Sigmund Freud
Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose
Sigmund Freud

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D. Die Einführung ins Verständnis der Kur

Man erwarte nicht, so bald zu hören, was ich zur Aufhellung dieser sonderbar unsinnigen Zwangsvorstellungen (von den Ratten) vorzubringen habe; die richtige psychoanalytische Technik heißt den Arzt seine Neugierde unterdrücken und läßt dem Patienten die freie Verfügung über die Reihenfolge der Themata in der Arbeit. Ich empfing also den Patienten in der vierten Sitzung mit der Frage: »Wie werden Sie nun fortfahren?«

»Ich habe mich entschlossen, Ihnen mitzuteilen, was ich für sehr bedeutsam halte und was mich von Anbeginn an quält.« Er erzählt nun sehr breit die Krankengeschichte seines Vaters, der vor 9 Jahren an Emphysem verstarb. Eines Abends fragte er in der Meinung, es sei ein krisenhafter Zustand, den Arzt, wann die Gefahr als beseitigt gelten könnte. Die Antwort lautete: Übermorgen abends. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß der Vater diesen Termin nicht erleben könnte. Er legte sich um ½12 Uhr nachts für eine Stunde zu Bette, und als er um 1 Uhr erwachte, hörte er von einem ärztlichen Freunde, der Vater sei gestorben. Er machte sich den Vorwurf, daß er beim Tode nicht zugegen gewesen sei, der sich verstärkte, als ihm die Pflegerin mitteilte, der Vater habe in den letzten Tagen einmal seinen Namen genannt und an sie, als sie zu ihm trat, die Frage gerichtet: »Sind Sie der Paul?« Er glaubte bemerkt zu haben, daß die Mutter und die Schwestern sich ähnliche Vorwürfe machen wollten; sie sprachen aber nicht darüber. Der Vorwurf war aber zunächst kein quälender; er realisierte lange Zeit die Tatsache seines Todes nicht; es passierte ihm immer wieder, daß er sich, wenn er einen guten Witz gehört hatte, sagte: »Das muß ich dem Vater erzählen.« Auch spielte seine Phantasie mit dem Vater, so daß er häufig, 50 wenn es an die Türe klopfte, meinte: »Jetzt kommt der Vater«, wenn er ein Zimmer betrat, erwartete, den Vater darin zu finden, und wiewohl er die Tatsache seines Todes nie vergaß, hatte die Erwartung solcher Geistererscheinung nichts Schreckhaftes, sondern etwas höchst Erwünschtes für ihn. Erst 1½ Jahre später erwachte die Erinnerung an sein Versäumnis und begann ihn entsetzlich zu quälen, so daß er sich als Verbrecher behandelte. Veranlassung war der Tod einer angeheirateten Tante und sein Besuch im Trauerhause. Von da an fügte er seinem Gedankengebäude die Fortsetzung ins Jenseits an. Schwere Arbeitsunfähigkeit war die nächste Folge dieses AnfallesEin Verständnis dieser Einwirkung ergibt sich später aus der genaueren Beschreibung des Anlasses. Der verwitwete Onkel hatte jammernd ausgerufen: »Andere Männer vergönnen sich alles mögliche, und ich habe nur für diese Frau gelebt!« Unser Patient nahm an, der Onkel spiele auf den Vater an und verdächtige dessen eheliche Treue, und obwohl der Onkel diese Deutung seiner Worte aufs entschiedenste bestritt, war deren Wirkung nicht mehr aufzuheben.. Da er erzählt, nur die Tröstungen seines Freundes hätten ihn damals aufrechtgehalten, der diese Vorwürfe immer als arg übertrieben zurückgewiesen, bediene ich mich dieses Anlasses, um ihm den ersten Einblick in die Voraussetzungen der psychoanalytischen Therapie zu geben. Wenn eine Mesalliance zwischen Vorstellungsinhalt und Affekt, also zwischen Größe des Vorwurfs und Anlaß des Vorwurfs vorliegt, so würde der Laie sagen, der Affekt sei zu groß für den Anlaß, also übertrieben, die aus dem Vorwurfe gezogene Folgerung, ein Verbrecher zu sein, sei also falsch. Der Arzt sagt im Gegenteile: Nein, der Affekt ist berechtigt, das Schuldbewußtsein ist nicht weiter zu kritisieren, aber es gehört zu einem andern Inhalte, der nicht bekannt (unbewußt) ist und der erst gesucht werden muß. Der bekannte Vorstellungsinhalt ist nur durch falsche Verknüpfung an diese Stelle geraten. Wir sind aber nicht gewohnt, starke Affekte ohne Vorstellungsinhalt in uns zu verspüren, und nehmen daher bei fehlendem Inhalt einen irgendwie passenden anderen als Surrogat auf, etwa wie unsere Polizei, wenn sie den richtigen Mörder nicht erwischen kann, einen unrechten an seiner Stelle verhaftet. Die Tatsache der falschen Verknüpfung erklärt auch allein die Ohnmacht der logischen Arbeit gegen die peinigende Vorstellung. Ich schließe dann mit dem Zugeständnisse, daß sich aus dieser neuen Auffassung zunächst große Rätsel ableiten, denn wie solle er seinem Vorwurf, ein Verbrecher gegen den Vater zu sein, recht geben, wenn er doch wissen müsse, daß er eigentlich nie etwas Verbrecherisches gegen ihn begangen habe.

51 Er zeigt dann in der nächsten Sitzung großes Interesse für meine Darlegungen, gestattet sich aber einige Zweifel vorzubringen: Wie eigentlich die Mitteilung, daß der Vorwurf, das Schuldbewußtsein, recht habe, heilend wirken könne? – Nicht diese Mitteilung hat die Wirkung, sondern die Auffindung des unbekannten Inhaltes, zu dem der Vorwurf gehört. – Ja, gerade darauf beziehe sich seine Frage. – Ich erläutere meine kurzen Angaben über die psychologischen Unterschiede des Bewußten vom Unbewußten, über die Usur, der alles Bewußte unterliegt, während das Unbewußte relativ unveränderlich ist, durch einen Hinweis auf die in meinem Zimmer aufgestellten Antiquitäten. Es seien eigentlich nur Grabfunde, die Verschüttung habe für sie die Erhaltung bedeutet. Pompeji gehe erst jetzt zugrunde, seitdem es aufgedeckt sei. – Ob es eine Garantie gebe, fragt er weiter, wie man sich gegen das Gefundene verhalten werde. Der eine, meint er, wohl so, daß er dann den Vorwurf überwinde, der andere aber nicht. – Nein, es liege in der Natur der Verhältnisse, daß der Affekt dann jedesmal meist schon während der Arbeit überwunden werde. Pompeji bestrebe man sich eben zu erhalten, solche peinigende Ideen wolle man durchaus loswerden. – Er habe sich gesagt, ein Vorwurf kann ja nur durch Verletzung der eigensten persönlichen Sittengesetze, nicht der äußerlichen, entstehen. (Ich bestätige, wer bloß die verletzt, fühle sich ja oft als Held.) Ein solcher Vorgang sei also nur möglich bei einem Zerfalle der Persönlichkeit, der von Anfang an gegeben sei. Ob er die Einheit der Persönlichkeit wiedergewinnen werde? In diesem Falle getraue er sich vieles zu leisten, vielleicht mehr als andere. – Ich darauf: Ich sei mit dieser Spaltung der Persönlichkeit durchaus einverstanden, er möge diesen neuen Gegensatz zwischen der sittlichen Person und dem Bösen nur mit dem vorigen, dem Gegensatze zwischen Bewußtem und Unbewußtem, zusammenlöten. Die sittliche Person sei das Bewußte, das Böse unbewußtDas ist alles zwar nur im gröbsten richtig, reicht aber zur Einführung zunächst hin.. – Er könne sich erinnern, daß er, obwohl er sich für eine sittliche Person halte, doch ganz bestimmt in seiner Kindheit Dinge getan habe, die von der andern Person ausgegangen seien. – Ich meine, er habe da so nebenbei einen Hauptcharakter des Unbewußten entdeckt, die Beziehung zum Infantilen. Das Unbewußte sei das Infantile, und zwar jenes Stück der Person, das sich damals von ihr abgesondert, die weitere Entwicklung nicht mitgemacht habe und darum verdrängt worden sei. Die Abkömmlinge dieses verdrängten Unbewußten seien die Elemente, welche 52 das unwillkürliche Denken unterhalten, in dem sein Leiden bestehe. Er könne jetzt noch einen Charakter des Unbewußten entdecken; das wolle ich ihm gerne überlassen. – Er findet direkt nichts Weiteres, dafür äußert er den Zweifel, ob so lange bestehende Veränderungen rückgängig zu machen seien. Was wolle man speziell gegen die Idee vom Jenseits tun, die doch logisch nicht widerlegt werden könne? – Ich bestreite die Schwere seines Falles und die Bedeutung seiner Konstruktionen nicht, aber sein Alter sei ein sehr günstiges, und günstig sei auch die Intaktheit seiner Persönlichkeit, wobei ich ein anerkennendes Urteil über ihn ausspreche, das ihn sichtlich erfreut.

 

In der nächsten Sitzung beginnt er, er müsse etwas Tatsächliches aus seiner Kindheit erzählen. Nach 7 Jahren hatte er, wie schon erzählt, die Angst, daß die Eltern seine Gedanken erraten, die ihm eigentlich durch das weitere Leben verblieben sei. Mit 12 Jahren liebte er ein kleines Mädchen, Schwester eines Freundes (auf Befragen: nicht sinnlich, er wollte sie nicht nackt sehen, sie war zu klein), die aber mit ihm nicht so zärtlich war, wie er es wünschte. Und da kam ihm die Idee, daß sie liebevoll mit ihm sein würde, wenn ihn ein Unglück träfe; als solches drängte sich ihm der Tod des Vaters auf. Er wies diese Idee sofort energisch zurück, wehrt sich auch jetzt gegen die Möglichkeit, es könne sich ein »Wunsch« so geäußert haben. Es war eben nur eine »Denkverbindung«Mit solchen Wortabschwächungen gibt sich nicht allein der Zwangsneurotiker zufrieden.. – Ich wende ein: wenn es kein Wunsch war, wozu das Sträuben? – Ja, nur wegen des Inhaltes der Vorstellung, daß der Vater sterben könne. – Ich: Er behandle diesen Wortlaut wie den einer Majestätsbeleidigung, wobei es bekanntlich ebenso bestraft wird, wenn jemand sagt: »Der Kaiser ist ein Esel«, wie wenn er diese verpönten Worte einkleidet: »Wenn jemand sagt . . ., so hat er es mit mir zu tun.« Ich könnte ihm ohne weiteres den Vorstellungsinhalt, gegen den er sich so sträubte, in einen Zusammenhang bringen, der dies Sträuben ausschließen würde; z. B.: »Wenn mein Vater stirbt, töte ich mich auf seinem Grabe.« – Er ist erschüttert, ohne seinen Widerspruch aufzugeben, so daß ich den Streit mit der Bemerkung abbreche, die Idee vom Tode des Vaters sei ja in diesem Falle nicht zum ersten Male aufgetreten, sie stamme offenbar von früher her, und wir würden ihrer Herkunft einmal nachspüren müssen. – Er erzählt weiter, ein zweites Mal sei ihm ein ganz ähnlicher Gedanke blitzähnlich ein halbes Jahr vor dem Tode 53 des Vaters gekommen. Er war bereits in jene Dame verliebtVor zehn Jahren!, konnte aber wegen materieller Hindernisse nicht an eine Verbindung denken. Da habe die Idee gelautet: Durch den Tod des Vaters werde er vielleicht so reich werden, daß er sie heiraten könne. In seiner Abwehr ging er dann so weit, daß er wünschte, der Vater solle gar nichts hinterlassen, damit kein Gewinn diesen für ihn entsetzlichen Verlust kompensiere. Ein drittes Mal kam dieselbe Idee, aber sehr gemildert, am Tage vor dem Tode des Vaters. Er dachte: »Ich kann jetzt mein Liebstes verlieren«, und dagegen kam der Widerspruch: »Nein, es gibt noch eine andere Person, deren Verlust dir noch schmerzlicher wäre.«Ein Gegensatz zwischen den beiden geliebten Personen, Vater und »Dame«, ist hier unverkennbar angezeigt. Er verwundere sich sehr über diese Gedanken, da er ja ganz sicher sei, der Tod des Vaters könne nie Gegenstand seines Wunsches gewesen sein, immer nur einer Befürchtung. – Nach dieser mit voller Stärke ausgesprochenen Rede halte ich es für zweckmäßig, ihm ein neues Stückchen der Theorie vorzuführen. Die Theorie behaupte, daß solche Angst einem ehemaligen, nun verdrängten Wunsch entspreche, so daß man das gerade Gegenteil von seiner Beteuerung annehmen müsse. Es stimmt dies auch zur Forderung, daß das Unbewußte der kontradiktorische Gegensatz des Bewußten sein solle. Er ist sehr bewegt, sehr ungläubig und wundert sich, wie dieser Wunsch bei ihm möglich gewesen sein solle, wenn ihm der Vater doch der liebste aller Menschen war. Es leide keinen Zweifel, daß er auf jedes persönliche Glück verzichtet hätte, wenn er dadurch des Vaters Leben hätte retten können. Ich antworte, gerade diese intensive Liebe sei die Bedingung des verdrängten Hasses. Bei indifferenten Personen werde es ihm gewiß leicht gelingen, die Motive zu einer mäßigen Neigung und ebensolchen Abneigung nebeneinander zu halten, etwa wenn er Beamter sei und von seinem Bureauchef denke, er sei ein angenehmer Vorgesetzter, aber ein kleinlicher Jurist und inhumaner Richter. Ähnlich sage doch Brutus über Cäsar bei Shakespeare (III, 2): »Weil Cäsar mich liebte, wein' ich um ihn; weil er glücklich war, freue ich mich; weil er tapfer war, ehr' ich ihn; aber weil er herrschsüchtig war, erschlug ich ihn.« Und diese Rede wirke bereits befremdend, weil wir uns des Brutus Affektion für Cäsar intensiver vorgestellt haben. Bei einer Person, die ihm näherstehe, seiner Frau etwa, werde er das Bestreben nach einer einheitlichen Empfindung haben und darum, wie allgemein menschlich, ihre Fehler, die seine 54 Abneigung hervorrufen könnten, vernachlässigen, wie verblendet übersehen. Also gerade die große Liebe lasse es nicht zu, daß der Haß (karikiert so bezeichnet), der wohl irgendeine Quelle haben müsse, bewußt bleibe. Ein Problem sei es allerdings, woher dieser Haß stamme; seine Aussagen deuteten selbst auf die Zeit hin, in welcher er gefürchtet, daß die Eltern seine Gedanken erraten. Anderseits könne man auch fragen, warum die große Liebe nicht den Haß habe auslöschen können, wie man es so von gegensätzlichen Regungen gewohnt sei. Man könne nur annehmen, daß der Haß doch mit einer Quelle, einem Anlaß in einer Verbindung stehe, die ihn unzerstörbar mache. Also einerseits schütze ein solcher Zusammenhang den Haß gegen den Vater vor dem Untergange, anderseits hindere die große Liebe ihn am Bewußtwerden, so daß ihm eben nur die Existenz im Unbewußten übrigbleibe, aus der er sich doch in einzelnen Momenten blitzähnlich vordrängen könne.

Er gibt zu, daß dies alles ganz plausibel anzuhören ist, hat aber natürlich keine Spur von ÜberzeugungEs ist niemals die Absicht solcher Diskussionen, Überzeugung hervorzurufen. Sie sollen nur die verdrängten Komplexe ins Bewußtsein einführen, den Streit um sie auf dem Boden bewußter Seelentätigkeit anfachen und das Auftauchen neuen Materials aus dem Unbewußten erleichtern. Die Überzeugung stellt sich erst nach der Bearbeitung des wiedergewonnenen Materials durch den Kranken her, und solange sie schwankend ist, darf man das Material als nicht erschöpft beurteilen.. Er möchte sich die Frage erlauben, wie es zugehe, daß eine solche Idee Pausen machen könne, mit 12 Jahren für einen Moment komme, dann mit 20 Jahren wieder und zwei Jahre später von neuem, um von da an anzuhalten. Er könne doch nicht glauben, daß inzwischen die Feindseligkeit erloschen gewesen sei, und doch habe sich in den Pausen nichts von Vorwürfen gezeigt. Ich darauf: Wenn jemand so eine Frage stellt, so hat er auch schon die Antwort bereit. Man braucht ihn nur weitersprechen zu lassen. Er setzt nun in anscheinend lockerem Zusammenhange fort: Er sei der beste Freund des Vaters gewesen, wie dieser seiner; bis auf wenige Gebiete, auf denen Vater und Sohn einander auszuweichen pflegen (was meint er wohl?), sei die Intimität zwischen ihnen größer gewesen als jetzt mit seinem besten Freunde. Jene Dame, um deren wegen er den Vater in der Idee zurückgesetzt, habe er zwar sehr geliebt, aber eigentlich sinnliche Wünsche, wie sie seine Kindheit erfüllten, hätten sich in bezug auf sie nie geregt; seine sinnlichen Regungen seien in der Kindheit überhaupt viel stärker gewesen als zur Zeit der Pubertät. – Ich meine nun, er habe jetzt die Antwort gegeben, auf die wir warteten, und gleichzeitig den dritten großen Charakter des Unbewußten aufgefunden. Die 55 Quelle, aus welcher die Feindseligkeit gegen den Vater ihre Unzerstörbarkeit beziehe, sei offenbar von der Natur sinnlicher Begierden, dabei habe er den Vater irgendwie als störend empfunden. Ein solcher Konflikt zwischen Sinnlichkeit und Kindesliebe sei ein durchaus typischer. Die Pausen habe es bei ihm gegeben, weil infolge der vorzeitigen Explosion seiner Sinnlichkeit zunächst eine so erhebliche Dämpfung derselben eingetreten sei. Erst als sich wieder intensive verliebte Wünsche bei ihm eingestellt hätten, sei diese Feindseligkeit aus der analogen Situation heraus wieder aufgetreten. Ich lasse mir übrigens von ihm bestätigen, daß ich ihn weder auf das infantile noch auf das sexuelle Thema gelenkt habe, sondern daß er selbständig auf beide gekommen sei. – Er fragt nun weiter, warum er nicht zur Zeit der Verliebtheit in die Dame einfach bei sich die Entscheidung gefällt, die Störung dieser Liebe durch den Vater könne gegen seine Liebe zum Vater nicht in Betracht kommen. – Ich antwortete: Es ist schwer möglich, jemand in absentia zu erschlagen. Um jene Entscheidung zu ermöglichen, hätte ihm der beanständete Wunsch damals zum ersten Male kommen müssen; es war aber ein altverdrängter, gegen den er sich nicht anders benehmen konnte als vorher und der darum der Vernichtung entzogen blieb. Der Wunsch (den Vater als Störer zu beseitigen) müßte in Zeiten entstanden sein, in denen die Verhältnisse ganz anders lagen, etwa daß er den Vater damals nicht stärker liebte als die sinnlich begehrte Person oder daß er einer klaren Entscheidung nicht fähig war, also in sehr früher Kindheit, vor 6 Jahren, ehe seine kontinuierliche Erinnerung einsetzte, und das sei eben für alle Zeiten so geblieben. – Mit dieser Konstruktion schließt die Erörterung vorläufig ab.

 

In der nächsten, der siebenten Sitzung, greift er dasselbe Thema wieder auf. Er könne nicht glauben, daß er je den Wunsch gegen den Vater gehabt habe. Er erinnere sich einer Novelle von Sudermann, die ihm einen tiefen Eindruck gemacht, in welcher eine Schwester am Krankenbette der andern diesen Todeswunsch gegen sie verspüre, um deren Mann heiraten zu können. Sie töte sich dann, weil sie nach solcher Gemeinheit nicht verdiene zu leben. Er verstehe das, und es sei ihm ganz recht, wenn er an seinen Gedanken zugrunde gehe, denn er verdiene es nicht andersDies Schuldbewußtsein enthält den offenbarsten Widerspruch gegen sein anfängliches Nein, er habe den bösen Wunsch gegen den Vater nie gehabt. Es ist ein häufiger Typus in der Reaktion gegen das bekanntgewordene Verdrängte, daß sich an das erste Nein der Ablehnung alsbald die zunächst indirekte Bestätigung anschließt.. Ich bemerke, es sei uns wohl bekannt, daß 56 den Kranken ihr Leiden eine gewisse Befriedigung gewähre, so daß sie sich eigentlich alle partiell sträuben, gesund zu werden. Er möge nicht aus den Augen verlieren, daß eine Behandlung wie die unserige unter beständigem Widerstande vor sich gehe; ich werde ihn immer wieder daran erinnern.

Er will jetzt von einer verbrecherischen Handlung sprechen, in der er sich nicht erkenne, an die er sich aber ganz bestimmt erinnere. Er zitiert ein Wort von Nietzsche: »›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis, ›das kann ich nicht getan haben‹ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.«Jenseits von Gut und Böse, IV, 68. »Darin hat also mein Gedächtnis nicht nachgegeben.« – »Eben weil Sie zur Selbstbestrafung aus Ihren Vorwürfen Lust ziehen.« – »Mit meinem jüngeren Bruder – ich bin ihm jetzt wirklich gut, er bereitet mir gerade große Sorge, indem er eine Heirat machen will, die ich für einen Unsinn halte; ich hab' schon die Idee gehabt, hinzureisen und die Person umzubringen, damit er sie nicht heiraten kann – habe ich als Kind viel gerauft. Daneben hatten wir einander sehr lieb und waren unzertrennlich, aber mich beherrschte offenbar Eifersucht, denn er war der stärkere, schönere und darum beliebtere.« – »Sie haben ja schon eine solche Eifersuchtsszene mit Fräulein Lina mitgeteilt.« – »Also nach einer solchen Gelegenheit, gewiß vor 8 Jahren, denn ich ging noch nicht in die Schule, in die ich mit 8 Jahren gekommen bin, tat ich folgendes: Wir hatten Kindergewehre von der bekannten Konstruktion; ich lud meines mit dem Ladstock, sagte ihm, er solle in den Lauf hineinschauen, er werde etwas sehen, und als er hineinschaute, drückte ich los. Es traf ihn auf die Stirne und machte ihm nichts, aber es war meine Absicht gewesen, ihm sehr wehe zu tun. Ich war dann ganz außer mir, warf mich auf den Boden und fragte mich: Wie habe ich das nur tun können? – Aber ich habe es getan.« – Ich benutze die Gelegenheit, um für meine Sache zu plaidieren. Wenn er eine solche, ihm so fremde Tat im Gedächtnis bewahrt habe, so könne er doch nicht die Möglichkeit in Abrede stellen, daß in noch früheren Jahren etwas Ähnliches, was er heute nicht mehr erinnere, gegen den Vater vorgekommen sei. – Er wisse noch von anderen Regungen der Rachsucht gegen jene Dame, die er so sehr verehre und von deren Charakter er eine begeisterte Schilderung gibt. Sie könne vielleicht nicht leicht lieben, sie spare sich ganz für den einen auf, dem sie 57 einmal angehören werde; ihn liebe sie nicht. Als er dessen sicher wurde, gestaltete sich ihm eine bewußte Phantasie, er werde sehr reich werden, eine andere heiraten und dann mit ihr einen Besuch bei der Dame machen, um sie zu kränken. Aber da versagte ihm die Phantasie, denn er mußte sich eingestehen, daß ihm die andere, die Frau, ganz gleichgültig sei, seine Gedanken verwirrten sich, und am Ende wurde ihm klar, daß diese andere sterben solle. Auch in dieser Phantasie findet er, wie in dem Anschlag gegen den Bruder, den Charakter der Feigheit, der ihm so entsetzlich istWas späterhin seine Erklärung finden soll.. – Im weiteren Gespräche mit ihm mache ich geltend, daß er sich ja logischerweise für ganz unverantwortlich für alle diese Charakterzüge erklären müsse, denn all diese verwerflichen Regungen stammten aus dem Kinderleben, entsprächen den im Unbewußten fortlebenden Abkömmlingen des Kindercharakters, und er wisse doch, daß für das Kind die ethische Verantwortlichkeit nicht gelten könne. Aus der Summe der Anlagen des Kindes entstehe der ethisch verantwortliche Mensch erst im Laufe der EntwicklungIch bringe diese Argumente nur vor, um mir wieder von neuem bestätigen zu lassen, wie ohnmächtig sie sind. Ich kann es nicht begreifen, wenn andere Psychotherapeuten berichten, daß sie mit solchen Waffen die Neurosen erfolgreich bekämpfen.. Er bezweifelt aber, daß alle seine bösen Regungen von dieser Herkunft sind. Ich verspreche, es ihm im Laufe der Kur zu beweisen.

Er führt noch an, daß sich die Krankheit seit dem Tode des Vaters so enorm gesteigert hat, und ich gebe ihm insofern recht, als ich die Trauer um den Vater als Hauptquelle der Krankheitsintensität anerkenne. Die Trauer hat in der Krankheit gleichsam einen pathologischen Ausdruck gefunden. Während eine normale Trauer in 1 bis 2 Jahren ihren Ablauf erreicht, ist eine pathologische wie seine in ihrer Dauer unbegrenzt.

 

Soweit reicht, was ich aus dieser Krankengeschichte ausführlich und in der Reihenfolge erzählen kann. Es deckt sich ungefähr mit der Exposition der über 11 Monate verlaufenden Behandlung.


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