiben wollen, also, zum Beispiele und Exempel, wofür halten Sie das Haus dort?« Er deutete auf einen großen grauen Kasten, auf den wir zuschritten. »Eine Fabrik?« riet ich. – »Nee«, lachte er. »Erst war's ein Blechhammer und dann eine Mühle und jetzt eine ›Bansionk‹ (Pension); da werden nun die Fremden gehämmert und gemahlen, aber alles in Ehren. Und Blechhammer heißt's noch heute. Ja, so ist es hier im Tale!«

Es wäre aber eine falsche Philosophie, zu glauben, daß es anderwärts nicht so ist, nur sieht man's hier deutlicher. Als Gold und Eisen versagten, schufen sie eben alle diejenigen Industrien, die Wald, Boden und Fluß ermöglichten. Im Quarz der Felsen war neben den winzigen Goldäderchen ein anderer größerer Reichtum verborgen: er gab gutes Material für feines, kalkreiches Glas; nun sind einige Glashütten im Tal. Noch Besseres barg die Tonerde; vortreffliches Kaolin, die Schwarza aber gab die Wasserkraft zum Reinigen und Zerkleinern. So entstand hier eine Reihe von Porzellanfabriken; die älteste von ihnen, die von Sitzendorf, ist noch heute die berühmteste. Ihr Begründer war ein seltsamer Mensch; Macheleidt hieß er, wie so viele im Tal. Er war ein Laborantensohn und sollte selber Laborant werden. Das aber mißfiel ihm; sein Sinn stand nach einem höheren, vor allem jedoch nach einem reineren Leben, er wurde Theolog. Daneben trieb er, wie er's von Kindesbeinen gewohnt war, allerlei chemische Allotria, studierte auch Chemie. Theologie und Naturwissenschaften vertragen sich selten; über den Mann kamen schwere Stunden; er predigte wohl zuweilen, konnte sich aber zum Pfarramt nicht entschließen und wurde so ein armer alter Kandidat. Bei der Heimkehr von einer Probepredigt, wo er recht erkannt hatte, daß ihm der Glaube fehle, warf er sich verzweifelt am Wege nieder und starrte das Erdreich an. Dann prüfte er es mit Augen, Hand und Zunge und schnellte plötzlich trunken vor Freude empor, ein neuer Mensch, der ein neues Lebensziel hatte. So wenigstens pflegte er selbst die Art zu erzählen, wie er den Reichtum dieses Bodens an Kaolin entdeckt habe. Nun baute er 1760 einen kleinen Brennofen in Sitzendorf und machte seine Versuche; sie gelangen über alle Erwartung; so glückte es ihm leicht, Teilhaber mit reichen Mitteln zu finden. Damals gab's ja noch keine Patente; so suchte er sich dadurch zu schützen, daß er das Geheimnis der Fabrikation auch vor seinen Teilhabern hehlte. Sein Mißtrauen war nicht grundlos, denn nach einigen Jahren erkundeten die feinen Herren Sozien durch Bestechung der Arbeiter das Verfahren und setzten ihn vor die Türe. Die Fabrik aber blühte nun ohne ihn empor, und was sie heute leistet, beweist ein Blick in ihre pompösen Schaufenster zu Sitzendorf, die sich von den ärmlichen Häusern ringsum seltsam abheben. Auch in Katzhütte und Scheibe wie in anderen Orten Thüringens entstanden bald Porzellanfabriken, die Macheleidts Entdeckung ausnutzten; heute wird weit über die Hälfte allen deutschen Porzellans in Thüringen erzeugt. Man sieht, die Schicksalsstunde im Leben des armen Kandidaten ist Hunderttausenden zum Segen geworden. Übrigens hat Macheleidt das traurige Los der meisten Erfinder nicht geteilt; ihm blieb so viel, daß er in Schwarzburg bequem leben konnte. Dort errichtete er das erste Aussichtshäuschen auf dem Trippstein, »um den Menschen den Tempel der Natur zu erschließen«.

Als Letztes, aber vielleicht auch als Geringstes ist unter den Erwerbszweigen des Gaus die Fremdenindustrie zu nennen. Sommergäste sitzen nun freilich in mehreren Orten des oberen Tals, in Blechhammer und Mellenbach, Katzhütte und Scheibe, aber allzuviel wird ihnen nicht geboten und allzuviel Geld lassen sie nicht hier. Die meisten kommen her, weil ihnen der Luxus im unteren Tal verhaßt ist, was ins Deutsche übersetzt bedeutet, daß ihnen Schwarzburg oder Blankenburg zu teuer sind. Dagegen ist wahrlich nichts zu sagen; billige Sommerfrischen sind sehr nötig, denn der Ärmere ist einer Erholung erst recht bedürftig. Aber mir mißfiel das Geschimpfe auf den Wirt, das bei Tische der einzige Gesprächsstoff war; erkundigte man sich dann nach dem Pensionspreis, so wunderte man sich, daß er's überhaupt leisten konnte. Leute, die den Wald lieben und verstehen, habe ich freilich auch gefunden, aber die meisten klagten, die Spaziergänge seien zu einförmig, auch gehe man so ohne rechtes Ziel, denn Kaffeepunkte seien selten. Die heftigsten Anklägerinnen des Tals waren zwei Berliner Damen, Mutter und Tochter, die in Begleitung eines Herrn im »Wurzelberg« zu Katzhütte, dem Dorf, in dessen Nähe ich einige Stunden zuvor meine Enquete über das Beerenlesen abgehalten hatte, Kaffee tranken. Er bat sich meine Zeitung aus; so kamen wir ins Gespräch. Ich meinte, den Wald abgerechnet, seien doch auch die Dörfer ganz hübsch und das Leben in ihnen lustig und interessant, worauf die junge, oder sagen wir lieber, die jüngere Dame spitz meinte, es käme darauf an, wieviel man sonst von der Welt gesehen habe; sie seien schon im Harz gewesen, an der Ostsee und im Riesengebirge. Sie sah dabei noch gelber aus als sonst, das konnte leicht die mit dem Erdbeerteig sein, und so hätte ich sie gern gefragt, ob ihre Köchin nicht Auguste heiße. Aber das hätte mich ja bei so gebildeten und weitgereisten Leuten in Mißkredit gebracht.

Ich bleibe aber dabei: die Dörfer sind an sich hübsch und das Leben in ihnen lustig und interessant. Die meisten liegen an der Mündung von Nebentälern; bei Sitzendorf fließt die Sorbitz, unweit Blechhammer die Lichte, bei Glasbach, Mellenbach und Oelze der gleichnamige Bach, bei Katzhütte die Katze in die Schwarza, also überall zwei Täler und zwei Gewässer, was das Bild belebt. Einen malerischen Anblick gewährt nur Glasbach, weil hier die Bergwände eng zusammenrücken, aber einen hübschen jedes Dorf. Merkwürdige Bauten darf man in Walddörfern nicht suchen; Katzhütte hat eine stattliche Kirche aus der Zopfzeit, Mellenbach eine moderne Fachwerkkirche in gotischem Stil, die hübsch und eigenartig aussieht. Nur in diesem Dorf sieht man auch einige alte Häuser, etwa um 1600 erbaut; sie sind die einzigen Überreste des stattlichen Fleckens, den die Schweden der Erde gleichmachten; auch das alte Franziskanerkloster zerstörten sie, obwohl es längst eine evangelische Kirche war. So die Verteidiger der Lutherlehre; milder waren, sagen die Chronisten, die katholischen Kroaten, die nach ihnen kamen. Die alten Mellenbacher Häuser abgerechnet, ist im Tal schwerlich ein Wohnhaus mehr als hundert Jahre alt; die älteren sind aus Schiefer erbaut, der mit Brettern verkleidet ist, die neueren sind Fachwerk mit Kalk überstrichen. Hinter dem Haus ist nicht immer ein Garten, aber vor demselben fast immer ein Düngerhaufen und ein Holzstoß; dafür fehlen auch die Blumen und das Vogelbauer am Fenster selten. Das einzige Geschoß enthält außer dem Flur meist eine Stube und Kammer; in der Kammer stehen die Schränke, in denen Kleider und Wäsche aufbewahrt werden – einen schönen alten Schrank habe ich nirgendwo gesehen –, die Stube wird durch den Kachelofen mit Bank und das Bette fast ganz ausgefüllt. Je wohlhabender der Bauer, desto höher der Bettenberg, der zuweilen bis an die Decke reicht, aber auch in der Hütte des Armen stattlicher ist als in einem großstädtischen Bürgerhaus. Sonst gibt's nur Tisch und Stühle, eine lange Bank und an der Wand das »Tresorchen«, wo Porzellanteller, plumper Schmuck aus Halbedelsteinen, silberne Löffel und dergleichen aufbewahrt werden. Vom Flur führt eine Leiter zum Dachboden empor, wo Kinder und Gesinde schlafen. Viel Unterschied in der Einrichtung bedeutet es nicht, ob da ein Wald- oder Fabrikarbeiter haust; auch diese sind zum größten Teil Eingeborene, bestellen daneben ihr Kartoffelfeld und halten ein paar Tauben und eine Ziege oder gar eine Kuh. Richtige Bauern, die nur von ihrem Acker leben, gibt's hier wohl kaum; wichtiger als der Ackerbau ist die Viehzucht. Man sieht wenig Pferde, nie einen Esel, aber viel Schweine und Hornvieh. Die Rinder des Schwarzatals sind ein schwerer, kräftiger Schlag; das gute Futter auf den Bergmatten rundet ihnen die Flanken. Da sie hoch hinauf getrieben werden, so haben sie Schellen um, daß man sie weithin hört; gegen Abend aber vernimmt man in der Nähe der Herden ein anderes Getön: es klingt wie das Tuten einer Kindertrompete, nur etwas lauter. Es ist aber in der Regel eine ausrangierte Militärtrompete, auf der der Hirt seine Herde zusammenbläst, so gut er's eben gelernt hat.

Lustig ist das Leben in diesen Dörfern, weil es die Leute sind. Ein munterer, beweglicher, anstelliger, allzeit zum Scherzen und Necken bereiter Menschenschlag; das gilt von den beiden Typen, von denen ich schon gesprochen habe, den Blonden tiefer unten, den Schwarzen oben. Auch dies trifft bei beiden zu, daß die Männer, wie so oft auf dem Lande, dem flüchtigen Blick als die schönere Hälfte erscheinen. In Wahrheit sind sie's auch hier so wenig wie irgendwo; die Frauen haben immer den feineren Gesichtsschnitt, die besseren Farben; von den Formen zu schweigen, die auch der objektivste Mann doch immer nur mit Männeraugen sieht. Die Frauen im Schwarzatal erscheinen uns deshalb minder hübsch als die Männer, weil sie durch ihre hier allerdings nicht zu harte Arbeit doch mehr angegriffen werden als die Männer durch die härtere und die frühen Bündnisse sowie der durchschnittlich große Kinderreichtum die Blüte rascher zum Welken bringen. Ein gesunder Menschenschlag; wenig Fett, nicht viel Fleisch, aber kräftige Sehnen trotz der Kartoffelkost; Jammergestalten, wie zum Beispiel im Riesengebirge so oft, trifft man hier selten und dann eben nur in den ärmsten Dörfern. »Die Leut hier sind vor dem Ach und Pfui bewahrt«, meinte eine Gastwirtin, die in Erfurt, sogar in Berlin gedient hatte, also Vergleichungen anstellen konnte; die kluge Frau hatte recht; das »Ach, wie schön!« nötigt dieser Menschenschlag einem ebenso selten ab wie das »Pfui, wie häßlich!«

Das Beste sind die hellen klaren Augen, der muntere, treuherzige Ausdruck der Züge, die ein getreues Spiegelbild des Innern sind. Selbst während der Arbeit zeigen die Gesichter nicht jenen dumpfen, stumpfen, traurigen Ausdruck des Zugtiers, der einen an Landarbeitern des norddeutschen Flachlands oder gar in slawischen Gegenden so betrübt; in den Pausen gar wird unablässig geschwatzt, geneckt und gelacht. Bei Tage ist die Dorfstraße natürlich wenig belebt; die Männer sind im Wald, auf dem Acker oder in der Fabrik, die Frauen schaffen im Hause; aber begegnen zwei Leute einander, so reicht ihre Zeit, auch wenn sie noch so eilig sind, zu einem Gruß und einem Spaß, und wenn's auch nur das Zurufen des Spitznamens wäre. Solche Namen wachsen ja naturgemäß in jedem Dorf wie die Brombeeren; beim Familiennamen ruft man sich da niemals, sondern bezeichnet einander nach dem Hof, dem Gewerbe oder hervorstechenden Eigenschaften. Die Spitznamen sind also anderwärts keineswegs zugleich immer Necknamen; hier oben, soweit ich's erkunden konnte, fast immer. Viele sind harmlos, wie zum Beispiel Scharbsheiner, Veigelemarie; der Heinrich liebt eben Pfannkuchen und die Marie Veilchen, auch Linsenschlingerfritz bedeutet keine ehrenrührige Gewohnheit. Noch weniger Stöckelmartin; der alte Mann, der so hieß, hatte sich eben einst im Stöckelnspiel (was die Schweizer Pflöcklispiel nennen) ausgezeichnet, und Schwatzmarthe vollends könnte jede Frau im Tal heißen. Andere Namen bezeichnen körperliche Eigenschaften; angenehm sind sie ja für die Träger nicht, aber doch auch dem Leumund nicht abträglich: Hinkehanne, Ohrenmatthes; zwei gleichnamige, aber sehr verschiedene Kusinen bei Oelze werden als Steckenliese und Schmalzliese unterschieden; letzteres nach dem im Tal geltenden Schönheitsideal entschieden ein epitheton ornans. Und nach den dort herrschenden Ansichten können auch Mädelkarle und Kußgrete nicht niederdrücken. Andere Spitznamen wieder sind ohne alle Spitze, nur eben Bezeichnungen, so zum Beispiel Löffelsimshannematthes, was, wie ich glaube, bedeutet: der Matthias, der Sohn der Hanne, welche die Tochter des Löffelsimon war; einen andern, Sauerteigsbalzer, lasse ich aus dem nicht untriftigen Grunde unerklärt, weil ich's selber nicht weiß. Viele Namen aber sind recht unangenehm, und wollte man nach ihnen schließen, so stünden zahlreiche Leute im Tale bei ihren Nebenmenschen in üblem Geruch, moralisch, aber auch körperlich. Solche Namen nehmen sich in Druckerschwärze schlecht aus, würden zudem leicht zu falschen Schlüssen verführen. Die Leute sind spottlustig und nicht eben fein, aber allzu böse gemeint ist derlei nie.

Das erkennt man auch während der Konversationsstunde im Dorfe, in der Dämmerung. Fast vor jedem Haus wird geplaudert; das Lachen hört selten auf und das Kosen schon gar nicht. Auch hier gehen die Mädchen anfangs untergefaßt in einer Reihe und hinter ihnen die Jünglinge, aber die Ketten lösen sich sehr bald in Einzelpaare auf. Wer deutsches Dorfleben näher kennt, wird die Großstadt nicht als sündhaft schelten, aber diesen Talleuten vergibt der Himmel gewiß besonders viel, denn hier wird sehr viel geliebt. Die sittlichen Anschauungen des Tals, über die ich mit mehreren Leuten sprach, faßte ein Hirte, der überhaupt ein verständiger, auch weltkundiger Mensch war, am klarsten zusammen. »Sehen Se«, sagte er, »das is nu so. Juchend is Juchend un Blut is Blut, un ob's ein Bursch oder ein Mädel is, is gleich, das is eben Naduhrsache. Darum wird das Mädel nech veracht' und der Bursch nech; sie sind frei un frei. Aber die Ehefrau und der Ehemann sind nech frei, un wenn die sich vergessen, so werden se veracht. Aber wie 'n Viech darf's auch der Unbeweibte nech treiben, un wenn's der Bursch mit mehreren Mädeln hält und das Mädel mit mehreren Burschen, so is das bei uns pfui Teufel.« Ähnlich denkt der Bauer überall; die Schranken der Sitte sind anders gezogen als in den höheren Ständen, in einigem weiter, in anderem enger, aber sie bestehen. Und die Grenze, wo die Achtbarkeit des Mädchens aufhört, ist auch hier scharf bestimmt: einige Liebschaften mit Burschen ihres Standes werden verziehen, ja als selbstverständlich hingenommen; aber ein einziger Fehltritt mit einem Höherstehenden schleudert sie in den Schlamm, weil dabei dann immer niedrige Beweggründe vorausgesetzt werden. Ländlich, sittlich – zum Richten haben wir kein Recht. Zwei Umstände aber sind bedenklich. Erstlich der frühe Beginn der Beziehungen; »schon Schulmädchen befragen das Orakel des Gänseblümchens«, sagt der ehrliche Fritz Regel etwas euphemistisch. Unhübsch ist aber auch, daß Heiraten aus Neigung auch jetzt noch keineswegs die Regel sind; vor dreißig Jahren waren sie allerdings gar nur Ausnahmen. Noch haben der Schneider und der Schuster genug zu tun, aber das Handwerk des Ehestiftens hat nun keinen goldenen Boden mehr. Empfindsame Gemüter, die den Grund gern in der wachsenden Veredelung des Menschenherzens suchen wollten, wird der wahre Grund enttäuschen; die wirtschaftliche Entwicklung des Tals nivelliert die Vermögensunterschiede immer mehr. So arm wie einst ist niemand, weil die Fabriken jedem Brot geben, und so reich wie einst auch nicht, weil die größeren Höfe allmählich alle aufgeteilt worden sind. Sie waren einst Minorate; Erbe war der jüngste Sohn (war kein Sohn vorhanden, die älteste Tochter), aber die Auszahlung an die andern Geschwister belastete die Erben so, daß sie die Teilung vorzogen.

Wo so viel Liebe in den Herzen ist, da tritt sie natürlich auch auf die Zungen; unter den vielen Liedern, die man singen hört, überwiegen die Liebeslieder. Dabei kann man auch hier dieselbe Beobachtung machen wie in vielen Gegenden Mitteldeutschlands; nur die fröhlichen, übermütigen Lieder werden im Dialekt gesungen, die pathetischen und sentimentalen hochdeutsch; fürs Erhabene erscheint den Leuten ihr gewohnter Dialekt zu trivial. Das hat sich Goethe auch 1804, wo er bereits als sehr berühmter Mann sein Lied »Trost in Tränen« zuerst drucken ließ, nicht träumen lassen, daß fast ein Jahrhundert später die arme »dicke Kathrin« im »Schweizerhaus« es um des flatterhaften Omnibuskutschers willen in folgender Fassung ins Abenddunkel hinein singen würde:

Wie kommt's, daß du so traurig bist
Und gar nech ämol lachst,
Ich seh's dir an die Augen an,
Daß du geweinet hast,
Daß du geweinet hast.

Auch in Mellenbach hörte ich das Lied von drei Mädchen sehr gefühlvoll singen; nach jeder Strophe kam allerdings eine Lachsalve. Die munteren Lieder im Dialekt sind zumeist kurz und erinnern in Form und Inhalt an die »Schnadahüpfel« der Älpler. Hier zwei Proben:

Mei Schatz is ka Zucker,
Drum bin ech froh,
Sunst hatt ich 'n längst gessen,
Sue ho ech 'n no!

Madel mit dem roten Rock,
Mit dem schwarzen Mieder,
Gib mir nor an anzig'n Schmatz,
Kriegst 'n a glei wieder.

Die »Madel mit dem roten Rock und dem schwarzen Mieder« sind im Schwarzatal rar geworden, aber das Leihgeschäft mit den Schmätzen floriert noch immer. Wie dem Schnadahüpfl der Jodler, schließt sich auch dem thüringischen Vierzeiler ein Jauchzer an; gleichfalls eine Ähnlichkeit ist die häufige Zweideutigkeit des Inhalts, aber das ist hier kein passendes Wort; viele sind so eindeutig, daß eine alte Kasernenwand darüber erröten könnte. Ein Unterschied hingegen ist, daß die Vierzeiler – wenigstens so weit meine leider spärliche Beobachtung reicht – beim Tanz nicht gesungen werden. Der Wilhelm, der Otto, der Fritz – das sind nun die herrschenden Vornamen der jungen Generation; vor hundert Jahren waren es, nach den Grabsteinen zu schließen: Gotthold, Gottfried, Gottlieb – schwenken des Sonntags ihre »Madel« beim Spiel lauter, ohrenzerreißender Blechmusik sehr fröhlich, jauchzen auch, singen aber nicht. Getanzt werden zumeist Polka und Walzer; vom Zweitritt erzählen nur alte Leute; einer schwärmte mir auch vom Zippeltanz vor, war aber als Choreograph nicht bedeutend: »Man zippelte, verstehe Se, immerzu rum, verstehe Se, und wenn man so zippelte, verstehe Se, das war Se sehre scheene!«

Daß die schönsten deutschen Kinderlieder in Thüringen wachsen, weiß jedermann, auch im Schwarzatal sind sie zu finden. Gehört habe ich vor allem das folgende, das viele Fassungen hat; die hiesige aber scheint mir die hübscheste:

Schlaf, Kindlein, schlaf,
Dein Vater hütet die Schaf,
Dein Mutter schüttelt 's Bäumelein,
Da fällt herab ä Träumelein,
Schlaf, Kindlein, schlaf!

Auf einem Bahnhöfchen, wo ich den Zug zur Heimkehr erwartete, erwarb mir mein Talent, Jungs Huckepack reiten zu lassen, zwei neue Freunde, Willi und Fritz, zum Dank lehrten sie mich ein schönes Lied:

Weeßte, wo ech wohne?
In der Ziterone!
Weeßte, wo ech sitze?
In der Zippelmütze!

Das Lied ist kurz, kann aber so lange wiederholt werden, bis der Zug kommt; dreistimmig klingt es besonders schön. Aber ob es ein Thüringer Lied ist, weiß ich nicht; meine Freunde waren zwar Thüringer, aber künftige Gymnasiasten, und die Mama kann sehr gut französisch, denn sie sagte mir: »Laissez vous pas les garçons en bas tomber.« Zudem kannte es ein anderer Freund von mir nicht, der Martinche heißt, und der kennt alle Lieder. Martinche ist ein dicker, fünfjähriger Schlingel, der oberhalb Katzhütte auf dem Weg nach dem Wurzelberg wohnt. Seine Eltern sind arme Leute, aber sie haben eine Kuh, und darum bekam ich hier ein Glas Milch. Während die Mutter es holen ging, eröffnete Martinche die Unterhaltung mit der Mitteilung: »Liese heißt se, schwarz is se, ›Muh‹ sagt se«, verfiel dann aber in den sorgenvollen Monolog: »Wenn nun der die Milch saufet, was kriech dann ech?«, worauf ich erwiderte, die Liese sei gar nicht so, die gebe schon auch noch für ihn was her. Das schien ihn zu beruhigen, aber nun beschäftigte ihn mein Äußeres. Am Daumen saugend, sah er mich aus seinen Brombeerenaugen lange an und sagte dann: »Bist e o (auch) ämol neu gwesen?« Das durfte ich ja bestätigen, worauf er: »Das ist aber scho lang her, leicht zehn Jahr?« – denn weiter als bis zehn konnte er noch nicht zählen. Und nach abermaliger eingehender Betrachtung: »Du bist 'n alter Schuster!«, was aber in seinen Augen das Höchste war. Ich trug nämlich heut, am Wochentag, Stiefel, und das kann sich nur ein Schuster leisten. Diese meine Höhe entfernte aber die Vertraulichkeit nicht, als ich ihn aufs Knie nahm und reiten ließ. Dazu sang zunächst er allein und das zweite Mal ich mit:

»Schecke, Schacke, Reiterspferd,
's Ferd is nech drei Heller wert,
Macht das Ferdchen tripp, tripp, trapp,
Fällt der kleene Jung herab!«

Auch mehrere andere Lieder konnte das Martinche, sang sie aber nur, wenn es reiten durfte; das von der »Ziterone« lernte es auch nur so. Das war ja für uns beide ganz vergnüglich, aber schließlich mußte ich das schwere Plumpsäckchen doch »en bas tomber« lassen, denn drei Heller ist mir mein Bein entschieden wert.

»Willkommen!« rief mir Martinches Mutter entgegen, als ich eintrat, das gleiche erfährt man in jedem abgelegenen Haus, auch wird man dort noch zum Sitzen eingeladen, auch wenn man nur den Weg erfragen will. Die Leute freilich, die Fremde öfters bei sich sehen, tun das nicht mehr, weil sie wissen, daß der und jener, was eben so die wahrhaft Gebildeten sind, darüber lächelt. Gegen solches Lächeln ist der Bauer sehr empfindlich, obgleich er es doch redlich vergilt. Welche Stichelreden habe ich zum Beispiel darüber gehört, daß der Norddeutsche beim Eintreten »Tag!« sagt. »Daß es Tag is, weiß man o ohne Berliner! Is das ä Grueß?!« Ich habe mir mein österreichisches »Grüß Gott!« nicht abgewöhnt. Auch dies war ihnen fremd, aber doch »ä Grueß«; bei ihnen gebietet die Sitte, beim Eintritt »Glück ins Haus zu sagen; trifft man die Leute beim Essen, so muß man »Gottssenn« wünschen (Gott segne es). Ob ein Städtischer sie nur aus spöttischer Neugier ausfrägt oder aus Wohlwollen, dafür haben sie eine feine Witterung. Wo sie wirkliche Teilnahme herausfühlen, da geben sie sich vertrauensvoll; selbst von ihrem Aberglauben erzählen sie dann. Vieles davon trifft man überall in Mitteldeutschland. Für die Aussaat sind die Marientage am besten, weil Maria die Saat mit ihrer Schürze zudeckt; neues Geflügel muß dreimal unter dem Tisch hindurchgeführt werden, der neue Hund einen vorgekauten Bissen essen, sonst bleiben sie nicht im Haus; der Tod kündigt sich durch vielerlei Zeichen an: im Keller wirft der Maulwurf, die Hunde heulen, an dem grünen Gesträuch des Gartens wachsen farblose Blätter, die Schaufel des Totengräbers regt sich schon am Morgen des Sterbetags von selber. Anderes wieder ist zwar nicht so verbreitet, aber doch nicht bloß in diesem Tal zu finden: der Tote muß etwas Geld mitbekommen (»sunsten bleibt er zurück«, sagte mir Martinches Mutter zur Begründung; aber das Wo und Warum wußte sie auch nicht); zum Abschied wird der Leiche die Hand geschüttelt, aber es darf dabei was schön und tiefsinnig ist, keine Träne auf sie fallen. Dem Schwarzatal eigentümlich ist, daß sich hier der alte heidnische Volksglaube lebhafter erhalten hat als anderwärts. Am 1. März schleifen die Kinder einen Popanz aus Birkenreisern durchs Dorf und singen dazu: »Wir treten den alten Tod hinaus / Hinters alte Hirtenhaus, / Wir haben den Sommer genommen, / Und Krodens Macht ist umgekommen.« Wer Frau Holle ist, wissen hier die meisten, und den Wilden Jäger kennen sie auch. An zwei Orten des Tals ist mir die Sage von den beiden Knaben erzählt worden, die beim Weg aus dem Wirtshaus, wo sie Bier geholt haben, unter das Wilde Heer geraten. Zwei von den »wilden Fräule« trinken die Krüge aus, doch bleiben diese immer voll, bis die Knaben die Begegnung ausplaudern. Allerdings meinten beide Erzähler am Schlusse, das und das Bier werde es nicht gewesen sein, das wäre selbst den »wilde Fräule« zu wild gewesen; das bescheidene Witzchen scheint sich also nun mit der Sage fortzuerben, was für den Übergang von der Naivetät zur Skepsis charakteristisch ist. Von Riesen und Zwergen wird gleichfalls erzählt. Die Riesen waren träg und dumm, aber brav; leider sind sie tot. »Schade«, meinte eine, »was so 'n Riese versprach, da konnte man sich drauf verlassen, mit dene Zwergen is wenig los!« Denn die leben noch, sind aber ganz unzuverlässiges Gesindel. Bei Oelze hat noch vor kurzem ein Köhler gelebt, der verstand sich mit ihnen zu stellen, und sie brachten ihm viel zu: Brot und Schinken, auch türkische Zigaretten. Dies letzte Detail hat offenbar wieder ein Schalk hinzuersonnen, aber der Mann, der's mir erzählte, nahm auch dies gläubig auf. Und doch war er Fabrikarbeiter, hatte auch schon von Lassalle gehört: »Ein guter Mann; die Pharisäer haben ihn erschießen lassen.«

Man wird mir nun glauben, daß das Leben im Tal nicht bloß lustig, sondern auch interessant ist: der Gegensatz zwischen den uralten Überlieferungen und dem modernen, vom Gedröhn der Dampfmaschinen erfüllten Leben, das Neben- und Ineinanderfließen der primitivsten wie der raffiniertesten Formen menschlicher Arbeit und ihres Produkts, der Kultur, muß einen immer wieder beschäftigen. Wie gesagt unterscheidet sich der Köhler und Holzfäller von dem Arbeiter kaum in der Wohnung, wenig in der Tracht, aber im Wesen: er ist stiller und sanftmütiger, aber ungewandter und rauher. Die fremden Arbeiter sind natürlich fast durchweg Sozialdemokraten und beeinflussen die einheimischen in ihrem Sinne. Der Hirte, der mir die sittlichen Begriffe des Tals auseinandergesetzt hatte (er war selbst Arbeiter gewesen, jedoch nicht Genosse), meinte freilich, das ginge hier schwer, die Angeworbenen seien noch »schwache Rekruten fürs rote Regiment«. Ich habe zwei Kleinigkeiten erlebt, die dies bestätigen. Als ich am letzten Sonntag abend dem Bahnhof von Mellenbach zuschritt, gingen drei Burschen vor mir her, die immerzu Lieder brüllten; zuerst eins vom Feinsliebchen, dann ein patriotisches vom Prinzen Friedrich Karl – wenigstens glaubte ich diesen Namen zu verstehen –, dann die »Arbeiter-Marseillaise« und schließlich die »Wacht am Rhein«. Acht Tage vorher sah ich mir den Sitzendorfer Hauptplatz an; nach dem hübschen Brauch vieler deutschen Dörfer steht auch dort eine »Kaiser-Wilhelm-Eiche« (»geweiht 22. Juni 1880«). Ringsum standen Fabriksarbeiter, einer von ihnen, ein Einheimischer, machte mich mit sichtlicher Freude darauf aufmerksam, wie gut der Baum gedeihe, erzählte dann auch stolz, er habe als Soldat den alten Kaiser bei einem Manöver gesehen, »so akk'rat, wie ich Ihnen sehe, Herre«, es war sichtlich eine stolze Erinnerung seines Lebens. Die anderen sprachen inzwischen von irgendeiner Anordnung des Fabrikdirektors, die ihnen nicht gefiel. Da wandte sich der Mann zu ihnen: »Was sag ech immerzu? Ohne 's Indernatschenal können wir's dene Borschiss nie zeigen!« Es war sichtlich ernst gemeint.

So, nun hätt ich gesagt, wie mir das Tal erschien. Zwei Ansichten anderer füge ich bei. Mein Wandnachbar im »Weißen Hirsch« war ein Grammophon; dazu gehörte ein junger Mensch, der's fleißig aufzog. »Ohne Grammophon«, meinte er, »wär's selbst in Schwarzburg nicht zum Aushalten; wie erst dort oben!« Das war individuell; ich fand gerade des Grammophons wegen das Aushalten in Schwarzburg schwer, denn zuweilen gab's ja auch Regen, der mich auf meiner Stube festhielt. Flüchtete ich vor den angenehmen Tönen ins Lesezimmer, so war's von holländischen Grammophonen übervoll. Denn an Schnarrtönen fehlt's dieser Sprache nicht, und die Herren sagten immer dasselbe; sie schimpften über das feige Deutschland, das den Buren nicht zu Hülfe komme; zwischendurch schilderten sie behaglich, wie sinnreich ihre Dämme eingerichtet seien: dringe eine deutsche Armee ein, so werde sie ersaufen. Ich bin kein Chauvinist, die Holländer in Holland hatten mir sehr gut gefallen, aber dies Stück Holland in Deutschland beträchtlich weniger. Nur einer war kein Grammophon, sondern sah sich Tal und Bewohner als denkender fühlender Mensch an. In einem Menschenalter würde es, meinte er, ein einziger riesiger Fabriksort sein, und dann sei es mit der Sommerfrische aus. Davon scheint mir so viel richtig, daß die Industrie im Tal eine große Zukunft hat; schon jetzt zieht der Ausbau der Bahn neue Industrien an, die ohne sie nicht aufkommen konnten; die mächtige Wasserkraft, die Billigkeit des Bodens und der Löhne locken die Unternehmer. Aber so lang sie die Wälder nicht fällen und die Berge nicht ebnen, bleibt's ein schönes Stück Erde, und wenn alle Bewohner satt würden, wär das auch Poesie; weiß Gott, ja!

Während das Grammophon neben mir heulend schnarrt: »O Welt, wie bist du wunderschön!«, packe ich meinen Koffer. Teufelszeug, du hast recht! Hier war's schön, und dort, wohin ich nun will, wird's gewiß noch schöner sein. Ich weiß wohin, aber ich wag's kaum zu denken, geschweige denn hinzuschreiben, sonst komme ich wieder ganz anderswohin. Und das wäre in diesem Fall schade, denn darauf freue ich mich schon lange.

Schwarzburg, im Sommer 1901


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