Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
So hatte der junge Geselle seinen Entschluß tapfer ausgeführt, aber das Herz ward ihm darum nicht leichter. Und war auch nun das Band gelöst, welches ihn mit jener tauben, gewichtigen Schönheit verknüpft hatte – die Kasia blieb ihm doch gleich unerreichbar. Von neuem hatte ihm die Unterredung mit dem Marschallik klargemacht, wie tief, wie unüberbrückbar die Kluft sei, welche ihn von der Goje scheide. Diese Kluft zu überspringen kam ihm nicht bei. Er verwünschte, er beweinte das Hindernis des Glaubens, aber selbst im Augenblicke größter Erregung kam ihm nie der Gedanke, Christ zu werden. Er wußte wohl, daß der Weihwedel des hochwürdigen Mikita das einzige Mittel sei, um die Kasia zu erkämpfen, und eben darum festigte sich sein Entschluß, ihr zu entsagen. Aber sein Herz ward dadurch nicht gesättigt, es blieb leidvoll und stürmisch. Entsagen ist immer bitter, auch dem Gebildeten, den Einsicht und 88 Erfahrung sanft und zahm gemacht; aber dem Naturmenschen ist es fast schmerzlicher als jede andere Prüfung. Denn es widerspricht dem stärksten Triebe der Menschenbrust, der Selbstliebe. Zu leiden sind wir geboren, aber unsere Instinkte predigen uns das Gegenteil, und wir glauben ihnen gerne. So sind wir fest überzeugt, daß wir zu Freuden geboren sind, und nun krallt das Leben seine Riesenfaust um uns und drückt uns das Herz wund. Wir tragen es, aber über uns kommt jener schmerzliche Zwiespalt und jene bittere Frage: Warum so viel Leid? – jene Frage, die wie ein gemeinsames, unausgesprochenes Geheimnis durch alle Menschenherzen zittert. Auch durch die rohesten Herzen –und gerade diese sind die hilflosesten!
Verstört ging der junge Schmied umher, mied die Menschen und wurde sehr unhöflich, wenn ihn jemand um die Ursache seines Kummers befragte. Das erfuhr auch der Marschallik, welcher ihn eine Woche später, am nächsten Sabbat, aufsuchte. Aber dieser wackere Mann ließ sich nicht verblüffen. »Daß du so grob bist, Moschele«, sagte er bekümmert, »ist mir nur ein neuer Beweis, wie tief du schon in der Sünde bist!«
»Warum?«
»Darum! Wenn ein guter Mensch anfängt zu sündigen, so ist er zuerst nur auf sich selbst böse und hat Reue. Aber dann verdirbt ihm die Sünde das Herz, und er wird auch gegen andere gereizt. Endlich wirst du dich selbst wieder liebhaben und nur die anderen hassen und wirst ein schlechter Mensch geworden sein! Ja! Ja!«
»Nein! Nein!« rief der Geselle heftig. »Übrigens, seid Ihr nur dazu gekommen?!«
»Behüte!« erwiderte Türkischgelb. »Einem Verstockten zu predigen ist Torheit; ich tue gern Nützliches. Ich wollte dir nur sagen, daß ich morgen nach Chorostkow fahre, um mit Sprinze Krämerin deine Sach zu ordnen. Du mußt mir dabei helfen, du mußt die Schuld auf dich nehmen. Es soll so geschehen, wie du selbst es vorgeschlagen hast. Du gehst morgen früh vom Hause weg und kommst erst am Abend heim und erzählst: ›Ich habe der Chorostkowerin nicht gefallen!‹ Willst du?«
»Ja!«
Der Marschallik sah ihn betrübt an. »Moschele . . .«, begann 89 er weich. Dann aber schüttelte er traurig den Kopf und ging eilig von dannen.
Am nächsten Morgen verließ der Jüngling, der Verabredung gemäß, in aller Frühe die Hütte der Eltern. Den Segen, den ihm der Vater für die Brautschau erteilen wollte, lehnte er hastig ab – »es wird gewiß gut ausgehen«, murmelte er verlegen und wurde schamrot über die Lüge. Zornig eilte er davon, zum Städtchen hinaus. Aber wenn jenes Axiom des Lustigmachers richtig war, dann stand Moschko noch immer im ersten Stadium der Sünde. Denn sein Zorn richtete sich nur gegen sich selbst, und während er so mit geballten Fäusten über die Heide lief, titulierte er sich von Zeit zu Zeit knirschend mit den auserlesensten Schimpfnamen.
Als er jenen Wald erreicht, der sich von Korowla gegen das Grenzdorf Rossow hinzieht, wurde er allmählich ruhiger. Der herrliche Herbstmorgen, das feierliche Schweigen im Walde, machte ihn sanfter und milder. Und als er sich endlich müde gegangen und nun zur Rast unter einer mächtigen Buche hinsank, da wich der Zorn aus seinem Herzen, und nur die Trauer blieb darin.
Das hatte wohl der Herbsttag bewirkt, obwohl es Moschko nicht ahnte. Er war häufiger im Freien gewesen als seine Glaubensbrüder, die nur ungern die dumpfen Mauern des Ghettos verlassen. Wald und Heide waren ihm nicht so fremd und unheimlich wie jenen. Aber vertraut war er nie mit ihnen geworden, und es fiel ihm nie bei, die Natur bewußt zu genießen. Auch jetzt nicht, wo er in das matte Blau des Herbsthimmels starrte und erstaunt das wundersame Farbenspiel des welkenden Laubes betrachtete. Nur unbewußt empfand er ihren Zauber, aber eben darum vermochte ihn dieser ganz zu unterjochen. Sein Zorn schwand, sein Herz sänftigte sich, weil ihn die Natur übermannte und seinem Herzen dieselbe Stimmung mitteilte, welche der Wald um ihn atmete. Während er so zusah, wie der Sonnenglanz erbarmend das sterbende Laub verklärte, empfand er zum ersten Male sein Entsagen nicht als bohrenden Schmerz, sondern als wehmütige Ergebung. Und zu dieser Empfindung stimmte auch alles Tönen um ihn her; es klang wie ein Seufzen, wenn sich hie und da ein welkes Blatt löste und raschelnd 90 niedersank, und selbst der gelle Schrei des Kranichs in der Höhe vertönte, durch die Ferne gemildert, wie ein zitternder Ruf in den Lüften.
Da klang plötzlich ein anderer Schrei in sein Ohr, so schrill und bang, daß er jählings aufsprang. Es war eine Menschenstimme. »Hilfe! Hilfe!« klang es durch den Wald. Totenbleich stand der Jüngling einen Atemzug lang, dann stürmte er davon, dem Rufe nach. Er hatte die Stimme der Geliebten erkannt.
Sie war es auch wirklich; in einer Minute hatte er sie erreicht, sie und den »schönen Jacek«. Mit flammenden Wangen, die Augen blitzend vor Zorn und Erregung, die Lippen in die Zähne gepreßt, daß sie bluteten, so rang das Mädchen mit dem Sohne ihres Dienstherrn. Jacek war wirklich ein schöner Mensch; stark wie ein Bär, geschmeidig wie ein Fuchs. Eines jener kecken, scharfgeschnittenen Falkengesichter, die man heute nur noch selten unter den Ruthenen findet. Die Geißel des Polen, der Weihwedel des Pfaffen, der Schnaps des Juden haben diese Gesichter allmählich furchtsam und stumpf gemacht. Aber der junge Jacek Hlina sah wirklich noch aus wie einer jener freien Kosaken, die einst gegen Lemberg oder Jassy gezogen, die Männer zu morden, die Frauen zu bezwingen. Und auch jetzt tat er wie einer jener Ungebärdigen. Aber das Mädchen erwehrte sich seiner tapfer, und es war ein interessantes Schauspiel, wie die beiden Starken zornig und glühend miteinander rangen.
Moschko freilich sah dies Schauspiel nicht ganz klar, sondern wie durch einen roten Nebel. Mit einem Sprunge saß er dem Jacek im Nacken und hatte ihn niedergerungen. Dann hob er die Fäuste und ließ sie auf dem Rücken, auf der Brust, auf dem Kopfe des Bezwungenen spielen wie Hämmer. Es war kein ungefährliches Spiel; der junge Schmied hätte da leicht zum Totschläger werden können. Zum Glück war sein Gegner sehr geschmeidig. Er entschlüpfte den Riesenfäusten, richtete sich auf und stürzte mit einem Fluch davon. Nur seinen zerknüllten Hut, an dem einige Pfauenfedern prangten, mußte er zum Zeichen seiner Niederlage auf der Walstatt lassen.
Nun stand das sonderbare Liebespaar nach einer Trennung, die beiden so ewig lang gedünkt, wieder beisammen, allein im 91 Walde und nach einer so eigentümlichen Begebenheit. Kein Wunder, daß sie sehr befangen waren und schwiegen.
Endlich begann Moschko zögernd und leise: »Siehst du, heute war es nicht meine Schuld.«
»Was?«
»Daß ich dir begegnet bin!«
»Was sprichst du da?« rief sie eifrig. »Du entschuldigst dich noch? Ich habe ja dir zu danken! Ich habe meine schwere Not gehabt mit dem Menschen. Ich habe ihn gebissen wie ein Hund und gekratzt wie eine Katze, aber ich war doch sehr froh, als mir jemand zu Hilfe kam.«
»Wie bist du eigentlich in den Wald geraten?«
»Weil heute Sonntag ist und ich nach Rossow gehen wollte, um dort eine Freundin zu besuchen. Leider habe ich zu Hause gesagt, daß ich hingehe, und der Mensch hat die Gelegenheit benützt, mir aufzulauern. Nun, du hast ihn gehörig zerbleut. Aber wie bist du in den Wald gekommen?«
Er erzählte es ihr, anfangs zögernd, dann rasch, warum er sich heute versteckt halten müsse.
Sie hörte es kopfschüttelnd an. »Das ist gar nicht klug«, sagte sie. »Erstens hättest du sie dir doch ansehen sollen, ehe du abgesagt hast. Wer weiß, vielleicht hätte sie dir recht gut gefallen. Oder wenn du schon dieses Mädchen nicht gewollt hast, wozu die Lüge? Das kann dir einmal sehr schaden – verstehst du? Wenn dir vielleicht einmal eine andere gefällt, dann werden die Leute sagen: jene in Chorostkow hat ihn nicht gewollt!«
»Das ist mir sehr gleichgiltig«, sagte Moschko seufzend. »Mir wird gewiß nie ein Mädchen gefallen. Ich bleibe ledig.«
»Warum?« Sie fragte es so schlicht, so unbefangen! Selbst eine Kuhmagd in Podolien kann kokett sein, wenn sie will.
»Du fragst noch?« rief er, »du weißt es ja so gut wie ich!«
»Ja!« sagte sie. »Aber ich weiß auch, daß uns niemand helfen kann, auch Gott nicht. Es ist das beste, wenn du mich vergißt!«
»Aber ich kann nicht!« rief er. »Ich habe es versucht, ich bringe es nicht zustande. Wenn du mir verbietest, dich zu sehen, so werde ich dir gehorchen. Aber glaube nur nicht, daß dies für mich gut sein wird. Ich werde verrückt werden, das sage ich dir!«
92 »Man wird nicht so leicht verrückt – übrigens, was willst du?«
»Dich!«
»Und ich will dich, und es kann doch nichts daraus werden.«
»Es muß!« rief er und faßte ihre Hand und preßte sie so fest, daß diese rote Hand in der seinen ganz blaß wurde. »Es muß, ich bin ein Feigling gewesen, als ich dir diese Zusage geleistet habe. Es geht über meine Kraft!«
»Aber es streitet gegen Gott!«
»So soll er mich strafen. Wenn ich nur zuerst glücklich bin!«
»Und was werden die Menschen sagen?«
»Wer etwas sagt, den schlage ich nieder!«
»Aber was kann ich tun, wenn sie mich quälen?«
»Dir nichts daraus machen! So denke ich! Und darum: ich werde dich sehen, sooft ich kann. Aber dich zwinge ich nicht, von dir verlange ich nichts. Meine Liebe braucht dich ja gar nichts anzugehen. Du magst es halten, wie du willst.«
»Sprich nicht immer von meinem Willen! Wenn es nur von mir abhinge . . .«
»Nun?«
»Du weißt ja, was ich dann täte! Verstelle dich nicht! Ich habe dich lieb und darum – gerade darum, leb wohl!« Sie riß ihre Hand aus der seinen.
»Gut«, sagte er grimmig. »Ich habe nichts dagegen. Es ist mir gleichgiltig, ob du mich nicht liebhast oder ob du nur zu feig bist, mich zu lieben. Ich aber liebe dich und werde dich wenigstens anschauen, sooft ich kann, jeden Tag.«
»Das wirst du nicht!«
»Warum?«
»Weil dann die Leute mich necken werden!«
»Du und immer du!« rief er. »Nach mir fragst du nicht. Dir wäre es gleichgiltig, wenn ich mich aufhängen würde.«
»Moschko!« rief sie und fing heftig zu weinen an und fiel ihm um den Hals, »wenn ich mir nur zu helfen wüßte!«
Er achtete nicht auf ihre Tränen. »Willst du mich liebhaben?« fragte er und erstickte sie fast mit seinen Küssen.
»Ja!« schluchzte sie und riß sich doch wieder aus seinem Arm.
»Und ich darf dich wenigstens jeden Sonntag sehen und sprechen?«
93 »Ja, aber jetzt muß ich nach Rossow.«
Sie ging, aber doch erst nach zwei Stunden.
Von da ab kamen die beiden häufig zusammen, und es ist von ihrem Glück nichts weiter zu berichten. Höchstens, wie sie es hehlten. Sie wußten, daß über ihren Häuptern die Gefahr hing, von der Welt entdeckt und erbarmungslos zertreten zu werden. Aber das machte sie nicht trüb, sondern nur schlau und vorsichtig. Sie wechselten häufig ihre Zusammenkunftsorte; sie waren verschwiegen, und ihre Liebe gab ihnen sogar die Kraft, unbefangen zu scheinen.
So konnte von den Leuten in Barnow niemand erfahren, wie schwer sich Moschko vergehe, und von den Leuten in Korowla niemand, welche Frevlerin die Kasia sei. Auch der hochwürdige Vater Mikita erfuhr es nicht. Wohl beichtete die Dirne sehr oft, aber von dem Geliebten kam in all den Geständnissen keine Silbe vor. Und als der Hochwürdige sie einmal fragte: »Nun, hast du jenem Juden nicht wieder einen Kuß gegeben?«, da erwiderte sie unwillig: »Wo denkst du hin, das tut man einmal, aber nicht wieder!« Aber andere Sünden beichtete sie, von denen sie keine begangen: Wie sie das Vieh habe absichtlich hungern lassen, ihrem Herrn einen Metzen Korn gestohlen und ähnliches. Aber nachdem sie davon so lange gesprochen, bis der Hochwürdige eingenickt oder ungeduldig geworden, dann pflegte sie sehr rasch dazwischenzuflüstern: »Und ferner: ich habe den Moschko lieb!« Doch das verstand Mikita nicht und sagte zum Schlusse gemächlich, nachdem er ihr eine Buße von einigen Kreuzern oder Eiern auferlegt: »Absolvo te!« Damit war das Gewissen der Magd beruhigt. Gesagt hatte sie es ja doch. Und war es ihre Schuld, wenn der Hochwürdige nicht aufmerksam zugehört oder gar geschlummert?!
Was aber Moschko betrifft, so hatte er gar nicht die Empfindung einer Sünde, und wenn sie ihn zuweilen ankam, so half er sich leicht darüber hinweg. Er hatte das Gefühl, daß ein Verhältnis, welches zwei Menschen so glücklich mache, eigentlich gar keine Sünde sein könne. Nur dem Marschallik wich er aus. Denn der kleine Mensch sah ihn immer mit sonderbar durchdringenden Augen an, mit traurigen Augen. Und es betrübte ihn tief, daß sein Liebling auf solche Bahnen geraten. 94 Im Grunde seines Herzens konnte er sich selbst von einer gewissen Mitschuld nicht freisprechen. Er allein hatte ihn ja einst unter die Christen gebracht.
So ist von den Liebenden und ihren Schicksalen wenig zu sagen aus jener Zeit, da sie glücklich waren. Aber sie waren nur einen einzigen Winter lang glücklich, und im Frühling des nächsten Jahres wurden sie sehr, sehr unglücklich. Da traten drei Ereignisse hintereinander ein, an welche sie nie gedacht hatten, obwohl es samt und sonders keine unerhörten Ereignisse waren.
Das erste kann sehr kurz berichtet werden. Als Moschko wieder einmal zu seiner Kasia kam, da fiel sie ihm unter bitteren Tränen um den Hals und flüsterte ihm etwas zu.
Das zweite war, daß sich in einer Märznacht dem greisen Schmied sein Traum erfüllte: er wurde erlöst. Wahrscheinlich hatte er in jener Nacht noch einmal die weiße Lilie geschaut. Denn als ihn seine beiden Gesellen am nächsten Morgen nicht in der Schmiede trafen und darum in sein Kämmerchen traten, da sahen sie des alten Mannes Antlitz so, wie weder sie noch andere Leute in Barnow es je erblickt. Auf diesem sonst so düsteren Antlitz lag ein Ausdruck unsäglicher Ruhe und Verklärung. Was den alten Mann so heiter getröstet, konnte er niemand erzählen, denn er war tot.
Sein Besitztum fiel an einen armen Vetter, der bisher in Rußland gelebt. Der bezog nun die stattliche Schmiede, und sein erstes war, dem Hawrilo zu sagen: »Du bleibst!« und dem Moschko: »Du gehst!« Einen Juden konnte er nicht brauchen. Nur auf Fürbitte des Hawrilo ließ er ihm sechs Wochen Frist, einen andern Meister zu finden.
Aber dieser Sorge ward Moschko durch das dritte Ereignis enthoben: die Rekrutierung.