Sigmund Freud
Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)
Sigmund Freud

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

183 III
Über den paranoischen Mechanismus

Wir haben bisher den den Fall Schreber beherrschenden Vaterkomplex und die zentrale Wunschphantasie der Erkrankung behandelt. An alledem ist nichts für die Krankheitsform der Paranoia Charakteristisches, nichts, was wir nicht bei anderen Fällen von Neurose finden könnten und auch wirklich gefunden haben. Die Eigenart der Paranoia (oder der paranoiden Demenz) müssen wir in etwas anderes verlegen, in die besondere Erscheinungsform der Symptome, und für diese wird unsere Erwartung nicht die Komplexe, sondern den Mechanismus der Symptombildung oder den der Verdrängung verantwortlich machen. Wir würden sagen, der paranoische Charakter liegt darin, daß zur Abwehr einer homosexuellen Wunschphantasie gerade mit einem Verfolgungswahn von solcher Art reagiert wird.

Um so bedeutungsvoller ist es, wenn wir durch die Erfahrung gemahnt werden, gerade der homosexuellen Wunschphantasie eine innigere, vielleicht eine konstante Beziehung zur Krankheitsform zuzusprechen. Meiner eigenen Erfahrung hierüber mißtrauend, habe ich in den letzten Jahren mit meinen Freunden C. G. Jung in Zürich und S. Ferenczi in Budapest eine Anzahl von Fällen paranoider Erkrankung aus deren Beobachtung auf diesen einen Punkt hin untersucht. Es waren Männer wie Frauen, deren Krankengeschichten uns als Untersuchungsmaterial vorlagen, verschieden durch Rasse, Beruf und sozialen Rang, und wir sahen mit Überraschung, wie deutlich in all diesen Fällen die Abwehr des homosexuellen Wunsches im Mittelpunkte des Krankheitskonfliktes zu erkennen war, wie sie alle an der Bewältigung ihrer unbewußt verstärkten Homosexualität gescheitert warenEine weitere Bestätigung findet sich in der Analyse des Paranoiden J. B. von A. Maeder (1910). Ich bedauere, daß ich diese Arbeit zur Zeit der Abfassung der meinigen noch nicht lesen konnte.. Es entsprach gewiß nicht unserer Erwartung. Gerade bei der Paranoia ist die sexuelle Ätiologie keineswegs evident, dagegen drängen sich soziale Kränkungen und Zurücksetzungen, besonders für den Mann, in der Verursachung der Paranoia auffällig hervor. Es wird nun aber nur geringe Vertiefung erfordert, um an diesen sozialen Schädigungen die Beteiligung der 184 homosexuellen Komponente des Gefühlslebens als das eigentlich Wirksame zu erkennen. Solange die normale Betätigung den Einblick in die Tiefen des Seelenlebens verwehrt, darf man es ja bezweifeln, daß die Gefühlsbeziehungen eines Individuums zu seinen Nebenmenschen im sozialen Leben faktisch oder genetisch mit der Erotik etwas zu schaffen haben. Der Wahn deckt diese Beziehungen regelmäßig auf und führt das soziale Gefühl bis auf seine Wurzel im grobsinnlichen erotischen Wunsch zurück. Auch Dr. Schreber, dessen Wahn in einer unmöglich zu verkennenden homosexuellen Wunschphantasie gipfelt, hatte in den Zeiten der Gesundheit – allen Berichten zufolge – kein Anzeichen von Homosexualität im vulgären Sinne geboten.

Ich meine, es ist weder überflüssig noch unberechtigt, wenn ich zu zeigen versuche, daß unser heutiges, durch Psychoanalyse gewonnenes Verständnis der Seelenvorgänge uns bereits das Verständnis für die Rolle des homosexuellen Wunsches bei der Erkrankung an Paranoia vermitteln kann. Untersuchungen der letzten ZeitI. Sadger (1910). – Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910 c). haben uns auf ein Stadium in der Entwicklungsgeschichte der Libido aufmerksam gemacht, welches auf dem Wege vom Autoerotismus zur Objektliebe durchschritten wirdDrei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905 d).. Man hat es als Narzissismus bezeichnet; ich ziehe den vielleicht minder korrekten, aber kürzeren und weniger übelklingenden Namen Narzißmus vor. Es besteht darin, daß das in der Entwicklung begriffene Individuum, welches seine autoerotisch arbeitenden Sexualtriebe zu einer Einheit zusammenfaßt, um ein Liebesobjekt zu gewinnen, zunächst sich selbst, seinen eigenen Körper zum Liebesobjekt nimmt, ehe es von diesem zur Objektwahl einer fremden Person übergeht. Eine solche zwischen Autoerotismus und Objektwahl vermittelnde Phase ist vielleicht normalerweise unerläßlich; es scheint, daß viele Personen ungewöhnlich lange in ihr aufgehalten werden und daß von diesem Zustande viel für spätere Entwicklungsstufen erübrigt. An diesem zum Liebesobjekt genommenen Selbst können bereits die Genitalien die Hauptsache sein. Der weitere Weg führt zur Wahl eines Objekts mit ähnlichen Genitalien, also über die homosexuelle Objektwahl, zur Heterosexualität. Wir nehmen an, daß die später manifest Homosexuellen 185 sich von der Anforderung der den eigenen gleichen Genitalien beim Objekt nie frei gemacht haben, wobei den kindlichen Sexualtheorien, die beiden Geschlechtern zunächst die gleichen Genitalien zuschreiben, ein erheblicher Einfluß zukommt.

Nach der Erreichung der heterosexuellen Objektwahl werden die homosexuellen Strebungen nicht etwa aufgehoben oder eingestellt, sondern bloß vom Sexualziel abgedrängt und neuen Verwendungen zugeführt. Sie treten nun mit Anteilen der Ichtriebe zusammen, um mit ihnen als »angelehnte« Komponenten die sozialen Triebe zu konstituieren, und stellen so den Beitrag der Erotik zur Freundschaft, Kameradschaft, zum Gemeinsinn und zur allgemeinen Menschenliebe dar. Wie groß diese Beiträge aus erotischer Quelle mit Hemmung des Sexualziels eigentlich sind, würde man aus den normalen sozialen Beziehungen der Menschen kaum erraten. Es gehört aber in den gleichen Zusammenhang, daß gerade manifest Homosexuelle und unter ihnen wieder solche, die der sinnlichen Betätigung widerstreben, sich durch besonders intensive Beteiligung an den allgemeinen, an den durch Sublimierung der Erotik hervorgegangenen Interessen der Menschheit auszeichnen.

Ich habe in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie die Ansicht ausgesprochen, daß jede Entwicklungsstufe der Psychosexualität eine Möglichkeit der »Fixierung« und somit eine Dispositionsstelle ergibt. Personen, welche nicht völlig vom Stadium des Narzißmus losgekommen sind, also dort eine Fixierung besitzen, die als Krankheitsdisposition wirken kann, sind der Gefahr ausgesetzt, daß eine Hochflut von Libido, die keinen andern Ablauf findet, ihre sozialen Triebe der Sexualisierung unterzieht und somit ihre in der Entwicklung gewonnenen Sublimierungen rückgängig macht. Zu einem solchen Erfolg kann alles führen, was eine rückläufige Strömung der Libido (»Regression«) hervorruft, sowohl auf der einen Seite eine kollaterale Verstärkung durch Enttäuschung beim Weibe, eine direkte Rückstauung durch Mißglücken in den sozialen Beziehungen zum Manne – beides Fälle der »Versagung« – als auch eine allgemeine Libidosteigerung, die zu gewaltig ist, als daß sie auf den bereits eröffneten Wegen Erledigung finden 186 könnte, und die darum an der schwachen Stelle des Baues den Damm durchbricht. Da wir in unseren Analysen finden, daß die Paranoiker sich einer solchen Sexualisierung ihrer sozialen Triebbesetzungen zu erwehren suchen, werden wir zur Annahme gedrängt, daß die schwache Stelle ihrer Entwicklung in dem Stück zwischen Autoerotismus, Narzißmus und Homosexualität zu suchen ist, daß dort ihre, vielleicht noch genauer zu bestimmende Krankheitsdisposition liegt. Eine ähnliche Disposition müßten wir der Dementia praecox Kraepelins oder Schizophrenie (nach Bleuler) zuschreiben, und wir hoffen im weiteren Anhaltspunkte zu gewinnen, um die Unterschiede in Form und Ausgang der beiden Affektionen durch entsprechende Verschiedenheiten der disponierenden Fixierung zu begründen.

 

Wenn wir so die Zumutung der homosexuellen Wunschphantasie, den Mann zu lieben, für den Kern des Konflikts bei der Paranoia des Mannes halten, so werden wir doch gewiß nicht vergessen, daß die Sicherung einer so wichtigen Annahme die Untersuchung einer großen Anzahl aller Formen von paranoischer Erkrankung zur Voraussetzung haben müßte. Wir müssen also darauf vorbereitet sein, unsere Behauptung eventuell auf einen einzigen Typus der Paranoia einzuschränken. Immerhin bleibt es merkwürdig, daß die bekannten Hauptformen der Paranoia alle als Widersprüche gegen den einen Satz »Ich (ein Mann) liebe ihn (einen Mann)« dargestellt werden können, ja, daß sie alle möglichen Formulierungen dieses Widerspruches erschöpfen.

Dem Satze »Ich liebe ihn (den Mann)« widerspricht

a) der Verfolgungswahn, indem er laut proklamiert:

»Ich liebe ihn nicht – ich hasse ihn ja.« Dieser Widerspruch, der im UnbewußtenIn seiner »grundsprachlichen« Fassung nach Schreber. nicht anders lauten könnte, kann aber beim Paranoiker nicht in dieser Form bewußt werden. Der Mechanismus der Symptombildung bei der Paranoia fordert, daß die innere Wahrnehmung, das Gefühl, durch eine Wahrnehmung von außen ersetzt werde. Somit verwandelt sich der Satz »Ich hasse ihn ja« durch Projektion in den andern: »Er haßt (verfolgt) mich, was mich dann berechtigen wird, ihn zu hassen.« Das treibende unbewußte Gefühl erscheint so als Folgerung aus einer äußern Wahrnehmung:

187 »Ich liebe ihn ja nicht – ich hasse ihn ja – weil er mich verfolgt.« Die Beobachtung läßt keinen Zweifel darüber, daß der Verfolger kein anderer ist als der einst Geliebte.

b) Einen andern Angriffspunkt für den Widerspruch nimmt die Erotomanie auf, die ohne diese Auffassung ganz unverständlich bliebe.

»Ich liebe nicht ihn – ich liebe ja sie

Und der nämliche Zwang zur Projektion nötigt dem Satz die Verwandlung auf: »Ich merke, daß sie mich liebt.«

»Ich liebe nicht ihn – ich liebe ja sie – weil sie mich liebt.« Viele Fälle von Erotomanie könnten den Eindruck von übertriebenen oder verzerrten heterosexuellen Fixierungen ohne andersartige Begründung machen, wenn man nicht aufmerksam würde, daß alle diese Verliebtheiten nicht mit der internen Wahrnehmung des Liebens, sondern der von außen kommenden des Geliebtwerdens einsetzen. Bei dieser Form der Paranoia kann aber auch der Mittelsatz »Ich liebe sie« bewußt werden, weil sein Widerspruch zum ersten Satz kein kontradiktorischer, kein so unverträglicher ist wie der zwischen Lieben und Hassen. Es bleibt ja immerhin möglich, neben ihm auch sie zu lieben. Auf diese Art kann es geschehen, daß der Projektionsersatz »Sie liebt mich« wieder gegen das »grundsprachliche« »Ich liebe ja sie« zurücktritt.

c) Die dritte noch mögliche Art des Widerspruches wäre jetzt der Eifersuchtswahn, den wir in charakteristischen Formen bei Mann und Weib studieren können.

α) der Eifersuchtswahn des Alkoholikers. Die Rolle des Alkohols bei dieser Affektion ist uns nach allen Richtungen verständlich. Wir wissen, daß dies Genußmittel Hemmungen aufhebt und Sublimierungen rückgängig macht. Der Mann wird nicht selten durch die Enttäuschung beim Weibe zum Alkohol getrieben, das heißt aber in der Regel, er begibt sich ins Wirtshaus und in die Gesellschaft der Männer, die ihm die in seinem Heim beim Weibe vermißte Gefühlsbefriedigung gewährt. Werden nun diese Männer Objekte einer stärkeren libidinösen Besetzung in seinem Unbewußten, so erwehrt er sich derselben durch die dritte Art des Widerspruches:

»Nicht ich liebe den Mann – sie liebt ihn ja« – und verdächtigt die Frau mit all den Männern, die er zu lieben versucht ist.

Die Projektionsentstellung muß hier entfallen, weil mit dem Wechsel des liebenden Subjekts der Vorgang ohnedies aus dem Ich herausgeworfen ist. Daß die Frau die Männer liebt, bleibt eine Angelegenheit der äußern Wahrnehmung; daß man selbst nicht liebt, sondern haßt, daß 188 man nicht diese, sondern jene Person liebt, das sind allerdings Tatsachen der innern Wahrnehmung.

β) Ganz analog stellt sich die eifersüchtige Paranoia der Frauen her.

»Nicht ich liebe die Frauen – sondern er liebt sie.« Die Eifersüchtige verdächtigt den Mann mit all den Frauen, die ihr selbst gefallen, infolge ihres überstark gewordenen, disponierenden Narzißmus und ihrer Homosexualität. In der Auswahl der dem Manne zugeschobenen Liebesobjekte offenbart sich unverkennbar der Einfluß der Lebenszeit, in welcher die Fixierung erfolgte; es sind häufig alte, zur realen Liebe ungeeignete Personen, Auffrischungen der Pflegerinnen, Dienerinnen, Freundinnen ihrer Kindheit oder direkt ihrer konkurrierenden Schwestern.

Man sollte nun glauben, ein aus drei Gliedern bestehender Satz wie »Ich liebe ihn« ließe nur drei Arten des Widerspruches zu. Der Eifersuchtswahn widerspricht dem Subjekt, der Verfolgungswahn dem Verbum, die Erotomanie dem Objekt. Allein, es ist wirklich noch eine vierte Art des Widerspruches möglich, die Gesamtablehnung des ganzen Satzes:

»Ich liebe überhaupt nicht und niemand« – und dieser Satz scheint psychologisch äquivalent, da man doch mit seiner Libido irgendwohin muß, mit dem Satze: »Ich liebe nur mich.« Diese Art des Widerspruches ergäbe uns also den Größenwahn, den wir als eine Sexualüberschätzung des eigenen Ichs auffassen und so der bekannten Überschätzung des Liebesobjekts an die Seite stellen könnenDrei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905 d, S. 17. – Dieselbe Auffassung und Formel bei Abraham (l. c.) und Maeder (l. c.)..

Es wird nicht ohne Bedeutung für andere Stücke der Paranoialehre bleiben, daß ein Zusatz von Größenwahn bei den meisten anderen Formen paranoischer Erkrankung zu konstatieren ist. Wir haben ja das Recht anzunehmen, daß der Größenwahn überhaupt infantil ist und daß er in der späteren Entwicklung der Gesellschaft zum Opfer gebracht wird, so wie er durch keinen andern Einfluß so intensiv unterdrückt wird wie durch eine das Individuum mächtig ergreifende Verliebtheit.

»Denn wo die Lieb' erwachet, stirbt
das Ich, der finstere Despot.«Dschelaledin Rumi, übersetzt von Rückert; zitiert nach Kuhlenbecks Einleitung zum V. Band der Werke von Giordano Bruno.

 

189 Nach diesen Erörterungen über die unerwartete Bedeutung der homosexuellen Wunschphantasie für die Paranoia kehren wir zu jenen beiden Momenten zurück, in welche wir das Charakteristische dieser Erkrankungsform von vornherein verlegen wollten: zum Mechanismus der Symptombildung und zu dem der Verdrängung.

Wir haben zunächst gewiß kein Recht anzunehmen, daß diese beiden Mechanismen identisch seien, daß die Symptombildung auf demselben Wege vor sich gehe wie die Verdrängung, etwa indem der nämliche Weg dabei in entgegengesetzter Richtung beschritten werde. Eine solche Identität ist auch keineswegs sehr wahrscheinlich; doch wollen wir uns jeder Aussage hierüber vor der Untersuchung enthalten.

An der Symptombildung bei Paranoia ist vor allem jener Zug auffällig, der die Benennung Projektion verdient. Eine innere Wahrnehmung wird unterdrückt, und zum Ersatz für sie kommt ihr Inhalt, nachdem er eine gewisse Entstellung erfahren hat, als Wahrnehmung von außen zum Bewußtsein. Die Entstellung besteht beim Verfolgungswahn in einer Affektverwandlung; was als Liebe innen hätte verspürt werden sollen, wird als Haß von außen wahrgenommen. Man wäre versucht, diesen merkwürdigen Vorgang als das Bedeutsamste der Paranoia und als absolut pathognomonisch für dieselbe hinzustellen, wenn man nicht rechtzeitig daran erinnert würde, daß 1. die Projektion nicht bei allen Formen von Paranoia die gleiche Rolle spielt und 2. daß sie nicht nur bei Paranoia, sondern auch unter anderen Verhältnissen im Seelenleben vorkommt, ja, daß ihr ein regelmäßiger Anteil an unserer Einstellung zur Außenwelt zugewiesen ist. Wenn wir die Ursachen gewisser Sinnesempfindungen nicht wie die anderer in uns selbst suchen, sondern sie nach außen verlegen, so verdient auch dieser normale Vorgang den Namen einer Projektion. So aufmerksam geworden, daß es sich beim Verständnis der Projektion um allgemeinere psychologische Probleme handelt, entschließen wir uns, das Studium der Projektion, und damit des Mechanismus der paranoischen Symptombildung überhaupt, für einen andern Zusammenhang aufzusparen, und wenden uns der Frage zu, welche Vorstellungen wir uns über den Mechanismus der Verdrängung bei der Paranoia zu bilden vermögen. Ich schicke voraus, daß wir zur Rechtfertigung unseres vorläufigen Verzichtes finden werden, die Art des Verdrängungsvorganges hänge weit inniger mit der 190 Entwicklungsgeschichte der Libido und der in ihr gegebenen Disposition zusammen als die Art der Symptombildung.

Wir haben in der Psychoanalytik die pathologischen Phänomene ganz allgemein aus der Verdrängung hervorgehen lassen. Fassen wir das »Verdrängung« Benannte schärfer ins Auge, so finden wir Anlaß, den Vorgang in drei Phasen zu zerlegen, die eine gute begriffliche Sonderung gestatten.

1) Die erste Phase besteht in der Fixierung, dem Vorläufer und der Bedingung einer jeden »Verdrängung«. Die Tatsache der Fixierung kann dahin ausgesprochen werden, daß ein Trieb oder Triebanteil die als normal vorhergesehene Entwicklung nicht mitmacht und infolge dieser Entwicklungshemmung in einem infantileren Stadium verbleibt. Die betreffende libidinöse Strömung verhält sich zu den späteren psychischen Bildungen wie eine dem System des Unbewußten angehörige, wie eine verdrängte. Wir sagten schon, daß in solchen Fixierungen der Triebe die Disposition für die spätere Erkrankung liege, und können hinzufügen, die Determinierung vor allem für den Ausgang der dritten Phase der Verdrängung.

2) Die zweite Phase der Verdrängung ist die eigentliche Verdrängung, die wir bisher vorzugsweise im Auge gehabt haben. Sie geht von den höher entwickelten bewußtseinsfähigen Systemen des Ichs aus und kann eigentlich als ein »Nachdrängen« beschrieben werden. Sie macht den Eindruck eines wesentlich aktiven Vorganges, während sich die Fixierung als ein eigentlich passives Zurückbleiben darstellt. Der Verdrängung unterliegen entweder die psychischen Abkömmlinge jener primär zurückgebliebenen Triebe, wenn es durch deren Erstarkung zum Konflikt zwischen ihnen und dem Ich (oder den ichgerechten Trieben) gekommen ist, oder solche psychische Strebungen, gegen welche sich aus anderen Gründen eine starke Abneigung erhebt. Diese Abneigung würde aber nicht die Verdrängung zur Folge haben, wenn sich nicht zwischen den unliebsamen, zu verdrängenden Strebungen und den bereits verdrängten eine Verknüpfung herstellen würde. Wo dies der Fall ist, wirken die Abstoßung der bewußten und die Anziehung der unbewußten Systeme gleichsinnig für das Gelingen der Verdrängung. Die beiden hier gesonderten Fälle mögen in Wirklichkeit weniger scharf geschieden sein und sich nur durch ein Mehr oder Minder an Beitrag von Seiten der primär verdrängten Triebe unterscheiden.

191 3) Als dritte, für die pathologischen Phänomene bedeutsamste Phase ist die des Mißlingens der Verdrängung, des Durchbruchs, der Wiederkehr des Verdrängten anzuführen. Dieser Durchbruch erfolgt von der Stelle der Fixierung her und hat eine Regression der Libidoentwicklung bis zu dieser Stelle zum Inhalte.

Die Mannigfaltigkeiten der Fixierung haben wir bereits erwähnt; es sind ihrer so viele als Stufen in der Entwicklung der Libido. Wir müssen auf andere Mannigfaltigkeiten in den Mechanismen der eigentlichen Verdrängung und in denen des Durchbruches (oder der Symptombildung) vorbereitet sein und dürfen wohl bereits jetzt vermuten, daß wir nicht alle diese Mannigfaltigkeiten allein auf die Entwicklungsgeschichte der Libido werden zurückführen können.

Es ist leicht zu erraten, daß wir mit diesen Erörterungen das Problem der Neurosenwahl streifen, welches indes nicht ohne Vorarbeiten anderer Art in Angriff genommen werden kann. Erinnern wir uns jetzt, daß wir die Fixierung bereits behandelt, die Symptombildung zurückgestellt haben, und beschränken wir uns auf die Frage, ob sich aus der Analyse des Falles Schreber ein Hinweis auf den bei der Paranoia vorwaltenden Mechanismus der (eigentlichen) Verdrängung gewinnen läßt.

Auf der Höhe der Krankheit bildete sich bei Schreber unter dem Einfluß von Visionen von »zum Teil grausiger Natur, zum Teil aber wiederum von unbeschreiblicher Großartigkeit« (73) die Überzeugung einer großen Katastrophe, eines Weltunterganges. Stimmen sagten ihm, jetzt sei das Werk einer 14000jährigen Vergangenheit verloren, der Erde sei nur noch die Dauer von 212 Jahren beschieden (71); in der letzten Zeit seines Aufenthaltes in der Flechsigschen Anstalt hielt er diesen Zeitraum für bereits abgelaufen. Er selbst war der »einzige noch übriggebliebene wirkliche Mensch«, und die wenigen menschlichen Gestalten, die er noch sah, den Arzt, die Wärter und Patienten, erklärte er als »hingewunderte, flüchtig hingemachte Männer«. Zeitweilig brach sich auch die reziproke Strömung Bahn; es wurde ihm ein Zeitungsblatt vorgelegt, in dem seine eigene Todesnachricht zu lesen war (81), er war selbst in einer zweiten, minderwertigen Gestalt vorhanden und in dieser eines Tages sanft verschieden (73). Aber die Gestaltung des Wahnes, die das Ich festhielt und die Welt opferte, erwies sich als die bei weitem stärkere. Über die Verursachung dieser Katastrophe machte er sich verschiedene 192 Vorstellungen; er dachte bald an eine Vereisung durch Zurückziehen der Sonne, bald an eine Zerstörung durch Erdbeben, wobei er als »Geisterseher« zu einer ähnlichen Urheberrolle gelangte wie ein anderer Geisterseher angeblich beim Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 (91). Oder aber Flechsig war der Schuldige, indem er durch seine Zauberkünste Furcht und Schrecken unter den Menschen verbreitet, die Grundlagen der Religion zerstört und das Umsichgreifen einer allgemeinen Nervosität und Unsittlichkeit verursacht hatte, in deren Folge dann verheerende Seuchen über die Menschen hereingebrochen seien (91). Jedenfalls war der Weltuntergang die Folge des zwischen ihm und Flechsig ausgebrochenen Konfliktes oder, wie sich die Ätiologie in der zweiten Phase des Wahnes darstellte, seiner unlösbar gewordenen Verbindung mit Gott, also der notwendige Erfolg seiner Erkrankung. Jahre später, als Dr. Schreber in die menschliche Gemeinschaft zurückgekehrt war und an den in seine Hände zurückgelangten Büchern, Musikalien und sonstigen Gebrauchsgegenständen nichts entdecken konnte, was mit der Annahme einer großen zeitlichen Kluft in der Geschichte der Menschheit verträglich wäre, gab er zu, daß seine Auffassung nicht mehr aufrechtzuhalten sei: » . . . kann ich mich der Anerkennung nicht entziehen, daß äußerlich betrachtet alles beim alten geblieben ist. Ob nicht gleichwohl eine tiefgreifende innere Veränderung sich vollzogen hat, wird weiter unten besprochen werden.« (84–5.) Er konnte nicht daran zweifeln, daß die Welt während seiner Erkrankung untergegangen war, und die er jetzt vor sich sah, war doch nicht die nämliche.

Eine solche Weltkatastrophe während des stürmischen Stadiums der Paranoia ist auch in anderen Krankengeschichten nicht seltenEine anders motivierte Art des »Weltunterganges« kommt auf der Höhe der Liebesekstase zustande (Wagners Tristan und Isolde); hier saugt nicht das Ich, sondern das eine Objekt alle der Außenwelt geschenkten Besetzungen auf.. Auf dem Boden unserer Auffassung von Libidobesetzung wird uns, wenn wir uns von der Wertung der anderen Menschen als »flüchtig hingemachter Männer« leiten lassen, die Erklärung dieser Katastrophen nicht schwerVgl. Abraham (1908) – Jung (1907). – In der kurzen Arbeit von Abraham sind fast alle wesentlichen Gesichtspunkte dieser Studie über den Fall Schreber enthalten.. Der Kranke hat den Personen seiner Umgebung und der Außenwelt überhaupt die Libidobesetzung entzogen, die ihnen bisher zugewendet war; damit ist alles für ihn gleichgültig und beziehungslos geworden und muß durch eine sekundäre Rationalisierung als »hingewundert, flüchtig hingemacht« erklärt werden. Der Weltuntergang ist die 193 Projektion dieser innerlichen Katastrophe; seine subjektive Welt ist untergegangen, seitdem er ihr seine Liebe entzogen hatVielleicht nicht nur die Libidobesetzung, sondern das Interesse überhaupt, also auch die vom Ich ausgehenden Besetzungen. Siehe weiter unten die Diskussion dieser Frage..

Nach dem Fluche, mit dem Faust sich von der Welt lossagt, singt der Geisterchor:

»Weh! weh!
du hast sie zerstört,
die schöne Welt,
mit mächtiger Faust;
sie stürzt, sie zerfällt!
Ein Halbgott hat sie zerschlagen!
.   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .
Mächtiger
der Erdensöhne,
Prächtiger
baue sie wieder,
in deinem Busen baue sie auf!«

Und der Paranoiker baut sie wieder auf, nicht prächtiger zwar, aber wenigstens so, daß er wieder in ihr leben kann. Er baut sie auf durch die Arbeit seines Wahnes. Was wir für die Krankheitsproduktion halten, die Wahnbildung, ist in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruktion. Diese gelingt nach der Katastrophe mehr oder minder gut, niemals völlig; eine »tiefgreifende innere Veränderung« nach den Worten Schrebers hat sich mit der Welt vollzogen. Aber der Mensch hat eine Beziehung zu den Personen und Dingen der Welt wiedergewonnen, oft eine sehr intensive, wenn sie auch feindlich sein mag, die früher erwartungsvoll zärtlich war. Wir werden also sagen: der eigentliche Verdrängungsvorgang besteht in einer Ablösung der Libido von vorher geliebten Personen – und Dingen. Er vollzieht sich stumm; wir erhalten keine Kunde von ihm, sind genötigt, ihn aus den nachfolgenden Vorgängen zu erschließen. Was sich uns lärmend bemerkbar macht, das ist der Heilungsvorgang, der die Verdrängung rückgängig macht und die Libido wieder zu den von ihr verlassenen Personen zurückführt. Er 194 vollzieht sich bei der Paranoia auf dem Wege der Projektion. Es war nicht richtig zu sagen, die innerlich unterdrückte Empfindung werde nach außen projiziert; wir sehen vielmehr ein, daß das innerlich Aufgehobene von außen wiederkehrt. Die gründliche Untersuchung des Prozesses der Projektion, die wir auf ein anderes Mal verschoben haben, wird uns hierüber die letzte Sicherheit bringen.

 

Nun aber wollen wir nicht unzufrieden sein, daß uns die neugewonnene Einsicht zu einer Reihe von weiteren Diskussionen nötigt.

1) Die nächste Erwägung sagt uns, daß eine Ablösung der Libido weder ausschließlich bei der Paranoia vorkommen noch dort, wo sie sonst vorkommt, so unheilvolle Folgen haben kann. Es ist sehr wohl möglich, daß die Ablösung der Libido der wesentliche und regelmäßige Mechanismus einer jeden Verdrängung ist; wir wissen nichts darüber, solange nicht die anderen Verdrängungsaffektionen einer analogen Untersuchung unterzogen worden sind. Es ist sicher, daß wir im normalen Seelenleben (und nicht nur in der Trauer) beständig solche Loslösungen der Libido von Personen oder anderen Objekten vollziehen, ohne dabei zu erkranken. Wenn Faust sich von der Welt mit jenen Verfluchungen lossagt, so resultiert daraus keine Paranoia oder andere Neurose, sondern eine besondere psychische Gesamtstimmung. Die Libidolösung an und für sich kann also nicht das Pathogene bei der Paranoia sein, es bedarf eines besonderen Charakters, der die paranoische Ablösung der Libido von anderen Arten des nämlichen Vorganges unterscheiden kann. Es ist nicht schwer, einen solchen Charakter in Vorschlag zu bringen. Welches ist die weitere Verwendung der durch die Lösung frei gewordenen Libido? Normalerweise suchen wir sofort einen Ersatz für die aufgehobene Anheftung; bis dieser Ersatz geglückt ist, erhalten wir die freie Libido in der Psyche schwebend, wo sie Spannungen ergibt und die Stimmung beeinflußt; in der Hysterie verwandelt sich der befreite Libidobetrag in körperliche Innervationen oder in Angst. Bei der Paranoia aber haben wir ein klinisches Anzeichen dafür, daß die dem Objekt entzogene Libido einer besonderen Verwendung zugeführt wird. Wir erinnern uns daran, daß die meisten Fälle von Paranoia ein Stück Größenwahn zeigen und daß der Größenwahn für sich allein eine Paranoia konstituieren kann. Daraus wollen wir schließen, daß die frei gewordene Libido bei der Paranoia zum Ich geschlagen, zur 195 Ichvergrößerung verwendet wird. Damit ist das aus der Entwicklung der Libido bekannte Stadium des Narzißmus wieder erreicht, in welchem das eigene Ich das einzige Sexualobjekt war. Dieser klinischen Aussage wegen nehmen wir an, daß die Paranoischen eine Fixierung im Narzißmus mitgebracht haben, und sprechen wir aus, daß der Rückschritt von der subsumierten Homosexualität bis zum Narzißmus den Betrag der für die Paranoia charakteristischen Regression angibt.

2) Eine gleichfalls naheliegende Einwendung kann sich auf die Krankengeschichte Schrebers (wie auf viele andere) stützen, indem sie geltend macht, daß der Verfolgungswahn (gegen Flechsig) unverkennbar früher auftritt als die Phantasie des Weltunterganges, so daß die angebliche Wiederkehr des Verdrängten der Verdrängung selbst vorherginge, was offenbar widersinnig ist. Diesem Einwand zuliebe müssen wir von der allgemeinsten Betrachtung zur Einzelwürdigung der gewiß sehr viel komplizierteren realen Verhältnisse herabsteigen. Die Möglichkeit muß zugegeben werden, daß eine solche Ablösung der Libido ebensowohl eine partielle, ein Zurückziehen von einem einzelnen Komplex, wie eine allgemeine sein kann. Die partielle Lösung dürfte die bei weitem häufigere sein und diejenige, die die allgemeine einleitet, weil sie ja durch die Einflüsse des Lebens zunächst allein motiviert wird. Es kann dann bei der partiellen Lösung bleiben oder dieselbe zu einer allgemeinen vervollständigt werden, die sich durch den Größenwahn auffällig kundgibt. Im Falle Schrebers mag die Ablösung der Libido von der Person Flechsigs immerhin das Primäre gewesen sein; ihr folgt alsbald der Wahn nach, welcher die Libido wieder zu Flechsig (mit negativem Vorzeichen als Marke der stattgehabten Verdrängung) zurückführt und so das Werk der Verdrängung aufhebt. Nun bricht der Verdrängungskampf von neuem los, bedient sich aber diesmal stärkerer Mittel; in dem Maße, als das umstrittene Objekt das wichtigste in der Außenwelt wird, einerseits alle Libido an sich ziehen will, anderseits alle Widerstände gegen sich mobil macht, wird der Kampf ums einzelne Objekt mit einer allgemeinen Schlacht vergleichbar, in deren Verlauf sich der Sieg der Verdrängung durch die Überzeugung ausdrückt, die Welt sei untergegangen und das Selbst allein übriggeblieben. Überblickt man die kunstvollen Konstruktionen, welche der Wahn Schrebers auf religiösem Boden aufbaut (die Hierarchie Gottes – die geprüften Seelen – die 196 Vorhöfe des Himmels – den niederen und den oberen Gott), so kann man rückschließend ermessen, welcher Reichtum von Sublimierungen durch die Katastrophe der allgemeinen Libidoablösung zum Einsturz gebracht worden war.

3) Eine dritte Überlegung, die sich auf den Boden der hier entwickelten Anschauungen stellt, wirft die Frage auf, ob wir die allgemeine Ablösung der Libido von der Außenwelt als genügend wirksam annehmen sollen, um aus ihr den »Weltuntergang« zu erklären, ob nicht in diesem Falle die festgehaltenen Ichbesetzungen hinreichen müßten, um den Rapport mit der Außenwelt aufrechtzuhalten. Man müßte dann entweder das, was wir Libidobesetzung (Interesse aus erotischen Quellen) heißen, mit dem Interesse überhaupt zusammenfallen lassen oder die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß eine ausgiebige Störung in der Unterbringung der Libido auch eine entsprechende Störung in den Ichbesetzungen induzieren kann. Nun sind dies Probleme, zu deren Beantwortung wir noch ganz hilflos und ungeschickt sind. Könnten wir von einer gesicherten Trieblehre ausgehen, so stünde es anders. Aber in Wahrheit verfügen wir über nichts dergleichen. Wir fassen den Trieb als den Grenzbegriff des Somatischen gegen das Seelische, sehen in ihm den psychischen Repräsentanten organischer Mächte und nehmen die populäre Unterscheidung von Ichtrieben und Sexualtrieb an, die uns mit der biologischen Doppelstellung des Einzelwesens, welche seine eigene Erhaltung wie die der Gattung anstrebt, übereinzustimmen scheint. Aber alles Weitere sind Konstruktionen, die wir aufstellen und auch bereitwillig wieder fallenlassen, um uns in dem Gewirre der dunkleren seelischen Vorgänge zu orientieren, und wir erwarten gerade von psychoanalytischen Untersuchungen über krankhafte Seelenvorgänge, daß sie uns gewisse Entscheidungen in den Fragen der Trieblehre aufnötigen werden. Bei der Jugend und Vereinzelung solcher Untersuchungen kann diese Erwartung noch nicht Erfüllung gefunden haben. Die Möglichkeit von Rückwirkungen der Libidostörungen auf die Ichbesetzungen wird man so wenig von der Hand weisen dürfen wie die Umkehrung davon, die sekundäre oder induzierte Störung der Libidovorgänge durch abnorme Veränderungen im Ich. Ja, es ist wahrscheinlich, 197 daß Vorgänge dieser Art den unterscheidenden Charakter der Psychose ausmachen. Was hievon für die Paranoia in Betracht kommt, wird sich gegenwärtig nicht angeben lassen. Ich möchte nur einen einzigen Gesichtspunkt hervorheben. Man kann nicht behaupten, daß der Paranoiker sein Interesse von der Außenwelt völlig zurückgezogen hat, auch nicht auf der Höhe der Verdrängung, wie man es etwa von gewissen anderen Formen von halluzinatorischen Psychosen beschreiben muß (Meynerts Amentia). Er nimmt die Außenwelt wahr, er gibt sich Rechenschaft über ihre Veränderungen, wird durch ihren Eindruck zu Erklärungsleistungen angeregt (die »flüchtig hingemachten« Männer), und darum halte ich es für weitaus wahrscheinlicher, daß seine veränderte Relation zur Welt allein oder vorwiegend durch den Ausfall des Libidointeresses zu erklären ist.

4) Bei den nahen Beziehungen der Paranoia zur Dementia praecox kann man der Frage nicht ausweichen, wie eine solche Auffassung der ersteren Affektion auf die der letzteren zurückwirken muß. Ich halte es für einen wohlberechtigten Schritt Kraepelins, vieles, was man vorher Paranoia geheißen hat, mit der Katatonie und anderen Formen zu einer neuen klinischen Einheit zu verschmelzen, für welche der Name Dementia praecox allerdings besonders ungeschickt gewählt ist. Auch gegen die Bleulersche Bezeichnung des gleichen Formenkreises als Schizophrenie wäre einzuwenden, daß der Name nur dann gut brauchbar erscheint, wenn man sich an seine Wortbedeutung nicht erinnert. Er ist sonst allzu präjudizierlich, indem er einen theoretisch postulierten Charakter zur Benennung verwendet, überdies einen solchen, welcher der Affektion nicht ausschließend zukommt und im Lichte anderer Anschauungen nicht für den wesentlichen erklärt werden kann. Es ist aber im ganzen nicht sehr wichtig, wie man Krankheitsbilder benennt. Wesentlicher erschiene es mir, die Paranoia als selbständigen klinischen Typus aufrechtzuhalten, auch wenn ihr Bild noch so häufig durch schizophrene Züge kompliziert wird, denn vom Standpunkte der Libidotheorie ließe sie sich durch eine andere Lokalisation der disponierenden Fixierung und einen andern Mechanismus der Wiederkehr (Symptombildung) von der Dementia praecox sondern, mit welcher sie den Hauptcharakter der eigentlichen Verdrängung, die Libidoablösung mit Regression zum Ich, gemeinsam hätte. Ich hielte es für das zweckmäßigste, wenn man die Dementia praecox mit dem Namen Paraphrenie belegen wollte, 198 welcher, an sich unbestimmten Inhalts, ihre Beziehungen zu der unabänderlich benannten Paranoia zum Ausdruck bringt und überdies an die in ihr aufgegangene Hebephrenie erinnert. Es käme dabei nicht in Betracht, daß dieser Name bereits früher für anderes vorgeschlagen wurde, da sich diese anderen Verwendungen nicht durchgesetzt haben.

Daß bei der Dementia praecox der Charakter der Abkehr der Libido von der Außenwelt ganz besonders deutlich ist, hat Abraham (loc. cit.) auf sehr eindringliche Weise auseinandergesetzt. Aus diesem Charakter erschließen wir die Verdrängung durch Libidoablösung. Die Phase der stürmischen Halluzinationen fassen wir auch hier als eine des Kampfes der Verdrängung mit einem Heilungsversuch, der die Libido wieder zu ihren Objekten bringen will. In den Delirien und motorischen Stereotypien der Krankheit hat Jung mit außerordentlichem analytischem Scharfsinn die krampfhaft festgehaltenen Reste der einstigen Objektbesetzungen erkannt. Dieser vom Beobachter für die Krankheit selbst gehaltene Heilungsversuch bedient sich aber nicht wie bei Paranoia der Projektion, sondern des halluzinatorischen (hysterischen) Mechanismus. Dies ist der eine der großen Unterschiede von der Paranoia; er ist einer genetischen Aufklärung von anderer Seite her fähig. Der Ausgang der Dementia praecox, wo die Affektion nicht allzusehr partiell bleibt, bringt den zweiten Unterschied. Er ist im allgemeinen ungünstiger als der der Paranoia; der Sieg bleibt nicht wie bei letzterer der Rekonstruktion, sondern der Verdrängung. Die Regression geht nicht nur bis zum Narzißmus, der sich in Größenwahn äußert, sondern bis zur vollen Auflassung der Objektliebe und Rückkehr zum infantilen Autoerotismus. Die disponierende Fixierung muß also weiter zurückliegen als die der Paranoia, im Beginn der Entwicklung, die vom Autoerotismus zur 199 Objektliebe strebt, enthalten sein. Es ist auch keineswegs wahrscheinlich, daß die homosexuellen Anstöße, die wir bei der Paranoia so häufig, vielleicht regelmäßig finden, in der Ätiologie der weit uneingeschränkteren Dementia praecox eine ähnlich bedeutsame Rolle spielen.

Unsere Annahmen über die disponierenden Fixierungen bei Paranoia und Paraphrenie machen es ohne weiteres verständlich, daß ein Fall mit paranoischen Symptomen beginnen und sich doch zur Demenz entwickeln kann, daß paranoide und schizophrene Erscheinungen sich in jedem Ausmaße kombinieren, daß ein Krankheitsbild wie das Schrebers zustande kommen kann, welches den Namen einer paranoischen Demenz verdient, durch das Hervortreten der Wunschphantasie und der Halluzinationen dem paraphrenen, durch den Anlaß, den Projektionsmechanismus und den Ausgang dem paranoiden Charakter Rechnung trägt. Es können ja in der Entwicklung mehrere Fixierungen zurückgelassen worden sein und der Reihe nach den Durchbruch der abgedrängten Libido gestatten, etwa die später erworbene zuerst und im weiteren Verlaufe der Krankheit dann die ursprüngliche, dem Ausgangspunkt näher liegende. Man möchte gerne wissen, welchen Bedingungen dieser Fall die relativ günstige Erledigung verdankt, denn man wird sich nicht gerne entschließen, etwas so Zufälliges wie die »Versetzungsbesserung«, die mit dem Verlassen der Flechsigschen Anstalt eintratVgl. Riklin (1905)., allein für den Ausgang verantwortlich zu machen. Aber unsere unzulängliche Kenntnis der intimen Zusammenhänge in dieser Krankengeschichte macht die Antwort auf diese interessante Frage unmöglich. Als Vermutung könnte man hinstellen, daß die wesentlich positive Tönung des Vaterkomplexes, das in der Realität späterer Jahre wahrscheinlich ungetrübte Verhältnis zu einem vortrefflichen Vater, die Versöhnung mit der homosexuellen Phantasie und damit den heilungsartigen Ablauf ermöglicht hat.

 

Da ich weder die Kritik fürchte noch die Selbstkritik scheue, habe ich kein Motiv, die Erwähnung einer Ähnlichkeit zu vermeiden, die vielleicht unsere Libidotheorie im Urteile vieler Leser schädigen wird. Die durch Verdichtung von Sonnenstrahlen, Nervenfasern und Samenfäden komponierten »Gottesstrahlen« Schrebers sind eigentlich nichts anderes als die dinglich dargestellten, nach außen projizierten 200 Libidobesetzungen und verleihen seinem Wahn eine auffällige Übereinstimmung mit unserer Theorie. Daß die Welt untergehen muß, weil das Ich des Kranken alle Strahlen an sich zieht, daß er später während des Rekonstruktionsvorganges ängstlich besorgt sein muß, daß Gott nicht die Strahlenverbindung mit ihm löse, diese und manche andere Einzelheiten der Schreberschen Wahnbildung klingen fast wie endopsychische Wahrnehmungen der Vorgänge, deren Annahme ich hier einem Verständnis der Paranoia zugrunde gelegt habe. Ich kann aber das Zeugnis eines Freundes und Fachmannes dafür vorbringen, daß ich die Theorie der Paranoia entwickelt habe, ehe mir der Inhalt des Schreberschen Buches bekannt war. Es bleibt der Zukunft überlassen zu entscheiden, ob in der Theorie mehr Wahn enthalten ist, als ich möchte, oder in dem Wahn mehr Wahrheit, als andere heute glaublich finden.

Endlich möchte ich diese Arbeit, die doch wiederum nur ein Bruchstück eines größeren Zusammenhanges darstellt, nicht beschließen, ohne einen Ausblick auf die beiden Hauptsätze zu geben, auf deren Erweis die Libidotheorie der Neurosen und Psychosen hinsteuert, daß die Neurosen im wesentlichen aus dem Konflikte des Ichs mit dem Sexualtrieb hervorgehen und daß ihre Formen die Abdrücke der Entwicklungsgeschichte der Libido – und des Ichs bewahren.


 << zurück weiter >>