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Vergeblich beklagt sich die Vernunft, daß das Vorurteil die Welt regiert; denn wenn sie selbst die Welt regieren will, muß sie sich ebenfalls in ein Vorurteil verwandeln.
Taine
In unserer bisherigen Darstellung haben wir uns des Hilfsmittels bedient, den Gang der kulturhistorischen Entwicklung in einzelne größere Abschnitte zu zerlegen, die gleich Bühnenbildern oder Romankapiteln aufeinander folgten: erst kam die Spätscholastik, dann die Renaissance, dann die Reformation, dann die Barocke, schließlich das Rokoko. Bei dieser Gliederung waren freilich gewisse Ungenauigkeiten, Willkürlichkeiten und Entstellungen nicht zu vermeiden; aber in einer solchen fälschenden Vereinfachung und Adaptierung der Wirklichkeit besteht nun einmal das Wesen aller Wissenschaft, aller Kunst und überhaupt aller menschlichen Geistestätigkeit. So notwendig es nun ist, derlei eigenmächtige Gruppierungen immer wieder vorzunehmen, so unerläßlich ist es andrerseits, sich über ihren illegitimen Charakter keinen Illusionen hinzugeben und das Gefühl ihrer tatsächlichen Unrichtigkeit niemals aus dem Bewußtsein oder wenigstens dem Unterbewußtsein zu verlieren. Daß zum Beispiel die Reformation die Renaissance einfach ablöste, wäre eine gänzlich schiefe Vorstellung, denn in beiden war der Humanismus eine der treibenden Hauptkräfte und die italienische Hochrenaissance fällt in die Jahrzehnte der stärksten Wirksamkeit Luthers. Am günstigsten lag es beim Barockzeitalter: hier konnten wir ohne allzu große Gewaltsamkeit eine Periodisierung in Vorbarocke oder Gegenreformation, Vollbarocke oder Grand Siècle und Spätbarocke oder Rokoko vornehmen und sogar wagen, bestimmte Jahreszahlen als Schnittpunkte anzusetzen. Wollten wir versuchen, die wahren Beziehungen, in denen die einzelnen Kulturzeitalter zueinander stehen, an einem Gleichnis zu verdeutlichen, so könnten wir vielleicht sagen, es verhalte sich mit ihnen ähnlich wie mit den Erdzeitaltern, die die Geologie annimmt, indem sie drei große Perioden konstatiert, die primäre oder paläozoische, die sekundäre oder mesozoische und die tertiäre oder känozoische: in der ersten gab es nur Fische und noch niedrigere Lebewesen, in der zweiten tauchten die Reptilien auf, in der dritten die Vögel und Säugetiere. Es existierten natürlich auch in der zweiten Periode noch Fische und in der dritten noch Fische und Reptilien, wie sie bis zum heutigen Tage existieren; diese Formen gaben aber sozusagen nicht mehr den Ton an, vielmehr ist in jedem der drei Zeitalter ein anderer Tierstamm durch Zahl und Artenreichtum der führende: im »Altertum« die Fische, im »Mittelalter« die Kriechtiere, in der »Neuzeit« die Säugetiere. In analoger Weise sind auch die einzelnen Kulturzeitalter immer durch eine bestimmte Menschenspezies charakterisiert, die dominiert, obschon die früheren neben ihr weiterleben: so gibt es zum Beispiel noch heute auf dem flachen Lande zahlreiche Individuen, die sich auf der Stufe der Karolingerzeit befinden, das Bürgertum der deutschen Kleinstädte repräsentiert ungefähr den Kulturzustand der Reformationszeit und viele Angehörige unseres Lehrstands wären nach Umfang und Inhalt ihres Gesichtskreises ins Zeitalter der Aufklärung einzureihen. Manche Arten allerdings sind vollkommen verschwunden: der antike Mensch zum Beispiel ist ebenso ausgestorben wie der Sauriertypus und gibt gleich diesem nur noch in allerlei Abdrucken und Versteinerungen einige Kunde von seinem Wesen.
Bei dem Abschnitt, den wir jetzt zu betrachten haben, der Zeit vom Siebenjährigen Krieg bis zum Wiener Kongreß, wäre aber auch diese einschränkende Vergleichung mit den Erdzeitaltern nicht mehr zutreffend. Es sind drei Hauptströmungen, die diesen Zeitraum erfüllen: wir bezeichnen sie mit den Stichworten Aufklärung, Revolution und Klassizismus. Unter »Aufklärung« verstehen wir in Übereinstimmung mit der allgemein üblichen Terminologie jene extrem rationalistische Richtung, die wir in ihren Vorstufen bereits kennen gelernt haben: der einflußreichste Repräsentant dieser ersten Aufklärungsetappe war in England Locke, in Frankreich Voltaire, in Deutschland Wolff. Auch die Bezeichnung »Klassizismus« dürfte kaum Mißverständnissen ausgesetzt sein. Der Ausdruck »Revolution« bedarf jedoch einer Erklärung. Wir fassen nämlich unter diesem Generalnenner alle jene Bewegungen zusammen, die sich gegen das Herrschende, Eingelebte, Bisherige richten, einerlei ob sie sich auf das Gebiet der Politik, der Kunst oder der Weltanschauung erstrecken; ihre Ziele sind: Neuordnung des Staats und der Gesellschaft; Verbannung jeglicher ästhetischen Regel; Entthronung des Verstandes durch das Gefühl, und dies alles im Namen der Rückkehr zur Natur; wären nicht Zweideutigkeiten zu befürchten, so könnte man diese ganze Strömung auch die naturalistische oder die aktivistische nennen.
Um nun das Verhältnis zwischen diesen drei Grundrichtungen klarzustellen, müssen wir zu einer anderen geologischen Parallele greifen. Man unterscheidet bekanntlich »geschichtete« und »massige« Formationen: die ersteren zeigen verschiedene Gesteine wie in Stockwerken übereinandergelagert, die letzteren bilden einen Block, in dem allerlei Felsarten durcheinander gemischt sind. Es verhielt sich nun in unserem Falle keineswegs so, daß die dreierlei Vorstellungsmassen sedimentär angeordnet waren, so daß erst die Aufklärungsschicht gekommen wäre, dann die revolutionäre Schicht, schließlich die klassizistische, wie etwa bei einem Berge Sandstein, Schiefer und Kalkstein aufeinander folgen; vielmehr trat das ein, was der Petrograph als »durchgreifende Lagerung« bezeichnet: der ganze Zeitraum war von aufklärerischen, revolutionären, klassizistischen Tendenzen durchsetzt. Nur höchstens so viel ließe sich behaupten, daß für die Aufklärung die Jahre von der Mitte des Jahrhunderts bis ungefähr 1770 das stärkste und weiteste Machtgebiet bedeutet haben, daß sie in dem darauffolgenden Vierteljahrhundert (etwa zwischen 1770 und 1795) von der revolutionären Strömung in der Vorherrschaft abgelöst wurde und daß in den beiden letzten Jahrzehnten des Zeitraums (von 1795 bis 1815) der Klassizismus zum vollen Sieg gelangte; oder, um in unserem Bild zu bleiben: in jeder Gebirgspartie überwiegt eine andere der drei Gesteinsarten, aber alle drei gehen durch den ganzen Stock. Schon am Anfang der Periode tritt jede der drei Bewegungen mit einer entscheidenden und richtunggebenden Tat hervor: die »Encyclopédie«, der Mauerbrecher der französischen Aufklärung, beginnt kurz nach der Mitte des Jahrhunderts zu erscheinen, Rousseaus »Contrat social«, der Code der französischen Revolution, tritt ein Jahr vor der Beendigung des Siebenjährigen Krieges an die Öffentlichkeit, Winckelmanns Kunstgeschichte, die Bibel des Klassizismus, wird ein Jahr nach dem Friedensschluß publiziert; und andrerseits kulminieren alle drei Bewegungen erst am Ende des Zeitraums: die Aufklärung in Kant, die Revolution in Napoleon, der Klassizismus in Goethe.
Auf dem Gebiet der politischen Geschichte macht das Weltereignis der Französischen Revolution eine deutliche Zäsur, die die Periode in zwei ziemlich verschiedene Hälften teilt. Wir werden den Gang unserer Erzählung zunächst nicht über diesen Grenzstein hinausführen und nur auf dem Gebiet der Naturforschung zur Vermeidung späterer Wiederholungen unsere Betrachtung bis zum Ende des Jahrhunderts erstrecken.
Der Siebenjährige Krieg bedeutete für Europa ein Doppeltes: erstens bot er, indem er Friedrich dem Großen Gelegenheit gab, seine Genialität aufs glänzendste zu entfalten, den Völkern ein Schauspiel, wie sie es seit Jahrhunderten nicht erlebt hatten; sodann war er aber auch der erste Weltkrieg im modernen Sinne, denn er wurde gleichzeitig in vier Weltteilen geführt und das eigentliche Kampfobjekt waren die Kolonien: während man um einige preußische Länderfetzen zu streiten glaubte, ging es in Wahrheit um unermeßlich reiche und ausgedehnte Gebiete in Ostindien und Nordamerika. Kanada wurde bei Roßbach erobert: ein Zusammenhang, den jedoch nur die englischen Staatsmänner voll begriffen.
Der Erfinder des Siebenjährigen Krieges ist der österreichische Minister Graf Kaunitz, der gegen Preußen eine ähnliche Einkreisungspolitik betrieb wie anderthalb Jahrhunderte später Eduard der Siebente gegen Deutschland. Ursprünglich Befürworter des endgültigen Verzichts auf Schlesien, erblickte er später seinen Lebensinhalt im » abaissement« Preußens und dessen diplomatischer Vorbereitung: sein Plan, den er die »große Idee« nannte und mit unerschütterlicher Zähigkeit verfolgte, war die Vereinigung Österreichs, Rußlands und Frankreichs gegen Friedrich den Großen. Er war mehrere Jahre als Gesandter am Hof von Versailles tätig gewesen und dort ein solcher Gallomane geworden, daß er so tat, als ob er deutsch nur radebrechen könne. Gegen die drohende Umfassung durch die Großmächte schloß Friedrich 1756 mit England die »Westminsterkonvention«, in der beide Mächte sich verpflichteten, den Einmarsch fremder Truppen in deutsches Gebiet mit vereinigten Streitkräften zu verhindern. Dieser reine Defensivvertrag führte zum Abschluß des französisch-österreichischen Bündnisses, das von Seiten Frankreichs, das dabei nur verlieren konnte, ein beispielloser, nur durch die chaotischen Regierungsverhältnisse erklärlicher Nonsens war.
Auf den außereuropäischen Kriegsschauplätzen standen sich als Hauptgegner England und Frankreich gegenüber, dem auf Grund des »bourbonischen Familienpakts« Spanien an die Seite trat. Die englischen Streitkräfte waren fast überall siegreich. Im Frieden von Paris zedierte Frankreich an England Kanada und die östliche Hälfte von Louisiana, während die westliche an Spanien fiel, und wurde somit vollständig aus Amerika verdrängt; ferner das Gebiet am Senegal, das es aber zwanzig Jahre später im Frieden von Versailles wieder zurückerhielt; in Ostindien wurde der alte Besitzstand wiederhergestellt, aber Frankreich verzichtete auf militärische Niederlassungen, was soviel wie die britische Alleinherrschaft bedeutete. Im übrigen war England ein sehr egoistischer und unzuverlässiger und sogar perfider Bundesgenosse Preußens: sowohl Georg der Zweite wie Georg der Dritte waren Friedrich dem Großen persönlich abgeneigt. Nur William Pitt, der große imperialistische Staatsmann, dem England alle Erfolge in diesem Kriege verdankte, unterstützte Preußen im wohlverstandenen englischen Interesse, wurde aber später von dem preußenfeindlichen Lord Bute gestürzt. Die Haltung Rußlands wurde in allen Phasen des Kampfes nur durch die subjektiven Gefühle seiner Herrscher bestimmt: Elisabeth haßte Friedrich, der sie eine gekrönte Hure genannt hatte, und griff daher sogleich in den Krieg ein; Peter der Dritte war ein glühender Bewunderer des Königs und verbündete sich mit ihm; Katharina die Zweite hatte für ihn weder Abscheu noch Verehrung und blieb daher neutral. Auch Schweden war, durch die Hoffnung auf Rückgewinn gelockt, der Koalition beigetreten, blieb aber untätig; das Reich erklärte sich ebenfalls gegen Friedrich, brachte jedoch nur eine elende Armee zusammen, die dem Bund mehr schadete als nützte; Sachsen lauerte unter heuchlerischen Neutralitätsversicherungen auf den Moment des Eingreifens, wurde aber von Friedrich sogleich beim Ausbruch der Feindseligkeiten besetzt und während des ganzen Krieges als preußisches Gebiet behandelt. Was Maria Theresia anlangt, so hat sie in diesem Kampfe nur antideutsche Ziele verfochten: hätten die »Einkreisungsmächte« gesiegt, so wäre Ostpreußen russisch, Pommern schwedisch und Belgien, das die Kaiserin bereitwillig ausgetauscht hätte, französisch geworden, nur damit Schlesien wieder österreichisch, das heißt: halb slawisch werde.
Friedrichs ebenso einfacher wie genialer Plan war der »Stoß ins Herz« Österreichs, ehe Rußland und Frankreich fertig oder auch nur entschlossen wären. Zu diesem Zweck rückte er in Sachsen ein und schlug die zum Entsatz herbeigeeilte österreichische Armee bei Lobositz, wodurch das Land verloren ging und als sehr wertvolle Operationsbasis in seinen dauernden Besitz gelangte. Im Frühling des nächsten Jahres zog er den Österreichern bis in die Nähe von Prag entgegen, wo sie, nachdem seine Infanterie schon zu weichen begonnen hatte, durch die Verve der Kavallerie und den Opfertod Schwerins eine entscheidende Niederlage erlitten. Der Sommer aber brachte drei Mißerfolge: Friedrich war so unvorsichtig, Daun in fast uneinnehmbarer Stellung bei Kolin anzugreifen, und mußte, unter fürchterlichen Verlusten zurückgehend, Böhmen aufgeben, wodurch sein ganzes ursprüngliches Konzept in sehr ungünstiger Weise verschoben wurde; die Engländer wurden bei Hastenbeck von den Franzosen geschlagen, die Hannover besetzten und sich mit dem Reichsheer vereinigten; die Russen siegten bei Großjägersdorf. Damit war die konzentrische Erdrückung, auf die es die Koalition abgesehen hatte, fast zur Wirklichkeit geworden und der Krieg in seine erste Krise getreten. Aber Friedrich gab die Partie noch nicht auf und warf sich mit unglaublicher Tatkraft, Umsicht und Schnelligkeit jedem einzelnen seiner Feinde vernichtend entgegen: den Franzosen bei Roßbach, den Österreichern bei Leuthen und den Russen bei Zorndorf; diesen drei glänzenden Siegen folgte allerdings die Niederlage bei Hochkirch durch Laudon und Daun, von der er sich aber sehr rasch erholte. Das vierte Kriegsjahr hingegen brachte die zweite große Krise durch drohende gänzliche Erschöpfung: die Schlacht von Kunersdorf gegen die Russen und Österreicher, in ihrer ersten Hälfte bereits gewonnen, ging vollständig verloren, und bei Maxen kapitulierte General Finck mit dreizehntausend Mann. Wiederum aber gelang es Friedrich, sich durch überraschende Erfolge zu restaurieren, indem er Laudon bei Liegnitz und Daun bei Torgau schlug. Im Jahr 1761 versetzte ihn jedoch der Rücktritt Pitts in die dritte und gefährlichste Krise, aus der ihn nur der Tod der Zarin Elisabeth befreite. Eine neuerliche Niederlage der Österreicher bei Burkersdorf, der Friedensschluß zwischen England und Frankreich und die drohende Haltung der Türkei zwangen endlich Maria Theresia zum Frieden von Hubertusburg, aus dem sie als einzigen Gewinn die Zusage der preußischen Kurstimme für die Kaiserwahl ihres Sohnes davontrug.
Die Tatsache, daß Friedrich sich in diesem Verteidigungskampfe behauptete, findet in seinen außerordentlichen strategischen und organisatorischen Fähigkeiten keine zureichende Begründung; sie läßt sich nur mystisch erklären: aus der tiefen Angst aller Mediokritäten vor dem Genius, die sich scheut, zum letzten Schlag auszuholen, und aus der Kraft des Genius, die Realität seinem Willen zu unterwerfen und nach seinem Bilde zu formen. Was wir »Ereignisse« nennen, sind im Grunde, und zumal beim schöpferischen Menschen, nichts als Verlängerungslinien der Persönlichkeit, in die Außenwelt projizierte, zu Tatsachen geronnene Charaktereigenschaften. Das Genie schreitet durch die Welt als rätselhaftes Fatum und Ausstrahlung einer überweltlichen anonymen Kraft, die ihm selbst nicht selten Schauder einflößt: so haben Goethe und Nietzsche, Michelangelo und Beethoven sich auf gewissen Höhepunkten ihres Lebens empfunden; so hat das Volk stets seine großen Helden angeschaut; die letzte dieser Legendengestalten, die Europa erlebt hat, war Bismarck. Was man Macht nennt, Macht über Menschen und Dinge, Völker und Erdteile, fließt aus dieser Quelle: es hat in jenem achtzehnten Jahrhundert niemals eine preußische Großmacht gegeben, sondern immer nur eine friderizianische, und um die Wende des Jahrhunderts keine französische Übermacht, sondern bloß eine napoleonische, wie ja auch ein richtiger Instinkt der Geschichte das römische Weltreich das cäsarische und die griechische Weltkultur die alexandrinische genannt hat.
Wie fast alle großen geschichtlichen Persönlichkeiten steht Friedrich an der Wegscheide zweier Zeitalter, indem er das eine abschließt, das andere eröffnet: in ihm vereinigt sich der Absolutismus und die Artistik des Rokoko mit dem Liberalismus und der Naturalistik der Aufklärung. Doch hat er nur auf die französische Aufklärung direkt eingewirkt, auf die deutsche, deren Hauptquartier Berlin wurde, nur indirekt durch den allgemeinen geistigen Auftrieb, der von seiner Persönlichkeit ausging. Was ihn an der französischen Kultur am stärksten anzog, waren gerade ihre undeutschen Elemente: ihr spielerischer Witz, dem die Tiefe, aber auch die Schwere fehlt, ihr kühler und heller Skeptizismus, der an nichts glaubt als an sich selbst, ihr alles penetrierender Esprit, den sie mit dem Mangel an naiver Schöpferkraft bezahlt. Es ist begreiflich, daß ihm die Wahl zwischen Voltaire und Nicolai, Diderot und Ramler nicht schwerfiel und daß er für so durchaus neue Phänomene wie den »Götz« und die »Räuber« oder gar die Vernunftkritik in seinem Alter kein Verständnis mehr aufbrachte; aber es ist sonderbar, daß er auch zu Lessing niemals eine Beziehung fand, mit dem er so vieles gemeinsam hatte. Denn im Grunde hat dieser auf seinem Gebiet ähnliches vollbracht wie der König: er hat, nach mehreren Fronten zäh und erfindungsreich kämpfend, sich siegreich behauptet und das Reich, in dem er herrschte, zu einer europäischen Großmacht erhoben.
Es wäre ein großer Irrtum, wenn man glauben wollte, daß es während der französischen Aufklärung bereits einen zielbewußten Kampf gegen die Aristokratie und das Königtum gegeben habe; das Angriffsobjekt war vielmehr zunächst fast ausschließlich die Kirche. Ein politisch erfahrener und geschulter Kopf hätte allerdings bereits in dieser Form der Opposition die Anzeichen einer allgemeinen Revolution erblicken können; aber die damaligen französischen Adeligen hatten keinen Begriff vom Leben der Nation und den bewegenden Kräften der Geschichte. Und vor allem hatten sie keinen Begriff vom Geld: die stärkste Macht der modernen Zivilisation war ihnen unbekannt. In einem Zeitalter, das im Begriff stand, die religiösen und politischen Kämpfe durch ökonomische abzulösen, waren sie auf wirtschaftlichem Gebiet nicht nur unfähig, sondern geradezu ungebildet. Sie wußten nur, daß Geld nötig sei, um es wieder auszugeben. Geld war nötig, das Nötige aber für sie das Selbstverständliche; Geld war für sie wie Luft, ebenso unerläßlich zum Leben, aber offenbar ebenso leicht zu beschaffen und daher ebenso wertlos.
Bis in die letzten Jahrzehnte vor der Revolution herrschte zwischen Regierung und Volk äußerlich das schönste Einvernehmen. Bei der Thronbesteigung Ludwigs des Sechzehnten währten die ununterbrochenen Hochrufe auf den König von sechs Uhr morgens bis Sonnenuntergang; als der Dauphin geboren wurde, umarmten sich fremde Menschen auf offener Straße. Wenn auf der Bühne von Fürstentugenden die Rede war, applaudierte das Volk; wenn von Volkstugenden die Rede war, applaudierte der Adel. Es war eine große Komödie der sentimentalen Verbrüderung, der warmen Worte und verschwommenen Gefühle, ohne daß jemand daran gedacht hatte, aus seinen edeln Gesinnungen die geringsten praktischen Konsequenzen zu ziehen: es war mit einem Wort Philanthropie.
Auch die Aufklärungsbewegung wurde von der französischen Aristokratie nur als eine Art Amateurtheater angesehen, das ihrer Geselligkeit einen neuen pikanten Inhalt verleihen sollte; die Gefährlichkeit dieses Spiels bemerkte niemand. Die Bizarrerie hat für den Franzosen immer einen großen Reiz besessen, und was konnte paradoxer und origineller sein als ein Kleriker, der an Gott zweifelte, oder ein Edelmann, der sich als Demokrat kostümierte? Die Keimzellen der großen revolutionären Literatur, die man die enzyklopädistische zu nennen pflegt, sind in jenen geistreichen Assembleen zu suchen, die man anfangs ironisch, später mit Anerkennung als bureaux d'esprit bezeichnete. Den ersten dieser Salons hatte Madame de Tencin, eine Dame von sehr bewegter Jugend, die sie zur Mutter mehrerer illegitimer Kinder gemacht hatte; unter diesen befand sich auch d'Alembert, den sie gleich nach seiner Geburt aussetzte; erst als er berühmt geworden war, suchte sie sich ihm wieder zu nähern, er wies sie aber mit Verachtung zurück und lebte weiter mit seiner Pflegemutter, einer einfachen Frau aus dem Volke, die seine Kindheit in rührender Weise betreut hatte. Einer ihrer Geliebten war Law, der ihr zu einem großen Vermögen verhalf, da sie die Mississippiaktien noch rechtzeitig vor dem Krach verkaufte. Als sie ihren Salon eröffnete, war sie bereits fünfundvierzig Jahre alt und ziemlich dick. Sie vertrat jedoch noch nicht die freigeistige Richtung, sondern unterhielt lebhafte Beziehungen mit den Jesuiten und dem Papst Lambertini, von dem wir schon gehört haben. Ihre Nachfolgerinnen waren Madame Geoffrin, eine Dame von liebenswürdigsten und anregendsten geselligen Talenten, und Madame du Deffand, die einen außerordentlichen Verstand mit großem Egoismus vereinigte. Ihre Gesellschafterin war ein armes Fräulein de l'Espinasse, die, ohne schön zu sein, einen großen geistigen Reiz auf die Gäste auszuüben verstand. Dies erweckte die Eifersucht ihrer Herrin, die sie eines Tages entließ; aber nun eröffnete sie in einer bescheidenen Wohnung einen eigenen Jour, und es gelang ihr mit Hilfe d'Alemberts, der zeitlebens für sie eine zärtliche Freundschaft hegte, fast alle Stars zu sich herüberzuziehen. Großes Ansehen genossen auch die Salons der Gönnerin Rousseaus, Madame d'Epinay, der Ministersgattin Madame Necker und der berühmten Schauspielerin Quinault.
Das Monumentalwerk, das den Titel »Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers« führte, begann im Jahre 1751 zu erscheinen; 1772 belief es sich auf achtundzwanzig Bände, in denen alle Fragen der Philosophie und Religion, Literatur und Ästhetik, Politik und Ökonomie, Naturwissenschaft und Technik in alphabetischer Anordnung und an der Hand prachtvoller Kupfer aufs gründlichste und anziehendste erörtert waren. Ein Wörterbuch, von Natur die trockenste und toteste aller geistigen Unternehmungen, nicht bloß belehrend und aufklärend, sondern auch unterhaltend, überzeugend und spannend zu gestalten: diese Kunst haben nur die Franzosen besessen. Der Hauptzweck des Werks war aber noch ein ganz anderer: es war nichts Geringeres als ein riesiges Arsenal aller subversiven Ideen, die im Laufe der letzten Generationen ans Licht getreten waren. Hierbei befolgten die Verfasser eine sehr geschickte und listige Taktik. In Artikeln, hinter denen man Anstößiges wittern konnte, wie »Seele«, »Willensfreiheit«, »Unsterblichkeit«, »Christentum«, trugen sie die rechtgläubigen Lehren vor, während sie an ganz anderen Stellen, wo niemand solche Auseinandersetzungen vermutete, die entgegengesetzten Prinzipien mit einer Fülle von Argumenten entwickelten und zugleich durch versteckte Hinweise, die aber der eingeweihte Leser sehr bald verstehen lernte, die Verbindung herstellten.
Die Seele des ganzen Unternehmens war Denis Diderot, der als Gelehrter Solidität mit Eleganz zu vereinigen wußte und als Schriftsteller eine stupende farbensprühende Vielseitigkeit entwickelte. Er war ein unübertrefflicher Meister im philosophischen Dialog, daneben Dramatiker, Erzähler, Kunstkritiker, Mathematiker, Nationalökonom, Technolog und vor allem ein edler und aufopferungsvoller, seiner Mission begeistert ergebener Charakter. Seine Weltanschauung, die erhebliche Entwicklungsschwankungen durchmachte, war im wesentlichen eine Art »Monismus«, der sich alles aus Materie zusammengesetzt, diese aber beseelt dachte: » la pierre sent«. Mit seinen beiden Dramen »Le fils naturel ou les épreuves de la vertu« und »Le père de famille« wurde er für Frankreich einer der Hauptvertreter des bürgerlichen Rührstücks, das, wie wir bereits erwähnt haben, aus England stammte und später in Deutschland durch Iffland, Schröder und Kotzebue sein stärkstes Verbreitungsgebiet fand. Es ist unverkennbar, daß der Kultus dieses neuen Genres, für das Diderot auch in programmatischen Schriften eintrat, mehr politischen als ästhetischen Antrieben seine Entstehung verdankte. Man entdeckte oder glaubte zu entdecken, daß im »Volk« und im Bürgertum mehr Tugend und Tüchtigkeit, Edelmut und Menschlichkeit zu finden sei als bei den Privilegierten; allein man vergaß, daß dies für den Bühnendichter eine völlig gleichgültige Entdeckung ist. Menschen, die auf den sozialen Höhen wandeln, sind fast immer dramatisch ergiebiger und theatralisch interessanter als Bürger oder gar Bauern, aus dem sehr einfachen Grunde, weil sie mehr erleben. Tatsächlich brachte es ja auch die poetische Revolution jener Zeit, die sich von den Königen und großen Herren abwandte, nur zum kalten und künstlichen Melodram. Es kann doch wohl kein Zufall sein, daß die Theaterdichtung sich auf den Gipfelpunkten ihrer Entwicklung allemal jenseits der bürgerlichen Sphäre etabliert hat. Die antike Tragödie spielt zwischen Heroen, Königen und Göttern, niemals im Volk, das sie in den Chor verweist. Die shakespearische Tragödie bewegt sich unter Fürsten und Adeligen, und dasselbe gilt vom Drama der deutschen Klassiker, selbst von »bürgerlichen Trauerspielen« wie »Kabale und Liebe« und »Emilia Galotti«, die in Wirklichkeit Hofdramen sind. Die Domäne des Bürgerlichen ist der Roman und die Komödie. Aristophanes, Molière und der Komiker Shakespeare haben dieses Milieu mit derselben wohlerwogenen Absichtlichkeit aufgesucht, mit der Sophokles, Racine und der Tragiker Shakespeare es flohen. Ibsen, vielleicht das stärkste Komödientalent aller Zeiten, ist zugleich der Schöpfer des großen bürgerlichen Dramas, zu dem sich alle früheren Versuche nur wie unvollkommene Vorstufen verhalten; seine wenigen Tragödien jedoch: die »Kronprätendenten«, »Kaiser und Galiläer«, »Frau Inger auf Östrot« handeln von der »Königsmaterie« (wie der richtige Titel seiner »Kronprätendenten« lautet). Neben ihm sind die zwei leuchtkräftigsten Theatersterne des neunzehnten Jahrhunderts Richard Wagner und Heinrich von Kleist: sowohl der eine wie der andere hat nur ein einziges Stück geschrieben, das in bürgerlichen Kreisen spielt und das zugleich sein einziges Lustspiel ist: Kleist den »zerbrochenen Krug«, Wagner die »Meistersinger«.
Diese Zusammenhänge mußten Batteux, Diderot und ihren Schülern um so leichter entgehen, als sie den Standpunkt des extremen Naturalismus einnahmen, vor dem allerdings Unterschiede der Höhe und Tiefe des Kunstinhalts fast völlig verschwinden. Ihre Theorien waren ein Rückschlag gegen die überspitzte Künstlichkeit des Rokokos. Die Kunst soll jetzt auf einmal wieder pure Nachahmung sein, trockene, leere, sterile Wiederholung der Natur, womit sie, wenn es ihr jemals gelänge, offenbar aufhören würde, Kunst zu sein. Im übrigen aber pflegen solche Programme für den Wert der Produktion, ja sogar der Kritik, die aus ihnen hervorgeht, nicht bestimmend zu sein. Man kann über das Wesen der Kunst die schönsten und treffendsten Ansichten haben und sich in dem Augenblick, wo man in die Lage kommt, sie auf einen konkreten Fall anzuwenden, als amusischer Philister entpuppen; und man kann höchst banausischen Prinzipien huldigen und dabei doch ein Mensch voll Phantasie, Geschmack und feinstem Einfühlungsvermögen sein, wie es Diderot war. Seine pedantische und kunstfeindliche Natürlichkeitsforderung hat ihn nicht im geringsten gehindert, in der Beurteilung und Schilderung der Einzelheiten eines Kunstwerks die glänzendste Begabung zu entfalten: seine Bemerkungen über Bilder, über Schauspielkunst, über Technik des Dramas sind lauter Volltreffer, Höchstleistungen einer schöpferischen Kunstkritik.
Als zweiter Herausgeber der Enzyklopädie zeichnete d'Alembert, der die mathematischen Artikel und eine ausgezeichnete Vorrede schrieb, sich aber später von dem Unternehmen zurückzog, weil der radikale Materialismus Diderots und der meisten übrigen Mitarbeiter weder seiner konzilianten und ein wenig furchtsamen Gemütsart noch seiner streng wissenschaftlichen Denkweise zusagte. Er selbst bekannte sich zu einem Phänomenalismus, der fast wie eine Vorausahnung Kants anmutet und zweifellos höher stand als der naive Dogmatismus der Enzyklopädisten, indem er erklärte, er fühle sich zu der Annahme gedrängt, »daß alles, was wir sehen, nur Sinneserscheinung ist; daß es nichts außer uns gibt, das dem, was wir zu sehen glauben, entspricht«.
Das grundlegende Werk des französischen Materialismus, der berüchtigte »Homme machine« von Lamettrie, war schon drei Jahre vor der Enzyklopädie erschienen: es nimmt seinen Ausgang von der cartesianischen Lehre, daß die Tiere Automaten seien, die, wie es behauptet, allein schon hingereicht hätte, Descartes zum großen Philosophen zu machen, und versucht nun in mehr rhetorischer als wissenschaftlicher Form nachzuweisen, daß auch der Mensch nichts anderes sei als ein höchst komplizierter Mechanismus: er verhalte sich zu den Tieren wie eine Planetenuhr von Huygens zu einem gemeinen Uhrwerk. Das Buch hatte eine enorme Wirkung, obgleich niemand wagte, seinen Thesen offen zuzustimmen, und setzte Lamettrie der allgemeinen Verfolgung aus. Nur Friedrich der Große gewährte ihm Schutz, indem er ihn als Arzt und Vorleser nach Berlin berief: dort starb er einige Jahre später an dem Genuß einer ganzen Trüffelpastete, zur großen Genugtuung der Reaktionäre, die sich beeilten, die Art seines Todes als warnendes Argument gegen seine Weltanschauung auszuspielen, als ob das Verzehren zu großer Pasteten eine charakteristische und natürliche Folge des Materialismus sei.
Einen extremen Sensualismus vertrat Condillac in seinem 1754 erschienenen »Traité des sensations«. Nach ihm sind unsere Gefühle, Urteile und Handlungen, überhaupt alle seelischen Produkte bis hinauf zu den höchsten Ideen nichts als Nachwirkungen unserer Sinneseindrücke; alle psychischen Tätigkeiten sind umgeformte Empfindungen, alles Geistesleben ist Sinnesleben; alle Neigungen, auch die sittlichsten, stammen aus der Selbstliebe. Vier Jahre darauf bemühte sich Helvetius, ein mittelmäßiger und eitler Mensch, im übrigen aber ein untadeliger und sogar altruistischer Charakter, in seiner Abhandlung »De l'esprit« diese Gedanken, besonders soweit sie das Gebiet der Moral berührten, überzeugender auszuspinnen: wie in der physischen Welt die Bewegung, so bilde in der moralischen Welt das Interesse das gesetzgebende Element. Das Buch machte ungeheures Aufsehen, denn es traf den geheimen Nerv der Zeit: »C'est un homme«, sagte Madame du Deffand von Helvetius, »qui a dit le secret de tout le monde.« Von Condillac leitet sich der gesamte naturwissenschaftliche Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts her; das Bindeglied bildet Cabanis, ein Schüler Condillacs, dessen Lehre in dem Satz gipfelt: » Les nerfs, voilà tout l'homme.« Seine Bemerkung: »Das Gehirn dient zum Denken wie der Magen zur Verdauung und die Leber zur Gallenabsonderung: die Nahrungsmittel setzen den Magen in Tätigkeit und die Eindrücke das Gehirn«, ein zweifellos geistreicher Witz, hat in Deutschland einige Jahrzehnte später eine ganze Literatur von Traktaten hervorgerufen, die ebenso oberflächlich, aber nichts weniger als witzig und geistreich sind. Nicht ganz so weit links wie Condillac stand Robinet, der im Anschluß an Diderot die allgemeine Beseeltheit der Materie: der Pflanzen, der Minerale, der Atome, der Planeten lehrte.
Einen langjährigen Sammelpunkt fanden die Enzyklopädisten in den berühmten Diners des reichen pfälzischen Barons Holbach, die zweimal wöchentlich um zwei Uhr stattfanden und fast alles vereinigten, was an einheimischen und ausländischen Zelebritäten sich in Paris aufhielt: man nannte ihn nach einem Wort des Abbé Galiani den » maître d'hôtel de la philosophie«. Von ihm stammte der Katechismus der materialistischen Weltanschauung: »Système de la nature ou des lois du monde physique et du monde moral«, worin er mit deutscher Gründlichkeit alle Thesen und Argumente seines Kreises darlegte und zusammenfaßte. Das Buch erschien 1770 anonym und galt lange Zeit für ein Kollektivwerk. Nichts, heißt es darin, ist vorhanden als die ewige durch sich selbst existierende Materie, aus der alles stammt und in die alles zurückkehrt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung angelangt, nimmt sie Leben und Bewußtsein an: der Mensch ist zum Empfinden und Denken organisierte Materie. Nur aus Unkenntnis der Natur und Mangel an Erfahrung hat der Mensch sich Götter gemacht, die seine Furcht und Hoffnung erregen. Die Natur, nach unverbrüchlichen Gesetzen erzeugend und vernichtend, Gutes und Übles austeilend, kennt weder Liebe noch Haß, sondern nur die unendliche und ununterbrochene Kette von Ursachen und Wirkungen. Ordnung und Unordnung sind nicht in der Natur, sondern reinmenschliche Begriffe, die wir in sie hineingetragen haben: das All hat zum Zweck nur sich selbst. Gleichwohl soll der Mensch tugendhaft sein, und zwar aus Klugheit, denn die anderen begünstigen mein Glück nur, wenn ich das ihrige nicht beeinträchtige, und selbst die verkannte Tugend macht ihren Träger noch immer glücklich durch das Bewußtsein, der Gerechtigkeit gedient zu haben. Wie man sieht, fordert Holbach, obgleich er dem Weltgeschehen moralische Absichten und Endzwecke abspricht, für die menschliche Lebensführung eine zwar platte und bloß vom Verstand diktierte, aber durchaus lautere Moralität; und dasselbe gilt von fast allen anderen Enzyklopädisten.
Es lag nahe, die bestehenden Staats- und Gesellschaftsformen sowohl vom moralischen wie vom naturwissenschaftlichen Standpunkt einer ebenso radikalen Kritik zu unterziehen wie die herrschenden theologischen und philosophischen Lehren; aber hierzu wurden vorläufig nur vereinzelte Ansätze gemacht. 1755 versuchte der Abbé Morelly in seinem »Code de la nature« den Nachweis, daß das Privateigentum, das der Eigennutz erzeugt habe, die Quelle alles Streits und Unglücks sei, und entwarf auf dieser Grundlage ein vollständiges kommunistisches Programm: die Nation soll in Provinzen, Städte, Stämme, Familien gegliedert werden; Grund und Boden und sämtliche Arbeitswerkzeuge sollen gemeinsames Eigentum aller sein; der Staat überweist den einzelnen Bürgern die Arbeit nach Maßgabe ihrer Arbeitskraft, den Ertrag nach Maßgabe ihrer Bedürfnisse. Und 1772 schrieb Mirabeau seinen »Essai sur le despotisme«, worin er ausführt, daß der König nicht mehr sei als der erste Beamte, »le premier salarié«, das Haupt, nicht der Herrscher des Volkes, das für bestimmte Arbeiten angestellt und bezahlt werde und, wenn es sie nicht leiste oder gar seine Stellung mißbrauche, jederzeit abgesetzt werden könne.
In engem Zusammenhang mit der Ausbreitung der materialistischen Ideen stand die Entwicklung der Naturwissenschaften, so daß es schwer zu sagen ist, welche dieser beiden Erscheinungen die Ursache und welche die Wirkung war. Daß eine Blüte der exakten Forschung nicht notwendig zur Abwendung vom Spiritualismus führen muß, zeigt das siebzehnte Jahrhundert, das von Descartes und Leibniz beherrscht war. Aber es bestand ein entscheidender Unterschied: damals standen Mathematik und theoretische Physik im Vordergrund, die in ihrem Grundwesen idealistische Wissenschaften sind, während erst jetzt die rein empirischen Disziplinen sich anschickten, das Hauptinteresse für sich in Anspruch zu nehmen.
Was zunächst die Theorien anlangt, so behaupteten sich auch die älteren von ihnen noch sehr lange und machten nur zögernd moderneren Auffassungen Platz. Albrecht von Haller vertrat mit der ganzen Wucht seiner Autorität die von Harvey begründete Präformations- oder Einschachtelungstheorie, nach der sich der ganze Organismus mit allen künftigen Geschlechtern bereits im Ei im »eingewickelten« Zustand befinden soll. Gegen sie setzte Kaspar Friedrich Wolff 1759 in seiner »Theoria generationis« die Lehre von der Epigenesis: diese betrachtet die Entstehung der Organismen als einen Wachstumsprozeß, der teils durch die Stammesgeschichte, teils durch latente erbliche Dispositionen, teils durch äußere mechanische Ursachen bestimmt wird. Durch die experimentellen Untersuchungen, die er zur Erhärtung dieser Hypothese machte, wurde er der Begründer der wissenschaftlichen Embryologie. Obgleich seine Annahme die plausiblere und viel leichter vorstellbare war, fand sie doch zunächst wenig Glauben; sie mußte aber schließlich siegen, weil in ihr eine der leitenden Ideen des Zeitalters lebte, nämlich der Entwicklungsgedanke: aus ihr spricht derselbe Geist, der zwanzig Jahre später Lessing dazu bestimmte, die Geschichte der Religionen als eine stufenweise Evolution zu immer reineren und angemesseneren Gottesvorstellungen aufzufassen, und Kant sein großartiges System konzipieren ließ, wonach die ganze Welt sich aus den Bedingungen unserer Vernunft entwickelt.
Auch der Geologie begann man erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Hier herrschte die »neptunistische« Lehre, vertreten von Abraham Gottlob Werner, der seit 1775 an der Bergakademie in Freiberg als gefeierter Lehrer wirkte: sie erklärte alle oder doch die meisten Veränderungen der Erdrinde aus der Einwirkung des Wassers. Werner versuchte auch als einer der ersten eine Einteilung der Mineralien ausschließlich nach ihrer chemischen Zusammensetzung, ohne darüber die äußeren Merkmale zu vernachlässigen. Novalis, der noch sein Schüler war, sagte über ihn: »In große bunte Bilder drängten sich die Wahrnehmungen seiner Sinne: er hörte, sah, tastete und dachte zugleich ... er spielte mit den Kräften und Erscheinungen, er wußte, wo und wie er dies und jenes finden konnte.« Auch wider den Neptunismus erhob sich im »Plutonismus«, den James Hutton begründete, eine gegensätzliche Theorie, die sich ebenfalls erst viel später durchsetzte: sie erblickte die Hauptursache der geologischen Veränderungen im Feuer, nämlich in den vulkanischen Reaktionen des glutflüssigen Erdinnern gegen die bereits erstarrte Kruste. In einer prachtvoll gegliederten Sprache voll Glanz und Energie brachte Buffon die bisherigen Ergebnisse zumal der beschreibenden Naturwissenschaften zur Darstellung; er hat besonders als Schriftsteller auf seine Zeitgenossen die größte Wirkung geübt.
Die entscheidendsten Veränderungen aber vollzogen sich in der Chemie und in der Elektrizitätskunde. Bisher hatte auf beiden Gebieten die Lehre von den Imponderabilien als unumstößliches Dogma gegolten. Man hielt, wie wir uns erinnern, sowohl das Licht wie die Wärme für einen Stoff, und eine ganz analoge Anschauung hatte man auch von der Elektrizität und dem Magnetismus. Daß bei allen diesen Vorgängen keine Gewichtszunahme stattfindet, erklärte man mit der »Unwägbarkeit« dieser Materien. Nun machte Lavoisier fast gleichzeitig mit dem Engländer Priestley und dem Schweden Scheele die Entdeckung, daß die Luft aus zwei Gasen zusammengesetzt sei, von denen das eine die Ursache der Verbrennung bildet: diesem gab er, weil es außerdem säurebildend wirkt, den Namen Sauerstoff. Im weiteren Verlauf seiner Untersuchungen gelang es ihm, auch die Atmung und die Gärung auf ähnliche Weise zu erklären. Ferner gelangte er gleichzeitig mit Cavendish, dem Entdecker des Wasserstoffs, zur Erkenntnis der Zusammensetzung des Wassers: die ungeheure Rolle, die der Sauerstoff im irdischen Haushalt spielt, war damit in ihren Hauptzügen enthüllt. Die Krönung seiner Forschungen bildete der Kardinalsatz, daß bei allen chemischen Prozessen die Summe der Stoffe eine unveränderliche Größe darstellt. Aber obgleich er den Begriff des Elements theoretisch sehr klar formuliert und durch exakte Messungen auch in der Praxis einwandfrei festgestellt hatte, hielt er trotzdem an der Annahme »unwägbarer Elemente« weiterhin fest und führte in seiner Tabelle der chemischen Elemente den Wärmestoff und den Lichtstoff. Hierin zeigt sich, wie auch die Macht des stärksten Geists der noch stärkeren Macht des Zeitgeists unterworfen ist. Im Begriff des Imponderabeln steckt der Rest von Supranaturalismus, der noch in der Naturanschauung des ganzen achtzehnten Jahrhunderts lebendig war. Der letzte Schritt zum völlig konsequenten Naturalismus, der in den Beobachtungswissenschaften nichts anerkennt, was nicht von den Sinnen konstatiert und kontrolliert werden kann, wurde auch auf der äußersten Linken nur von einigen wirkungslosen Outsidern getan. Nur jene dilettantische Vermengung von philosophischer Spekulation und exakter Forschung hat es ermöglicht, daß der Materialismus in so vielen und selbst in einigen sehr erleuchteten Köpfen des Zeitalters die herrschende Weltanschauung werden konnte. Die Auflösung des Dilemmas brachte erst Kant, indem er nachwies, daß es sich hier um zwei gänzlich verschiedene Wirkungssphären der menschlichen Vernunft handelt, die beide nur dann im richtigen Geiste erfaßt werden können, wenn sie gänzlich getrennt behandelt werden. Wer freilich nach Kant noch immer versucht, diese von ihm so klar gezogenen Grenzen zu verwischen oder zu verrücken, und als Naturforscher Metaphysiker, als Metaphysiker Naturforscher sein will, ist nicht mehr ein zeitgebundener Geist wie jene materialistischen Denker der französischen Aufklärung, sondern nur noch ein vorsündflutlicher Schwachkopf.
Eine wichtige Erweiterung erfuhr die Elementenlehre Lavoisiers durch Daltons Gesetz der multipeln Proportionen, das dieser ebenfalls der Beobachtung des Sauerstoffs verdankte. Dieses Element besitzt nämlich die Eigenschaft, daß es sich mit fast allen übrigen zu vereinigen vermag, und zwar mit einigen auch in mehreren Atomverhältnissen. Das Gesetz besagt nun, daß in diesen Fällen die verschieden großen Mengen des Elements, die mit demselben Quantum Sauerstoff zusammentreten können, untereinander in einfachen rationalen Zahlenverhältnissen stehen, wie 1:2,2:3,1:4. Ähnliche Verbindungseigenschaften wie der Sauerstoff besitzen noch einige andere Elemente, zum Beispiel der Kohlenstoff und der Wasserstoff. Es war die natürliche Folge dieser Entdeckungen, daß Dalton einer der konsequentesten Vertreter der atomistischen Hypothese wurde, die er auf eine exakte Basis stellte. Sämtliche chemischen Vorgänge sind für ihn nichts als Scheidung und Vereinigung von Atomen. »Wir könnten«, sagt er, »ebensogut versuchen, dem Sonnensystem einen neuen Planeten einzuverleiben oder einen vorhandenen zu entziehen als ein Atom Wasserstoff zu erschaffen oder zu vernichten. Alle Veränderungen, die wir hervorbringen können, bestehen in der Trennung von Atomen, die vorher verbunden waren, und in der Verbindung von Atomen, die bisher getrennt waren.« Alle diese Prozesse beruhen auf dem geheimnisvollen Problem der Wahlverwandtschaft, das von Berthollet zum Gegenstand aufschlußreicher Untersuchungen gemacht wurde und Goethe zu seinem berühmten Roman inspirierte: »In diesem Fahrenlassen und Ergreifen«, heißt es dort, »in diesem Fliehen und Suchen glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu sehen; man traut solchen Wesen eine Art Wollen und Wählen zu und hält das Kunstwort Wahlverwandtschaften für vollkommen gerechtfertigt . . . Man muß diese tot scheinenden und doch zur Tätigkeit innerlich immer bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen, mit Teilnahme schauen, wie sie einander suchen, sich anziehen, ergreifen, zerstören, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten: dann traut man ihnen erst ein ewiges Leben, ja wohl Sinn und Verstand zu.«
Was die Elektrizität anlangt, so war sie geradezu die Modewissenschaft des Zeitalters. Man betrachtete die neuen elektrischen Apparate als ein originelles und amüsantes Spielzeug, alle Welt machte mit ihnen Experimente, sie fanden sich sogar zwischen den Schminkdosen und Perückenständern der Damenboudoirs. Das bedeutsamste Ereignis auf diesem Gebiet war die Entdeckung der galvanischen oder Berührungselektrizität. Im Jahre 1780 bemerkte Galvani, daß ein frisch präparierter Froschschenkel, den er an seinem Balkon aufgehängt hatte, in Zuckungen geriet, wenn man in seiner Umgebung dem Konduktor Funken entlockte; dasselbe geschah, wenn in der Nähe ein Blitz niederging. Das große Aufsehen, das diese Beobachtung erregte, wurde in erster Linie durch die mysteriöse Erscheinung des zuckenden toten Tierkörpers hervorgerufen, in der die »Animisten« die Äußerung einer geheimen über den Tod hinauswährenden Lebenskraft erblickten; denn die Sehnsucht nach Wundern war, wie wir später hören werden, in diesem rationalistischen Zeitalter durchaus nicht ausgestorben. Schon Galvani aber gelangte im weiteren Verlauf seiner Untersuchungen zu der Feststellung, daß der Froschschenkel nur dann zuckte, wenn der kupferne Haken, der ihn trug, mit dem eisernen Balkongitter in Kontakt trat: dies war anfangs zufällig durch den Wind geschehen und wurde in den späteren Experimenten absichtlich bewirkt. Er schloß daraus auf das Vorhandensein einer »tierischen Elektrizität«. Die richtige Deutung des Vorgangs fand aber erst Volta im Jahre 1794, indem er zeigte, daß dem Froschmuskel nur die Rolle eines Leiters zukomme und der eigentliche elektrische Vorgang zwischen den beiden Metallen stattfinde. Er wies ferner nach, daß hierzu zwei beliebige Metallstücke geeignet seien, aber nur zwei verschiedene, daß diese und der Froschschenkel einen geschlossenen Kreis bilden müssen und daß der Froschschenkel, da das für den Vorgang Wesentliche sein Feuchtigkeitsgehalt sei, durch jede andere Flüssigkeit ersetzt werden könne. Auf Grund dieser Entdeckungen konstruierte er die Voltasche Säule, die aus der Aneinanderreihung zahlreicher solcher Metallpaare gebildet ist, zum Beispiel aus Kupfer und Zinn oder Silber und Zink: verbindet man die Enden oder »Pole« der Säule durch einen Schließungsdraht, so entsteht ein dauernder elektrischer Strom. »Daß das elektrische Fluidum ununterbrochen kreist«, sagt er in seiner Beschreibung der Säule, die er ein »künstliches elektrisches Organ« nannte, »mag paradox und unerklärlich erscheinen. Nichtsdestoweniger verhält es sich tatsächlich so; es läßt sich sozusagen mit Händen greifen.«
Auf dem Gebiet der Astronomie war das Größte bereits geleistet, und es konnte sich nur noch darum handeln, dem Bild von der Zusammensetzung und Einrichtung des Weltalls einige bedeutsame Einzelzüge hinzuzufügen. 1781 entdeckte Herschel mit seinem Riesenteleskop den Planeten Uranus. Außerdem eruierte er, daß die sogenannten Doppelsterne nicht zufällig benachbart sind, sondern ein »binäres System« bilden, dessen Bewegungen den Gravitationsgesetzen unterliegen, und daß nicht nur die Milchstraße aus zahllosen Sonnen zusammengesetzt ist, sondern auch die »Nebelflecke« nichts anderes sind als ungeheure Sternhaufen, manche von ihnen aber nur aus leuchtenden Gasmassen bestehen und werdende Welten darstellen: eine Bestätigung der kantischen Weltentstehungshypothese. Diese wurde von Laplace weiter ausgebaut, der auch eine Theorie der »Störungen« gab, das heißt: der Abweichungen von der reinen elliptischen Bewegung, die die Himmelskörper durch ihre gegenseitige Anziehung erleiden. 1794 bewies Chladni den kosmischen Ursprung der Meteoriten.
Der bedeutendste Mathematiker des Zeitalters ist Leonhard Euler, der, am Hofe Friedrichs des Großen und Katharinas lebhaft gefördert, die Algebra zu einer internationalen mathematischen Zeichensprache erhob, die Variationsrechnung schuf und, allerdings zunächst erfolglos, für die Wellentheorie eintrat: in seinen »Lettres à une princesse d'Allemagne sur quelques sujets de physique et de philosophie« bekämpfte er die Newtonsche Emanationstheorie, indem er darauf hinwies, daß man im Laufe der Jahrhunderte eine Abnahme des Sonnenkörpers bemerken müßte, wenn die Ansicht richtig wäre, daß das Licht ein feiner Stoff sei, der von der Sonne und den übrigen leuchtenden Körpern ausfließe; vielmehr komme das Licht auf analoge Weise zustande wie der Schall: wie dieser durch die Schwingungen der Luft entsteht, die wir, wenn sie in gleichen Intervallen aufeinander folgen, Musik nennen, bei unregelmäßiger Anordnung als bloßes Geräusch empfinden, so beruht auch das Licht auf Erzitterungen des Äthers, einer flüssigen, der Luft ziemlich ähnlichen Substanz, die nur unvergleichlich feiner und elastischer ist als diese. »In Wirklichkeit kommt also von der Sonne ebensowenig etwas zu uns wie von einer Glocke, deren Geläut unser Ohr trifft.« Der Nachfolger Eulers war Lagrange, epochemachend durch seine »Mécanique analytique« und seine klassischen Arbeiten über das Dreikörperproblem und den Differentialkalkül.
Schließlich wollen wir noch drei wissenschaftliche Ereignisse nicht unerwähnt lassen, die zu ihrer Zeit nicht genügend gewürdigt wurden, weil sie ihr vorauseilten. 1787 bestieg Saussure zu geognostischen Zwecken zum erstenmal den Montblanc. 1793 ließ Christian Konrad Sprengel sein Buch über »das entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen« erscheinen. Diese geschieht, wie die Abhandlung ausführlich darlegt, dadurch, »daß die Insekten, indem sie dem Saft der Blumen nachgehen und deswegen sich entweder auf den Blumen aufhalten oder in sie hineinkriechen, notwendig mit ihrem meist haarigen Körper den Staub der Staubbeutel abstreifen und ihn auf die Narbe bringen. Letztere ist zu diesem Zweck entweder mit feinen Haaren oder mit einer klebrigen Feuchtigkeit überzogen.« Ferner hat die Natur, »welche nichts halb tut«, dafür gesorgt, »daß die Insekten die Blumen schon von weitem gewahr werden, entweder durch das Gesicht oder durch den Geruch oder durch beide Sinne zugleich. Alle Saftblumen sind deswegen mit einer Krone verziert und sehr viele verbreiten einen Geruch, welcher den Menschen meist angenehm, oft unangenehm, zuweilen unausstehlich, den Insekten aber, für die ihr Saft bestimmt ist, jederzeit angenehm ist. ... Wenn nun ein Insekt, durch die Schönheit der Krone oder durch den angenehmen Geruch einer Blume gelockt, sich auf dieselbe begeben hat, so wird es entweder den Saft sogleich gewahr oder nicht, weil dieser sich an einem verborgenen Orte befindet. In letzterem Falle kommt ihm die Natur durch das Saftmal zu Hilfe. Dieses besteht aus einem oder mehreren Flecken, Linien, Tüpfeln oder Figuren von einer anderen Farbe als die Krone; das Saftmal sticht folglich gegen letztere mehr oder weniger ab. Es befindet sich jederzeit da, wo die Insekten hineinkriechen müssen, wenn sie zum Saft gelangen wollen. ... Alle Blumen, die keine eigentliche Krone noch an ihrer Stelle einen ansehnlichen und gefärbten Kelch haben noch riechen, sind saftleer und werden nicht von den Insekten, sondern auf eine mechanische Art, nämlich durch den Wind befruchtet. Dieser weht den Staub von den Beuteln an die Narben.« Das Werk fand aber nur wenig Beachtung und noch weniger Beifall, und nicht viel besser erging es anfangs dem Engländer Edward Jenner und seiner Pockenschutzimpfung, in der selbst Kant nur »Einimpfung der Bestialität« zu erblicken vermochte. Die Pocken waren damals eine der verbreitetsten Krankheiten, die den größten Teil der Menschheit durch Pockennarben entstellte und in manchen Ländern ein Zehntel der Todesfälle bewirkte. Im Grunde verdankte Jenner seine Therapie derselben Methode, die Sprengel empfohlen hatte, als er lehrte, man müsse die Natur auf der Tat zu ertappen suchen. Jenner hatte beobachtet, daß Kuhmägde fast niemals von den Pocken befallen wurden, weil sie sich vorher mit den Blattern vom Euter der Tiere infiziert hatten. Was hier ein Zufall war, machte er zum System, indem er seine Patienten mit Kuhlymphe impfte und dadurch gegen Menschenblattern immunisierte. Die erste öffentliche Impfanstalt wurde 1799 in London errichtet; auf dem Kontinent hatte die neue Behandlungsweise noch länger gegen allerlei Vorurteile zu kämpfen.
Zu den verkannten großen Naturforschern des achtzehnten Jahrhunderts muß auch Goethe gerechnet werden; denn das Publikum ist nun einmal so beschaffen, daß es sich weigert, seinen Führern die Herrschaft über mehrere Geistesgebiete zuzugestehen, indem es von seiner eigenen Beschränktheit und Einseitigkeit auf das Genie schließt, dessen Wesen doch gerade darin besteht, daß es auf jedem Felde, das es ergreift, schöpferisch und umbildend zu wirken vermag. Seinen Übergang zur Naturwissenschaft hat Goethe selber in einer unvollendeten Abhandlung über den Granit, an der er im Jahre 1784 arbeitete, mit den unvergleichlich schönen Worten geschildert: »Ich fürchte den Vorwurf nicht, daß es ein Geist des Widerspruchs sein müsse, der mich von der Betrachtung und Schilderung des menschlichen Herzens, des innigsten, mannigfachsten, beweglichsten, veränderlichsten, erschütterlichsten Teils der Schöpfung zu der Beobachtung des ältesten, festesten, tiefsten, unerschütterlichsten Sohnes der Natur geführt hat. Denn man wird mir gern zugeben, daß alle natürlichen Dinge in einem genauen Zusammenhang stehen, daß der forschende Geist sich nicht gern von etwas Erreichbarem ausschließen läßt. Ja, man gönne mir, der ich durch die Abwechslungen der menschlichen Gesinnungen, durch die schnellen Bewegungen derselben in mir selbst und in anderen manches gelitten habe und leide, die erhabene Ruhe, die jene einsame, stumme Nähe der großen, leisesprechenden Natur gewährt; und wer davon eine Ahnung hat, folge mir.« 1790 erschien seine »Metamorphose der Pflanzen«, deren Grundgedanke darin besteht, daß sämtliche Pflanzenbestandteile als umgewandelte Blätter anzusehen seien; und zwar vollziehe sich die Entwicklung unter abwechselnder »Ausdehnung« und »Zusammenziehung« in sechs Stufen von fortschreitender Vervollkommnung: erstens Samenlappen oder Kotyledonen, meist unter der Erde, weißlich, dicklich, ungeteilt; zweitens Laubblätter, länger und breiter, gekerbt, grün; drittens Kelchblätter, zusammengedrängt, wenig mannigfaltig; viertens Krone, wieder umfangreicher, zart, farbenprangend; fünftens Staubgefäße, fast fadenförmig, einen »höchst feinen Saft« enthaltend; sechstens Fruchtblätter, wieder erweitert, die Samen umhüllend. Diese Abstraktion, die in der Wirklichkeit nie erscheint, sondern bloß allen ihren Bildungen als Bauplan, Schema oder Idee zugrundliegt (was aber Goethe anfangs nicht zugeben wollte, sondern erst später, unter dem Einfluß Schillers einsehen lernte), ist die goethische »Urpflanze«. Einen ganz ähnlichen Gesichtspunkt vertrat die Abhandlung über den Zwischenkiefer vom Jahre 1784, in der Goethe die verschiedenen Ausbildungen dieses von ihm entdeckten Knochens durch die ganze Reihe der Wirbeltiere verfolgte. In den darauffolgenden Jahren gelangte er durch sorgfältige osteologische Beobachtungen zu der Anschauung, daß der menschliche Schädel aus metamorphosierten Wirbeln bestehe: der Wirbel spielt also in seinen anatomischen Untersuchungen fast dieselbe Rolle wie das Blatt in seinen botanischen, und auch für das Säugetierskelett schwebt ihm als Pendant zur Urpflanze eine Art ideales Modell vor, das er den »Typus« nennt. Und bei seinen physikalischen Studien ging er ebenfalls von der Überzeugung aus, daß man überall nach dem »Urphänomen« zu suchen habe, auf das die gesamte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen sich zurückführen lassen müsse.
Wie man sieht, befinden wir uns im »siècle philosophique«. Man suchte allenthalben nach der Idee der Dinge, aber nach der Idee, die erscheint. Es besteht eine sehr bedeutsame Verwandtschaft und Differenz zwischen Goethes Urpflanze und dem Urmenschen, den die Französische Revolution für ihre staatlichen und gesellschaftlichen Umbildungen als Paradigma aufstellte. Beide sind Abstraktionen, aber nicht Abstraktionen, die der Wirklichkeit entgegengesetzt werden, entweder als zielweisende, aber unerreichbare Ideale oder als wegbahnende, aber bloß fingierte Hilfskonstruktionen, sondern Abstraktionen, die aus der Wirklichkeit als deren eigentlicher Lebenskern herausgeschält werden wollen und daher als sinnlich existent angesehen werden. Gleichwohl besteht ein tiefgreifender Unterschied. Goethe konzipiert die Idee der Urpflanze, um die ihm wohlvertraute Realität, die er geduldig immer aufs neue beobachtet, übersichtlicher, klarer, einheitlicher, anschaulicher und damit gewissermaßen noch realer zu machen; die Revolution konstruiert blind, gewalttätig und wirklichkeitsfremd das Phantom des Urmenschen, um die Realität zu verbiegen, zu verzerren, zu verkrüppeln und damit noch unhandlicher, unfaßbarer, chaotischer und irrealer zu machen. Die Urpflanze ist dem Leben abgelauscht, der Urmensch ist dem Leben aufgedrungen; die goethische Theorie ist vereinfachte Natur, die revolutionäre ist widernatürliche Einfachheit.
Die Aufklärung, aus der später die revolutionäre Dogmatik hervorging, ist eine englische Erfindung: sie geht auf Locke, ja genau genommen bis auf Bacon zurück, hat bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts in England eine Reihe markanter Vertreter und erreicht ihre Spitze in der sogenannten schottischen Schule, deren Führer Thomas Reid in seinem 1764 erschienenen Werk »Inquiry into the human mind on the principles of common sense« die Philosophie des »gesunden Menschenverstandes« begründete; sie lehrt, daß es in der Seele gewisse ursprüngliche Urteile, natürliche Denkinstinkte, »self-evident truths« gibt: diese bilden die Grundtatsachen unseres Bewußtseins, den legitimen Inhalt unserer Erkenntnis; was an den bisherigen Systemen dem gemeinen Verstand ohne weiters einleuchtet und konform erscheint, ist richtig, was ihm widerspricht oder dunkel vorkommt, ist falsch. An diese Richtung schloß sich die deutsche sogenannte »Popularphilosophie«: ihr Ideal war der »Philosoph für die Welt«, wie einer ihrer namhaftesten Repräsentanten, Johann Jakob Engel, seine Aufsatzsammlungen zu betiteln pflegte. Neben ihm wirkte eine ganze buchmachende Zunft solcher erbaulicher, belehrender, verständiger und verständlicher Volksschriftsteller; ihr Zentrum aber hatte die deutsche Aufklärung in einer Anzahl einflußreicher Berliner Zeitschriften. Die erste von ihnen war die 1757 begründete »Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste«, die fast ganz von Nicolai und Mendelssohn geschrieben war und hauptsächlich allerlei steifleinene Kunstkritik enthielt. 1759 erschienen die »Briefe, die neueste Literatur betreffend«, die auf einem viel höheren Niveau standen, denn ihr Verfasser war anfangs der junge Lessing, der hier in seiner scharfen Polemik gegen Wieland, Gottsched und die Franzosen und seiner warmen Parteinahme für Shakespeare die Grundlinien seiner ästhetischen Weltanschauung bereits ziemlich deutlich enthüllte. Das Jahr 1765 ist das Geburtsjahr der »Allgemeinen deutschen Bibliothek«, die volle vierzig Jahre bestand und während dieses Zeitraums das literarische Urteil des gebildeten deutschen Mittelstands in sehr nachhaltiger und vorwiegend nachteiliger Weise bestimmt hat. Ihr Herausgeber war wiederum Nicolai, ein braver und kenntnisreicher, kluger und schreibgewandter Mann, der, als Abkömmling einer angesehenen Buchhändlersfamilie eine Art Mischung aus Kaufmann und Literat, eine bemerkenswerte Begabung im Exponieren und Exploitieren geistiger Strömungen zu entwickeln wußte, aber andrerseits durch seine Plattheit und Rechthaberei, die sich auch in der eigenmächtigen Redaktion der eingesandten Beiträge sehr widrig bemerkbar machte, und durch den engstirnigen Rationalismus, mit dem er alles verfolgte und verhöhnte, was er nicht kapierte (und das war ziemlich viel), zu einem weltberühmten Schulbeispiel der hochmütigen und geistfremden Beckmesserei geworden ist: schon zu seinen Lebzeiten war »Nicolait« ein empfindliches Schimpfwort. Gleichwohl möchten wir, bei der anhaltenden großen Nachfrage nach Themen für literarhistorische Doktorarbeiten und dem relativ geringen Angebot an noch nicht völlig ausgeweideten toten Skribenten, der Aufmerksamkeit ehrgeiziger junger Seminaristen eine Ehrenrettung Nicolais anempfehlen. Nicolai ist der echte Berliner, logisch, sachlich, zumindest stets voll gutem Willen zur Sachlichkeit, sehr mißtrauisch gegen alle Phrase, Phantastik und Charlatanerie, sehr solid, sehr fleißig, für alles interessiert und von stets wacher Spottlust, die aber von der berlinischen Art ist und daher fast immer einen vernünftigen Kern hat. Freilich vereinigte er mit diesen löblichen Eigenschaften seiner Landsleute auch in hohem Grade deren Schattenseiten; aber diese sind so oft und eingehend zum Gegenstand schärfster Kritik gemacht worden, daß sie selbst für eine Promotionsschrift kein genügend originelles Thema mehr abgeben dürften.
Was Moses Mendelssohn anlangt, so würde man sich irren, wenn man glauben wollte, daß sein Judentum für ihn eine wesentliche Hemmung bedeutet habe. Es gehörte damals in der gebildeten Gesellschaft zum guten Ton, fremde Völker und Glaubensbekenntnisse als ebenbürtig anzusehen; zudem empfand man es als willkommene Bestätigung der Aufklärungsideen, daß sich zu ihnen der Angehörige einer Rasse bekannte, die zu jener Zeit in viel höherem Maße als heute eine von der übrigen Kultur abgeschlossene Welt repräsentierte, und war überhaupt geneigt, die Tatsache, daß ein Jude zu den deutschen Schriftstellern zählte, zu überschätzen, indem man den Seltenheitswert mit dem Realwert verwechselte. Im übrigen aber muß bemerkt werden, daß Mendelssohn, als Charakter eine durchaus honorige und fast rührende Erscheinung, in seinen Schriften nicht nur die seichteste Aufklärungsphilosophie betrieben hat, sondern auch das Judentum niemals abgestreift hat. »Die Religion meiner Väter«, sagt er, »weiß, was die Hauptgrundsätze betrifft, nichts von Geheimnissen, die wir glauben und nicht begreifen müßten. Unsere Vernunft kann ganz gemächlich von den ersten sicheren Grundbegriffen der menschlichen Erkenntnis ausgehen und versichert sein, am Ende die Religion auf eben dem Wege anzutreffen. Hier ist kein Kampf zwischen Religion und Vernunft, kein Aufruhr unserer natürlichen Erkenntnis wider die unterdrückende Gewalt des Glaubens.« Es läßt an dieser und zahlreichen ähnlichen Stellen keinen Zweifel darüber, daß er das Judentum für die wahre Vernunftreligion hält, die er versteckt gegen das Christentum ausspielt; und während er auf die christlichen Zeremonien mit lächelnder Überlegenheit herabblickte, hielt er die absurdesten rituellen Vorschriften seiner eigenen Konfession mit peinlichster Genauigkeit. In ihm erscheint in einer letzten modernsten Maskierung das Ressentiment des Juden gegen den Heiland, verbunden mit der fanatischen Anbetung des 2x2 = 4 und der Rentenrechnung, der jüdische Haß gegen die Idealität, gegen das Geheimnis, gegen Gott. Denn der autochthone Geist des Judentums behält selbst dort, wo er sich in die allerspiritualistischsten Höhen verliert (und Mendelssohn gehörte wahrhaftig nicht zu jenen Höhenwanderern), noch immer den Charakter des Materialismus, der sich verstiegen hat; und immer bleibt er rationalistisch. Die Annahme, daß die Wirklichkeit aus jenen Dingen bestehe, die man beweisen, womöglich abtasten kann: dieser himmelschreiende Nonsens ist eine jüdische Erfindung. Das jüdische Volk hat in zahllosen Kriegen den äußersten Heroismus und die blindeste Todesverachtung bewiesen, aber immer aus sehr realistischen Gründen. Alle großen jüdischen Reformatoren waren Realpolitiker, das jüdische Ritual besteht im wesentlichen aus sanitätspolizeilichen Vorschriften und die höchste Idee des Judentums, der Messiasgedanke, ist verstiegen, aber keineswegs weltfremd, sie ist ein konkretes Hirngespinst. Daher kam es, daß Jesus vom gesamten zeitgenössischen Judentum mit einer so ungeheuern Erbitterung aufgenommen wurde, die sich nicht gegen den Neuerer richtete (denn solche waren dem beweglichen Volksgeist durchaus gemäß), nicht gegen den Bekämpfer der Hierarchie (denn diese wurde von einem großen Teil der Nation mißbilligt), nicht gegen den Anwalt der unteren Schichten (denn auch hierfür war die Stimmung überaus günstig), sondern gegen den gefährlichen Frondeur, der zu verkünden wagte: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Dies mußte das Grundpathos, den tiefsten Lebensinstinkt, den innersten Wesenskern des Judentums tödlich verletzen, denn es war in Wahrheit die vollständige Aufhebung und Umkehrung des spezifisch jüdischen Weltgefühls. Daß Jesus das Transzendente in die Religion und Ethik einführte, daß er der Menschheit zum Bewußtsein brachte, dieses sei das allein Wirkliche: darin bestand die ungeheure Revolution, die vom Judentum auch sogleich richtig gewertet wurde.
Unter diesem Gesichtspunkt wird es vollkommen begreiflich, daß der Jude Mendelssohn einer der Hauptwortführer der durch Aufklärung gereinigten Religion werden konnte, denn wenn man vom christlichen Credo das Absurdum abzieht, wie es der damalige »vernünftige« Glaube tat, so bleibt in der Tat nichts als ein Mosaismus, der um einen Propheten mehr hat als das Alte Testament. Auch die Philosophie hat für Mendelssohn nur die Aufgabe, »das, was der gewöhnliche Menschenverstand als richtig erkannt hat, durch die Vernunft klar und sicher zu machen«. Mit diesen primitiven Mitteln suchte er in seinem »Phädon« die Unsterblichkeit der Seele, in seinen »Morgenstunden« das Dasein Gottes zu beweisen. Was er mit der ersteren Schrift bezweckte, sagt er deutlich in der Vorrede: »Es galt nicht, die Gründe anzuzeigen, die der griechische Weltweise zu seiner Zeit gehabt, die Unsterblichkeit der Seele zu glauben, sondern was ein Mann wie Sokrates, der seinen Glauben gern auf Vernunft gründet, in unseren Tagen nach den Bemühungen so vieler großer Köpfe für Gründe finden würde, seine Seele für unsterblich zu halten.« Also: Plato, revidiert an Mendelssohn und addiert mit »großen Köpfen« wie Garve, Engel und Nicolai. Aber wenn man das Vorhaben billigt, so muß man zugeben, daß es gelungen ist: Sokrates redet über die letzten Dinge wirklich genau wie der honette Handelsprokurist und beliebte Popularschriftsteller Mendelssohn, der in ihm nichts erblickt als den »Begründer einer volkstümlichen Sittenlehre« und an ihm nichts versteht als die rationalistische Gleichung Vernunft = Tugend, hingegen von seiner großartigen Ironie, die in einem freiwilligen Tod gipfelt, nicht das geringste bemerkt.
In den »Morgenstunden« lehrte er den landläufigen Deismus, der damals die laut oder stillschweigend bekannte Religion der Gebildeten war und vom Gottesbegriff nicht viel mehr übrig ließ als die Vorstellung eines weisen Wesens, das die von den Philosophen dekretierten Naturgesetze zur Ausführung bringt. Im Hinblick auf die Offenbarung behalfen sich die Deisten vorläufig mit allerlei Kompromissen, die teils einer Inkonsequenz, häufiger einer gewissen Unehrlichkeit ihres Denkens entsprangen. So brachte zum Beispiel der hervorragende Theologe Johann Salomo Semler, der an die Heilige Schrift bereits mit einem sehr leistungsfähigen textkritischen Apparat heranging, die Lehre von der Akkomodation vor, wonach der Gottessohn, die Apostel und die Heiligen sich in ihren Worten dem jeweiligen menschlichen Bedürfnis angepaßt hätten und heute, wo unsere Bedürfnisse sich geändert haben, anders verstanden werden dürften. Auf der anderen Seite führte der Rationalismus, indem er nach wolffischem Rezept überall der Weisheit in der Naturordnung nachspürte, zu einer grotesken Banalisierung der Theologie. Man begnügte sich nicht mehr mit der »Physikotheologie«, die aus der allgemeinen Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Weltgeschehens auf einen weisen Schöpfer schloß, sondern erging sich in einer Litho-, Phytho-, Melitto-, Akrido-, Ichthyo-, Testaceo-, Insektotheologie, die an allen Spezialerscheinungen des Daseins: den Steinen, Pflanzen, Bienen, Heuschrecken, Fischen, Schnecken, Insekten den Gottesbeweis zu führen suchte; es gab sogar eine Bronto- und Seismotheologie: »Erkenntnis Gottes aus der vernünftigen Betrachtung der Gewitter und Erdbeben.« Besonders im evangelischen Gottesdienst war die »nützliche Auslegung« der Heiligen Schrift sehr beliebt: man predigte anläßlich der Krippe über den Nutzen der Stallfütterung, beim Ostergang der Frauen zum Grabe über die Vorteile des Frühaufstehens, beim Einzug Jesu in Jerusalem über die Bedenklichkeit der Holzvergeudung durch Abschneiden frischer Zweige.
Repräsentativ für die gesamte damalige Auffassung der Religionsgeschichte ist das vielumstrittene Werk von Hermann Samuel Reimarus, das zu dessen Lebzeiten nur als anonymes Manuskript kursierte und später von Lessing, der sich den Anschein gab, als hätte er es in der Wolfenbüttler Bibliothek gefunden, in Bruchstücken herausgegeben wurde. Der Name des Autors wurde erst 1814 bekannt. Von der These ausgehend, daß »eine einzige Unwahrheit, die wider die klare Erfahrung, wider die Geschichte, wider die gesunde Vernunft, wider die unleugbaren Grundsätze, wider die Regeln guter Sitten verstößt, genug ist, um ein Buch als eine göttliche Offenbarung zu verwerfen«, gelangt Reimarus mit einem Gedankensprung, dessen Kühnheit an Schwachsinn grenzt, zu der Behauptung, daß die Apostel die Auferstehungsgeschichte zu ihrem Vorteil erlogen hätten: sie hatten durch das ewige Umherziehen mit dem Messias das Arbeiten verlernt und zugleich gesehen, daß das Predigen des Gottesreiches seinen Mann wohl nähre, denn die Weiber hatten es sich angelegen sein lassen, »den Messias und seine zukünftigen Minister« gut zu beköstigen. Infolgedessen stahlen sie den Leichnam Jesu, verbargen ihn und verkündigten aller Welt, der Heiland sei auferstanden und werde demnächst wiederkommen. Jesus hatte in Übereinstimmung mit den jüdischen Volksvorstellungen das Gottesreich als ein irdisches mächtiges Reich und sich als dessen zukünftigen König betrachtet; in dieser Hoffnung aber wurden er und seine Jünger schmählich getäuscht. Daher mußten diese ein neues »System« ersinnen, wonach Christus habe leiden und sterben müssen zur Erlösung der Menschheit, dann aber gen Himmel gefahren sei, um bald wieder das Reich aufzurichten.
Daß eine Hypothese, die aus den Aposteln eine gefräßige Betrügerbande macht, damals solches Aufsehen erregte, hat seine Ursache in dem völligen Mangel an historischem und psychologischem Verständnis, der zu den markanten Eigentümlichkeiten des ganzen Aufklärungszeitalters gehörte. Fast noch mehr Unverstand äußert sich aber in der zweiten Annahme, Jesus habe ganz einfach das von den Juden erhoffte messianische Weltreich errichten wollen. Dieser Unsinn ist allerdings selten in so krasser Form vorgebracht worden wie von Reimarus; durch die Verkoppelung der Evangelien mit dem Alten Testament, auf deren Widersinnigkeit wir schon mehrfach hingewiesen haben, wurden und werden aber derlei Mißdeutungen immer wieder nahegelegt. Wer jedoch die Bibel vorurteilslos liest, muß zu dem klaren Resultat gelangen, daß Jesus nicht etwa die Idee der jüdischen Messianität bloß umgedacht hat, indem er sie erweiterte, vergeistigte, mit einem tieferen Gehalt erfüllte und auf eine höhere Stufe hob (wie auch heute noch viele Theologen und Laien annehmen), sondern daß er sie vollkommen widerlegt und aufgehoben hat, kurz: daß er nicht der Messias war. Und in der Tat hat er sich selber auch kein einziges Mal so bezeichnet: die wenigen Evangelienstellen, die hier herangezogen zu werden pflegen, sind höchst zweideutig und beweisen bestenfalls, daß er von anderen so genannt wurde. Wir können hier auf die Details nicht eingehen; Moriz de Jonge, ein wenig bekannter Gelehrter von höchst bizarren, bisweilen hart ans Pathologische grenzenden Anschauungen, aber außerordentlichen Kenntnissen, hat diese Seite der Frage einer genauen textkritischen Untersuchung unterzogen und ist zu sehr überraschenden Resultaten gelangt, und eine Autorität vom Range Wellhausens sagt: »Jesus trat nicht als Messias auf, als Erfüller der Weissagung, ... ist... nicht der Messias gewesen und hat es auch nicht sein wollen.« Für den Laien aber genügen zwei sehr einfache Erwägungen. Erstens: wenn Jesus der Messias war, warum hat er nichts von dem getan, was man vom Messias erwartete? Und zweitens: wenn Jesus der Messias war, warum haben die Juden ihn nicht anerkannt, warum erkennen sie ihn bis zum heutigen Tage nicht an? Daß die Welt nicht mit dem Schwert erobert werden kann, erobert werden darf, sondern nur mit dem Geist, das war ein schlechthin neuer Gedanke, der vorher in keines Juden und in keines Heiden Kopf gekommen war. Kurz, wenn der Messias der Christos sein soll, der Gesalbte, der König (und dies ist zweifellos die korrekte jüdische Auffassung), dann war Jesus nicht mehr und nicht weniger als der leibhaftige Antichrist.
Lessing selbst teilte die Ansichten des »Wolfenbüttler Fragmentisten« nicht. Vielmehr hoffte er durch die Veröffentlichung der Darlegungen »dieses echten Bestreiters der Religion« einen echten Verteidiger zu erwecken. Aber dieser kam nicht: es gab damals nur noch kurzsichtige Buchstabenreligiosität und schwachsichtige Freireligiosität. Gegen diese hatte Lessing fast noch mehr Abscheu als gegen jene: »Mit der Orthodoxie«, sagte er 1774, »war man, Gott sei Dank, ziemlich zu Rande; man hatte zwischen ihr und der Philosophie eine Scheidewand gezogen, hinter welcher eine jede ihren Weg fortgehen konnte, ohne die andere zu hindern; aber was tut man nun? Man reißt die Scheidewand nieder und macht uns, unter dem Vorwande, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen... Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen ist das Religionssystem, welches man jetzt an die Stelle des alten setzen will, und mit weit mehr Einfluß auf Vernunft und Philosophie, als sich das alte anmaßt.« Daß die Aufklärung nur sehr wenig aufgeklärt hatte, erkannte auch Hamann, der sie ein bloßes Nordlicht und kaltes, unfruchtbares Mondlicht nannte; und Schleiermacher faßte, auf sie zurückblickend, ihre ganze Position in die schneidenden Worte zusammen: »Die Philosophie besteht darin, daß es gar keine Philosophie geben soll, sondern nur eine Aufklärung.«
Lessing bedeutet ebensowohl die höchste Zusammenfassung wie die siegreiche Auflösung der deutschen Aufklärungsideen. Die Blüte seiner Wirksamkeit umfaßte nur ein halbes Menschenalter: 1766 erschien der Laokoon, 1767 Minna von Barnhelm und die Hamburgische Dramaturgie, 1772 Emilia Galotti, 1779 Nathan der Weise, 1780 die Erziehung des Menschengeschlechts. Als er starb, war eine Epoche zu Ende: in seinem Todesjahr traten die »Räuber« und die »Kritik der reinen Vernunft« an die Öffentlichkeit. Er gehörte zu jenen in Deutschland relativ seltenen Geistern, die, ohne schlechthin Vollendetes zu schaffen und ohne jemals das Letzte zu sagen, dennoch nach allen Windrichtungen fruchtbare Samen ausstreuen und alles, was sie ergreifen, lebendig und dauernd aktuell zu gestalten wissen. Sein »Laokoon«, der die Grenzen zwischen Poesie und Malerei mit einer bis dahin ungeahnten Schärfe und Klarheit fixierte, hat nicht bloß die Ästhetiker belehrt, was ein sehr untergeordneter Erfolg gewesen wäre, sondern den Künstlern die Augen geöffnet; und es ist an diesem Werk besonders bemerkenswert, daß es zu einer Zeit, die bereits im Schatten Winckelmanns und des anbrechenden Klassizismus stand, nicht nur die Panoptikumauffassung vom griechischen Stoizismus verwarf, sondern auch die Nachahmung der Griechen dahin definierte, wir sollten es ebenso machen wie sie, indem wir darstellen, was wir sind und erleben. Dem Hamburger Nationaltheater, jener mit großen Aspirationen begonnenen »Entreprise«, die alsbald an dem stumpfen Konservativismus des Publikums, dem eiteln Koteriewesen der Schauspieler und dem bevormundungssüchtigen Kleinmut der »Mäzene« scheiterte, verdankt die deutsche Literatur die »Minna« und die »Dramaturgie«. In seiner Bühnentechnik, die insbesondere in der »Emilia« eine kaum zu überbietende Höhe erreicht, offenbart sich Lessing als Meister der verdeckten Exposition und aufs exakteste verzahnten Szenenführung, virtuoser Analytiker, sparsamer und eben darum höchst wirksamer Vorbereiter und Verteiler der dramatischen Explosionen und durch all dies als eine Art Vorläufer Ibsens. Er gehört wie dieser zu den wenigen germanischen Dramatikern, die sich die souveräne Artistik der Franzosen vollkommen zu eigen zu machen wußten und sie zugleich auf eine höhere Stufe hoben, indem sie die Lebensfülle und individualisierende Menschengestaltung als Mitgift ihrer Rasse hinzubrachten; aber es fehlt ihm das Geheimnis, der Kulissenschauer, der Ibsens Seelenmalerei so suggestiv macht. Er ist überhaupt kein Maler, vielmehr haben seine Dichtungen mehr den Charakter feiner und überaus scharfer Stiche, er lenkt und gliedert immer ein wenig zu deutlich, und Schiller nannte ihn daher nicht mit Unrecht den »Aufseher seiner Helden«. Er selbst hat diesen Mangel mit der großartigen Klarheit, die sein ganzes Leben und Wirken durchwaltete, vollkommen durchschaut: »Ich bin«, sagt er in der »Dramaturgie«, »weder Schauspieler noch Dichter. Man erweiset mir zwar manchmal die Ehre, mich für den letzteren zu erkennen. Aber nur, weil man mich verkennt... Ich fühle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft sich emporarbeitet, durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschießt: ich muß alles durch Druckwerk und Röhren aus mir herauspressen. Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich nicht einigermaßen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu borgen, an fremdem Feuer mich zu wärmen und durch die Gläser der Kunst mein Auge zu stärken. Ich bin daher immer beschämt und verdrießlich geworden, wenn ich zum Nachteil der Kritik etwas las oder hörte. Sie soll das Genie ersticken: und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe kömmt.« Die blutgefüllte Dialektik, galvanische Spannung und pointierte Tragik des Faustfragments zeigt seine dramatische Potenz in ihrer Kraft und Begrenzung vielleicht am deutlichsten. Der Plan war, daß Faust seine Verführung im Traum erleben und dann geläutert und gerettet werden solle: diese prachtvolle Konzeption hat er leider nie ausgeführt. Sie war auch mit den rein rationalistischen Mitteln, die ihm zu Gebote standen, kaum zu lösen, denn dieser helle Verstandesmensch, der im höchsten Maße das besaß, was Nietzsche »intellektuelle Rechtschaffenheit« nennt, war sowohl zu bewußt wie zu ehrlich, um zu träumen. Dies ist ganz buchstäblich zu nehmen: »er hat mich oft versichert«, schreibt Leisewitz an Lichtenberg, »daß er nie geträumt hätte.« Sein Leben vollzog sich stets nur auf der beleuchteten Hemisphäre unserer Seelenwelt.
Lessings letztes und reifstes Werk ist die »Erziehung des Menschengeschlechts«. Er betrachtet darin die Geschichte der Religion als fortschreitende göttliche Offenbarung: die erste Stufe repräsentiert das Judentum, das Kindheitsalter, in dem die Erziehung durch unmittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen stattfindet; die zweite Stufe, das Knabenalter der Menschheit, bildet das Christentum, das »nicht mehr durch Hoffnung und Furcht zeitlicher Belohnung und Strafe, sondern durch edlere und würdigere Beweggründe« das »in der Ausübung der Vernunft weitergekommene Geschlecht« leitet. »Und so ward Christus der erste zuverlässige, praktische Lehrer der Unsterblichkeit.« Noch aber steht ein drittes Zeitalter bevor, »das Mannesalter der völligen Aufklärung und derjenigen Reinigkeit des Herzens, welche die Tugend um ihrer selbst willen liebt«. Die Bibel ist nicht die Grundlage der Religion, sondern die Religion die Grundlage der Bibel, und das Christentum ist älter als das Neue Testament. Indem Lessing in die Geschichtsbetrachtung den Begriff der Entwicklung einführt und jede der großen Religionen auf ihrer historischen Stufe als berechtigt anerkennt, indem er das platte »vernünftige Christentum« verwirft und von ihm aussagt, es sei nur schade, daß man so eigentlich nicht wisse, wo ihm die Vernunft noch wo ihm das Christentum sitze, und indem er auch die eigene Gegenwart, die der selbstgefälligen Zeitphilosophie als Ziel und Gipfel des weltgeschichtlichen Geschehens erschien, nur als eine der vielen Stationen im göttlichen Erziehungsplane ansieht, überwindet er die Aufklärung.
Neben Lessing sollte man immer auch Lichtenberg nennen, der einer der heimlichen Klassiker der deutschen Literatur gewesen ist und zum Austausch gegen Wieland zu empfehlen wäre, der niemals etwas anderes war als ein geschickter Literat. Von Kant hat Goethe gesagt, wenn er ihn lese, so sei ihm zumute, als träte er in ein helles Zimmer. Auf wenige deutsche Schriftsteller könnte dieses Bild mit ebensolcher Berechtigung angewendet werden wie auf Lichtenberg; nur besitzt dieses Zimmer noch allerlei halbdunkle Winkel, Erker und Gänge, die in die absonderlichsten Polterkammern führen.
Es ist von bedeutenden Köpfen immer von vornherein anzunehmen, daß sie eine Art Brennpunkt ihres Zeitalters bilden. Und da alle Strahlen sich in ihnen sammeln, so liegt es nahe, nun die einzelnen Lichtlinien vom Kreuzungspunkt wieder zurückzuverfolgen und so die Zeit aus ihren Menschen und die Menschen aus ihrer Zeit zu erklären. Dieser Versuch mißlingt bei Lichtenberg. Seine Epoche war eine der reichsten und geistig aktivsten, die Deutschland jemals erlebt hat; dennoch war er keineswegs ihr leuchtender Fokus. Welche Stellung hatte aber nun dieser bewegliche, regsame, überall geschäftig anteilnehmende Geist in diesem atemlosen Treiben? Er war ganz einfach das ideale Publikum dieser ganzen Bewegung. Er verhielt sich zu seiner Zeit nicht wie ein Brennglas, sondern bloß wie ein Vergrößerungsspiegel, der ihre Züge mit größter Schärfe und Unerbittlichkeit registrierte.
Fast nirgends finden wir seinen Namen von den Zeitgenossen mit jenem Nachdruck genannt, den er verdient hätte. Im Bewußtsein seiner Mitmenschen lebte er nicht als der, der er war. Er war weder geneigt noch berufen, die Räder der Literaturgeschichte zu bewegen. Er mochte darin ähnlich denken wie der ältere Goethe, der auch lieber über Pflanzen, Steinen und alten Memoiren saß als sich in die literarische Propaganda mischte, bis der temperamentvolle Realismus Schillers ihn wieder in die Aktualität hineinriß. Sein äußeres Leben verfloß zwischen physikalischen und belletristischen Gelegenheitsarbeiten, zwischen Wettermachen und Kalendermachen, ein paar kleinen Mädchen und ein paar guten Freunden. Zwischen diesen Alltagsdingen wuchs sein Lebenswerk. Aber er wußte es nicht.
Es sind seine Tagebücher. »Die Kaufleute«, sagt er, »haben ihr Waste book (Sudelbuch, glaube ich, im Deutschen); darin tragen sie von Tag zu Tag alles ein, was sie kaufen und verkaufen, alles untereinander, ohne Ordnung.... Dies verdient nachgeahmt zu werden. Erst ein Buch, worin ich alles einschreibe, so wie ich es sehe, oder wie es mir meine Gedanken eingeben.« Diese losen Aufzeichnungen, denen er selbst also nur die Bedeutung einer »Kladde« zum eigenen Gebrauch zuerkennen wollte, enthalten die Summe seines Geistes, eines Geistes, der an Strenge und Luzidität, an konzentrierter Denkenergie und empfindlicher Differenziertheit nur wenige seinesgleichen hat. Es liegt in der Natur solcher Arbeiten, daß sie schwer zu Ende kommen; sie tragen den Charakter unendlicher Ausdehnungsfähigkeit schon in sich. Unter vielen anderen Denkern hat auch Emerson sich solcher tagebuchartiger Brouillons bedient, aber er fand die Kraft, sie dann zu kürzeren und längeren Essays zusammenzuschweißen. Indes merkt man die Legierung doch an vielen Stellen, weshalb seine Schriften bisweilen den irrtümlichen Eindruck der Gedankenflucht hervorrufen. Lichtenberg hingegen konnte sich nicht entschließen, seine Gedankenbruchstücke zu amalgamieren, er war für ein solches Geschäft zu kritisch veranlagt. Sein »Waste book« erschien erst nach seinem Tode.
Die Bücherschicksale sind eben nicht weniger unlogisch und irrational als die Menschenschicksale; wenigstens scheint es uns so. Sie folgen einem dunkeln eingeborenen Gesetz, das niemand kennt. Wie Bücher entstehen, weiß kein Mensch, und ihre Schöpfer am allerwenigsten. Sie führen ein seltsames widerspruchsvolles Leben durch die Jahrhunderte, worauf Gunst und Ungunst ohne Gerechtigkeit verteilt zu sein scheinen. Wir sehen Schriftsteller, die sich jahrelang mit einem Problem oder einem Gedicht abmühen, ohne daß die Welt sie beachtet, sie verzweifeln und halten ihr Lebenswerk für nichtig: da erscheint plötzlich in irgendeinem Winkel ihres Geistes ein Gedanke, dem sie nie besonderen Wert beigelegt hatten, und dieser eine kleine Gedanke wird leuchtend und geht durch die Jahrhunderte.
Solche posthume Unsterblichkeiten, die erst nach dem Tode ihres Schöpfers das Licht der Weit erblicken, sind nicht die schlechtesten. Lichtenberg sah in seiner Unfähigkeit, zu Ende zu kommen, einen Fehler: »Der Procrastinateur: der Aufschieber, ein Thema zu einem Lustspiel, das wäre etwas für mich zu bearbeiten. Aufschieben war mein größter Fehler von jeher.« Die Nachwelt wird jedoch eher geneigt sein, das, was ihm als Mangel an Energie erschien, als ein Zeichen höchster geistiger Potenz anzusehen. Gerade die ungeheure Fülle und Lebendigkeit, mit der ihm immer neue Impressionen und Beobachtungen zuflossen, verhinderte ihn am Abschluß. Er mochte ahnen, daß für einen Geist von so grenzenloser Aufnahmefähigkeit, wie er es war, eine willkürliche Abgrenzung des Stoffes eine Art Verrat an sich selbst gewesen wäre. Hier stand ein unendlicher Geist der unendlichen Natur gegenüber und begnügte sich damit, sie in ihrem Reichtum in sich einströmen zu lassen. Es ist kein Zufall, daß so viele Schriftsteller ihr Bestes zuletzt oder auch oft gar nicht erscheinen lassen: sie haben es zu lieb dazu, glauben immer, sie müßten es noch besser können, wollen es vollkommen sehen. »Könnte ich das alles«, sagt Lichtenberg, »was ich zusammengedacht habe, so sagen, wie es in mir ist, nicht getrennt, so würde es gewiß den Beifall der Welt erhalten. Wenn ich doch Kanäle in meinem Kopfe ziehen könnte, um den inländischen Handel zwischen meinem Gedankenvorrate zu befördern!« Aber das konnte er nicht, er konnte alles nur so sagen, »wie es in ihm war«, und vermochte eben darum nicht, Getrenntes ungetrennt zu empfinden und künstliche Kanäle zwischen Gedanken herzustellen, die nicht von Natur aus verbunden waren; er konnte die Dinge nur so denken, wie sie in seinem Kopfe lagen. Jene Arbeit des Zurechtmachens und Verschleifens, die jeder Systembildung zugrunde liegt, verstand er nicht.
»Über nichts«, sagt Lichtenberg, »wünschte ich mehr die geheimen Stimmen der denkenden Köpfe gesammelt zu lesen als über die Materie von der Seele; die lauten, öffentlichen verlange ich nicht, die kenne ich schon. Allein, die gehören nicht sowohl in eine Psychologie als in eine Statutensammlung.« Der Mensch in seiner Besonderheit, in dem, worin er anders ist, in seinen tausend Heimlichkeiten und Abstrusitäten, Zacken und Zinken wird in Lichtenbergs Aufzeichnungen lebendig. Sie sind das glänzendste psychologische Aktenmaterial, das sich denken läßt. Die Seelenprüfung wird hier zum erstenmal wissenschaftlich betrieben, als ein Zweig der empirischen Menschenkunde, freilich nicht in Form physikalischer Messungen und logarithmischer Reihen, die nie in die Tiefe führen, sondern wissenschaftlich durch den Geist der Objektivität und Exaktheit. Lichtenberg ist der Meister der kleinen Beobachtungen und seine Spezialität die psychologische Integralrechnung, er ist gleichsam ein praktischer Leibnizianer, der die perceptions petites, deren Existenz Leibniz theoretisch entdeckt hatte, nun auch tatsächlich überall in der Wirklichkeit aufzuspüren und zu beschreiben weiß. Er tat sich hierin niemals genug. »Es schmerzt mich unendlich, tausend kleine Gefühle und Gedanken, die wahren Stützen menschlicher Philosophie, nicht mit Worten ausgedrückt zu haben ... Ein gelernter Kopf schreibt nur zu oft, was alle schreiben können, und läßt das zurück, was nur er schreiben könnte und wodurch er verewigt werden würde.«
Lichtenbergs rastloser unbeugsamer Wahrheits- und Selbsterkennungsfanatismus findet seine äußere Form in der vollendeten Natürlichkeit und Reinheit seines Stils, in der ihm nur Lessing und Schopenhauer ebenbürtig sind. Seine Sprache funktioniert mit der Feinheit und Sicherheit einer Präzisionsmaschine; jeder, auch der scheinbar flüchtigste Satz überrascht durch seine klassische Ökonomie, Durchsichtigkeit und Prägnanz. Sein Denken ist von einer, man möchte fast sagen, zerleuchtenden Helle, dabei von jener Art Nüchternheit, die das ausschließliche Privileg genialer Köpfe bildet.
Menschen von einer so außergewöhnlichen Natürlichkeit haben immer etwas Zeitloses. Und daher kommt es, daß die historischen Züge seiner Zeit nicht recht auf Lichtenberg passen wollen. Er gehörte nur insofern zu ihr, als er ihr vollkommenstes Gegenspiel war. Er war die andere Hälfte, das Supplement seiner Zeit, und die Zeitgenossen dieser Gattung sind, sooft sie in der Geschichte auftreten, immer die denkwürdigsten und eigenartigsten. Lichtenberg war der scharfe Schlagschatten, den das Licht der Aufklärung warf, und es ist eine der zahlreichen Paradoxien der Kulturgeschichte, daß dieser Schatten länger und kräftiger sichtbar geblieben ist als jenes Licht.
Er war einer jener Geister, die zu klar und zu souverän sind, um allzu tätig zu sein. Es gibt einen Standpunkt der völligen Besonnenheit, auf dem es nicht mehr möglich ist, zu handeln. Eine Sache gänzlich durchschauen, bis zur absoluten Durchsichtigkeit, heißt mit ihr fertig sein. Die Blindheit und Beschränktheit des menschlichen Geistes ist vielleicht gar kein so großes Übel, wie die Pessimisten behaupten. Vielleicht ist sie eine Schutzeinrichtung der Natur, um uns lebensfähig zu erhalten. Denn die Unsicherheit ist einer der stärksten Antriebe zum Leben. Besitzt aber ein Kopf einmal jenen ungewöhnlichen Grad von Helligkeit, so wird die natürliche Folge sein, daß er jeden heftigeren Aktionsbetrieb einbüßt; auch im Geistigen. Alles um ihn herum: Menschen, Ereignisse, Erkenntnisse, Zeitläufte, wird ihm völlig transparent, so daß er sich in der ruhenden Betrachtung genügen darf. Er hat erkannt und bedarf nichts darüber. »Was wir wissen«, sagt Maeterlinck, »geht uns nichts mehr an.«
Darum hat Lichtenberg gegen die Gebrechen seiner Zeit nie leidenschaftlich Partei ergriffen, er blieb immer in der Reservestellung eines kühlen Mentors. Dies unterschied ihn von Lessing, mit dem er im übrigen die größte Verwandtschaft besaß. Wenn ihn etwas ärgerte, wurde er schlimmstenfalls sarkastisch. Aber selbst durch seine schneidendsten Satiren geht ein geheimer Zug von Gutmütigkeit und Indulgenz, wie umgekehrt auch seine ernsthaftesten Äußerungen immer eine feine, oft kaum merkliche Linie von Spott und Ironie bemerken lassen. Es ist jener Spott, der den wahren Denker nie verläßt, jene tiefe Überzeugung, daß nichts wert sei, wirklich ernst genommen zu werden, die selbst einem so tragisch ringenden Geist wie Pascal die Bemerkung entlockte: » le vrai philosophe se moque de la philosophie.«
Der echte Philosoph ist dem Künstler viel verwandter, als gemeinhin angenommen wird. Das Leben gilt ihm ebenso wie diesem als Spiel und er sucht die Spielregeln zu ergründen; nicht mehr. Auch er erfindet und gestaltet, aber während der Künstler möglichst viele und vielfältige Individuen abzubilden sucht, zeichnet der Denker immer nur einen einzigen Menschen: sich selbst, den aber in seiner ganzen Vielartigkeit. Jede tiefempfundene Philosophie ist nichts anderes als ein autobiographischer Roman.
Was Lichtenberg nicht dazukommen ließ, sich aus diesem Gebiete in die völlig freie Welt der Dichtung, zumal des satirischen Lustspiels, zu begeben, war nicht ein Defekt, sondern ein Überschuß. Am völlig freien Gestalten verhinderte ihn seine stets wache Kritik. Hierin berührte er sich wiederum mit Lessing. Auch dieser hätte niemals ein Drama geschrieben, wenn es zu jener Zeit ein anderer besser gekonnt hätte. Aber da es ihm darum zu tun war, auch praktisch zu zeigen, wie er es meinte, war er genötigt, eine Reihe von Paradigmen zu schaffen, die genau so viel und genau so wenig wert waren wie alle Musterleistungen, nämlich: didaktisch sehr viel und künstlerisch sehr wenig. Er war der geniale Regisseur der deutschen Poesie und wollte niemals ihr genialer Schauspieler sein. Aber auch im Theater bleibt bisweilen dem Regisseur nichts anderes übrig als auf die Bühne zu springen und die Sache einmal selber vorzuspielen, nicht weil er sich für einen großen Menschendarsteller hält, sondern weil er sieht, daß alle theoretischen Erläuterungen kein lebendiges Bild von der Sache geben und daß er es immer noch am besten machen kann, weil er der Gescheiteste ist. Dies war der Vorzug und Mangel aller Lessingschen Theaterstücke. Lessing war zum Stückeschreiben zu gescheit.
Richtete sich Lessings literarische Aktion mehr nach außen, so ging Lichtenbergs Polemik mehr nach innen. Beide haben gekämpft, der eine draußen im Getümmel mit der Welt und ihren Meinungen, der andere in der Stille und Einkehr mit sich selbst und seinen eigenen Gedanken. Darum sollte man beide immer zusammen nennen. Sie bilden vereinigt die wahre geistige Signatur der deutschen »Aufklärung«, die in diesen beiden Männern eine wirkliche Aufklärung gewesen ist.
Aber man kann nicht sagen, daß Lessings Name den Ruhm Lichtenbergs verdunkelt hat, denn das deutsche Publikum weiß ja auch von Lessing nichts.
Lessing und Lichtenberg durchbrachen die Schranken der Aufklärung auch darin, daß sie gleich Friedrich dem Großen souverän über den Konfessionen standen und alle gleichzeitig verwarfen und tolerierten, während Nicolai und die übrigen Aufklärer sich als ebenso doktrinär und verfolgungssüchtig erwiesen, als es bisher die Orthodoxie gewesen war. Besonders die »Jesuitenriecherei«, die diesen Orden für alle Finsternis, Gewalt und Hinterlist auf Erden verantwortlich machte, führte in fast allen Ländern Europas zu den rücksichtslosesten Zwangsmaßregeln. Das Signal gab Pombal, der Regenerator Portugals, dessen großangelegtes Regierungsprogramm als einen der Hauptpunkte die Vernichtung der Jesuiten enthielt. Ein Attentat auf den König gab den Vorwand: alle Jesuitengüter wurden für den Staat beschlagnahmt, alle Angehörigen des Ordens für Rebellen und Ausländer erklärt und auf ewige Zeiten verbannt. Auch sonst war Pombal energisch bemüht, das Land möglichst rasch auf das Niveau der mitteleuropäischen Staaten zu heben, indem er die Inquisitionsgerichte abschaffte, Gewerbeschulen etablierte, in denen alle herumlungernden Knaben so lange festgehalten wurden, bis sie ein Handwerk erlernt hatten, durch Entlassung zahlreicher müßiger Hofkreaturen die Finanzen regulierte, so daß stets Geld in der Staatskasse war, eine Börse, ein großes Kaufhaus, ein Arsenal, eine Akademie der Wissenschaften errichtete, die Straßenreinigung und den Buchhandel förderte, und dies alles gegen den Willen der Aristokratie, des Volks und sogar des Königs, der nur durch die Angst vor Konspirationen und Mordanschlägen gefügig erhalten wurde: nach dessen Tode stürzte denn auch alles wieder zusammen.
Fünf Jahre nach der Vertreibung aus Portugal verfielen die Jesuiten in Frankreich demselben Schicksal. Der König wollte den Orden retten, indem er dem Papst vorschlug, ihn zu reformieren; aber dieser sprach sein berühmtes: »Sint, ut sunt, aut non sint.« Bald folgten auch die übrigen bourbonischen Staaten: Spanien, wo man einen Aufstand in Madrid zum Vorwand nahm, Neapel und Parma. Schließlich blieb Papst Clemens dem Vierzehnten nichts übrig, als den Orden aufzuheben. Im darauffolgenden Jahre starb er, und man beeilte sich, auch dies den Jesuiten in die Schuhe zu schieben. Offiziell geduldet waren sie schließlich nur noch unter der griechischen Katharina und dem protestantischen Friedrich, der sich auch hier die Gelegenheit zu einem Witz nicht entgehen ließ, indem er nach Rom schrieb, über den König von Preußen habe das päpstliche Breve keine Gewalt.
Unter diesen Umständen waren die Jesuiten darauf angewiesen, unter allerlei Deckformen und Falschmeldungen ihr Dasein weiterzufristen und ihre Macht zu einer völlig unterirdischen zu machen. Vor allem versuchten sie sich in allerlei andere Gesellschaften einzuschleichen, zum Teil in solche von völlig entgegengesetzter Tendenz. Man traf sie nicht selten unter den Freimaurern, und Illuminaten, und ihre Fähigkeit, alles sein, sich in alles verwandeln zu können, von der wir im ersten Buch gesprochen haben, zeigte sich noch einmal aufs glänzendste: jetzt wurden sie sogar Freigeister und »Freunde des Lichts«.
Der Gründer des Illuminatenordens, der Ingolstädter Professor Adam Weishaupt, war selber ein Zögling der Jesuiten gewesen, später aber zu ihrem erbittertsten Verfolger geworden. Die zwei Grundprinzipien der neuen Vereinigung, die sich binnen kurzem über ganz Europa ausbreitete: straffe Organisation und strenges Geheimnis waren den Jesuiten abgelernt, wie überhaupt der ganze Bund als eine Art Gegenstück und Widerpart des Jesuitentums gedacht war. Sehr bald aber begannen Rechthaberei, Eitelkeit, mystischer Formelkram und Wichtigtuerei in ihn einzudringen und er wurde eines der Hauptbetätigungsfelder des politischen Strebertums, das sich in Ermangelung des Parlamentarismus damals noch in solche Formen flüchten mußte. 1784 wurde er infolge jesuitischer Umtriebe in Bayern verboten, die Vertriebenen fanden aber in anderen Ländern bereitwillige Aufnahme. Welche große Bedeutung man ihm beimaß, zeigt ein merkwürdiges Buch Karl Friedrich Bahrdts, eines Abenteurers und zweifelhaften Literaten, der aber eine Zeitlang ein ziemlich ausgebreitetes Renommee besaß: »Briefe über die Bibel im Volkston«, erschienen 1782: es schildert das Auftreten des Heilands als eine raffiniert inszenierte Komödie der Essener, einer geheimen Gesellschaft, die schon damals überall ihre »Logen« gehabt haben soll und in den Tendenzen und Praktiken, die ihr von Bahrdt zugeschrieben werden, sehr deutlich an die Illuminaten erinnert.
Während vom Illuminatenorden, der binnen weniger Jahrzehnte an geistiger Auszehrung starb, heute kein Mensch mehr spricht, hat eines seiner rührigsten Mitglieder sich bis zur Gegenwart einen wohlbekannten Namen bewahrt: es ist der Freiherr Adolf von Knigge, der 1788 sein Werk »Über den Umgang mit Menschen« erscheinen ließ. Knigge war als ziemlich skrupelloser Vielschreiber einer der frühesten Repräsentanten jener Buchindustrie, die sich lediglich nach Verlegeraufträgen und Publikumswünschen orientiert, und teilte das Los aller Autoren, die bloß schreiben, um zu gefallen, daß er nach einem halben Menschenalter bereits tödlich langweilig war, weil es eben nichts Uninteressanteres und Geistloseres gibt als einen Menschen, der denkt und gestaltet, was ein anderer haben will. Eine Ausnahme machte nur sein »Umgang mit Menschen«, von dem er selbst in der Vorrede sagt, er habe ihn nicht so flüchtig hingeschrieben wie wohl andere seiner Arbeiten. »Ich will«, fügt er hinzu, »nicht ein Komplimentierbuch schreiben, sondern einige Resultate aus den Erfahrungen ziehen, die ich gesammelt habe, während einer nicht kurzen Reihe von Jahren.« In der Tat ist das Werk nicht das, wofür es allgemein gilt: ein Kodex des guten Tons, sondern ein Beitrag zur praktischen Lebensphilosophie. Es handelt, hausbacken und doch nicht ohne ein gewisses Raffinement, schlechterdings über den Umgang mit allem und allen: mit den verschiedenen Temperamenten und Altersklassen, Ständen und Berufen, mit Eltern und Kindern, Verliebten und Verheirateten, Freunden und Frauenzimmern, Gläubigern und Schuldnern, Lehrern und Schülern, Fürsten und Hofleuten, Gelehrten und Künstlern, Gästen und Gastgebern, Feinden und Geschäftsleuten, Dienerschaft und Nachbarschaft, ja sogar vom Umgang mit sich selbst und mit Tieren. Angenehm und flüssig, breit und banal, mit verstecktem Humor und gründlicher Kenntnis der menschlichen Oberflächen geschrieben, enthält es eine große Anzahl brauchbarer Lehren, die oft selbstverständlich, aber immer gescheit, im moralischen Teil allerdings bisweilen rhetorisch und hypokritisch sind, denn es ist ganz unverkennbar, daß der Verfasser, wo er unbedingte Aufrichtigkeit, Streben nach Vollkommenheit, Verachtung des Scheins und dergleichen predigt, nur dem modischen Aufklärungsnebel Rechnung trägt, während er selber zweifellos sehr wohl weiß, daß solche Eigenschaften im Gesellschaftsleben gar nichts zu suchen haben, wo sie nicht als hohe ethische Qualitäten, sondern als Belästigungen wirken. Die meisten seiner Maximen können auch heute noch Gültigkeit beanspruchen, zum Beispiel: Verbirg deinen Kummer; rühme nicht zu laut dein Glück; enthülle nicht die Schwächen deiner Nebenmenschen; gib andern Gelegenheit zu glänzen; interessiere dich für andere, wenn du willst, daß andere sich für dich interessieren; laß jeden seine Handlungen selbst verantworten, wenn du nicht sein Vormund bist; suche nie jemand lächerlich zu machen; denke daran, daß alle Menschen amüsiert sein wollen. Es fehlt sogar nicht an Feinheiten, zum Beispiel, wenn davor gewarnt wird, jemandem zu versichern, daß man ihn für gutmütig oder gesund halte, denn beides werde von vielen als Beleidigung empfunden, oder nichtssagende Redensarten zu gebrauchen, wie: daß die Gesundheit ein schätzbares Gut, das Schlittenfahren ein kaltes Vergnügen und jeder sich selbst der Nächste sei, die Zeit schnell dahingehe und eine Ausnahme die Regel bestätige; oder wenn empfohlen wird, alle fremden Überzeugungen zu respektieren, denn man dürfe nicht vergessen, daß das, war wir Aufklärung nennen, anderen vielleicht als Verfinsterung erscheine. Und so wird man wohl sagen dürfen, daß dieses berühmteste Buch der deutschen Aufklärung vollauf verdient, noch heute von jedermann zitiert zu werden, und durchaus nicht verdient, von nahezu niemandem mehr gelesen zu werden.
Neben den Illuminaten und Freimaurern gab es aber noch eine Reihe anderer geheimer Verbindungen, die einen weniger harmlosen Charakter trugen, wie zum Beispiel die »Rosenkreuzer«, deren wirkliche oder angebliche Mitglieder sehr einträgliche Schwindeleien betrieben. Das Zeitalter war nämlich in den breiten Schichten lange nicht so aufgeklärt, als es nach der philosophischen Publizistik den Anschein haben könnte. Die wunderbaren Erscheinungen des Magnetismus und der Elektrizität beförderten bei den Halbgebildeten keineswegs eine »naturwissenschaftliche Weltanschauung«, sondern weit mehr den Glauben, daß es in der Hand des glücklichen Experimentators hege, das Unmöglichste möglich zu machen. Alle Welt glaubte an die magnetischen Kuren, die vorgeblich Prophetengabe verliehen, den sogenannten Mesmerismus, mit dem Mesmer in Paris, Wien und anderwärts sehr gute Geschäfte machte. Großen Zulauf hatten auch die Wunderkuren und Teufelsaustreibungen Gassners und die Geisterbeschwörungen des Kaffeewirts Schrepfer, der durch Selbstmord endete. Die beiden prominentesten Vertreter dieses Gewerbes sind jedermann bekannt: Casanova, der als internationaler Hochstapler mindestens ebenso berühmt war wie als Frauenverführer und, als Kabbalist, Astrolog und Nekromant umherziehend, Verjüngungskuren, Goldmacherei und Wahrsagerei betrieb, und Cagliostro, der alle erdenklichen Arten von Zauberkünsten und Spiegelfechtereien zu seinem Lebensunterhalt machte: als sein Diener einmal gefragt wurde, ob der Graf wirklich dreihundert Jahre alt sei, antwortete er, er könne keine Auskunft geben, denn er sei erst hundert Jahre in seinen Diensten. Die Technik, deren sich diese Virtuosen der Gaunerei bedienten, hat in Schillers »Geisterseher« eine überaus packende und sachkundige Darstellung gefunden; »ihr einziges Kapital«, sagt Chledowski, »war ihr Glaube an die menschliche Dummheit, und dieses Kapitel trug hohe Zinsen«.
Aber diese Zeit, in der nüchternster Rationalismus und krassester Aberglaube, dreisteste Charlatanerie und echtes Prophetentum nebeneinanderliefen, hat auch den Gegenspieler Cagliostros hervorgebracht: den Seher Swedenborg, dessen Gestalt, von Mitwelt und Nachwelt gleich unverstanden und unerkannt, als ein erlauchtes Rätsel durch die Geschichte schreitet. Während der weitaus größeren Hälfte seines Lebens war sein Antlitz der profanen Wirklichkeit zugekehrt: seine ursprünglichen Betätigungsgebiete, auf denen er Bedeutendes leistete, waren Mineralogie und Mathematik, Ingenieurkunst und Hüttentechnik, bis ihm in seinem fünfundfünfzigsten Lebensjahr plötzlich die Erleuchtung kam; und von da an pflegte er nur noch den Verkehr mit den höheren Welten. Daß er außergewöhnliche okkulte Gaben besaß, ist vielfach urkundlich bezeugt: von den Seelen Verstorbener erfuhr er Einzelheiten, die ihm unmöglich vorher bekannt sein konnten, der Königin von Schweden teilte er Dinge mit, die niemand außer ihr wußte, und in Gotenburg sah er den genauen Verlauf einer Feuersbrunst, die um dieselbe Stunde in Stockholm ausgebrochen war: erst zwei Tage später trafen Augenzeugen ein, die seinen Bericht bestätigten. Ob er auch in dauerndem und vertrautem Umgang mit Engeln stand, ist natürlich unkontrollierbar; er selbst hat es jedenfalls geglaubt. Als seine Mission betrachtete er die Vollendung der christlichen Kirche, die allgemeine und siegreiche Begründung der Wahrheit und Liebe unter den Menschen: dies nannte er das neue himmlische und irdische Jerusalem. Trinität, Rechtfertigung und Sündenfall faßte er als bloße Allegorien. Das Jenseits sah er in seinen Visionen als eine Doublette des Diesseits, die alle Erdenverhältnisse wiederholt, nur verklärter und geistiger und unter Aufhebung der rohen Körperlichkeit, aber gleichwohl so ähnlich, daß viele Geister ihren Übergang in die andere Welt gar nicht bemerken; höchstwahrscheinlich aber galt ihm dieses Reich, das wir heute etwa die Astralsphäre nennen würden, nur als eine Übergangszone. Emerson nennt ihn den letzten Kirchenvater; hingegen ist ihm Kant in seiner berühmten Satire »Träume eines Geistersehers«, die ihn, noch zu seinen Lebzeiten erschienen, als Schwärmer und Erzphantasten hinstellt, nicht völlig gerecht geworden.
In dem Nachfolger Friedrichs des Großen, seinem Neffen Friedrich Wilhelm dem Zweiten, bestieg die Mystik, allerdings die falsche, sogar den Thron. Der neue Monarch, nicht unbegabt, aber energielos und genußsüchtig, fand bald in dem gewissenlosen Wöllner seinen Tartuffe und in dem geriebenen Bischoffswerder seinen Cagliostro. Dieser gewann ihn für den Rosenkreuzerorden, während jener ihn zum Obskurantismus bekehrte, unterstützt durch abenteuerliche Totenbeschwörungen, die in seinem Hause stattfanden: bei einer von ihnen erschien, von einem Bauchredner dargestellt, der Schatten Julius Cäsars, um mit dem König persönliche Rücksprache zu nehmen. Unter dem Einfluß Wöllners erließ Friedrich Wilhelm das reaktionäre Religions- und Zensuredikt, dem sogar Kant zum Opfer fiel, indem an ihn das Verbot erging, sich über religiöse Gegenstände öffentlich zu äußern. Die kurzsichtigen und engherzigen Maßnahmen des neuen Regimes waren so wenig zeitgemäß, daß sie nicht einmal von den ausführenden Beamten unterstützt wurden: als der preußische Zensor in einer Schmähschrift den Schlußsatz »Wehe dem Lande, dessen Minister Esel sind!« passieren ließ und darüber von Wöllner zur Rede gestellt wurde, antwortete er: »Hätte ich vielleicht drucken lassen sollen: wohl dem Lande, dessen Minister Esel sind?« Wie das bei oberflächlichen Naturen nicht selten vorkommt, verband sich in Friedrich Wilhelm mit dem Mystizismus eine starke Sinnlichkeit. Er war ein großer stattlicher Mann von überentwickelter Vitalität: das Volk nannte ihn den Dicken, die Zarin Katharina weniger jovial einen Fleischklumpen. Die frühere Frau des Kammerdieners Rietz, zur Gräfin Lichtenau erhoben, spielte an seinem Hofe die Pompadourrolle, indem sie nicht nur als offizielle Mätresse, sondern auch als eine Art Haremsvorsteherin fungierte. Daneben war der König, obgleich mit einer hessischen Prinzessin legitim vermählt, mit zwei anderen Damen, einem Fräulein von Voß und einer Gräfin Dönhoff linkshändig getraut. Mirabeau charakterisierte ihn in seiner »Histoire secrète de la cour de Berlin« ohne jedes Wohlwollen, aber nicht unzutreffend, indem er schrieb, daß sein Wesen aus drei Grundeigenschaften zusammengesetzt sei: Falschheit gegen jedermann, die er für Gewandtheit ansehe, Eigenliebe, die sich beim geringsten Anlaß verletzt glaube, und Verehrung des Goldes, die weniger Geiz sei als die Leidenschaft, es zu besitzen. Einige liebenswürdige Züge sind in diesem Porträt unterschlagen, aber im ganzen hat die Geschichte Mirabeau recht gegeben, der den damaligen Zustand Preußens als »Fäulnis vor der Reife« bezeichnete und dem Staat einen raschen Niedergang prophezeite.
Wir haben bereits daraufhingewiesen, daß das achtzehnte Jahrhundert besonders zahlreiche Persönlichkeiten von Bedeutung und Eigenart auf dem Thron erblickt hat. Zu diesen muß auch Josef der Zweite gerechnet werden, obwohl sein populäres Bild, wie es nicht nur in Volksstücken, sondern auch in Schulbüchern noch immer zäh festgehalten wird, nichts als ein leeres verlogenes Klischee, nach derselben Technik angefertigt wie die Glaube-Liebe-Hoffnung-Buntdrucke, die unsere Seifenschachteln schmücken.
Im Bewußtsein des Halbgebildeten ist Kaiser Josef vor allem umwoben von der strahlenden Gloriole der Toleranz. Nun hatte aber jene Toleranz des achtzehnten Jahrhunderts, wie wir bereits dargelegt haben, ihre recht eigentümlichen Seiten, die bei Kaiser Josef ganz besonders stark hervortraten. Während sonst das »fortiter in re, suaviter in modo« als Grundsatz einer klugen Regierungskunst gilt, kann man sagen, daß Josef der Zweite gerade das umgekehrte Prinzip befolgte: die mildesten, freiheitlichsten und menschenfreundlichsten Tendenzen führte er mit unnachsichtlicher Härte, Einseitigkeit und Unduldsamkeit durch. Ein starrer Doktrinarismus, verschärft durch hereditären habsburgischen Eigensinn, war das Bestimmende in seinen Reformen, so daß er in vielen Punkten als die Verzerrung, ja Karikatur Friedrichs des Großen erscheint. Schlözer, der einflußreichste und urteilsfähigste Publizist des Zeitalters, nannte denn auch rundheraus sein System »Stuartisieren«, womit er sagen wollte, daß es in seiner Selbstherrlichkeit und Willkürlichkeit von der Regierungsweise der Stuarts im Prinzip nicht verschieden sei. Er war Demokrat und Despot in einer Person und um so mehr Despot, als er über den Auftrieb des moralischen Berechtigungsgefühls verfügte oder zu verfügen glaubte. Die Eingriffe ins Privatleben, die von der Despotie auszugehen pflegen, sind im Einzelfall oft besonders empörend, aber sie erfolgen nur launenhaft und gelegentlich; die Unterdrückungen, die die Demokratie verübt, sind in der Regel weniger aufreizend, aber viel prinzipieller und allgemeiner. Kommt beides zusammen, so ist die Freiheit bis auf den letzten Rest verschwunden. Während der Liberalismus in England, in Frankreich, in Amerika die Forderung des dritten Standes, der Lebensausdruck des heraufkommenden Bürgertums ist, das sich seiner Macht bewußt wird, geht er in Österreich, wie Hermann Bahr in seiner bereits mehrfach erwähnten Monographie »Wien« mit großem Scharfblick konstatiert, der Entwicklung des Bürgertums vorher: »Er ist kein Bedürfnis, er ist ein Luxus; er wächst nicht im Lande, er wird importiert; er ist ein Versuch, die Grundsätze des politischen Lebens statt aus der eigenen Notwendigkeit aus fremden Büchern zu holen.«
Und so kehrt sich denn, wenn man Friedrich den Zweiten und Josef den Zweiten etwas näher miteinander vergleicht, die traditionelle Vorstellung um: der strenge Alte Fritz erscheint als der Idealist und Ästhet, der Liberale und Individualist, während der gute Kaiser Josef bei aller Freigeisterei keineswegs das war, was Nietzsche einen »freien Geist« nennt, und bei allen seinen modernen Menschlichkeitsideen doch weit davon entfernt war, ein wirklich humanes Regime zu führen: er hat das damalige mittelalterliche Kriminalrecht noch verschärft, das österreichische Spitzelsystem noch weiter ausgebaut und die Zensur sehr reaktionär gehandhabt: die schrecklichen »Räuber« zum Beispiel waren während seiner ganzen Regierung verboten. Während der Preußenkönig den bekannten Satz aufstellte: »Gazetten, wenn sie interessant sein sollen, müssen nicht geniert werden«, war in Österreich von einer Pressefreiheit keine Rede und das Publikum in seinen publizistischen Bedürfnissen auf die »Wiener Zeitung« angewiesen, die nichts als amtliche Nachrichten und von oben inspirierte Artikel brachte. Nur über den Kaiser selber durfte man reden und schreiben, was man wollte.
In Österreich pflegen sich ja zumeist die ernsten geistigen Zeitströmungen in Form einer seichten outrierten Mode zu äußern. Und so hat denn auch Kaiser Josef die zeitgemäßen Tendenzen, die sich in Friedrich dem Großen am glänzendsten verkörperten: den »Absolutismus zum Besten des Volkes«, die Realpolitik, den Zentralismus, die Germanisierung, die uniforme Behandlung aller Staatsbürger entschieden übertrieben. Besonders sein Zentralismus, diese für Österreich so verhängnisvolle Idee, hat viel Unheil gestiftet. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Zentralisation aller Verwaltungsgebiete in einem aus mehreren Nationen gebildeten Reichskörper ein Unding ist, ja es ist sogar die Frage, ob sie
nicht überhaupt für jedes, auch das homogenste Staatswesen große Nachteile bringt: das Beispiel Frankreichs, wo die Zentralisationswut zu allen Zeiten und unter allen Regierungen grenzenlos war, kann jedenfalls als Gegeninstanz gelten.
Als man Friedrich dem Großen den Tod Maria Theresias mitteilte, war sein erstes Wort: »voilà un nouvel ordre des choses!« Die neue Ordnung erstreckte sich auf fast alle Gebiete. Die Adeligen wurden vor dem Gesetz den Bürgerlichen gleichgestellt. Das spanische Zeremoniell wurde ebenso abgeschafft wie die spanische Hoftracht; der Kaiser trug auch bei feierlichsten Anlässen niemals etwas anderes als die einfache Felduniform, sogar ohne Ordensstern, auf Reisen mit Vorliebe das Wertherkostüm, das selbst in den konservativeren Bürgerkreisen noch verpönt war. Alle Prozessionen und Wallfahrten wurden verboten, die Feiertage erheblich vermindert, die Brüderschaften aufgehoben, die Klöster und Kirchengüter säkularisiert. Diese katastrophalen Eingriffe veranlaßten den Papst zu dem sensationellen Schritt, persönlich nach Wien zu kommen, wo er vom Kaiser ehrfurchtsvoll empfangen wurde, aber nichts erreichte. Um für die ausgebreitete Fürsorgetätigkeit des Klerus einen Ersatz zu schaffen, wurden aus dem Erlös des veräußerten Kirchenbesitzes staatliche Krankenhäuser, Armenhäuser und Findelhäuser errichtet, die aber keinen sehr guten Ruf genossen. Die Universitäten wurden aller ihrer Sonderrechte beraubt und vollkommen verstaatlicht, sehr zu ihrem Nachteil; denn die neue Unterrichtsordnung machte sie aus wissenschaftlichen Forschungsinstituten zu bloßen Vorbereitungsanstalten für künftige Beamte: es wurden nur jene Fächer gelehrt, die hierfür in Betracht kamen, und von elend bezahlten Professoren. Viel geschah hingegen für die Volksschulen, deren Zahl und Qualität beträchtlich gesteigert wurde; aber auch hier herrschte das mechanische Reglement der josefinischen Zwangsaufklärung: die Einteilung der Lektionen war so genau vorherbestimmt, daß man in Wien in jeder Minute wußte, welche Seite des Lehrbuchs jetzt von den Schulkindern der ganzen Monarchie gelesen werde: »Gerechter Gott«, klagt Mirabeau, der hierüber berichtet, »sogar die Seelen wollen sie in Uniformen stecken! Das ist der Gipfel des Despotismus!« Es sollte eben von heute auf morgen und ohne daß man sie gefragt hätte, eine klerikale Bevölkerung in eine liberale, eine bäuerliche und kleinbürgerliche Gesellschaft in eine bürokratische verwandelt werden.
Am allerunangebrachtesten aber waren, wie gesagt, die Versuche, diese bunte Erbmasse von deutschen, ungarischen, polnischen, tschechoslowakischen, serbokroatischen, ruthenischen, rumänischen und italienischen Länderfetzen, die, wenn überhaupt, nur als Föderativstaat lebensfähig war, zu einem Einheitsstaat zusammenzuschweißen. »Die deutsche Sprache«, dekretierte der Kaiser, »ist die Universalsprache meines Reiches«; sie wurde in allen Schulen und Ämtern der Monarchie zum obligaten Verständigungsmittel erhoben. Diese zwangsweise Germanisierung, die sich auf alle Länder mit Ausnahme Belgiens und der Lombardei erstreckte, verfolgte keineswegs nationalistische, sondern bloß zentralistische Ziele, da der Kaiser, dem Zuge der Zeit folgend, kosmopolitisch orientiert war, erregte aber nichtsdestoweniger überall die größte Erbitterung. Denselben Absichten diente die Aufhebung aller Korporationen und Zünfte, ständischen Privilegien und provinziellen Sonderrechte und überhaupt jeglicher Selbstverwaltung. Auch der Kirche, die er nach anglikanischem oder gallikanischem Muster zu reformieren wünschte, war der Kaiser nur wegen ihrer Autonomie feindlich gesinnt. Er war nicht bigott wie seine Mutter, die von jedem Untertan, sogar von Kaunitz, den Beichtzettel verlangte, aber doch gut katholisch: seine antiklerikalen Maßregeln, die ihn am populärsten und verhaßtesten gemacht haben, entsprangen wiederum nur seiner Zentralisationssucht, seiner Staats- oder vielmehr Selbstvergötterung. Die Geistlichen sollten nur noch Standesbeamte sein, als ob die Seelsorge eine Abart der Forstpflege oder des Postdienstes wäre.
Das Schlimmste aber war, daß alle diese radikalen Projekte nur halb ausgeführt wurden, wodurch sie bloß Unruhe und Mißvergnügen erzeugten, ohne die Vorteile eines völligen Neubaus als Entschädigung zu bieten. Die Hast, mit der sie in Angriff genommen wurden, lähmte ihre Wirkung und ließ sie trotzdem besonders gehässig erscheinen. Dies meinte offenbar Friedrich der Große, als er vom Kaiser sagte: »er tut den zweiten Schritt vor dem ersten.« Noch heute erinnern Denksteine und Porträts in manchen österreichischen Bauernhäusern daran, daß die Landbevölkerung in ihm ihren großen Wohltäter erblickte; und doch war selbst die Aufhebung der Leibeigenschaft nur eine halbe Befreiung, denn sie beließ die Bauern unter der Patrimonialgerichtsbarkeit, die sie der Willkür der Gutsherren auslieferte. Ebenso unvollkommen blieben die Bemühungen des Kaisers um die Hebung des Handels und Verkehrs: er gab ihn zwar im Innern des Reiches frei, emanzipierte ihn aber doch nicht von der Tyrannei des Merkantilismus, indem er alle ausländischen Waren mit schweren Einfuhrzöllen belegte und Rohstoffe nicht ausführen ließ. Auch seine Bestrebungen, die Steuerlast zu verringern, waren bloße Velleitäten: in Wirklichkeit sah er sich durch das ständige Defizit und den unglücklichen Türkenkrieg genötigt, mehr Abgaben vorzuschreiben als seine Vorgänger. Dieser Krieg war einer seiner größten Fehlgriffe, schon als bloße Absicht, denn wenn er seine so tief einschneidenden Reformen in Ruhe durchführen wollte, mußte er seinem Reiche alle Erschütterungen von außen ersparen. Dazu kam aber noch, daß er militärisch vollkommen talentlos und, als Folge davon, allen Begabungen unter den Führern, zum Beispiel Laudon, abgeneigt war.
Auch die josefinische Diplomatie, die sich für Realpolitik hielt, war nichts weniger als glücklich. Sie fußte auf dem sehr einfachen Prinzip, alles einzustecken und nichts dafür herzugeben. Man wollte Bayern haben, sich am Balkan expandieren, das Elsaß erobern, in Italien Erwerbungen machen. Alles dies wollte man womöglich auf einmal und ohne die geringsten Zugeständnisse an Preußen, Frankreich, Rußland oder irgendeine andere Macht. Der Effekt war, daß man Bayern nicht für Belgien eintauschte, sondern auch dieses verlor, daß man sich mit Preußen nicht verständigte, sondern später auch noch die Hauptlast der französischen Invasion am Rhein zu tragen hatte, daß man am Balkan keinen festen Fuß faßte und bei der zweiten Teilung Polens leer ausging. Schon während der Mitregentschaft Josefs führte diese monströse Art, Politik zu machen, zu einer empfindlichen Blamage. Die älteste Linie der Wittelsbacher war ausgestorben und Bayern fiel an die Pfalz. Der Kurfürst erklärte sich bereit, gegen eine Geldentschädigung den Ansprüchen, die der Kaiser auf große Teile Bayerns erhob, seine Anerkennung zu geben. Die Österreicher rückten ein, was aber nur zur Folge hatte, daß Friedrich der Große sofort mobilisierte und seinerseits in Böhmen einmarschierte, wo er und Laudon sich so lange untätig gegenüberlagen, bis Maria Theresia hinter dem Rücken ihres Sohnes den Teschener Frieden zustande brachte, der Preußen die Erbfolge in Ansbach und Bayreuth, Österreich nichts als das kleine Innviertel eintrug: die Soldaten nannten diesen Feldzug »Kartoffelkrieg« und »Zwetschgenrummel«, weil er nur in Requisitionen von Lebensmitteln bestanden hatte. Nun brachte Josef den Tauschplan aufs Tapet: Österreich sollte Bayern, der pfälzische Kurfürst Belgien als »Königreich Burgund« erhalten. Aber hierdurch brachte er nicht nur Preußen gegen sich auf, sondern auch England, das sich gemäß seinem Prinzip, daß Belgien nie an Frankreich fallen dürfe und sich daher stets im Besitz einer starken Militärmacht befinden müsse, zum Widerstand aufgefordert sah. Friedrich der Große aber stiftete den Deutschen Fürstenbund »nach dem einstigen schmalkaldischen«, dem Sachsen, Hannover und zahlreiche Kleinstaaten beitraten. Was weder gegen Richelieu noch gegen Ludwig den Vierzehnten gelungen war, der Zusammenschluß halb Deutschlands zum Schutze des Reichsbestandes, wurde durch die unkluge Taktik jenes Monarchen bewirkt, den das Reich offiziell sein Oberhaupt nannte. So hat Friedrich noch ein Jahr vor seinem Tode, obschon von seinem partikularistischen Interesse geleitet, dem gesamten deutschen Volke eine große Wohltat erwiesen. Die exponierten Niederlande bedrohten zwar das Reich in der Nordflanke, waren aber für Österreich nur ein sehr problematischer Besitz und gingen auch in der Tat bald darauf verloren, während das arrondierte Bayern eine große Lebensfähigkeit besessen hätte. Durch diese Erwerbung hätte der Habsburgerstaat sich mitten ins Reich hineingeschoben und eine fast unüberwindliche süddeutsche Großmacht gebildet. Nicht nur die preußische Hegemonie, sondern jede Lösung der deutschen Frage unter Ausschluß Österreichs wäre dadurch unmöglich geworden und die Fremdherrschaft der habsburgischen Kaiser über Deutschland damit nicht nur verewigt, sondern auch im Laufe der Zeit von einer nominellen zu einer wirklichen erhoben worden.
Am Ende seiner Regierung sah der Kaiser seine Gebiete von allen Seiten her bedroht: Abfall der Niederlande, Aufstände in Galizien, Ungarn und Siebenbürgen, Gärung in den deutschen Erblanden, besonders im klerikalen Tirol, feindselige Haltung der französischen Revolutionsregierung, des gekränkten Papstes und der argwöhnischen italienischen Fürstentümer, dauernde Mißerfolge gegen die Türken und Gefahr einer großen nordischen Koalition England-Holland-Schweden-Polen. Er selbst schrieb kurz vor seinem Tode an Kobenzl: »Nie hat es einen gefährlicheren Augenblick für die Monarchie gegeben.« Die Errettung aus diesen Krisen war nur seinem Nachfolger zu danken, seinem Bruder Leopold dem Zweiten, einem stetigen, vorsichtigen, überlegenen Politiker und Meister im klug lavierenden Zuwarten oder, wie man damals sagte, »Temporisieren«, zugleich einem der bizarrsten Habsburger, die je auf dem Throne gesessen sind: obgleich klein, schwächlich und häßlich, war er von einer ausschweifenden sexuellen Begehrlichkeit, hielt sich einen internationalen Stab von Mätressen und ein pornographisches Kabinett und starb schon nach zweijähriger Regierung am übermäßigen Gebrauch erotischer Stimulantien.
Im Grunde war Josef der Zweite bloß ein besonders stark profilierter Vertreter des typisch österreichischen Bürokratismus, jener Weltweisheit, die sich bereits zufrieden gibt, wenn sie alles genau schriftlich aufgezeichnet hat, indem sie glaubt, daß es dann schon da ist. Die josefinischen Reformen waren die sehr harmlosen und sehr gefährlichen Spielereien eines Kaisers, bloße Modelle und Attrappen, Dekorationsskizzen und Szenarien, Figurinen einer Reorganisation, die nie wirklich zur Aufführung kam. Die potemkinschen Dörfer, die ihm Katharina in Cherson vorführte, durchschaute er sofort, wie es ihm überhaupt im Leben keineswegs an gesunder Beobachtungsgabe fehlte; aber diese waren doch wenigstens Kulissen, seine Dörfer bloß auf dem Papier. So bestand denn auch seine ganze Regierung aus einer unübersehbaren Kette von Zirkularen, Verordnungen, Erlässen, die einander überstürzten, kreuzten, widersprachen, überspitzten. Daneben überzog ein dichtes Netz von Geheimpolizisten, Spionen und »Vertrauten« das Land, um die Durchführung zu überwachen, die Aufnahme zu beobachten, die Widerstände zu registrieren.
Der Grundzug seines Wesens war nämlich, trotz scheinbarem Idealismus und Drang nach oben, eine extreme Nüchternheit und Trockenheit, Kälte und Prosa. Er war, im Gegensatz zu Friedrich dem Großen, völlig amusisch, die Literatur für ihn nur ein Hebel der Aufklärung, wie er sie verstand, nämlich der Verbreitung nützlicher Kenntnisse und liberaler Ansichten. Das freigeistige Schrifttum, das unter seiner Patronanz blühte, stand auf dem alleruntersten Niveau elenden Traktatgewäsches, und Herder sagte von ihm, er habe im Grunde genommen den ganzen Buchhandel für einen Käsehandel angesehen. Er suchte Voltaire nicht auf, als er die Gegend von Ferney passierte, und konfiszierte die deutsche Ausgabe seiner Werke. Werther kam in Wien als Praterfeuerwerk, in Linz als tragisches Ballett zur Aufführung; das Buch aber war verboten. In den Theatern dominierte die roheste Clownerie, worin ihre Pointen bestanden, zeigt ein Wiener Tarif, der als Honorar für jeden Sprung ins Wasser oder über eine Mauer einen Gulden, für eine Ohrfeige, einen Fußtritt oder Begießen 34 Kreuzer festsetzt. Das vom Kaiser ins Leben gerufene und reich dotierte Wiener Hof- und Nationaltheater »nächst der Burg« blieb vom Geist der Zeit völlig unberührt und suchte seinen Ehrgeiz in der Aufführung leerer Rührstücke und Amüsierstücke im Genre Schröders, Ifflands und Kotzebues.
So hat er es eigendich niemandem recht gemacht: weder der Reaktion noch der Aufklärung, weder dem dritten Stand noch den Privilegierten. Der Grund lag weder in seinem Willen, der gut, noch in seinen Ideen, die vernünftig waren, sondern in seinem Mangel an echter Menschenkenntnis, wir können auch sagen: an Phantasie. Er besaß nicht die Gabe, sich in die Seelen seiner Untertanen zu versetzen und so ihre wahren Bedürfnisse zu erraten. Man begann sich daher bei all seiner eifrigen Redlichkeit sehr bald die Frage aufzuwerfen, die eine Flugschrift vom Jahre 1787 als Titel führte: »Warum ist der Kaiser Josef bei seinem Volke nicht beliebt?«
Und doch hat die Nachwelt einen gesunden Instinkt bewiesen, als sie gerade ihn aus einer langen Reihe von fruchtbareren Herrschern heraushob und in ihm etwas Besonderes, eine Art Helden- und Märchenfigur sah. Denn er besaß eine Eigenschaft, die unter den Fürsten und Machthabern dieser Erde höchst selten ist: er war modern. Auf einem alten legitimen Herrscherthron war er ein alles umwandelnder und erneuernder Revolutionär. Und daß auch er an sich die Wahrheit erfahren mußte, daß auf dieser Welt nur einer das Recht hat, Revolution zu machen: nämlich das Genie, gerade das macht ihn zu einer tragischen und rührenden Gestalt. Dieses ewig Suchende und schmerzvoll Unerfüllte, diese Stiefkindschaft des Schicksals verleiht ihm ein unzerstörbares Aroma von Romantik und Poesie. Die Menschheit hat, und darin liegt sicher eine Art Gerechtigkeit, allemal den unglücklichen Liebhabern des Lebens ein treueres und liebevolleres Andenken bewahrt als den Erfolgmenschen. Jedes Kind weiß heute noch von Kaiser Max, dem letzten Ritter, zu erzählen, während sein ungleich mächtigerer Nachfolger, Karl der Fünfte, in die Geschichtsbücher verbannt ist. Und noch für lange Zeit wird der weitaus populärste Bayernkönig jener phantastische Ludwig der Zweite bleiben, dessen Regierungstaten darin bestanden, daß er die Staatsgelder für kindischen und geschmacklosen Theaterprunk vergeudete und die Aspirationen Bayerns auf die deutsche Hegemonie endgültig preisgab. In diesen und ähnlichen Dingen erweist die Menschheit ein großes Feingefühl, wie sie denn überhaupt nur in ihren einzelnen Exemplaren unerträglich zu sein pflegt, während sie als Ganzes zweifellos ihre Qualitäten besitzt.
Neben Friedrich dem Zweiten und Josef dem Zweiten steht Katharina die Zweite, die ebenfalls die stärkste monarchische Wirksamkeit entfaltete. Sie war durch einen von ihr inszenierten Staatsstreich zur Regierung gelangt, während sie an der Ermordung ihres Gatten aller Wahrscheinlichkeit nach unschuldig war. Sie regierte vollkommen absolutistisch; die von ihr einberufene gesetzgebende Versammlung war eine bloße Komödie und Konzession an den Zeitgeist. Von Josef dem Zweiten unterschied sie sich durch ihren klaren Weltblick, der nie Unmögliches ins Auge faßte, und ihr lebhaftes Interesse und Verständnis für das geistige Leben der Zeit. Sie stand in dauernder Korrespondenz mit Diderot, d'Alembert, Voltaire und anderen literarischen Koryphäen, die sie alle an ihren Hof zu ziehen suchte und durch reiche Geschenke und Pensionen auszeichnete, und war selbst Schriftstellerin. Gleich Friedrich und Josef besorgte sie mit einer unverwüstlichen Arbeitskraft alle Regierungsgeschäfte persönlich: »Madame«, sagte ihr einmal der geistreiche Prince de Ligne, »ich kenne kein Kabinett, das kleiner wäre als das russische: es erstreckt sich von der einen Ihrer Schläfen zur andern.« Durch ihr geschicktes Vorgehen und Zurückweichen und ihre mit Biegsamkeit gepaarte Zähigkeit war sie in der Balkanpolitik viel erfolgreicher als Josef. Ihr Ziel war Konstantinopel. Dies erreichte sie nicht, aber es kam unter ihrer Regierung zu den drei polnischen Teilungen.
Die Katastrophe dieses Reiches war seit langem fällig. Es war schon allein dadurch lebensunfähig, daß es bei seiner riesigen Ausdehnung eine unverhältnismäßig kleine und noch dazu wertlose Küste besaß. Dazu kam die unmögliche Verfassung. Der König wurde jedesmal durch tumultuarische Wahl bestimmt und besaß fast gar keine Rechte. Das »liberum veto« gestattete jedem Landboten, die Tätigkeit des Reichstags lahmzulegen, ja es bestand sogar die Bestimmung, daß, wenn ein einziges Gesetz durch einen derartigen Einspruch nicht zustande komme, auch alles vorher Beschlossene ungültig sei, und es war natürlich sehr leicht, ein solches einzelnes Veto zu erkaufen. Man sprach daher schon zu Anfang des Jahrhunderts von der »königlichen Republik Polen«, die man aber auch ebensogut eine königliche Anarchie hätte nennen können. Das Recht des bewaffneten Widerstandes war dem Adel, der »Schlachta«, sogar verfassungsmäßig gewährleistet. Die Bevölkerung bestand aus einigen großen Familien von ungeheuerm Reichtum, einem gänzlich verschuldeten Betteladel und zu neun Zehnteln aus völlig entrechteten Leibeigenen, in denen, wie Georg Forster in seinen »Ansichten vom Niederrhein« sagte, die polnischen Edelleute beinahe die letzte Spur von Denkkraft getilgt hatten; dazwischen gab es nur Jesuiten und Juden und fast gar keinen Bürgerstand. Branntwein, Spiel und Syphilis waren die Mächte, die dieses »ritterliche« Volk seit Jahrhunderten beherrschten: selbst im Ausland waren die Polen als die verwegensten Hazardeure allgemein berüchtigt. Auch ihre Bestechlichkeit war sprichwörtlich und hat die Teilungen sehr erleichtert, wenn nicht überhaupt ermöglicht: die Teilungsmächte führten für diesen Zweck eine eigene gemeinsame Kasse. Während die Bauern im tiefsten Elend verkamen, lebten die wenigen Begüterten in einem ausschweifenden Luxus: so gab zum Beispiel 1789 der Fürst Karl Radziwill ein Fest für viertausend Personen, dessen Kosten nach dem heutigen Geldwert etwa vier Millionen Mark betrugen. Es gab keine Post, fast gar keine Apotheken und Schulen und nur herumziehende Handwerker, dagegen noch im ganzen Lande Wölfe.
Bei der ersten Teilung verlor Polen, das ursprünglich fast anderthalbmal so groß war wie Frankreich, etwa ein Drittel seines Besitzes. Rußland bekam territorial am meisten, war aber eigentlich durch den Handel benachteiligt, denn vorher war das ganze Königreich Polen nicht viel mehr als eine russische Provinz gewesen. Preußen erreichte durch seine Erwerbungen die vorteilhafte Verbindung zwischen Ostpreußen und Pommern, erhielt aber noch nicht den Hafen Danzig und die Festung Thorn. Für Westpreußen war der Besitzwechsel ohne Zweifel ein Glück, denn gleich nach 1772 wurde dort die Leibeigenschaft aufgehoben, der Bau des Bromberger Kanals begonnen und alles Erdenkliche für die Hebung der Bildung und des Wohlstandes unternommen. Auch vom nationalen Standpunkt war die Einverleibung nicht völlig ungerecht, denn das Land war früher deutsches Ordensgebiet gewesen und in den Städten befanden sich noch starke deutsche Reste. Das beste Geschäft machte Österreich mit Galizien und dessen wertvollen Salzbergwerken. Maria Theresia hat diesen Gewaltakt immer als einen Flecken auf ihrer Regierung bezeichnet und sich auch wahrscheinlich wirklich Gewissensbisse darüber gemacht; aber Friedrich der Große sah die Sache kühler an und sagte: »Sie weinte, aber sie nahm«. An der zweiten Teilung partizipierte Österreich nicht, aber nicht aus Edelmut, sondern wegen der ungünstigen politischen Konstellation, die dritte im Jahre 1795 führte zur völligen Auflösung des Reiches.
Dieser in der neueren Geschichte vollkommen vereinzelt dastehende Vorgang hat jedoch in der öffentlichen Meinung fast gar keine Entrüstung ausgelöst, weil die damalige Menschheit kosmopolitisch orientiert war und daher die Vergewaltigung einer ganzen Nation gar nicht als solche empfand. Zumal in Deutschland war der heutige Begriff des Patriotismus gänzlich unbekannt. Lessing sagt: »Ich habe von der Liebe des Vaterlandes keinen Begriff und sie scheint mir aufs höchste eine heroische Schwachheit, die ich recht gern entbehre.« Herder fragt: »Was ist eine Nation?« und antwortet: »Ein großer ungejäteter Garten voll Unkraut, ein Sammelplatz von Torheiten und Fehlern wie von Vortrefflichkeit und Tugend.« Der junge Goethe schreibt: »Wenn wir einen Platz in der Welt finden, da mit unseren Besitztümern zu ruhen, ein Feld, uns zu nähren, ein Haus, uns zu decken, haben wir da nicht ein Vaterland? und haben das nicht tausend und tausende in jedem Staat? und leben sie nicht in dieser Beschränkung glücklich? Wozu nun das vergebene Aufstreben nach einer Empfindung, die wir weder haben können noch mögen, die bei gewissen Völkern, nur zu gewissen Zeitpunkten, das Resultat vieler glücklich zusammentreffender Umstände war und ist? Römerpatriotismus? Davor bewahre uns Gott wie vor einer Riesengestalt! Wir würden keinen Stuhl finden, darauf zu sitzen, kein Bett, darinnen zu liegen«; aber auch noch als ausgereifter Mann notiert er in sein Tagebuch im Hinblick auf die soeben erfolgte Gründung des Rheinbundes: »Zwiespalt des Bedienten und Kutschers auf dem Bock, welcher uns mehr in Leidenschaft versetzte als die Spaltung des Römischen Reiches.« Und der Verfasser eines »Artikels aus Katzenellenbogen« in Schlözers Staatsanzeigen sprach sicher die Ansicht weiter Kreise aus, als er schrieb: »Andere mögen es beklagen, daß unsere Fürsten nichts am Ganges zu befehlen haben; mir ist es ein Glück für unser Vaterland, daß der hanseatische Bund zerstört, der deutsche Admiral auf der See unter Ferdinand dem Zweiten in der Geburt erstickt und endlich Deutschland durch den Westfälischen Frieden auf einige Jahrhunderte hinaus in so viele kleine Staaten zerstückt wurde, wovon jeder sein eigenes Interesse hat, und bald die Lage, bald die Größe es dem einen oder dem anderen ohnmöglich machen, große Kauffahrteiflotten vom Stapel zu lassen. Wie seltsam ist es doch, an der Malabarischen Küste nach Pfefferkörnern umherzurennen, wenn man doch noch zu Hause alle Hände voll zu tun hat!« Und Lichtenberg faßt die ganze Frage in seiner pointierten Art zusammen, indem er sagt: »Ich möchte was darum geben, genau zu wissen, für wen eigentlich Taten getan worden sind, von denen man öffentlich sagt, sie wären für das Vaterland getan worden.«
Auch Schiller bildet keine Ausnahme, obgleich man ein Jahrhundert lang in Schulbüchern und Leitartikeln versucht hat, ihn als Wiedererwecker des deutschen Patriotismus hinzustellen. Er benützt in seinen Dichtungen die Vaterlandsliebe lediglich als ein hochwertiges dramatisches Material, ohne ihr jedoch jemals eine deutschnationale Färbung zu geben. Er schildert im »Tell« den Heldenkampf eines Volkes um Freiheit und Heimat und in der »Jungfrau« den heroischen Widerstand des Landes gegen fremde Eroberer; aber jenes Volk sind die Schweizer und dieses Land ist Frankreich. Auf deutschem Boden spielen nur zwei seiner Stücke, von denen das eine die verbrecherischen Zustände an einem Duodezhof darstellt und das andere eine Gesellschaft junger Leute schildert, die aus katilinarischer Verzweiflung eine Räuberbande bilden. Und am 13. Oktober 1789 schrieb er an Körner: »Das vaterländische Interesse ist nur für unreife Nationen wichtig, für die Jugend der Welt; es ist ein armseliges, kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geiste ist diese Grenze durchaus unerträglich.«
Im übrigen wurden patriotische Regungen sogar von den Regierungen nur ungern gesehen, weil man dahinter sogleich Republikanismus witterte; und da man damals die Ansicht hatte, daß es echte Vaterlandsliebe nur in der Antike gegeben habe, sich aber sowohl Römer wie Griechen nur als extreme Republikaner vorstellen konnte, so lag eine solche Ideenverbindung in der Tat nahe.
Im allgemeinen gab es eine politische Publizität überhaupt nur in Form verbotener Flugschriften. Die Zensur war gegen sie ebenso streng wie machtlos, ihre Verbote machten die Bücher nur populär, ja lenkten oft erst die Aufmerksamkeit auf sie, und so konnte es geschehen, daß gegen Ende der Regierungszeit Maria Theresias die Behörde auf ein Auskunftsmittel von echt österreichischem Schwachsinn verfiel, indem sie den Katalog der verbotenen Bücher verbot. Die soeben erwähnten Staatsanzeigen Schlözers, das einzige unabhängige politische Journal in deutscher Sprache, erschienen im freien Göttingen, das infolge der hannoverschen Personalunion fast eine englische Stadt war, und hatten einen großen Einfluß: sie waren immer auf dem Schreibtisch Kaiser Josefs zu finden und Maria Theresia pflegte bei wichtigen Regierungsmaßnahmen zu bemerken: »Was wird Schlözer dazu sagen?«
Im allgemeinen beschäftigte sich das Interesse der gebildeten Kreise mehr mit den Gegenständen der inneren Verwaltung als mit den Fragen der Verfassung und äußeren Politik. Eine außerordentliche Bedeutung erlangten die Schriften des Marchese Beccaria, besonders sein Werk »Dei delitti e delle pene«, worin er mit edler Begeisterung gegen die Folter und die Todesstrafe und für eine öffentliche, unparteiische und humane Justiz eintrat: es wurde in fast alle Kultursprachen übersetzt und bewirkte in mehreren europäischen Staaten eine Reform der Rechtspflege. Das Zauberwort, von dem sich die Zeit die Lösung aller sozialen, ethischen und wirtschaftlichen Probleme erhoffte, hieß »Erziehung«. Man wollte nicht nur das Kind, sondern auch das »Volk«: den Landmann, den Kleinbürger, den Proletarier erziehen und erblickte am Ende dieses moralischen Lehrkurses die Verwirklichung des paradiesischen Reiches der Menschenliebe, Glückseligkeit und Freiheit; in diesem Glauben an die Universalkraft der Pädagogik offenbart sich einer der charakteristischsten Züge dieser neuen Kultur, die im wesentlichen von Lehrern und Pastoren geschaffen worden war. Allenthalben entstanden »Philanthropinen«, wie man die Reformschulen damals nannte, und andere Institute zur Volksbildung und Volksaufklärung. Leider geriet die Bewegung vielfach in die Hände reklamesüchtiger Wirrköpfe und Scharlatane; die gesunden Grundprinzipien, vor allem die größere Beachtung der körperlichen Ausbildung und die freiere Methodik des Unterrichts, haben sich aber im Laufe der Zeit fast überall durchgesetzt. An der Spitze aller dieser Bestrebungen stand Pestalozzi, der eigentliche Erfinder der modernen Erziehungstechnik, die auf eine gleichmäßige Ausbildung des Herzens und des Kopfes abzielte und nicht, wie bisher, vom Geiste des Lehrers, sondern von der Seele des Kindes auszugehen suchte. Im einzelnen besaß Pestalozzi keine ganz klaren Anschauungen, sondern huldigte im Sinne des Zeitalters einigen abstrakten und nebulosen Ideen, vor allem der Theorie von der »Naturgemäßheit« des Unterrichts, die so vieldeutig und weitmaschig ist, daß man mit ihr in der Praxis alles und nichts anfangen kann. Diese hatte er aus Rousseau, der der Zeit den größten Teil ihres Schlagwörterfundus lieferte: »laissez faire en tout la nature« lehrte er in seinem Buche »Emile oder über die Erziehung«.
Und denselben Grundsatz hatte für die Nationalökonomie, die man damals ebenfalls zum Gebiet der Volkserziehung rechnete, schon lange vor Rousseau Boisguillebert aufgestellt: »qu'on laisse faire la nature!«, indem er für eine von allen staatlichen Eingriffen befreite Entwicklung des Wirtschaftslebens eintrat. Ein halbes Jahrhundert später gründete d'Argenson auf dieses Postulat sein System des »laissez faire!«. Der Klassiker dieser Richtung wurde Quesnay, der Leibarzt Ludwigs des Fünfzehnten, der zunächst in seinem »Tableau économique« die Forderung des »laissez passer!« wiederholte und 1768 in seinem Werk »La physiocratie« die Schule der Physiokraten begründete, die das ganze spätere Jahrhundert beherrschte. Das Wort will besagen, daß die Natur frei herrschen soll, weil allein aus den natürlichen Quellen der Wirtschaft Wohlstand und Fortschritt fließen. Daher wird der Merkantilismus verworfen: nicht Handel und Industrie sind produktiv, sondern nur Grund und Boden: »la terre est l'unique source des richesses.« Die wichtigsten Bevölkerungsklassen sind demnach die Grundbesitzer, denn nur sie verfügen über einen wirklichen Reinertrag, und die Landarbeiter, die die eigentliche classe productive darstellen; die Gewerbe- und Handeltreibenden hingegen bilden die classe stérile: der Wert ihrer Produkte ist immer nur gleich den Produktionskosten, die Stoffe selbst können sie nicht vermehren; sie sind daher, wie Turgot weiter ausführte, bloße salariés, besoldete Diener der Ackerbauer. Freiheit des Austausches und Wettbewerbes führt von selbst zu natürlichen Preisen: dies ist der ordre naturel, dem die wirkliche Ordnung der Dinge, l'ordre positif, möglichst angeglichen werden muß. Der Weg hierzu ist die Aufhebung der bisherigen staatlichen Beschränkungen, Eingriffe und Lasten: der Fronden, der meisten Steuern, der Preisüberwachungen, besonders beim Getreide; sie alle sind wider die Natur. Diese neue Lehre ergriff alle geistig interessierten Kreise wie ein Fieber: man begann sich in den Salons gegen die Monopole und Schutzzölle und für die Hebung der Landwirtschaft zu erhitzen, die Nationalökonomie wurde Modewissenschaft. »Gegen 1750«, sagt Voltaire, »wird die Nation der Verse, der Tragödien, der Lustspiele, der Romane, der Opern, der romantischen Geschichten, der noch romantischeren moralischen Betrachtungen und der Disputationen über Anmut und Knixe überdrüssig und beginnt über das Getreide zu räsonnieren.« Es blieb aber im wesentlichen beim bloßen Räsonnement, und im übrigen ersetzten, wie man bereits bemerkt haben wird, die Physiokraten oder Ökonomisten, wie sie auch vielfach genannt wurden, nur eine Einseitigkeit durch eine andere.
Es ist das Verdienst des Engländers Adam Smith, aus dem Boden dieser Anschauungen eine haltbarere und umfassendere Theorie entwickelt zu haben, die sich in einem gewissen Grade bis zum heutigen Tage behauptet hat. Sein Hauptwerk »Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations« konstatiert zunächst zwei Produktionsfaktoren: erstens die Arbeit, zweitens Boden und Klima. Der Wert aller Güter ist durch das Maß der Arbeit bestimmt, das auf sie verwendet wird und ihren natürlichen Preis bildet; dieser ist nicht immer identisch mit dem Marktpreis, der noch von anderen Umständen, hauptsächlich vom Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage abhängt. Ferner unterscheidet Smith Gebrauchswert und Tauschwert; bei demselben Gegenstand kann der eine sehr hoch und der andere gleich Null sein: so haben zum Beispiel Wasser und Luft einen außerordentlichen Gebrauchswert und fast gar keinen Tauschwert und umgekehrt Diamanten und Straußenfedern einen sehr bedeutenden Tauschwert und einen sehr geringen Gebrauchswert. Die Größe des Volksvermögens ist abhängig von der Menge der Güter, die einen Tauschwert haben, und dieser wiederum von dem Maß der investierten Arbeit: die Arbeit also ist der wahre Preis der Waren, das Geld nur ihr Nominalpreis. Smith ist somit kein reiner Physiokrat, da er jede Arbeit, nicht bloß den Landbau, als wertbildend und produktiv anerkennt und von den Gutsbesitzern sogar sagt, sie seien Menschen, die ernten, wo sie nicht gesät haben; vielmehr erblickt er die wichtigste Gesellschaftsklasse in den Kapitalisten, die, indem sie ihr Geld in der Produktion anlegen und dadurch Arbeitsgelegenheit schaffen, die Wirtschaft am meisten fördern. In seinen praktischen Forderungen und Folgerungen ist er aber mit den Ökonomisten einer Meinung: er verlangt vollkommene Handels- und Verkehrsfreiheit, Aufhebung der bäuerlichen Lasten und der Leibeigenschaft, der Preiskontrolle und des Zunftzwangs. Als das Idealmittel zur Hebung der Produktion erschien ihm die strengste Arbeitsteilung, mit anderen Worten: die Mechanisierung der Arbeit. Dabei dachte er noch nicht an Maschinen, sondern bloß an intensivste Spezialisierung der manuellen Tätigkeit. Ein Arbeiter, sagt er, kann im Tage zehn Stecknadeln erzeugen; in einer Manufaktur vermögen zehn spezialisierte Handfertige, die richtig ineinander arbeiten, in derselben Zeit 48000 Stecknadeln herzustellen. Wir sehen, daß ihm, obgleich das Zeitalter der Maschinenkultur noch nicht angebrochen war, die neue Idee bereits ganz deutlich vorschwebte, die darin besteht, daß der Mensch nur noch als Wirtschaftssubjekt gewertet wird, ja eigentlich nur als Wirtschaftsobjekt, als Tauschartikel und Rad einer Maschine.
Papin hatte bereits im Jahre 1690 in den »Acta eruditorum« unter dem Titel »Neues Verfahren, bedeutende bewegende Kräfte zu billigen Preisen zu erhalten« seine Experimente mit dem Dampftopf veröffentlicht: also schon bei ihm stand das wirtschaftliche Moment im Vordergrund. Newcomen baute 1712 nach Papins Prinzip einen Apparat zum Heben von Wasser; 1769 erfand Arkwright die Spinnmaschine; in demselben Jahr nahm James Watt das Patent auf seine Dampfmaschine; 1786 gelang Cartwright die Herstellung des mechanischen Webstuhls; und das »Puddeln«, die Gewinnung von Stahl aus Roheisen, das 1784 patentiert wurde, schuf die wichtigste Vorbedingung für den exakten Maschinenbau. Gegen Ende des Jahrhunderts waren die Maschinen in England bereits ziemlich verbreitet; auf dem Kontinent erst erheblich später. Wir stoßen hier wiederum auf die bereits mehrfach hervorgehobene Tatsache, daß in der menschlichen Kulturentwicklung das Primäre stets der Gedanke ist, auf den die entsprechenden Tatsachen ganz von selber folgen: erst konzipierte der Engländer den Maschinenmenschen, und als dies geschehen war, blieb ihm gar nichts anderes mehr übrig, als die dazugehörige Maschine zu erfinden oder vielmehr wiederzuerfinden, denn sie war bereits dem Altertum bekannt, das sie aber, und zwar von seinem Weltbild aus mit Recht, für eine bloße Spielerei hielt.
Das englische Schrifttum erlebte damals einen seiner Höhepunkte. Die Juniusbriefe, vielleicht das wirksamste politische Pamphlet aller Zeiten, hämmerten die Ideen des Liberalismus mit ebensoviel Energie wie Bosheit in alle Gehirne. Goldsmith dichtete seinen »Vicar of Wakefield«; Sterne, eines der merkwürdigsten Genies der Weltliteratur, schrieb den »Tristram Shandy«; Fielding machte in seinen Romanen die Figuren Richardsons lächerlich, indem er das pharisäisch Unanständige und Verlogene, Leere und Platte ihrer Kaufmannstugend zeigte, die bloße Firmenkorrektheit ist, und immer den Taugenichts siegen ließ, der viel menschlicher und wahrhaftiger ist, weil er seine Triebe nicht unterdrückt oder wegheuchelt; und Sheridans Lustspiele konservierten das Leben der damaligen Londoner Gesellschaft in dem reinen und starken Spiritus ihres Witzes. Alle diese Dichter besitzen die kristallklare Heiterkeit von Menschen, die über allen Situationen stehen, und ihr Esprit hat die seltene Eigentümlichkeit, daß er niemals schwitzt: sie müssen ganz einfach geistreich sein. Sie öffnen irgendein Ventil ihres Gehirns und sofort strömt eine lustige Dampfwolke von zahllosen Paradoxien, Sottisen, Bonmots, Bübereien heraus. Sheridans »Lästerschule« zum Beispiel kann tatsächlich noch heute als Unterrichtskursus der graziösen Bosheit gelten.
»Sie können doch nicht leugnen, daß Fräulein Vermilion hübsch ist. Sie hat so reizend frische Farben.« »Ja, besonders wenn sie frisch angestrichen ist.« »O pfui! Ich möchte schwören, daß ihre Farben natürlich sind. Man kann ja sehen, wie sie kommen und gehen.« »Gewiß kann man das sehen. Sie gehen am Abend und kommen am Morgen. Und wenn sie einmal ausbleiben, so kann sie ihr Mädchen um sie schicken.« »Aber eines steht fest: ihre Schwester ist oder war sehr schön.« »Wer? Frau Evergreen? Mein Gott, sie ist heute sechsundfünfzig Jahre.« »Nein, da tun Sie ihr ganz gewiß unrecht: zweiundfünfzig oder dreiundfünfzig ist das Höchste; und ich finde, sie sieht nicht älter aus.« »Ach, nach ihrem Aussehen kann man nicht urteilen, denn man bekommt ja niemals ihr Gesicht zu sehen.« »Nun, wenn Frau Evergreen auch einige Mittelchen anwendet, um die Schäden der Zeit zu verdecken, so muß man ihr doch lassen, daß sie es sehr geschickt macht, jedenfalls besser als die Witwe Ochre, die eine sehr unbegabte Malerin ist.« »Nein, nein, Sie sind zu streng gegen die Witwe Ochre, denn, sehen Sie, es liegt nicht daran, daß sie schlecht malt, sondern wenn sie ihren Kopf fertig hat, so fügt sie ihn so ungeschickt an den Hals, daß sie aussieht wie gewisse alte Statuen, bei denen der Kenner sofort bemerkt: der Kopf ist modern, aber der Rumpf ist antik.« »Sie sind zu boshaft, Mylady. Ich glaube, echter Witz ist der Gutmütigkeit näher verwandt, als Sie anzunehmen scheinen.« »Gewiß, ich glaube sogar: sie sind so nahe verwandt, daß sie nie eine Ehe schließen können.«
Man wird zugeben, daß diese Gespräche durchaus keine Alterspatina besitzen, sondern geradesogut gestern geschrieben sein könnten. Und dies ist einer der vielen Genüsse, die die Lektüre dieser Satiriker bietet: man bemerkt mit großer Beruhigung, daß die Menschen schon vor hundertfünfzig Jahren ein ebensolches Gesindel waren wie heutzutage.
Während so das englische Leben auf fast allen Gebieten eine Steigerung erfuhr, erhielt das britische Imperium, das schon damals fast ein Weltreich war, einen empfindlichen Schlag durch den Abfall Amerikas. Die erste englische Kolonie im Westen war Virginia gewesen, unter der Königin Elisabeth von Abenteurern gegründet, die dort an mehreren Punkten Plantagenwirtschaften anlegten, hauptsächlich aber nach Gold suchten und dafür den Tabak fanden. 1620 entstand durch die Landung der »Mayflower«, in der die »Pilgerväter« vor den religiösen Verfolgungen der Hochkirche Schutz suchten, die Puritanerkolonie von New Plymouth, so genannt nach dem Ort der Abfahrt, und mit ihr wurde die etwas später gegründete, ebenfalls puritanische Niederlassung Massachusetts vereinigt, deren Hauptort Boston war. Die Hauptnahrungsquellen dieser einfachen Ansiedler waren die Fischerei und der Schiffbau, für den der große Holzreichtum des Landes überreiches Material lieferte. Die Vertreibung der Holländer aus Neu-Amsterdam, das von da an New York hieß, und die Gründung Pennsylvaniens durch die Quäker haben wir schon erwähnt: in diesem Lande lag die wichtigste Stadt Philadelphia, gegründet im Jahre 1682. Im Süden wurden die großen Kolonien Carolina und Georgia an Virginia angeschlossen. Schließlich bildeten alle diese Gebiete einen zusammenhängenden breiten Streifen an der Ostküste Nordamerikas.
Die Verwaltung vom Mutterland aus geschah nach extrem merkantilistischen Prinzipien: man verbot den Kolonisten, eigene Industrien zu errichten und ihre Rohstoffe anderswohin als nach England auszuführen, was, da dadurch jede Konkurrenz ausgeschlossen war, empfindlich auf die Preise drückte und große Erbitterung erregte. Dazu kam, daß England gerade durch den Sieg im Siebenjährigen Krieg die wirksamsten Vorbedingungen für den Abfall geschaffen hatte, denn nun waren die Staaten, von der Umklammerung Frankreichs befreit, nicht mehr auf den Schutz der britischen Regierung angewiesen. Die Einführung von Auflagen auf eine große Anzahl englischer Importartikel führte zu dem Beschluß, alle Waren zu boykottieren, für die an England Steuern zu entrichten seien. Daraufhin ließ man in London diese Verordnungen fallen und erklärte, nur den Teezoll aufrechterhalten zu wollen; aber die Gärung war schon zu groß: das Volk verlangte stürmisch nach Selbstvertretung im Parlament und durch das ganze Land ging der Kampfruf: »No taxation without representation!« 1773 warfen als Indianer verkleidete Patrioten die ganze Ladung eines Teeschiffes ins Wasser, 1774 beschloß ein Abgeordnetenkongreß in Philadelphia den Abbruch des Handelsverkehrs mit dem Mutterlande. Damit war der Krieg unvermeidlich geworden. Unter der Führung George Washingtons wurde ein Freiwilligenheer gebildet, das gegen die englischen Soldtruppen, die zum Teil aus verkauften deutschen Untertanen bestanden, mit wechselndem Erfolge kämpfte. 1776 kam es zur Unabhängigkeitserklärung der dreizehn Vereinigten Staaten, die unter anderem den folgenschweren Satz aufstellte, daß alle Menschen frei und gleich geboren seien. Der Krieg dauerte acht Jahre und schloß mit der Anerkennung der Unabhängigkeit sämtlicher Staaten im Frieden von Versailles. Die Amerikaner waren anfangs im Nachteil, da ihre Miliz bei aller physischen Geschicklichkeit und Terrainkenntnis nur den taktischen Wert eines Aufgebots von weißen Indianern hatte; in dem preußischen Oberst Friedrich Wilhelm von Steuben fand das Bundesheer aber einen talentvollen Organisator, und der Beitritt Frankreichs, Spaniens und Hollands gab dem Krieg eine für England sehr ungünstige Wendung. Diese diplomatischen Erfolge waren in erster Linie das Verdienst Benjamin Franklins, der in Paris als Unterhändler erschien und dort meisterhaft die damals so beliebte Rolle des schlichten Bürgers und geraden Republikaners spielte. Seine schmucklose Kleidung, sein ungepudertes Haar, seine bescheidenen Manieren erregten das Entzücken aller Salons. Man verglich ihn mit Fabius und Brutus, Plato und Cato, sein Bild wurde überall verkauft, so daß sein Gesicht, wie er an seine Tochter schrieb, so bekannt war wie das des Mondes. Er wußte ganz genau, daß es sich nur um eine Mode handelte, und nutzte sie als schlauer Geschäftsmann für seine Zwecke. Die Damen trugen Hüte und Frisuren à l'Indépendance, à la Bostonienne, à la Philadelphie, à la nouvelle Angleterre, die Herren gingen in grobem Tuch und dicken Schuhen à la Franklin und mit Knotenstock und großem rundem Quäkerhut à la Penn. Der Marquis de Lafayette, der am Kriege teilgenommen hatte, hing in seinem Zimmer zwei Tafeln auf: die eine enthielt die amerikanischen Menschenrechte, die andere war vollkommen leer und trug die Überschrift: »die Menschenrechte der Franzosen«. Die französische Regierung nahm im Frieden von Versailles an England Revanche; aber diese Revanche kostete sie sechs Jahre später ihre eigene Existenz.
Die Stimmung der Zeit verdichtete sich zu elektrisierender Wirkung in der »Hochzeit des Figaro«, die ein Jahr nach der Beendigung des amerikanischen Krieges zur Aufführung gelangte. Daß das Stück, das jahrelang mit den größten Zensurschwierigkeiten zu kämpfen hatte, schließlich doch erlaubt wurde, bedeutete bereits den Sieg der Revolution und die Kapitulation der alten Gesellschaft, die in dieser drohenden Feuererscheinung nur ein amüsantes Raketengeprassel erblickte. Die Privilegierten applaudierten ebenso entzückt wie der dritte Stand, als Figaro seinen berühmten Satz sprach: »Monsieur le comte ... qu'avez-vous fait pour tant de biens? Vous vous êtes donné la peine de naître, et rien de plus.« Bei der Premiere war ein solcher Andrang, daß drei Personen erstickten, und es folgten über hundert Aufführungen, was damals etwa zehnmal so viel bedeutete wie heutzutage. Der »Figaro« führte den Untertitel: »la folle journée«, und sein Erscheinen bezeichnet in der Tat einen der tollsten Tage der französischen Geschichte. Beaumarchais sagte selbst: »es gibt etwas Närrischeres als mein Stück, das ist sein Erfolg«, und Napoleon erklärte, im »Figaro« sei bereits die Revolution auf dem Marsche gewesen. Die Frechheit Figaros unterscheidet sich jedoch sehr wesentlich von der Rousseaus, sie gehört noch zum Rokoko, ist graziös, bijouteriehaft, aimabel und voll Selbstironie. Sie ist die Frechheit des Lakaien, der noch im Dienst dessen steht, gegen den er unverschämt ist, und sich daher in denselben Formen ausdrückt und bewegt wie er; sie hat sich daher trotz scheinbarer Zügellosigkeit immer in der Gewalt. Beaumarchais ist noch durch zahlreiche Fäden mit dem ancien régime verknüpft. Seine Götter waren Geld und Genuß. Er entrierte zahlreiche große Handelsgeschäfte, wurde der Erfinder der Theatertantieme, und auch sein Held Figaro ist ein zynischer Geldmacher. Andrerseits berührt er sich mit Rousseau und Chamfort darin, daß seine Attacken nichts waren als eine geistreiche Vorrevolution, ein Gedankenspiel, aus der Freude an Sensation und Widerspruch geboren, ein Marionettentheater ohne bewußte Konsequenzen. Die große Wirklichkeit ging denn auch über ihn hinweg, wie sie über Chamfort hinwegging und über Rousseau hinweggegangen wäre, wenn er sie erlebt hätte. Schon Mirabeau schleuderte Beaumarchais die Worte entgegen: »Erwarten Sie für die Zukunft nichts als den Vorzug vergessen zu werden.« Während der Revolution rettete er mit Mühe sein Leben.
Die Polemik Chamforts, noch immer spielerisch, hat doch schon einen viel aggressiveren Charakter. In seinen »Pensées« sagt er ganz unverhohlen: »Der Adel, heißt es, ist eine Zwischenstufe zwischen König und Volk. Ja, wie der Jagdhund eine Zwischenstufe zwischen dem Jäger und dem Hasen ist!« und: »Ich betrachte den König von Frankreich nur als den König von ungefähr hunderttausend Menschen, unter die er den Schweiß, das Blut und die Haut von über vierundzwanzig Millionen anderer Menschen aufteilt.« Eines Morgens bemerkte er zum Grafen von Lauraguais: »Ich habe eine Arbeit vollendet.« »Wie? Ein Buch?« »Nein, kein Buch. Ich bin nicht so dumm, so etwas zu machen. Aber den Titel eines Buches, und dieser Titel ist alles. Ich habe ihn bereits dem Puritaner Sieyès zum Geschenk gemacht, der ihn nach Belieben ausführen darf. Mag er dazuschreiben was er will: man wird sich nur an den Titel erinnern.« »Nun und wie lautet er?« »Was ist der dritte Stand? Alles. Was besitzt er? Nichts.« In der Tat hat Sieyès seiner berühmten Broschüre, die eine so außerordentliche Wirkung übte, diesen Titel gegeben und ihn nur durch den dritten Satz vermehrt: »Was verlangt er? Etwas zu sein«, der aber die epigrammatische Schlagkraft eher abschwächt; und in der Tat hat man sich von dieser Broschüre nichts gemerkt als den Titel. Noch eine zweite ebenso lapidare und zündende Devise der Revolution: »Krieg den Palästen, Friede den Hütten« stammte von Chamfort. Im übrigen aber war er durchaus kein Verehrer der Masse und der öffentlichen Meinung. »Ein einzelner«, sagt er in den »Pensées«, »kann nie so verächtlich sein wie eine Korporation«, und an einer anderen Stelle schreibt er: »Das Publikum! Das Publikum! Wieviel Dummköpfe müssen denn zusammenkommen, damit ein Publikum entsteht?« Über die Nationalversammlung von 1789 bemerkt er: »Betrachtet man die Mehrzahl der Abgeordneten, so hat man den Eindruck, als hätten sie nur darum Vorurteile zerstört, um Vorurteile zu haben, etwa wie Leute, die ein Bauwerk niederreißen, um Abbruchmaterial zu bekommen.« Eines dieser boshaften Bonmots führte zu seiner Internierung: als er nämlich beim Anblick der überall angebrachten Inschrift: »Liberté, Egalité, Fraternité ou la mort!« bemerkte: »C'est la fraternité de Caïn«. Er wurde wieder freigelassen, sollte aber später ein zweitesmal verhaftet werden und beging infolgedessen einen Selbstmordversuch. Es ist nicht vollkommen aufgeklärt, ob er an diesem oder an seinem langjährigen Blasenleiden starb.
Was Rousseau anlangt, so ist bereits die Entstehungsgeschichte seines Erstlingswerks für ihn ungemein charakteristisch. Die Akademie in Dijon hatte die Preisaufgabe gestellt: »Hat die Erneuerung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu reinigen?« Diderot fragte Rousseau: »Welchen Standpunkt werden Sie einnehmen?« »Natürlich den bejahenden.« »Das ist die Eselsbrücke«, erwiderte Diderot, »alle Mittelmäßigkeiten werden diesen Weg gehen. Der entgegengesetzte eröffnet dem Denken und der Beredsamkeit neue Gebiete.« Rousseau befolgte diesen Tip und machte mit seiner Antwort, die gekrönt wurde, die erhoffte Sensation. Einmal entschlossen, die Gegenansicht zu vertreten, ging er weit über die gestellte Frage hinaus, indem er, sich zu schäumender Wut gegen die gesamte menschliche Kultur aufpeitschend, in glänzender Rhetorik zu beweisen suchte, daß sie die Sitten nicht nur nicht verbessert, sondern korrumpiert habe und überhaupt an allem Unglück der Menschheit schuld sei. Was würden wir mit den Künstlern anfangen ohne den verderblichen Luxus, der sie großzieht? Wären wir ohne die Gelehrten weniger zahlreich, weniger gut regiert, weniger blühend? Im Gegenteil: nur die Wissenschaft und die Kunst haben es bewirkt, daß das Talent über die Tugend gestellt wird. Einige Jahre später stellte die Akademie von Dijon eine zweite Preisfrage: »Welche Ursache hat die Ungleichheit der Menschen und ist sie in der Natur begründet?« Rousseau widmete auch diesem Thema eine Abhandlung und erregte mit ihr noch größeres Aufsehen als mit seiner ersten Schrift: gerade das blinde und gehässige Ressentiment, das aus ihr sprach, machte den Erfolg. Er findet die Ursache der Ungleichheit, die eine empörende Unnatürlichkeit und Ungerechtigkeit ist, wiederum in der Zivilisation, in den staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen, die der Mensch willkürlich geschaffen hat. Der einzig menschenwürdige Zustand ist der Naturzustand: »Wenn die Natur uns dazu bestimmt hat, gesund zu sein, so wage ich fast zu behaupten, daß der Zustand der Reflexion ein widernatürlicher Zustand ist und daß ein Mensch, der denkt, ein entartetes Tier ist.« »Der erste, der ein Stück Land einzäunte und sich vermaß zu sagen: das gehört mir, und Leute fand, die einfältig genug waren, es zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, wie viele Kriege, wie viele Entbehrungen und Schrecken wären der Menschheit erspart geblieben, wenn einer die Grenzpfähle ausgerissen, die Gräben verschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: hütet euch, diesen Betrüger anzuhören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Frucht allen und das Land niemandem gehört!« Alle Kultur ist Arbeitsteilung, Arbeitsteilung bedeutet Ungleichheit und in der Ungleichheit liegt der Ursprung alles Übels. Nun lautet aber andrerseits die Kardinalforderung Rousseaus: Rückkehr zur Natur; er haßt die Kultur hauptsächlich deshalb, weil sie Veränderung, in seinem Sinne Perversion der ursprünglichen Menschennatur bedeutet. Wir wollen hier nicht auf die Frage eingehen, ob Natur oder Kultur die normale und angemessene Verfassung des historisch gewordenen Individuums ist und ob der »Naturzustand« dem modernen Menschen überhaupt möglich, ja auch nur vorstellbar ist, sondern nur, Rousseaus eigenen Prinzipien folgend, sein ideales Vorbild, die Natur betrachten. Und da finden wir überall Arbeitsteilung und Ungleichheit, und zwar nimmt die Arbeitsteilung mit der geistigen und physischen Entwicklung der Organismen konstant zu. Keine Arbeitsteilung ist, genau genommen, schon nicht mehr bei einzelligen Algen und Infusorien zu finden, sondern nur bei den noch tiefer stehenden membranlosen »Moneren«. Der Organismus der höheren Lebewesen aber ist streng arbeitsteilig, aristokratisch und hierarchisch organisiert und das Gehirn beherrscht und leitet monarchisch den ganzen Körperstaat; daß es in den monarchischen Staatskörpern nur selten dieselbe dominierende Rolle spielt, ist nicht Schuld der Staatsform.
Rousseaus Naturbegriff war aber eben gar kein wissenschaftlicher, sondern ein literarischer. Mit dem Wort »nature« verband er nicht eine aus strenger und ernster Beobachtung der physischen Welt geschöpfte Generalidee, sondern irgend etwas Romantisch- Sentimentales, aus einer schlechten Spieloper oder verlogenen Reisebeschreibung Hängengebliebenes. Man verstand ihn indes in Frankreich nur zu gut. Und bald sollte das Prinzip der Arbeitsteilung so gründlich geleugnet werden, daß man den Kopf Lavoisiers, weil er sich zu einseitig mit Chemie befaßt hatte, unter die Guillotine brachte.
Das nächste größere Werk Rousseaus war sein Roman »Julie ou la nouvelle Héloïse«. Auch hier schlug er einen ganz neuen Ton an: in dieser Seelenschilderung tritt zum erstenmal die Liebe des modernen Empfindungsmenschen als wirkliche Leidenschaft auf, als tragische Katastrophe, übermenschliche Fatalität und elementare Naturkraft. Und doch stört auch hier wieder die Berechnung auf den Effekt, der Wille zur Fassade, das Übermaß an Rhetorik; die Marquise du Deffand, die den Scharfsinn und Geschmack eines Diderot mit einem hellseherischen psychologischen Takt verband, wie ihn nur ihr Geschlecht besitzt, und daher als das kritische Genie ihrer Zeit bezeichnet werden kann, sagte von der »Héloïse«: »Es gibt vorzügliche Stellen in dem Buch, aber sie gehen unter in einem Ozean von Geschwätzigkeit.« Kurz darauf folgte der »Contrat social«. In diesem Werk wird die Lehre von der Volkssouveränität mit einer fanatischen Energie und Intransigenz verkündet, wie sie bisher noch nicht vernommen worden war. Die jeweilige Regierung ist nicht durch einen Vertrag eingesetzt, sondern durch einen Auftrag, den sie vom Volk erhalten hat; daher sind ihre Mitglieder nicht die Herren, sondern die Angestellten des Volkes, deren Mandat nur so lange gilt, als es dem Volk gefällt. Von Zeit zu Zeit soll durch eine allgemeine Volksabstimmung entschieden werden, ob die gegenwärtige Regierungsform beizubehalten ist und ob ihre Exekutivorgane weiter mit der Verwaltung betraut werden sollen oder nicht. Das Christentum ist zur Staatsreligion ungeeignet, denn es predigt Demut und Unterwerfung und begünstigt dadurch die Gewaltherrschaft; das souveräne Volk muß daher eine neue Religion bestimmen. Nur die Zahl entscheidet. Bin ich in der Minderheit, so beweist das nur, daß ich mich geirrt habe, indem ich eine Meinung für den allgemeinen Willen hielt, die es nicht war. Wer sich weigert, diesem Kollektivwillen zu gehorchen, muß durch die gesamte Körperschaft zum Gehorsam gezwungen werden, und das heißt nur: die Körperschaft zwingt ihn, frei zu sein. Da der »Souverän« nichts ist als die Zusammenfassung aller einzelnen, so kann er diesen niemals schaden wollen, denn es ist unmöglich, daß der Körper seinen Gliedern schaden will. Diese hinterlistigen Sophismen sollten einige Jahrzehnte später tatsächlich die Wirklichkeit regieren: der Souverän erhob sein Haupt und zwang, jedoch ohne ihnen schaden zu wollen, alle, die sich geirrt hatten, mittels des Fallbeils zur Freiheit.
Fast gleichzeitig mit dem »Contrat« erschien der lehrhafte Roman »Emile ou de l'éducation«, dessen schönste Partie die berühmte »Profession de foi du vicaire savoyard« ist: hier wird, mit deutlicher Polemik gegen Voltaire, die platte Christusauffassung der Aufklärung widerlegt, die im Heiland einen ehrgeizigen Sektierer, bestenfalls einen antiken Weisen von der Art des Sokrates erblickt hatte: »Ist das wohl der Ton, den ein Schwärmer oder ein ruhmbegieriger Sektenstifter anschlägt? Welche Sanftmut! Welche Sittenreinheit! Welche rührende Anmut in seinen Unterweisungen! Welche Erhabenheit in seinen Grundsätzen! Welche tiefe Weisheit in seinen Reden! Welche Geistesgegenwart! Welche Feinheit und Schlagkraft in seinen Antworten! Welche Herrschaft über die Leidenschaften! Wo ist der Mann, wo der Weise, der ohne Schwäche und Ostentation so zu handeln, zu leiden und zu sterben versteht!... Wenn Sokrates in Leben und Tod ein Weiser war, so erkennen wir bei Christus das Leben und den Tod eines Gottes.« Im übrigen wird im »Emile«, wie wir bereits erwähnten, als Universalmittel gegen alle Schäden der bisherigen Erziehungsmethoden jene vage und vieldeutige Rückkehr zur Natur gepredigt. Das Kind soll alles auf »natürlichem« Wege erlernen, durch Selbstdenken, eigene Anschauung und glücklichen Zufall: eine bestechende Maxime, sehr geeignet für faszinierende Prunkreden, für die Praxis so gut wie wertlos. Mit großer Emphase ermahnt Rousseau die Mütter, ihre Kinder selbst zu stillen, und die Väter, ihre Kinder selbst zu erziehen: nur wer die Vaterpflichten auf sich nehme, habe das Recht, Vater zu werden. Er hatte damals gerade sein fünftes Kind ins Findelhaus geschickt.
In allen diesen Werken offenbart sich Rousseau, weder als Gestalter noch als Denker, sondern nur als genialer Journalist und daneben an gewissen Stellen als suggestiver Lyriker und, was damals in der Literatur vollkommen neu war, als virtuoser Landschafter, wie er denn auch der eigentliche Entdecker der wildromantischen Natur war: »Man weiß schon«, sagt er in den »Confessions«, »was ich unter einer schönen Gegend verstehe. Niemals eine Landschaft der Ebene, mag sie noch so schön sein. Ich verlange Gießbäche, Felsen, Tannen, dunkle Wälder, Berge, rauhe auf- und abführende Pfade und recht fürchterliche Abgründe neben mir.
Das Grundmotiv seiner ganzen Schriftstellerei ist, Aufsehen zu erregen, um jeden Preis, und alles, was reiner, reicher und gesünder ist, mit allen Mitteln ins Unrecht zu setzen. Dabei ist er zweifellos geistig nicht normal, sondern von drei bis vier fixen Ideen hin- und hergeschleudert, die er aber im Rausch seiner begeisterten Dialektik zu den glänzendsten Truggeweben auszuspinnen vermag. Die verbissene Humorlosigkeit, die allen Geisteskranken eigentümlich ist, verbindet sich in ihm mit dem dumpfen und schwerfälligen Ernst des Plebejers, der alles eindeutig, alles buchstäblich, alles kompakt nimmt, weil er immer nur unter fordernden und bockbeinigen Realitäten gelebt hat. Daß ein Volk und Zeitalter, dem die Dinge überhaupt erst als geistig existenzberechtigt erschienen, wenn sie mit Witz und Ironie, Anmut und Geschmack, Leichtsinn und Doppelsinn gesagt wurden, nun dem entgegengesetzten Extrem zujubelte, bezeichnete die letzte Stufe der Décadence, die dem ancien régime überhaupt erreichbar war.
Was seinen moralischen Charakter betrifft, so war er so abscheulich, daß es schon aus diesem Grunde ganz unmöglich ist, ihn unter die Genies zu rechnen. Von seinem zweimaligen Glaubenswechsel, der beide Male aus eigennützigen Motiven erfolgte, wollen wir nicht reden; ebensowenig von seinen jugendlichen Diebstählen, obgleich der Umstand, daß er sie auch noch unschuldigen Personen in die Schuhe schob, sie besonders häßlich erscheinen läßt. Bei seinem unbegreiflich niederträchtigen Verhalten gegen Voltaire scheint Verfolgungswahnsinn im Spiele gewesen zu sein. Obgleich dieser ihn jederzeit mit Liebenswürdigkeiten überschüttet hatte, schrieb er ganz plötzlich den offenen Brief »sur les spectacles« an d'Alembert, in dem er Voltaire mit vollendeter Tartuffebosheit bei der Genfer Regierung als Sittenverderber denunzierte, bloß weil er sich in Ferney ein Theater hielt: eine Anklage, die einem Verfasser zugkräftiger Singspiele und schlüpfriger Romane besonders übel anstand. Trotzdem schrieb Voltaire an Rousseau, als dieser aus Frankreich und der Schweiz verbannt war und nirgends ein Asyl fand, einen Brief voll zärtlicher Fürsorge, worin er ihn auf eine seiner Besitzungen zum dauernden Aufenthalt einlud. Rousseau fuhr aber zeitlebens fort, Voltaire mit dem Neid des Schlechtweggekommenen aufs gehässigste zu verunglimpfen. Ähnlich benahm er sich gegen Friedrich den Großen. Als dieser ihm durch seinen Gouverneur in Neufchâtel eine bedeutende Geldsumme, Korn, Wein, Holz und eine Villa anbieten ließ, erkärte er mit der aufrechten Verlogenheit des republikanischen Phrasendreschers, es sei ihm unmöglich, in einem Hause zu schlafen, das eines Königs Hand gebaut habe, und an den König schrieb er: »Sie wollen mir Brot geben; gibt es unter Ihren Untertanen keinen, dem es daran fehlt?« Nachdem er diese alberne und taktlose Patzigmacherei unter Dach gebracht hatte, nahm seine Geliebte alle Geschenke hinter seinem Rücken an. Hume brachte ihn nach England, wo er ihm einen angenehmen Zufluchtsort und eine königliche Pension verschaffte. Die Folge waren wiederum eine Reihe nichtswürdiger Attacken von seiten Rousseaus, auf die Hume mit den treffenden Worten antwortete: »Da Sie der schlimmste Feind Ihrer eigenen Ruhe, Ihres Glückes und Ihrer Ehre sind, so kann ich nicht überrascht sein, daß Sie der meinige geworden sind.« Als Madame d'Epinay, die ihm jahrelang im Walde von Montmorency ein reizendes Gartenhäuschen zur Verfügung gestellt hatte, nach Genf reiste, verbreitete er das schändliche Gerücht, sie tue dies, um in der Schweiz ein heimliches Kind zur Welt zu bringen. Ebenso peinliche Affären hatte er mit Diderot, d'Alembert, Grimm: allemal zuerst der Verdacht einer geheimen Verschwörung und dann Undankbarkeit und Infamie, so daß selbst der sanfte und philosophisch überlegene d'Alembert sich zu der Bemerkung veranlaßt sah: »Jean Jacques ist eine wilde Bestie, die man nur mit einem Stock und hinter Gitterstäben berühren darf.« Das zusammenfassende Urteil hat Voltaire gesprochen: »Ein Arzt müßte an Jean Jacques eine Bluttransfusion vornehmen, sein jetziges Blut ist eine Komposition aus Vitriol und Arsenik. Ich halte ihn für einen der unglücklichsten Menschen, weil er einer der bösesten ist.«
Seine widerwärtigste Eigenschaft aber war seine pharisäische Verlogenheit, und wir weigern uns aufs allerentschiedenste, einen Menschen, der sein Leben lang eine so dreiste perfide Komödie gespielt hat, auch nur unter die Künstler zu zählen, es sei denn, daß man sich entschließt, unter dichterischem Talent die Fähigkeit zu besonders geschicktem und unverfrorenem Schwindel zu verstehen. Sein ganzes Dasein war geschmacklose Pose und aufdringliche Heuchelei. Die »Héloïse« beginnt mit der Bemerkung, der Verfasser bedaure es, nicht in einem Jahrhundert zu leben, das ihm gestatte, den Roman ins Feuer zu werfen. Nach dem Lärm, den seine Erstlingsschrift gemacht hatte, erklärte er mit großer Ostentation, die Schriftstellerei zu verachten und fortan als braver, ehrlicher Notenschreiber sein Leben fristen zu wollen: er wird tatsächlich Notenschreiber, aber weder ein braver, denn seine Kopien sind liederlich und unbrauchbar, noch ein ehrlicher, denn das Ganze ist eine Spiegelfechterei: er läßt sich seine Arbeiten von neugierigen Snobs überzahlen und weiß ganz genau, daß das Honorar nicht ihnen, sondern der interessanten Tagesberühmtheit gilt, lebt also in Wirklichkeit nur von seinem schriftstellerischen Ruhm, und zwar in der doppelt unanständigen Form der Schnorrerei, die sich als stolze Unabhängigkeit aufspielt. Geschenke nimmt er natürlich niemals: die empfängt immer nur die gute Therese Levasseur. Er verliebt sich in die Schwägerin seiner Wohltäterin Madame d'Epinay, die Gräfin d'Houdetot, die unglücklich verheiratet ist, aber bereits einen andern liebt, und stellt ihr eindringlich vor, wie unmoralisch dies sei: tugendhaft ist es offenbar nur, den Gatten mit Rousseau zu betrügen. Wir haben schon erwähnt, daß er alle seine Kinder ins Findelhaus brachte, aber auch das geschah natürlich wiederum nur aus Tugend: denn, sagt er, als überzeugter Bürger der platonischen Republik habe er seine Kinder als Gemeingut des Staates betrachtet und sich nicht für berechtigt gehalten, sie diesem zu entziehen. Eines Tages beschließt er, als Verächter der erbärmlichen Zivilisation und des ungerechten Luxus die »schlichte« armenische Tracht anzulegen, die aber in Wirklichkeit mit gestickter Jacke, seidenem Kaftan, gefütterter Mütze und buntem Gürtel ein anspruchsvolles lärmendes Theaterkostüm ist, nichts weniger als einfach, sondern viel prächtiger als die Kleidung der anderen. Als ihm Voltaire schreibt: »Sie müssen Ihre Gesundheit bei mir in der Heimatluft wiederherstellen, die Freiheit genießen, mit mir die Milch unserer Kühe trinken und unser Gemüse verzehren«, antwortet er mit einer Affektation, deren abgeschmackter Hochmut bereits ans Läppische grenzt: »Ich würde es vorziehen, statt der Milch Ihrer Kühe das Wasser Ihrer Quelle zu trinken.«
Sein schauspielerisches Meisterstück aber hat Rousseau in seinen »Selbstbekenntnissen« geleistet. Schon die Einleitungsworte schlagen den Ton an, der, aus Dünkel und falscher Demut, Selbstverherrlichung und wohlberechneter Selbstanklage raffiniert gemischt, durch das ganze Buch geht. »Ich unternehme ein Werk, das seinesgleichen weder gehabt hat noch haben wird. Meinen Mitmenschen will ich einen Menschen zeigen, ganz in seiner wahren Natur; dieser Mensch bin ich, ich ganz allein. Ich kenne mein Herz und ich kenne die Menschen. Ich wage zu glauben, daß ich nicht bin wie irgendeiner von allen, die existieren. Bin ich nicht ein Besserer als sie, so bin ich wenigstens ein anderer ... Ewiger Gott, ein jeglicher enthülle vor deinem Thron mit gleicher Aufrichtigkeit sein Herz, und dann sage ein einziger von ihnen, wenn er es kann: ich war besser als dieser.« Das Programm des ganzen Unternehmens findet sich in dem Satz: »Mein ganzes Unglück habe ich nur meinen Tugenden zuzuschreiben ... wer sich nicht für mich begeistert, ist meiner nicht würdig.« Selbstverständlich beichtet Rousseau nur genau so viel, als ihm paßt, und auch dieses nur in der Beleuchtung, die ihm am vorteilhaftesten und zugleich sensationellsten erscheint. Die vielgerühmte Aufrichtigkeit dieser Konfessionen setzt sich aus faustdicken Lügen, heuchlerischen Selbstvorwürfen und einigen irreführenden, aber ehrlichen Autosuggestionen zusammen. Die zahlreichen Stellen, wo er mit frappierender Offenheit auf seine eigenen Verfehlungen hinweist, fließen teils aus Wichtigtuerei, teils aus der Erkenntnis, daß man sich in der Welt, und zumal in einer Welt, die den pikanten Wildgeruch über alles liebt, gerade durch seine Laster am interessantesten macht und doppelt interessant, wenn man dazu noch die stets dankbare Rolle des reuigen Sünders spielt; mit dieser Technik, die sich von der des Kolportageromans nur durch ihr größeres Raffinement unterscheidet, erreicht man alles auf einmal: die Gloriole des Moralhelden, der über sich selbst Gericht hält, und den Faszinationsreiz des verfluchten Kerls, der eine »Vergangenheit« hat.
Das Phänomen Rousseau bezeichnet den Einbruch des durchtriebenen und brutalen Plebejers in die Weltliteratur. Das bisherige Schrifttum des dritten Standes hatte den Ehrgeiz, in die höhere Welt aufzusteigen, die Feinheit, Anmut, Beherrschtheit ihrer Lebensform zu erreichen und womöglich zu überbieten: aber Rousseau verachtet die »Gesellschaft« oder spielt vielmehr virtuos die Rolle dieses Verächters, er bleibt unten; und das ist seine Originalität und seine Stärke. Seine Ordinärheit ist jedoch nicht einfach Natur, das wäre uninteressant, sondern gesteigerte, gestellte, plakatierte Natur: er legt die Schminke fingerdick auf und macht dadurch für seine verkünstelte und verspielte Zeit den Effekt erst voyant, schlagend, bühnenfähig. Er macht dem Salon ein Bauerntheater vor, wozu er prädestiniert ist wie kein zweiter; denn er vereinigt in sich die Eigenschaften eines wirklichen Proleten und eines hervorragend begabten Amateurschauspielers: jene Echtheit, die nötig ist, um Glaubwürdigkeit zu erzeugen, und jene Theatralik, die erforderlich ist, um beim Publikum zu gefallen. Man ist entzückt über die Pikanterie, mitten unter Reifröcken und Seidenfräcken einen unrasierten Kerl in Hemdärmeln zu sehen, der sich in die Hand schneuzt, ins Zimmer spuckt und alle Dinge beim Namen nennt. Daß dies nur eine neue Nüance der Affektion darstellt, bemerkt in einer Zeit, deren einzige Apperzeptionsform die Affektation ist, natürlich niemand.
Während des Menschenalters zwischen 1760 und 1790 herrscht in der Vorstellung aller gebildeten Kreise der von Rousseau erfundene » bon villageois«, eine Mischung aus Lesebuchgestalt und Operettenfigur, rechtlich, knorrig, arglos, dem Herrn ergeben, bändergeschmückt und strohhutbedeckt, einfach, heiter und genügsam. Daß der Bauer das Gegenteil von alledem ist: ein hartes und finsteres, gieriges und mißtrauisches Erdtier, das seinen Bau und die darin angesammelten Vorräte eifersüchtig bewacht und mit Krallen und Zähnen verteidigt, wußte man nicht oder hatte man vergessen. Rousseau hatte mit seinem exaltierten Naturkultus die Bedürfnisse jener blasierten Gesellschaft vollkommen erraten. Man hatte alles genossen und alles weggeworfen, als man eines Tages an der Hand Rousseaus die Reize der »Natürlichkeit« und »Einfachheit« entdeckte, wie ein Gourmet, dessen Zunge bereits alle Delikatessen auswendig weiß und satt hat, plötzlich den Wohlgeschmack derben Landbrots und Specks, frischer Milch- und Obstnahrung zu würdigen beginnt.
Man verlangte von nun an im Gartenbild Hütten, Mühlen, Moosbänke, grasendes Vieh, sogar künstlichen Urwald. Man führte Lämmer an seidenen Bändern durch die sanfte Natur. Diese modische Begeisterung für das Landleben wurde sogar die Todesursache Ludwigs des Fünfzehnten. Auf einem Spaziergang, den er mit der Dubarry in der Gegend von Trianon unternahm, bemerkte er eine kleine Kuhhirtin, die für ihre Tiere Gras pflückte und ihm in ihrer ländlichen Unschuld so gefiel, daß er sie zum Souper mitnahm; tags darauf starb sie an den Pocken und zehn Tage später wurde der König das Opfer derselben Krankheit. Da Rousseau die Mütter ermahnt hatte, ihre Kinder selbst zu säugen, wurde nun das Stillen die große Mode: man tat es ostentativ in großer Gesellschaft, und die fünfzigste Aufführung des »Figaro« fand auf Veranlassung des reklamekundigen Autors zugunsten armer stillender Mütter statt.
Ferner forderte die Rückkehr zur Natur, daß man stets voll hingebender und gehobener Empfindung sei (denn der Naturmensch ist immer warm, aufopfernd und zartfühlend) und dies vor aller Welt deutlich zur Schau trage: Freundinnen mußten stets Arm in Arm gehen und sich so oft wie möglich küssen; wenn ein Autor ein Stück vorlas, mußte man ihn durch Schluchzen und entzückte Ausrufe unterbrechen und hie und da in Ohnmacht fallen; ja es kam sogar vor, daß Ehepaare sich vor aller Welt umarmten und Geschwister einander duzten. Als die berühmte Schauspielerin Clairon Voltaire in Ferney besuchte, kniete sie vor ihm nieder, worauf ihm nichts übrig blieb als ebenfalls niederzuknien; schließlich unterbrach er die feierliche Szene, indem er sagte: »Und nun, Mademoiselle, wie geht es Ihnen?«
Der Maler des Rousseauismus ist Jean Baptiste Greuze, von Diderot überschwenglich gepriesen, der ihn gegen Boucher ausspielte. Ebenso geschwätzig und theatralisch, aufdringlich und falsch sentimental wie Rousseau, aber liebenswürdiger und temperamentloser, schilderte er die Lieblingsobjekte jener über sich selbst gerührten Philanthropie in zahlreichen Genrebildern: das edle Volk, den braven Landmann, die kinderreiche fürsorgliche Mutter und treue Gattin, das Glück der Familie, den Segen der Frömmigkeit, des Fleißes, der Bedürfnislosigkeit, der Pietät. Aber seine ehrbaren Hausfrauen sind Theatermütter und seine unschuldsvoll entblößten Jungfrauen Exhibitionistinnen; es ist die prickelnde Schlüssellocherotik Fragonards noch einmal, verstärkt durch den Hautgoût der Unberührtheit.
Auch die deutsche »Geniezeit«, die etwa mit den siebziger Triumph Jahren einsetzt, geht in wesentlichen Zügen auf Rousseau zurück. Es herrschte, wie Goethe sich rückblickend ausdrückt, »eine Gärung aller Begriffe«. »Die Epoche, in der wir lebten, kann man die fordernde nennen, denn man machte an sich und andere Forderungen auf das, was noch kein Mensch geleistet hatte. Es war nämlich vorzüglichen, denkenden und fühlenden Geistern ein Licht aufgegangen, daß die unmittelbare originelle Ansicht der Natur und ein darauf begründetes Handeln das Beste sei, was der Mensch sich wünschen könne, und nicht schwer zu erlangen .... Wie man nun auch hier zur Ausübung schritt, so sah man, am kürzesten sei zuletzt aus der Sache zu kommen, wenn man das Genie zu Hilfe riefe, das durch seine magische Gabe den Streit schlichten und die Forderungen leisten würde.« Die Parole »Genie« war von Gerstenberg ausgegeben worden, von dem auch das erste bedeutende Drama dieser Schule stammte. Was man darunter verstand, hat Lavater in seiner »Physiognomik« am eindringlichsten ausgedrückt: »Der Charakter des Genies und aller Werke des Genies ist Apparition; wie Engelserscheinung nicht kommt, sondern dasteht, nicht weggeht, sondern weg ist, so Werk und Wirkung des Genies. Das Ungelernte, Unentlehnte, Unlernbare, Unentlehnbare, Innig-Eigentümliche, Unnachahmliche, Göttliche ist Genie, das Inspirationsmäßige ist Genie, heißt bei allen Nationen, zu allen Zeiten Genie und wird es heißen, solange Menschen denken, empfinden und reden. Genie blitzt, Genie schafft, veranstaltet nicht, so wie es selbst nicht veranstaltet werden kann, sondern ist. Unnachahmlichkeit ist der Charakter des Genies, Momentanität, Offenbarung, Erscheinung, Gegebenheit: was gegeben wird, nicht von Menschen, sondern von Gott oder vom Satan.« Der höchste Lobestitel, den man damals zu verleihen hatte und auch sehr freigebig verlieh, bestand demnach darin, daß man jemanden ein »Originalgenie« oder eine »Natur« nannte. Man verlangte nicht mehr virtuose Handhabung der Regeln, sondern »Fülle des Herzens« und stellte das Gemüt hoch über den Verstand: aber mit dem Verstand; wie denn überhaupt jene stürmende Jugend, die sich das Programm gesetzt hatte, um jeden Preis zu brodeln, eine merkwürdige Mischung aus Naivität und Reflexion darstellte, etwas Kindlich-Altkluges an sich hatte.
Das Vorspiel dieser hochinteressanten Bewegung, die in das deutsche Geistesleben einen ganz neuen Ton gebracht hat, bildet die Periode der Empfindsamkeit, deren Anfänge etwa zwei Jahrzehnte älter sind. Schon Gellerts Hauptforderung, die er unzählige Male in Briefen und Schriften wiederholte, war ein »gutes empfindliches Herz«. Das modische weiche und gefühlvolle Wesen nannte man nun um 1750 »zärtlich« oder »empfindlich«. Lessing übersetzte den Titel von Sternes »sentimental journey« mit »empfindsame Reise«, und dieser Ausdruck bürgerte sich nicht nur allgemein ein, sondern gewann auch sehr bald den Charakter einer Lebensdevise. Daneben trat die Vorstellung der Rousseauschen » belle âme«, der schönen Seele, die allen zarten und zärtlichen Regungen geöffnet ist. Und dann kam das Wort »Gefühl« auf und ergriff mit der Macht, die nur die große Mode einer Vokabel verleihen kann, die Herrschaft über alle Lebensgebiete. Man berauschte sich an ihm und rief es sich gegenseitig wie eine nächtliche Parole anfeuernd, geheimnisvoll zu. »Gefühl« war die unerläßliche, aber auch völlig ausreichende Legitimation für alles. Worauf beruht Liebe, Freundschaft, Verständnis, aller Zusammenhang unter den Menschen? Einzig auf dem Gefühl. Was ist der Kern der Religion, was ist das Vaterland, das Leben, die Natur? Ein Gefühl. Was macht den Maler, den Denker, den Poeten, was verleiht den Stempel echter Menschlichkeit? Immer das Gefühl.
Natürlich ist die Folge, daß diese Fähigkeit, alles aus dem inneren Reichtum des Herzens zu erfühlen, die eine seltene Gabe, ein göttliches Talent ist, von all den Vielzuvielen, die die Mode mitmachen wollen, bloß äußerlich gespielt und künstlich forciert wird. Man will stets bewegt, gerührt, ergriffen, hingerissen sein, man zwingt sich in einen permanenten Zustand seelischer Hochspannung. In Frankreich erzeugte dieses Spielen mit edeln Sentiments die Revolution. In Deutschland hatte es das harmlosere Ergebnis einer weltfremden einseitigen Kultur.
Eine der ersten und wohltätigsten Folgen dieses Gefühlskults bestand darin, daß er die Schranken, die die steife Tradition des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts zwischen den Menschen aufgerichtet hatte, zum Teil durchbrach. Noch Lessing, sonst ein so warmer und siegreicher Vorkämpfer der Natürlichkeit, stand mit seinen besten Freunden auf Sie, und in der josefinischen Volksschule, die ebensowenig wie alle anderen Reformwerke des Kaisers einen wirklichen Durchbruch zur Freiheit bedeutete, war es den Knaben aufs strengste verboten, einander zu duzen. Goethe und Lavater hingegen gebrauchten sogleich bei ihrer ersten Begegnung das Du, das überhaupt unter Menschen, die sich geistig miteinander verwandt fühlten (und zu dieser Empfindung kam es damals sehr leicht), die übliche Anrede wurde; und ebenso rasch nannte man sich »Bruder« und »Schwester«. Die ganze Zeit ist auf ein schmelzendes Adagio gestimmt; diese Tonart begann auch erst damals in der Musik zu dominieren. Ein unentbehrlicher Bestandteil auch des kleinsten Parks war der »Freundschaftstempel«, in dem man sich ewige Treue schwur. Man schwelgte in der Idee einer rein geistigen Vereinigung zwischen Mann und Frau: die »Seelenliebe«, die auf der Gemeinsamkeit edler Regungen beruht, wird zur Modeform des Flirts. Häufig findet sich auch, zumal bei Dichtern, die »Gedankengeliebte«, ein erhabenes, innig verehrtes Idealwesen, das bloß in der Phantasie existiert. Man weint über jeden Brief, den man erhält, über jedes Buch, das man aufschlägt, über die Natur, über den Freund, über die Braut, über sich selbst; und man weint überhaupt. In Millers »Siegwart«, dem erfolgreichsten Roman der Zeit, weint sogar der Mond. Die bisherige bedächtige und wohlartikulierte Schreibweise verändert sich vollkommen: die Sprache wird zum Ausdrucksmittel der Augenblicksstimmungen, bis hart an die Grenze der Gedankenflucht, ist überfüllt mit Gedankenstrichen, Rufzeichen, Fragezeichen, erregten Interjektionen, Sätzen, die in der Mitte abbrechen. Wir haben es hier unzweifelhaft mit einer Art Frühimpressionismus zu tun, dessen Errungenschaften später wieder verlorengingen. Dieser leidenschaftlich suchende, ewig unbefriedigte und gleichwohl vom prometheischen Bewußtsein seiner neuen Funde geschwellte Seelenzustand steht in voller Leibhaftigkeit und Gegenwart vor uns in einem Briefe des jungen Goethe aus dem Jahr 1775, worin er einer seiner Seelenfreundinnen beschreibt, wie er den Tag verbracht hat, und mit den Worten schließt: »Mir war's in alledem wie einer Ratte, die Gift gefressen hat; sie läuft in alle Löcher, schlürft alle Feuchtigkeit, verschlingt alles Eßbare, das ihr in den Weg kommt, und ihr Inneres glüht von unauslöschlich verderblichem Feuer.«
Das Zeitalter hatte das Krankhafte aller Epochen, in denen sich Neues bildet, und zugleich das Doppelgesichtige aller Übergangsperioden: daher seine starken Widersprüche. So ist zum Beispiel der nach Deutschland verpflanzte englische Garten, obgleich aus der Begeisterung für die Rückkehr zur Natur geboren, nichts als der gekünstelte Versuch, alles, was man damals unter »Natur« verstand, auf einen Fleck zusammenzupferchen: Wiesen, Bäche, Grotten, Baumgruppen, sanfte Wegsteigungen, Wäldchen mit obligater Lichtung, und die Staffage bildete ein groteskes Bric-à-brac von allen erdenklichen Reminiszenzen und Velleitäten: griechische Säulen, römische Gräber, türkische Moscheen, gotische Ruinen; dazu gab es noch überall, was als besonders geschmacklos und widernatürlich befremdet, sentimentale Inschriften, die den Text zu den intendierten Wirkungen predigten. Ebenso waren Hypersensibilität und Roheit seltsam gemischt. In derselben Wertherzeit, die in der Geliebten ein überirdisches Wesen erblickte, war in Gießen, wie der Magister Laukhard in seiner Selbstbiographie berichtet, unter den Studenten noch eine sonderbare Form der Ovation üblich, die mehr an Grimmelshausen erinnert: sie zogen, nachdem sie sich vorher entsprechend mit Bier gefüllt hatten, vor ein Haus, worin Frauenzimmer wohnten, und erleichterten sich dort, unter einem Gepfeife, wie es die Fuhrleute beim Pissen der Pferde anzustimmen pflegen.
Die Inthronisierung des Gefühls mußte sich überhaupt ganz naturgemäß ebensosehr in Zügellosigkeit wie in Verfeinerung auswirken. Aus der Überlebtheit und Enge der bisherigen Kunst- und Staatsgesetze zog man den Schluß, daß überhaupt alle Regeln zu verwerfen seien. Im »Werther« heißt es mit deutlicher Ironie: »Man kann zum Vorteile der Regeln viel sagen, ungefähr was man zum Lobe der bürgerlichen Gesellschaft sagen kann.« Und in der Tat hatte die damalige Jugend schon dieselbe Geringschätzung für die Bourgeoisie, wie sie später die französischen Romantiker, die Dichter des jungen Deutschland, die Naturalisten, die Expressionisten und überhaupt alle Jugendbewegungen zur Schau trugen. Dies führte zu einer prinzipiellen Verachtung aller Berufe; man wollte bloß Mensch sein. »Gelehrtenstand Stand? Pfui!«, sagt Goethes Schwager Schlosser 1777 im »Deutschen Museum«, »Himmel, was für Stände! Der Gelehrtenstand, der Juristenstand, der Predigerstand, der Autorenstand, der Poetenstand überall Stände und nirgends Menschen! Warum ist Weisheit, Erfahrung, Menschenkenntnis so selten bei euern Männern von Geschäften? Weil sie einen Stand ausmachen.« Was der Generation als Ideal vorschwebte, war ein geniales Liebhabertum, das sich für alles interessiert, ohne sich an etwas Bestimmtes zu hängen, und als einziges Spezialfach das Studium des Lebens betreibt.
Sehr charakteristisch für die Geniezeit ist ihre Leidenschaft für die Silhouette, die die Porzellanmanie des Rokokos ablöste: man fand die schwarzen Porträts allenthalben in Büchern und Albums, als Wandbilder und Medaillons, auf Gläsern und Tassen, sie erreichten sogar nicht selten Lebensgröße. Die Kunst des Scherenschneidens wurde eine gesuchte Fertigkeit, die auch von namhaften Zeichnern geübt wurde, und die beliebteste Unterhaltung am Familientisch. Das eigentümlich Schattenhafte, Andeutungsmäßige, Verhängte und zugleich Abstrakte, Schematische, Umrißhafte des Zeitalters, die Synthese aus Gefühlsdunkel und Verstandesaufklärung findet in dieser Liebhaberei ihren Ausdruck, auch das Dilettantische, Amateurhafte: Lavater baute seine an sich schon problematische Wissenschaft der Physiognomik vorwiegend auf Sammlungen von Schattenrissen, die er mit großem Eifer anlegte. Diese neue Form der Seelenerkundung entsprach ungefähr unserer heutigen Graphologie: ihr Begründer behauptete, den Charakter jedes Menschen aus dessen Gesicht ablesen zu können, und fand, wie Lichtenberg bissig bemerkte, mehr auf den Nasen der zeitgenössischen Schriftsteller als die vernünftige Welt in ihren Schriften.
Zu einer förmlichen Manie wurde auch das Briefschreiben, das einen wesentlich anderen Charakter trug als heutzutage, denn es bedeutete durchaus keine intime und private Angelegenheit, vielmehr waren die Mitteilungen und Ergüsse, die man zu Papier brachte, von vornherein für einen größeren Leserkreis bestimmt. Der Mangel an wirklichen Zeitungen, die strenge Zensur, die Freude des Zeitalters an der Zerfaserung des eigenen und fremden Seelenlebens machten den »Zirkelbrief«, der oft in Dutzenden von Ortschaften herumging, zu einer dominierenden Verkehrsform. »Denn es war überhaupt eine so allgemeine Offenherzigkeit unter den Menschen«, sagt Goethe, »daß man mit keinem einzelnen sprechen oder an ihn schreiben konnte, ohne es zugleich als an mehrere gerichtet zu betrachten. ... und so ward man, da politische Diskurse wenig Interesse hatten, mit der Breite der moralischen Welt ziemlich bekannt.« Der Brief hieß »Seelenbesuch«, man verliebte sich brieflich und stand in schwärmerischer Korrespondenz mit Personen, die man niemals persönlich kennenlernte.
Es war eben ein durch und durch literarisches Zeitalter; man sprach und bewegte sich, man haßte und liebte literarisch. Alle wichtigen Lebensäußerungen gingen schriftlich vor sich; alles geschah durch das Papier für das Papier. Alles war ein ausschließlicher Gegenstand der Literatur geworden: der Staat, die Gesellschaft, die Religion. Eine wahre Lesewut erfaßte alle Stände, Leihbibliotheken kamen auf und das Buch in der Tasche wurde zum unentbehrlichen Bestandteil der Toilette. Friedrich der Große äußerte zu d'Alembert, er wollte lieber die »Athalie« geschrieben als den Siebenjährigen Krieg gewonnen haben, und dichtete unmittelbar nach der schrecklichen Katastrophe von Kolin zahlreiche Verse und Epigramme. Madame Roland verlangte am Fuße des Schafotts Feder und Papier, um einige merkwürdige Gedanken aufzuzeichnen, die soeben in ihr aufgestiegen seien.
Auch im Kostüm der Zeit mischten sich Extravaganz und Naturalismus. Die Frisuren waren eine Zeitlang so hoch, daß die Damen die Polster aus den Kutschen entfernen mußten. Am französischen Hofe erblickte man eines Tages eine Fregatte mit Segeln als Coiffure. Die Marquise von Créqui erzählt, daß Marie Antoinette im Jahr 1785 à la jardiniere frisiert erschien, mit einer Artischocke, einem Kohlkopf, einer Karotte und einem Bund Radieschen auf dem Kopf. Eine Hofdame war so begeistert davon, daß sie ausrief: »Ich werde nur noch Gemüse tragen; das sieht so einfach aus und ist viel natürlicher als Blumen.« Dann kamen wiederum kolossale Hauben in Mode, die sogenannten Dormeusen oder Baigneusen. Gegen den Puder erhob sich im Namen der Philanthropie eine lebhafte Opposition, die darauf hinwies, daß der enorme Verbrauch von Weizenmehl dem Volk das Brot verteure, und man begann auch in der Tat das Haar ungepudert zu tragen, doch wurde diese Sitte nicht allgemein. Bei den Herren wurde der Zopf von Jahr zu Jahr kürzer und der Leibrock schon im Rokoko zum leicht kupierten Halbfrack, um sich schließlich in den echten Frack zu verwandeln, der, dem englischen Reitrock nachgebildet, um 1770 als »Schwalbenschwanz« in Mode kam. Er war jedoch in seiner Jugend keineswegs das ernste und würdige Festgewand, als das er noch heute fortlebt, sondern begann als lärmendes und provokantes Kleidungsstück, das zunächst bei der revolutionären Jugend am beliebtesten war, in lebhaften Farben wie Scharlachrot, Himmelblau und Violett getragen wurde und mit großen goldenen oder kupfernen Knöpfen besetzt war. Aus dem freien Amerika kam gegen Ende des Zeitraums der Zylinderhut und der große runde Filzhut. Das Wertherkostüm bestand aus hohen Stulpenstiefeln mit Kappe, gelben ledernen Beinkleidern, gelber Weste und blauem Frack; dazu trug man den Hals und das Haar frei, was bei der älteren Generation besonderes Mißfallen erregte. Selbst unter den Damen sah man die »Emanzipierten« mit Wertherhut, Weste und Frack, dem berüchtigten » caraco«.
Die Götter der Zeit waren dieselben, zu denen Werther betete: Homer, Ossian und Shakespeare, den man irrtümlich für einen Buchdramatiker hielt. 1760 hatte der schottische Lyriker James Macpherson »Bruchstücke alter Dichtung, gesammelt in den Hochlanden« herausgegeben; es waren Bardenlieder, angeblich übersetzt aus dem Gälischen der Zeit Caracallas. 1762 ließ er ein zweites Werk folgen: »Fingal, eine alte epische Dichtung, verfaßt von Ossian, Sohn des Fingal.« Schon Johnson und Hume äußerten Zweifel an der Echtheit; aber erst 1807, elf Jahre nach dem Tode Macphersons, wurde die Fälschung einwandfrei nachgewiesen. Doch dies ist ziemlich gleichgültig und war nur für Papierseelen wie Johnson und enragierte Skeptiker wie Hume ein wichtiges Problem. Das Geniale dieses Schauspielerstücks bestand ja gerade darin, daß diese Dichtungen keineswegs treue Kopien alter Volkskunst darstellten, sondern nur so waren, wie die Sehnsucht der Zeit Naturpoesie auffaßte und haben wollte: raffiniert primitiv, mit höchster Artistik pittoresk, die Wehmut später Seelen spiegelnd. Das ungeheure Aufsehen, das sie erregten, wäre durch wirkliche Bardenlieder niemals erreicht worden. Sie wurden ins Französische, Italienische, Spanische, Polnische, Holländische und etwa ein halbes dutzendmal ins Deutsche übersetzt, Alwina, Selma und Fingal wurden beliebte Taufnamen, es entstanden ganze Bardenschulen, und noch Napoleon stellte Ossian über Homer. Das Fahle und Melancholische, Wildgewachsene und Chaotische erschien der Zeit poetischer als Klarheit und Formenstrenge. Man entdeckte den Reiz und die Größe der bisher verachteten Gotik, Horace Walpole, der Sohn des bereits erwähnten Robert Walpole, baute sein Schloß Strawberry Hill zur mittelalterlichen Burg um und schrieb den erfolgreichen Schauerroman »The Castle of Otranto«, Herder rühmte die einfach schönen Sitten der deutschen Vergangenheit und Goethe begeisterte sich für das Straßburger Münster.
Es ist für die Dichter der Sturm- und Drangbewegung bezeichnend, daß sie ausnahmslos ihre größten Würfe im jugendlichen Alter taten: es gilt dies sogar von den Klassikern Herder, Goethe und Schiller. Den Beginn machte Gerstenbergs »Ugolino« im Jahre 1767, eine prachtvolle dramatische Studie voll Farbe und Spannung, die durch die Kraßheit, mit der sie eine Art Morphologie des Hungers entwarf, größtes Befremden erregte. Gerstenberg war um etwa ein Jahrzehnt älter als die übrigen Originalgenies und starb erst im Jahre 1823 mit sechsundachtzig Jahren, hat aber nach diesem verheißungsvollen Auftakt nichts von Bedeutung mehr produziert. Der Göttinger »Hain«, ein Bund exaltierter junger Leute, gegründet 1772, suchte die alte Skaldenpoesie zu erneuern und schwärmte für Freiheit, Vaterland, Tugend und Klopstock. Die Mitglieder der eigentlichen Sturm- und Dranggruppe, die mit dem »Hain« nur äußerlich in Berührung stand, sind alle um die Mitte des Jahrhunderts geboren und wurden vielfach auch »Goethianer« genannt, weil man den Führer der ganzen Bewegung in Goethe erblickte, der sich aber bekanntlich sehr bald von ihr zurückzog. Die Werke erschienen anonym, und es ist ergötzlich zu beobachten, wie selbst Kenner in der Feststellung des Verfassers fehlgriffen. Lessing glaubte, daß Leisewitzens »Julius von Tarent« von Goethe und Wagners »Kindermörderin« von Lenz sei, einige Gedichte Lenzens sind in fast alle Goetheausgaben übergegangen, seine »Soldaten« galten allgemein für ein Werk Klingers, dafür wurde Klingers »leidendes Weib« noch von Tieck in Lenzens gesammelte Werke eingereiht, während bei Klingers »neuer Arria« Gleim und Schubart auf Goethe rieten und Lenzens »Hofmeister« von Klopstock, Voß und aller Welt ebenfalls Goethe zugeschrieben, ja sogar von vielen für dessen bedeutendstes Drama erklärt wurde. In der Tat ist Lenz nächst Goethe der weitaus interessanteste Dichter der Generation. Dieser nannte ihn »das seltsamste und indefinibelste Individuum« und Lavater sagte, Lenzens Stärke und Schwäche treffend zusammenfassend: »er verspritzt vor Genie«. Er erinnert in mancher Beziehung an Wedekind. In seinen Dramen herrscht eine wüste und doch kalte Sexualität, eine gehetzte Bilderflucht und Gedankenflucht, die aber gerade eine eminent dramatische Atmosphäre schafft, ein ins Pathologische und Karikaturistische gesteigerter Naturalismus, der den Figuren eine höchst eigentümliche Grelle und Panoptikumstarrheit verleiht, und ein aus Amoralität geborener Moralismus, der vor den schockantesten Motiven nicht zurückschreckt: in den »Soldaten« ist die Heldin eine Hure und der »Hofmeister« schließt damit, daß der Titelheld sich kastriert. Lenzens Stücke, die er selbst in der Erkenntnis, daß sie ein Mischgenre darstellten, Komödien nannte, erfüllten vollkommen die Forderung, die er 1774 in seinen »Anmerkungen über das Theater« an das Drama stellte: ein »Raritätenkasten« zu sein; der vorzügliche Ausdruck stammte eigentlich von Goethe, den er überhaupt in allem zu kopieren suchte. Er verliebte sich in Friederike Brion und Frau von Stein, stand in engem Freundschaftsverkehr mit Schlosser und Cornelia, traf in einigen seiner Gedichte täuschend den Ton des jungen Goethe und wollte in Weimar ebenfalls die Hofkarriere ergreifen. Karl August nannte ihn daher den Affen Goethes. Doch unterschied er sich von diesem, ganz abgesehen von allem andern, allein schon durch einen abnormen Mangel an menschlichem Fond und psychologischem Takt, der sein Leben nach kurzem Aufstieg ins Dunkel des Wahnsinns und der Vergessenheit schleuderte.
Eine alle Grenzen überspringende und doch im Grunde nur künstlich erzwungene Maßlosigkeit war auch der Grundzug Klingers. Wieland nannte ihn »Löwenblutsäufer« und er selbst schrieb in einem Brief vom Jahre 1775: »Mich zerreißen Leidenschaften, jeden anderen müßte es niederschmeißen ... ich möchte jeden Augenblick das Menschengeschlecht und alles, was wimmelt und lebt, dem Chaos zu fressen geben und mich nachstürzen.« Seine Gestalten leben in einer permanenten Siedehitze; seine Sprache erstickt in einem dicken Nebel von verstiegensten Tropen und widersinnigsten Wendungen. Später ging er nach Petersburg, wo er zum General und Liebling des Zaren avancierte, ziemlich zahme vielgelesene Romane schrieb und in hohem Alter starb. Von seinen Jugenddichtungen sagte er 1785: »Ich kann heut über meine früheren Werke so gut lachen, als einer; aber so viel ist wahr, daß jeder junge Mann die Welt mehr oder weniger als Dichter und Träumer ansieht. Man sieht alles höher, edler, vollkommener; freilich verwirrter, wilder und übertriebener.«
Heinrich Leopold Wagner war ein roher und krasser, aber sehr kräftiger Naturalist. Sein Drama »Die Reue nach der Tat« hatte unter Schröder, der ihm den kitschigen Titel »Familienstolz« gab, einen großen Erfolg. Er starb schon 1779. Der Maler Friedrich Müller, in der Literaturgeschichte unter dem Namen »Maler Müller« bekannt, schrieb ein Faustfragment und ein Schauspiel »Golo und Genoveva«: fein kolorierte, halb realistische, halb lyrische Szenenreihen, geschmackvoller, aber auch blasser als die der anderen. Der schwächste, gemäßigteste und daher erfolgreichste der Gruppe war Leisewitz.
1773 erschien Bürgers »Lenore«, eine der stärksten deutschen Balladen. Diese Dichtungsgattung erreichte überhaupt damals eine hohe Blüte: sie kommt von der »Moritat« der Jahrmarktsbuden her und ist eben darum ein volkstümliches, farbiges und lebenskräftiges Genre, ein lyrisch-episches Pendant zum Drama der Geniezeit. Der erste Musiker, der die geheimnisvoll düsteren Farben der Ballade wirksam zu treffen wußte, war Johann Rudolf Zumsteeg. Schiller hat an Bürger im Jahr 1791 in der »Allgemeinen Literaturzeitung« eine etwas einseitige Kritik geübt, die großes Aufsehen machte, von Goethe sehr beifällig aufgenommen wurde und den Dichter der »Lenore« tief verstimmte, obgleich sie sich an mehreren Stellen sehr anerkennend, ja bewundernd äußert und ihm nur die letzte Kunstreife abspricht.
Man nannte diese Generation von hochbegabten, aber ratlosen Naturdichtern, die etwa ein Jahrzehnt lang das deutsche Publikum durch die Leidenschaftlichkeit, Neuheit und Buntheit ihrer Visionen faszinierten und erschreckten, seinerzeit »kraftgenialisch« und drückte damit ziemlich präzis aus, daß sie durch ihre dichterische Kraft dem Genie verwandt waren, aber nur durch diese. Das Genie ist aber zugleich immer ein Wissender: es stellt sich der höchst komplexen, verwirrenden und scheinbar unlogischen Erscheinung, die wir »Leben« nennen, als Eingeweihter gegenüber. Es verhält sich daher zu allen übrigen Menschen wie der Kenner zu den Dilettanten. Die Dichter des Sturms und Drangs waren nun lauter in der Anlage steckengebliebene Genies. Ihrer Phantasie und Gestaltungsgabe stand keine genügende Gehirnkraft und Bildung gegenüber: sofern man nämlich einen Künstler nur dann gebildet nennen darf, wenn er seine eigene Persönlichkeit vollkommen überschaut und beherrscht. Ihre Fähigkeiten waren nicht äquilibriert. Daher hatte alles bei ihnen etwas Gewaltsames, Unorganisches, Verzerrtes, und ihre Originalität wirkte nicht befruchtend, sondern befremdend. Sie wollten bestimmte Gedanken verkünden und bestimmte Ideale der Lebensführung lehren; aber die messianische Gebärde wurde bei ihnen unwillkürlich zur herostratischen. Ihre ganze Art hatte etwas Gymnasiastenhaftes; sie haben nie etwas anderes geschaffen als hochwertige Pubertätsdichtung. Trotzdem oder vielmehr gerade deshalb muß man die Geniezeit die Blüteperiode der deutschen Dichtung nennen: das Wort in seiner buchstäblichen Bedeutung genommen. Zur Frucht kam es nie; denn diese Blüte wurde geknickt durch den Klassizismus.
Wir können die Sturm- und Drangbewegung vielleicht unserem Verständnis näher rücken, wenn wir sie mit der naturalistischen und der expressionistischen vergleichen. Die Unterschiede sind nicht so groß, wie es nach den lärmenden Programmen, in denen jede dieser drei Richtungen sich als etwas noch nie Dagewesenes ausrief, den Anschein haben könnte. Der Vorgang war in allen drei Fällen prinzipiell der gleiche. Eine »fordernde« Jugend erhebt ein großes Geschrei gegen alles Bisherige, das bloß abgelehnt wird, weil es das Bisherige ist. Sie sprengt alle Formen oder glaubt es zu tun: in Wirklichkeit schafft sie eine neue Form. Sie kommt allemal »von unten«, vertritt die Rechte eines bisher unterdrückten Standes, ist betont polizeiwidrig und so weit als möglich nach links orientiert: 1770 demokratisch, 1890 sozialistisch, 1920 kommunistisch. Für ihr künstlerisches Glaubensbekenntnis wählt sie sich gern einen großen Schutzpatron, den sie in wesentlichen Punkten nachahmt, in anderen wesentlichen Punkten mißversteht: diese Rolle spielte für die Originalgenies Shakespeare, für die Naturalisten Ibsen, für die Expressionisten Strindberg. Sie macht zum Gegenstand der Poesie mit Vorliebe, was den Philister agaciert: Wahnsinn, Mord und Gotteslästerung; Blutschande, Notzucht und Hurerei; Raufen, Saufen und ins Zimmer Spucken, und erhebt die Bühne gern zur sozialen Richterin, deren Entscheidungen sie in einer Mischung aus provokantem Zynismus und verkrampftem Ethos lehrhaft plakatiert.
Hierin erinnerten die Sturm- und Drangpoeten besonders stark an die Expressionisten, mit denen sie auch die Eigentümlichkeit teilten, daß sie Dichter mit zweidimensionaler Phantasie waren: sie sahen alles linear, in der Fläche. Es ist dies vielleicht auch der wahre Grund, warum man ihnen immer vorwarf, ihre Figuren seien konstruiert. Sie waren natürlich konstruiert; aber das wäre an sich noch kein Einwand, denn jeder Dramatiker muß bis zu einem gewissen Grade Konstrukteur sein. Ihre Schwäche bestand darin, daß sie zweidimensional konstruiert oder, um es mit einem gebräuchlicheren, aber unklareren Wort zu sagen, lyrisch konzipiert waren. Daher hatten sie immer etwas Bilderbogenhaftes, ohne daß sie darum falsch oder unfertig gezeichnet gewesen wären: der Eindruck des Schiefen und Steifen entstand nur dadurch, daß sie für die Bühne gedichtet waren, ohne doch bühnenmäßig gesehen zu sein. Man hat stets den Eindruck, daß etwas fehlt: eben die dritte Dimension; es entsteht derselbe Effekt, wie wenn ein ausgezeichneter Rezitator den Versuch macht, als Schauspieler aufzutreten. Eine unscheinbare Äußerlichkeit ist für fast alle linear sehenden Schriftsteller charakteristisch: sie haben eine Leidenschaft für die Linie, die den Text unterbricht, nämlich den Gedankenstrich. Auch die Stürmer und Dränger bedienten sich dieses typographischen Hilfsmittels, das sie durch übermäßigen Gebrauch vollkommen abnützten.
Der Prophet der ganzen Bewegung war Johann Georg Hamann, eine literarhistorische Kuriosität allerersten Ranges. Er schuf sich, in der leidenschaftlichen Überzeugung, daß unsere tiefsten Seelenregungen sich in der Region des clair-obscur vollziehen, eine völlig neue Sprache, die, ganz Ahnung, Geheimnis und Andeutung, von einer bis dahin unerhörten Suggestionskraft, freilich auch an vielen Stellen von einer fast undurchdringlichen Dunkelheit war. Er sprach selbst von seinem »dummen Tiefsinn«, seinem »Heuschreckenstil« und »verfluchten Wurststil«, erklärte, seine eigenen früheren Schriften nicht zu verstehen, und bezeichnete seine ganze Produktion als bloße »Brocken, Fragmente, Grillen, Einfälle«. Im äußersten Gegensatz stand er zu den Aufklärern, den »Lügen-, Schau- und Maulpropheten«, wie er sie nannte, die ihrerseits vornehm auf seine wirre Änigmatik herabsahen: aber man frage sich, ob Mendelssohn, Nicolai und ihr Anhang jemals so geniale Sätze hätten niederschreiben, ja auch nur nachempfinden können wie etwa den Hamannischen: »Das Gute tief herein-, das Böse herauszutreiben schlechter scheinen, als man wirklich ist, besser wirklich sein, als man scheint: dies halte ich für Pflicht und Kunst.« In Sokrates verehrte er im Gegensatz zu Mendelssohn nicht den Dialektiker und Moralisten, sondern das geheimnisvolle Sprachrohr des Daimonions, und das sokratische »Nichtwissen« deutete er im Sinne des Geniebegriffs als ein Bekenntnis zum Irrationalismus. Er verlangte vom Dichter und Denker die »Herzwärme der Willkür«, denn: »Denken, Empfinden und Verdauen hängt alles vom Herzen ab« und »ein wenig Schwärmerei und Aberglauben würde nicht nur Nachsicht verdienen, sondern etwas von diesem Sauerteige gehört dazu, um die Seele zu einem philosophischen Heroismus in Gärung zu setzen«. Poesie ist ihm »Geschichtschreibung des menschlichen Herzens«, Philosophie Selbsterkenntnis: »Nichts als die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis bahnt uns den Weg zur Vergötterung.« Sein KardinalbegrifF war die coincidentia oppositorum Brunos, deren Existenz er überall aufsuchte und nachwies: in der rätselhaften Vereinigung von Geist und Körper, Vernunft und Sinnlichkeit; in der Sprache, die nichts ist als verkörperter Geist, versinnlichter Gedanke; in den christlichen Mysterien der Trinität, Inkarnation und Erlösung.
Eine so tiefe und stets gegenwärtige Überzeugung von der Paradoxie, inneren Gegensätzlichkeit und organischen Unlogik alles Geschaffenen muß notwendig zum ironischen Standpunkt führen, und in der Tat war Hamann ein Ironiker höchster Art vom Schlage eines Plato, Pascal oder Shakespeare. Ja er geht sogar so weit, in der Welt das Produkt der göttlichen Ironie und in der Bibel, dem Wort Gottes, das Schulbeispiel eines ironischen Buches zu erblicken. Und auch in der widerspruchsvollen Stellung, die dieser komplizierte und primitive, moderne und altertümliche, universelle und einseitige, angeschwärmte und mißverstandene Denker selber in seiner Zeit einnahm und noch heute in der Geschichte der Philosophie einnimmt, liegt etwas tief Ironisches.
Auf den Satz Hamanns, daß die Poesie die Muttersprache des menschlichen Geschlechts sei, hat Herder seine ganze Poetik und Sprachphilosophie aufgebaut. Wir haben bereits im ersten Bande in der Einleitung die Bedeutung dieses außerordentlichen Kopfes kurz zu würdigen versucht. Er bildete insofern den äußersten Gegenpol zur Aufklärung, als diese alle Phänomene der Vergangenheit ihrem engen und philiströsen Weltbild anzugleichen suchte, während in ihm gerade die Fähigkeit, sich allen Erscheinungen, auch den entlegensten und fremdesten, mit liebevollem Verständnis einzuschmiegen, aufs stärkste entwickelt war. »Da schreiben wir denn nun ewig für Stubengelehrte, machen Oden, Heldengedichte, Kirchen- und Küchenlieder, wie sie niemand versteht, niemand will, niemand fühlt. Unsere klassische Literatur ist Paradiesvogel, so bunt, so artig, ganz Flug, ganz Höhe und ohne Fuß auf die deutsche Erde.« Die Poesie steht für ihn um so höher, je näher sie der Natur steht, daher sind die herrlichsten Poesien von den ältesten Völkern geschaffen worden, von wilden Natursöhnen, denn die Kultur ist der Poesie schädlich. Das Lied des Volkes ist voll Frische, Kraft, Anschaulichkeit, es redet nicht, sondern malt, es begründet nicht, sondern entlädt sich in kühnen Sprüngen und Würfen. Und um diese Meinung an konkreten Beispielen zu erhärten, übersetzte er mit genialem Einfühlungsvermögen die »Stimmen der Völker«: französische, italienische und spanische, englische, schottische und dänische Dichtungen, nordische Bardenlieder und deutsche Volksweisen, die selbstgewachsenen Naturpoesien aller Nationen bis zu den Grönländern und Lappen, Tataren und Wenden. Er entdeckte die Großartigkeit der mittelalterlichen Kunst, die erhabene Kraft und Einfalt Albrecht Dürers, den morgenländischen Zauber des Alten Testaments, in dem er eine Sammlung von »Nationalmärchen« erblickte, und dabei sah er alle Erscheinungen nicht isoliert, sondern in ihrer Umwelt, als Produkte ihres Zeitalters, ihrer Nationalität, ihrer Sitte. Die Aufklärung betrachtete Shakespeare als ein durch Regellosigkeit verdorbenes Genie, Lessing erklärte ihn für das Genie, das sich selber die Regeln macht, Herder aber deutete ihn als farbiges Abbild der elisabethinischen Ära und ihres eigentümlichen Lebens, ihres Staats und Theaters, ihrer Gesellschaft und Weltanschauung.
Die irrationalistische Bewegung, die Hamann inaugurierte und Herder weiter ausbreitete, fand ihre Fortsetzung und einen gewissen Abschluß in Goethes Jugendfreund Friedrich Heinrich Jacobi. Er nahm seinen Ausgang von der Bekämpfung Spinozas, indem er nachwies, daß dieser Atheist und Fatalist gewesen sei und überhaupt jede derartige mathematisch-logische Demonstrationsweise zum Fatalismus führen müsse: das begriffsmäßige Denken gibt uns statt des Brotes nur Stein, statt eines lebendigen Gottes Naturmechanismus, statt Willensfreiheit starre Naturnotwendigkeit. Das Organ, womit wir die Welt erkennen, ist nicht die Vernunft, sondern das Gefühl, das »Vermögen des Übersinnlichen«, das in jedem Menschen lebt. Daß Dinge außer uns existieren, können wir niemals mit dem Verstand beweisen, vielmehr erlangen wir die Gewißheit hierüber nur durch einen unmittelbaren ursprünglichen Glauben. »Wir haben nichts, worauf unser Urteil sich stützen kann, als die Sache selbst, nichts als das Faktum, daß die Dinge wirklich vor uns stehen. Können wir uns mit einem schicklicheren Worte als dem Worte Offenbarung hierüber ausdrücken?« Aber ein Dasein, das offenbar ist, setzt ein Dasein voraus, das offenbar macht, eine schöpferische Kraft, die nur Gott sein kann. Aus dem Begriff Gottes läßt sich das Dasein Gottes niemals folgern. Gott existiert nicht, weil wir ihn denken, sondern wir sind seiner gewiß, weil er existiert. Mit unserer Erkenntnis können wir das wirkliche Dasein nie erfassen: was wir durch sie ergreifen, ist niemals der Gegenstand selbst, sondern immer nur unsere Vorstellung von ihm. Daß wir die Gegenstände gleichwohl wahrnehmen, nämlich im buchstäblichen Sinne des Wortes für wahr nehmen, ist eine unableitbare, unerklärliche und daher wahrhaft wunderbare Tatsache.
Jacobi ist heute nahezu vergessen, und doch gibt es kaum eine tröstlichere, menschlichere, ja man muß sogar sagen: wahrere Philosophie als die seine. Alles ist schließlich, wenn wir es recht betrachten, eine Tatsache des Glaubens, eine göttliche Offenbarung, ein unbegreifliches Gotteswunder: die ganze Welt, mein eigenes Ich, jedes größte und kleinste Ding. Zu allem brauchen wir Glauben, zu jeder einfachsten Betätigung. Von diesem Glauben leben wir. Der Schuster, der nicht an seine Tätigkeit und deren Objekt von Herzen glaubt, wird niemals ein rechtes Paar Stiefel zusammenbringen. In dem Augenblick, wo wir von den Dingen unseren Glauben an sie abziehen, fallen sie in nichts zusammen wie Zunder; in dem Augenblick, wo wir an sie glauben, sind sie da, wirklich, unangreifbar, unzerstörbar, ja bis zu einem gewissen Grade unsterblich.
Inniger Glaube und zerfressende Skepsis, trunkene Gefühlsseligkeit und eisige Logik, wilde Regelverachtung und rigorose Methodik: alle erdenklichen Polaritäten waren in dieser überreichen Zeit vereinigt. Und zu alledem sah sie noch die Anfänge der beiden »Dioskuren«, die jedoch in Wirklichkeit ebenfalls Gegensätze, Antipoden waren. Die großen und bleibenden Ereignisse der Epoche heißen Götz, Werther und Urfaust, Räuber, Fiesko und Kabale.
Vom jungen Goethe gibt Lottens Bräutigam Kestner in einem Brief an einen Freund folgende Charakteristik: »Er hat sehr viele Talente, ist ein wahres Genie und ein Mensch von Charakter. Er besitzt eine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft, daher er sich meistens in Bildern und Gleichnissen ausdrückt. Er pflegt auch selbst zu sagen, daß er sich immer uneigentlich ausdrücke, niemals eigentlich ausdrücken könne. ... Er ist in allen seinen Affekten heftig, hat jedoch viel Gewalt über sich. Seine Denkungsart ist edel. Von Vorurteilen frei, handelt er, wie es ihm einfällt, ohne sich darum zu kümmern, ob es anderen gefällt, ob es Mode ist, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ist ihm verhaßt. ... Aus den schönen Künsten und Wissenschaften hat er sein Hauptwerk gemacht, oder vielmehr aus allen Wissenschaften, nur nicht den sogenannten Brotwissenschaften. Er ist, mit einem Wort, ein sehr merkwürdiger Mensch.« Das Merkwürdige an ihm war, daß er all das konnte, was die andern nur wollten und nicht einmal klar wollten. Im »Götz« triumphiert in einem seither nicht wieder erreichten Grad die Fähigkeit, die wir als die eigentlich dramatische bezeichnen müssen: die Kunst des virtuosen Auslassens und der dichtesten Pressung, der atemlosen und doch beherrschten Bilderjagd, die der Expressionismus wieder zur Norm erhoben, sich aber nur kalt und äußerlich zu eigen gemacht hat. Der »Werther« stellt den in der Weltliteratur vielleicht einzig dastehenden Fall dar, daß ein Werk, das bei den Zeitgenossen einen ungeheuern, aber ausschließlichen Aktualitätserfolg hatte, dennoch unsterblich geworden ist. Der Grund liegt darin, daß Goethe in diesem Roman zwar mit beispielloser Feinheit und Sicherheit der Zeit ihr Echo zurückwarf, zugleich aber mit einer ebenso beispiellosen Aufrichtigkeit und Innerlichkeit sein eigenes Erleben und Menschentum in seinen bewegtesten Tiefen abspiegelte. Und darum wird man, solange es edle, aber entwurzelte Menschengewächse gibt, immer wieder den »Werther« lesen. Und darum liest heute fast niemand mehr die »Heloïse«, die fast noch größeres Aufsehen machte. Denn diese ist das Werk eines hochbegabten Journalisten, der auf seinen Höhepunkten einem Dichter zum Verwechseln ähnlich sieht, der »Werther« aber eine reine Dichtung, die, nur zu dem Zweck geschrieben, ihren Schöpfer von einem aufwühlenden Erlebnis zu entlasten, zufällig die Bedingungen eines Saisonromans erfüllte. Rousseau will etwas zeigen; Goethe will gar nichts.
Lessing schrieb an den Shakespeareübersetzer Eschenburg über den »Werther«: »Glauben Sie, daß je ein griechischer oder römischer Jüngling sich so und darum das Leben genommen hätte?« Nein, das hätte ein griechischer Jüngling nie getan, geschweige denn ein römischer, schon weil das Schießpulver damals noch nicht erfunden war. Aber das war ja eben das Neue an dem Werk, daß es zum erstenmal und mit unwiderstehlicher Pinselführung die Katastrophe eines »Empfindsamen« malte, der nicht an seiner Liebe, nicht an irgendwelchen Schicksalsschlägen, sondern einfach am Leben stirbt. Die große Tat des »Werther« ist die Entdeckung der prinzipiell unglücklichen Liebe, worin sich auch der feminine Zug des Zeitalters äußert, denn diese ist die spezifisch weibliche Form der Liebe. Goethe selber aber hat sich im »Werther« von seiner Liebe befreit, indem er sie objektivierte, gewissermaßen zu einem selbständigen, von ihm losgelösten Geschöpf machte. Die reinigende und erlösende Funktion, die die Kunst in seinem Leben spielte, steht im Zusammenhang mit seiner sonderbaren Haltung gegen alle geliebten Frauen, die ein psychologisches Problem für sich bildet. Er brach mit Käthchen Schönkopf, er verließ Friederike Brion, er löste sein Verlöbnis mit Lili, allemal ohne ersichtlichen Grund. Auch seine Neigung zu Lotte war keine »unglückliche Liebe« im vulgären Sinne. Er fühlte, daß Lotte von ihrem Verlobten zu ihm hinüberglitt; und genau in diesem Augenblick zog er sich von ihr zurück. 1787 verliebte er sich in Maddalena Riggi, eine schöne blauäugige Mailänderin, die ebenfalls Braut war; eine längere Krankheit führte sie aus seinem Gesichtskreis. Als er sie wiedersah, war die Verlobung gelöst, aber damit war er für sie verloren: es kam nicht zu der von ihr erwarteten Erklärung. Er ließ überhaupt alle sitzen, bis auf zwei: Frau von Stein, weil sie schon einen Mann hatte, und Christiane, weil sie ihm ungefährlich war. Und selbst von der Frau von Stein trennte er sich eines Tages, und wiederum ohne greifbare Ursache.
Man könnte zur Erklärung dieses rätselhaften Verhaltens vielleicht auf Goethes ganze geistige Struktur hinweisen. Er suchte in allem, auch in der Frau, das Urphänomen, und darum konnte ihm keine einzelne auf die Dauer genügen. Sodann hatte er als Künstler, und das heißt: als ewig Wandernder überhaupt vor dem Weib Angst, in dem er das stabilisierende, fixierende Prinzip erblicken mußte. Der tiefste Grund dürfte aber wohl darin zu suchen sein, daß ihm jede Passion in dem Augenblick gegenständlich wurde, zur objektiven »Gestalt« gerann, wo er sich vor den Entschluß gestellt sah, aus ihr reale Konsequenzen zu ziehen, sei es in der Form einer Ehe oder eines dauernden Seelenbundes. Wäre er kein Dichter gewesen, so hätte er sich entweder zu einem »normalen« Verhalten gezwungen oder wäre an diesen Konflikten zugrunde gegangen. Aber er besaß das Ventil seiner Kunst, durch die er, wie man heute vielleicht sagen würde, abreagierte: in ihr finden wir das Feuer seiner Leidenschaft aufbewahrt, aber zur kühlen festen Lavamasse erstarrt.
Man kann die Jahre von etwa 1770 bis 1780 das »Zeitalter Goethes« nennen. Aber nur diese. Damals galt er wirklich als der Führer der deutschen Jugend, den man auch für alle vorlauten Extravaganzen und schielenden Absurditäten der neuen Bewegung verantwortlich machte. Fast alle seine Novitäten schlugen ein, machten Schule, wurden von Bewunderern und Gegnern als Programmkunst gewertet. Später hat er nie wieder diese breite und laute Wirkung erlangt. Besonders im »Werther« erkannten sich alle wieder. Sogar Napoleon las ihn siebenmal. Ein Platzregen von Kopien, Fortsetzungen, Dramatisierungen, Kommentaren, Gegenschriften, Parodien ging über Deutschland nieder; man übersetzte ihn sogar in einige außereuropäische Sprachen. Man zeigte ihn als Wachspuppe auf den Jahrmärkten und wallfahrtete zum Grabe seines Modells, des jungen Jerusalem. Jeder empfindsame Jüngling spielte mit dem Gedanken, das Ende Werthers nachzuahmen, und einige erschossen sich wirklich; jedes empfindsame Mädchen wollte geliebt werden wie Lotte: »Werther hat mehr Selbstmorde verursacht als die schönste Frau« sagte Madame Staël. Das Werk aber, das die Seele der Zeit am reichsten ausdrückte, gelangte gar nicht zu ihrer Kenntnis: der zwischen 1773 und 1775 geschriebene, erst 1790 in veränderter Fassung veröffentlichte »Urfaust«. Und bei all dieser Produktivität von gleich staunenswertem Umfang und Gehalt hat man den Eindruck, daß sie an ihrem Urheber gar nicht das Wesentliche war; daß vielmehr seine Dichtungen Nebenprodukte, organische, aber sekundäre Sekrete waren. Das stärkste und tiefste Kunstwerk, das Goethe geschaffen hat, ist seine Biographie.
Bei Schiller hingegen gewinnt man die Überzeugung, daß seine ganze Genialität in die Feder floß und er sein Leben fast restlos in seinen Gestalten und Gedanken aufgebraucht hat. Es soll damit keineswegs eine verschiedene Wertung ausgesprochen werden, sondern bloß die Konstatierung zweier polarer, aber gleichmäßig berechtigter Dichtertypen.
In dem Nachlaß Otto Weiningers findet sich ein kleiner Aufsatz, worin Schiller als das Urbild des modernen Journalisten geschildert wird. An dieser Auffassung ist so viel richtig, daß die journalistische Nachwelt sich tatsächlich nicht selten an Schiller orientiert hat, im übrigen aber beruht sie auf einer Unbilligkeit, die für die Beurteilung Schillers insofern typisch geworden ist, als man sich vielfach daran gewöhnte, von den Schülern auf den Meister zu schließen und ihn nicht nur für sie verantwortlich zu machen, sondern schließlich sogar mit ihnen zu verwechseln. Nun ist aber Schiller ganz ungeeignet, Schule zu machen. Man kann von einer Rembrandtschule, einer Hegelschule, einer Ibsenschule sprechen, von einer Schillerschule nicht. Man kann Schiller nicht nachahmen oder vielmehr: wenn man ihn nachahmt, wird er unerträglich. Wenn ein anderer Dichter Schillers Pathos nachredet, so wird es phrasenhaft und geschraubt, wenn er seine Technik kopiert, so wirkt sie leer und gemacht, und wenn er seine Ideen wiederholt, so werden sie zu schöngeistigen Platitüden. Schiller wäre als Orator nur ein Leitartikler, als Charakteristiker nur ein Feuilletonist, als Kompositeur nur ein Sensationsreporter, wenn er eben nicht Schiller wäre. Es ist hier noch nicht der Ort, auf diese Frage näher einzugehen.
Über die Mannheimer Uraufführung der »Räuber« berichtet ein Zeitgenosse: »Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht.« Die Ausstattung, die der Intendant Freiherr von Dalberg dem Stück gegeben hatte, war für damalige Begriffe glänzend: besonders entzückt war Schiller von einem Mond mit blechernem Spiegel, der bei Karls Schwur »Höret mich, Mond und Gestirne« langsam über den Theaterhorizont lief und »ein natürliches schreckliches Licht in der Gegend verbreitete«. Andererseits hatte derselbe Dalberg von Schiller zwei ziemlich törichte Adaptierungen erzwungen: das Stück schloß damit, daß Amalia sich selbst erstach und Franz in den Hungerturm geworfen wurde, und spielte im Kostüm der Zeit Maximilians des Ersten: mit Recht schrieb Schiller über diese feige und fälschende Umdatierung eines Werks, das ganz Gegenwart atmete, sie mache aus seinem Drama eine »Krähe mit Pfauenfedern«.
Im übrigen beurteilte Schiller sein Erstlingswerk mit einer Schärfe und Skepsis, die zwar insofern nicht ganz echt wirkt, als sie sich in einer Mischung aus Stolz, Publikumsverachtung, Übertreibungssucht und Mystifikationslust absichtlich übernimmt, aber gleichwohl ein fast einzig dastehendes Beispiel jugendlicher Selbstkritik darbietet. Wenn er den ersten Entwurf der Vorrede zu den »Räubern« mit den Worten beginnt: »Es mag beim ersten in die Hand nehmen auffallen, daß dieses Schauspiel niemals das Bürgerrecht auf dem Schauplatz bekommen wird«, so mutet uns das heute sehr sonderbar an, denn von keinem deutschen Drama könnte man mit mehr Grund behaupten, daß es sich das Bürgerrecht auf dem Theater erworben habe; aber vom damaligen Standpunkt war diese Befürchtung gar nicht so absurd. Die Form mußte, gerade weil sie so eminent dramatisch war, so neu, ungewohnt und scheinbar theaterwidrig wirken, daß man sie sehr leicht für undramatisch halten konnte. In einem Aufsatz im »Wirtembergischen Repertorium«, worin er unter der Chiffre »K....r« sein eigenes Stück besprach (fünf Jahre später hätte jeder auf »Körner« geraten), erklärt Schiller, daß Franzens Intrigen »abenteuerlich grob und romanhaft« seien und das ganze Schauspiel in der Mitte erlahme; von der Sprache und dem Dialog sagt er, sie »dörften sich gleicher bleiben und im ganzen weniger poetisch sein«, hier sei der Ausdruck lyrisch und episch, dort gar metaphysisch, an einem dritten Ort biblisch, an einem vierten platt; von Amalia äußerte er: »Ich habe mehr als die Hälfte des Stücks gelesen und weiß nicht, was das Mädchen will, oder was der Dichter mit dem Mädchen gewollt hat, ahnde auch nicht, was etwa mit ihr geschehen könnte; kein zukünftiges Schicksal ist angekündigt oder vorbereitet, und zudem läßt ihr Geliebter bis zur letzten Zeile des dritten Akts kein halbes Wörtchen von ihr fallen. Diese ist schlechterdings die tödliche Seite des ganzen Stücks, wobei der Dichter ganz unter dem Mittelmäßigen gebheben ist«; und sein Resümee lautet: »Wenn man es dem Verfasser nicht an den Schönheiten anmerkt, daß er sich in seinen Shakespeare vergafft hat, so merkt man es desto gewisser an den Ausschweifungen.« Und in einer zweiten Rezension, die er unter der Maske eines Wormser Korrespondenten schrieb, fügt er noch hinzu: »Wenn ich Ihnen meine Meinung teutsch heraussagen soll dieses Stück ist dem ohnerachtet kein Theaterstück. Nehme ich das Schießen, Sengen, Brennen, Stechen und dergleichen hinweg, so ist es für die Bühne ermüdend und schwer.« In einer Frankfurter Zeitschrift erschien denn auch eine Antikritik, die Schiller gegen seinen überscharfen Beurteiler lebhaft in Schutz nahm.
Diese Mängel der »Räuber«, die seither von weniger befugten Beurteilern bis zum Überdruß immer wieder hervorgehoben worden sind, tun jedoch der Durchschlagskraft des Dramas nicht den geringsten Eintrag. Dies erhellt schon daraus, daß selbst die zahlreichen elenden Bearbeitungen, gegen die es damals noch keinen Rechtsschutz gab, die Wirkung nicht abschwächten. In der Einrichtung von Plümicke, die in Berlin mit andauerndem Erfolg in Szene ging, entpuppt sich Franz als Bastard und Schweizer, der den Gedanken nicht ertragen kann, daß sein Hauptmann durch den Henker enden solle, tötet zuerst Karl und dann sich selbst. In Frankreich erschienen die »Räuber« unter dem Titel »Robert, chef des brigands« in einer stark verändernden Übersetzung von La Martellière: dort erscheint am Schluß Kosinsky mit einem Pardon des Kaisers, der die Räuberbande zu einem corps franc de troupes légères und Robert zu deren Anführer erhebt. Hierzu schrieb La Martellière sogar noch eine Fortsetzung »Le tribunal redoutable, ou la suite de Robert, chef des brigands«. Übrigens plante auch Schiller selbst einen Nachtrag in einem Akt, »Räuber Moors letztes Schicksal«, wodurch, wie er 1785 an Körner schrieb, »das Stück neuerdings in Schwung kommen« sollte. Das Albernste in dieser Richtung dürfte wohl eine Frau von Wallenrodt in ihrem Werk »Karl Moor und seine Genossen nach der Abschiedsszene beim alten Turm, ein Gemälde erhabener Menschennatur als Seitenstück zu Rinaldo Rinaldini« geleistet haben: dort werden Amalia und der alte Moor wieder lebendig, indem dieser nur eine Ohnmacht, jene nur eine leichte Verwundung erlitten hat, und befreien Karl Moor, der sich selbst den Gerichten gestellt hat, durch ihre Fürbitte beim Kaiser aus dem Kerker, worauf Karl und Amalia heiraten und alle Räuber einem ehrlichen bürgerlichen Beruf zugeführt werden.
Auch der »Fiesko« erschien in Mannheim mit einem veränderten Schluß: Verrina führt einen Streich gegen Fiesko, dieser pariert ihn, zerbricht das Zepter und spricht zum Volk, das voll Freude auf den Knien liegt: »Steht auf, Genueser! Den Monarchen hab' ich euch geschenkt umarmt euren glücklichsten Bürger.« Noch edler benahm er sich bei Plümicke, der wiederum für Berlin eine erfolgreiche Raubbearbeitung geliefert hatte: er fängt ebenfalls den Dolch auf, bietet aber Verrina sogleich die nackte Brust dar, worauf dieser erschüttert zurückweicht; am Schlusse erscheint der alte Doria, der seinen Todfeind zum Sohn annehmen und mit dem Herzogshut krönen will; aber Fiesko will als Retter des Vaterlands sterben und stößt sich nun selber den Dolch ins Herz.
Iffland hatte sogar die Taktlosigkeit, eine zweiaktige Posse »Der schwarze Mann«, worin Schillers Unschlüssigkeit über den Ausgang seiner Dramen sehr deutlich verspottet war, nicht nur zur Aufführung in Mannheim zu empfehlen, sondern auch den Dichter Flickwort, dessen ständige Redensart lautet: »Nur wegen der Katastrophe bin ich noch zweifelhaft«, in der Maske Schillers zu spielen, obgleich er selber an den Konzessionen, die dieser in den »Räubern« und im »Fiesko« gemacht hatte, mitschuldig war. Übrigens offenbarte sich das echte Theatertemperament Schillers ja gerade darin, daß er es mit dem Schicksal seiner Figuren nicht so besonders genau nahm und es ihm weniger auf Psychologie und Logik als auf starke Effekte, Stimmungen und Bilder ankam. Er war eben in allem und jedem zuerst Dramatiker, selbst in seinen philosophischen Dialogen, zum Beispiel im »Spaziergang unter den Linden«, der, obgleich eine rein theoretische Erörterung, doch einen starken Aktschluß hat: » Wollmar: Auf jeden Punkt im ewigen Universum hat der Tod sein monarchisches Siegel gedrückt. Auf jeden Atomen les' ich die trostlose Aufschrift: Vergangen! Edwin: Und warum nicht: Gewesen? Mag jeder Laut der Sterbegesang einer Seligkeit sein er ist auch die Hymne der allgegenwärtigen Liebe. Wollmar, an dieser Linde küßte mich meine Juliette zum erstenmal. Wollmar (heftig davongehend): Junger Mensch! Unter dieser Linde hab' ich meine Laura verloren!«
Hingegen war er kein Lyriker, worüber er sich ebenso klar war wie über die Gebrechen seiner Dramen (von den Lauraoden zum Beispiel sagte er: »überspannt sind sie alle«), und nur der Kunstfremdheit der deutschen Pädagogen ist es zu verdanken, daß seine Gedichte in alle Lesebücher übergegangen sind. Einige von ihnen erinnern in unfreiwilliger Komik geradezu an Wilhelm Busch, zum Beispiel die Verse aus dem »Gang nach dem Eisenhammer«:
›Du bist des Todes, Bube, sprich!‹
Ruft jener streng und fürchterlich.
Wer hebt das Aug' zu Kunigonden?
Nun ja, ich spreche von dem Blonden.
Er war damals auch noch kein Erzähler: höchst ungeschickt ist zum Beispiel der Auftakt zu der Novelle »Eine großmütige Handlung aus der neuesten Geschichte«: »Schauspiele und Romane eröffnen uns die glänzendsten Züge des menschlichen Herzens« und die plötzliche Unterbrechung des Berichts: »Das Fräulein doch nein! davon wird das Ende reden.« In allen epischen Produkten aus dieser Periode ist die Darstellung nirgends zur reinen Gestaltung auskristallisiert, sondern schwankt stets zwischen Lehrdichtung im Gellertstil und Kolportage im Vulpiusstil, wobei der Autor immer persönlich hineinredet, demonstriert, moralisch ermahnt oder abschreckt und störend in die Werkstatt blicken läßt; man denke an Stellen wie etwa die im »Verbrecher aus verlorener Ehre«: »Den folgenden Teil der Geschichte übergehe ich ganz; das bloß Abscheuliche hat nichts Unterrichtendes für den Leser.« Überhaupt war der künstlerische Blick des jungen Schiller darin noch ganz von der »Aufklärung« getrübt, daß er den Hauptzweck der Poesie in die sittliche Besserung des Publikums verlegte, wie er es unzählige Male ausgesprochen und nur als Dramatiker nicht praktiziert hat, weil hier sein grandioser Gestaltungstrieb stärker war als seine pädagogischen Absichten. Im Prinzip aber wies er auch der Schaubühne die nützliche Aufgabe zu, uns die Schurken kennen zu lehren und uns dadurch vor ihnen zu schützen: »Wir müssen ihnen ausweichen oder begegnen; wir müssen sie untergraben oder ihnen unterliegen. Jetzt aber überraschen sie uns nicht mehr. Wir sind auf ihre Anschläge vorbereitet. Die Schaubühne hat uns das Geheimnis verraten, sie ausfündig und unschädlich zu machen.« Aus dieser Wurzel stammte auch seine damalige Vorliebe für die Schwarzweißtechnik, die Kontrastierung fleckenlos reiner Engelsgestalten wie Louise und Amalia und restlos verruchter Bösewichter wie Wurm und Franz Moor, der aber seine Theaterstücke einen großen Teil ihrer Wirkung verdanken.
Die Didaktik drang damals sogar bisweilen in die Musik, zum Beispiel bei Haydn, der zusammen mit Gluck und Mozart das Triumvirat der großen Tondichter jenes Zeitalters bildet. Sie lebten alle drei in Wien, wo sie, wie es bei Genies in dieser Stadt die Regel ist, nicht gebührend anerkannt wurden. Gluck war Hofkapellmeister unter Maria Theresia und hatte erst als Sechzigjähriger, 1774, seinen ersten großen Erfolg mit der Aufführung seiner »Iphigenie in Aulis« in Paris, obgleich er dort die tiefeingewurzelte Tradition Lullys und Rameaus zu besiegen hatte. Schon während der Proben tobte in den Cercles, Assembléen und Kaffeehäusern der Kampf der »Gluckisten« und der »Piccinnisten«, die auf Niccolò Piccinni, den hochbegabten Vertreter der neapolitanischen Richtung, schworen. Lange vor Beginn der Premiere war das Theater belagert und Zwischenhändler erzielten ein Vielfaches der Eintrittspreise; als man nach einer Serie ausverkaufter Häuser Rameaus »Castor und Pollux« einzuschieben versuchte, kam fast niemand. Selbst die Dauphine Marie Antoinette, die für das Geistesleben ihrer Zeit viel weniger Interesse hatte als für den Spieltisch und die Schneiderin, war entzückt: als sie eines Tages durch den Bois de Boulogne ritt, wandte sie plötzlich mit dem Ausruf » Mon Dieu, Gluck!« ihr Pferd, eilte auf den Meister zu und überschüttete ihn mit Komplimenten; das umherstehende Volk war tief gerührt und rief: »Was für eine schöne, liebenswürdige Königin werden wir einmal haben!« Noch in demselben Jahr fand auch der »Orpheus«, der in Wien nur mäßigen Beifall erzielt hatte, bei den Parisern eine begeisterte Aufnahme. Aber erst die »Iphigenie auf Tauris« brachte 1779 den vollständigen Sieg: die bisherigen Gegner verstummten und selbst Piccinni wurde Gluckist.
In der Zueignung der »Alceste«, die an den Großherzog von Toskana, den späteren Kaiser Leopold den Zweiten, gerichtet war, sagt Gluck: »Es war meine Absicht, alle Mißbräuche zu verbannen, die durch die Eitelkeit der Sänger und die Nachgiebigkeit der Musiker in die italienische Oper eingedrungen sind und aus dem prunkvollsten und schönsten aller Schauspiele das lächerlichste und langweiligste gemacht haben ... ich habe versucht, alle jene Auswüchse zu beseitigen, gegen die der gesunde Menschenverstand und der gute Geschmack schon so lange vergeblich kämpfen ... Ich habe ferner geglaubt, meine Hauptarbeit dem Streben nach einer schönen Einfachheit widmen zu müssen, und habe es vermieden, auf Kosten der Klarheit mit Kunstfertigkeiten zu prunken.« In diesen Worten ist in der Tat der Inhalt der Gluckschen Reform umschrieben: er hat die Oper von der anmaßenden und absurden Herrschaft der aria di bravura befreit und durch schlichten Wahrheitswillen, lebensvolle Charakteristik und echtes Gefühl vermenschlicht und vertieft, obschon in der Verwirklichung seiner letzten Ziele durch klassizistische Kühle und Bewußtheit gehemmt. Seine Rezitativuntermalungen, seine großen Ensemblefinali und monologischen Arien und seine »Intraden«, die »die Zuschauer auf die Handlung vorbereiten und sozusagen deren Inhalt ankündigen« sollten (während in der italienischen Oper zwischen Ouvertüre und Drama keinerlei Beziehung bestand), sind für Generationen vorbildlich geworden. Sein Oeuvre bedeutet gegenüber dem Metastasianismus einen Durchbruch zur Vereinfachung, Vernatürlichung und Beseelung, aber andrerseits gerade durch seine architektonische Klarheit und imposante Linienstrenge eine Reduktion und Entfärbung, einen Sieg jener Kunstanschauung, deren großartige und verhängnisvolle Rolle im europäischen Kulturleben noch eingehender zu erörtern sein wird.
Was für Gluck Paris war, das wurde für Josef Haydn London, wo er für seine Symphonien mit Einnahmen, Gesellschaftshuldigungen und öffentlichen Ehrungen überschüttet wurde. Seine Kirchenmusik, wegen ihres »weltlichen« Charakters vielfach angefeindet, ist gleichwohl tief katholisch und fast noch barock: sie bejaht die Welt, aber auf dem Untergrunde der Transzendenz. Aus seinen weltberühmten Oratorien »die Schöpfung« und »die Jahreszeiten« redet das rousseauische Naturgefühl des Jahrhunderts, aber geläutert durch die milde Heiterkeit einer anima candida von echter Naivität.
Auch Mozart lebte in Wien in ebenso dürftigen Verhältnissen wie anfangs Gluck und Haydn, refüsierte aber trotzdem die Einladung Friedrich Wilhelms des Zweiten, der ihm einen hochdotierten Kapellmeisterposten in Berlin antrug. Seine Opern brachte er fast alle in Wien zur Uraufführung, obgleich sie dort infolge kleinlichster und gehässigster Intrigen nur wenige Wiederholungen erzielten: bei der ersten Vorstellung des »Figaro« sangen die Italiener absichtlich so schlecht, daß das Werk durchfiel, während es in Prag sogleich einen stürmischen Erfolg hatte. Die Produktion Mozarts ist in ihrer Fülle und Vielseitigkeit vielleicht das erstaunlichste Phänomen der gesamten europäischen Kunstgeschichte. Er war in allem ein Meister; Haydn, mit dem ihn eine rührende Freundschaft verband, sagte von ihm: »Wenn Mozart auch nichts anderes geschrieben hätte als seine Violinquartette und sein Requiem, würde er allein dadurch schon unsterblich geworden sein.« Sein Lebenswerk umfaßt Opern und Symphonien, Sonaten und Kantaten, geistliche und Kammermusik, im ganzen über sechshundert Stücke. Und der Extensität seines Schaffens entspricht die berückende Intensität: der Reichtum der einander jagenden und kreuzenden und doch nie störenden und verwirrenden Einfälle, so abundant und bewältigt nur noch bei Shakespeare, mit dem er auch die einzigartige Mischung von Ernst und Humor gemeinsam hat. Und dies alles hat er während eines Lebens von nicht ganz sechsunddreißig Jahren in einem beängstigend atemlosen Prestissimo aus sich herausgeschleudert, das den Eindruck erweckt, als habe er vorausempfunden, daß ihm nur wenig Zeit gegeben sei: er erinnert hierin an Schiller und Nietzsche, die ebenfalls unter einem ungeheuern Hochdruck arbeiteten. Wir müssen nämlich von der Ansicht ausgehen, daß jeder Mensch ein spezifisches inneres Tempo besitzt, das sich für einen Geist, der diese Verhältnisse vollkommen zu überblicken vermöchte, sogar wahrscheinlich in irgendeiner Gleichung ausdrücken ließe. Es gibt offenbar eruptive Naturen, die von einer so vehementen Beschleunigung erfüllt sind, daß sie in der Hälfte der normalen Zeit die ganze Strecke ihres Lebens und Schaffens zurücklegen. Es scheint fast, daß Schiller im Fragment des »Demetrius«, Nietzsche im Fragment des »Antichrist« ihre letzten Möglichkeiten erreicht hatten, gleich einer Dampfmaschine, deren Manometer auf hundert steht. Dasselbe gilt von anderen »der Menschheit zu früh Entrissenen«: von Kleist, Novalis, Raffael, Alexander dem Großen. Die Uhr ist in psychologischen Dingen ein sehr inkompetenter Zeitmesser; das wahre Maß der Zeit ist hier die Zahl der Eindrücke und Assoziationen. Die Vorstellungsmassen können auf einen Geist in einer solchen Dichte einströmen, daß er in verhältnismäßig kurzer Zeit schon ein volles Menschenschicksal erfüllt. Eine Ahnung hiervon lebte in allen jungverstorbenen Genies: die Dramen Kleists sind wie im Fieber geschrieben, Novalis gab in tragischer Prophetie seinem Lebenswerk den Titel »Fragmente«, Raffael malte Tag und Nacht, Alexander hat mit sinnverwirrender Impetuosität in dreizehn Jahren die Kriegs- und Friedensgeschichte einer ganzen Dynastie durchrast.
Auch bei Mozart können wir uns eine Entwicklung über Figaro, Don Juan und Zauberflöte hinaus nicht mehr vorstellen, und die bisherige Musikgeschichte gestattet sogar die Vermutung, daß sie absolute Gipfelpunkte nicht nur seiner, sondern der menschlichen Tonkunst darstellen. In diesen drei Wunderwerken vermählt sich die deutsche Innerlichkeit und Unschuld mit der silbernen Heiterkeit und träumerischen Verspieltheit des Rokoko, während in dem jüngsten von ihnen auch die Aufklärung, unendlich vertieft, ihren tönenden Mund gefunden hat. Und noch in einem zweiten Genius kulminiert die Aufklärung, der im übrigen wenig Ähnlichkeit mit Mozart besitzt; sein erstes epochemachendes Werk trat in demselben Jahre ans Licht wie Mozarts erste Oper von Säkularformat: das Jahr 1781 erblickte die erste Aufführung des »Idomeneo« und die erste Auflage der »Kritik der reinen Vernunft«.
Wir müssen bei Kant allerdings zwei Wesenheiten unterscheiden, die fast völlig voneinander getrennt sind: eine zeitgebundene und eine zeitlose. In seinen Ansichten über Staat und Recht, Gesellschaftsordnung und Kirchenregiment, Erziehung und Lebensführung steht er ganz auf dem Boden der Aufklärung; wo immer er sich ins Gebiet der Empirie begibt, stimmt er mit den führenden Geistern seines Jahrhunderts im wesentlichen überein: in der Physik mit Newton, in der Theologie mit Leibniz, in der Ästhetik mit Schiller, in der Geschichtsbetrachtung mit Lessing. Als Philosoph aber, das heißt: als Erforscher der menschlichen Erkenntnis, war er ein völlig isoliertes Weltwunder, ein Gehirn von einer solchen formidabeln Überlebensgröße, Schärfe des Distinktionsvermögens und Kraft des Zuendedenkens, wie es auf Erden nur einmal erschienen ist. Ja er nimmt nicht nur in seiner Zeit, nicht nur innerhalb der Menschheit, sondern auch unter allen Philosophen eine völlig einzigartige Stellung ein. Konfuzius und Buddha, Heraklit und Plato, Augustinus und Pascal und alle übrigen philosophischen Geister von Unsterblichkeitsrang haben sublime Gedankendichtungen geschaffen; Kant hingegen war nichts weniger als ein Dichter, sondern ein reiner Denker, vermutlich der reinste, der je gelebt hat; was er gibt, ist nicht die individuelle Vision eines Künstlers, der durch die Wucht seiner Phantasie bezwingt, sondern die weltgültige Formulierung eines Forschers, der durch die Schlagkraft seiner Sagazität und Beobachtungsgabe überwältigt. Sein System hätte Friedrich der Große nicht einen Roman nennen können. Er selbst hat sich als den Historiker der menschlichen Vernunft bezeichnet; man könnte ihn auch deren genialen Tiefseeforscher, Vivisektor, Detektiv heißen.
Und doch müssen wir sogleich eine Berichtigung vornehmen. Er war kein Dichter, kein Realisator selbsterschaffener Welten und ein Künstler höchstens in der lichtvollen sauberen Architektonik seines Systems, aber er besaß gleichwohl Phantasie, und zwar eine Form der Phantasie, wie sie, zumindest in dieser extremen, ja absurden Ausprägung, noch nie auf der Welt gewesen war. Er war der erste, der über »physische Geographie« las: dieses Kolleg war sein besuchtestes und ihm selbst das liebste, er hat es fast jedes zweite Semester abgehalten. Er schilderte darin, obgleich er nie über den Umkreis seiner Vaterstadt Königsberg hinausgekommen war, nie das Meer, eine Weltstadt, eine reiche Vegetation, ja auch nur ein Gebirge oder einen großen Strom gesehen hatte, alle Regionen der Erde so lebhaft und anschaulich in ihren sämtlichen Einzelheiten, daß alle Uneingeweihten ihn für einen Weltreisenden hielten. Die Westminsterbrücke beschrieb er einmal mit solcher Genauigkeit und Deutlichkeit, daß ein anwesender Engländer behauptete, er müsse ein Architekt sein, der mehrere Jahre in London gelebt habe. Dies nämlich war die Art seiner Phantasie: er vermochte sich Dinge anschaulich vorzustellen, die er nie gesehen hatte, ja die überhaupt noch nie ein Mensch gesehen hatte. Dieses Gebiet, das nur er leibhaftig, deutlich und genau zu erblicken vermochte, war die menschliche Vernunft, und diese Gabe macht ihn zum Unikum in der gesamten menschlichen Geschichte.
Es könnte scheinen, als gebe es noch in einem anderen Sinne als in dem soeben erörterten einen doppelten Kant.
Da war ein Kant, der mit einer beispiellosen Scheidekunst alles zerlegte und auflöste, ein radikaler Revolutionär, dämonischer Nihilist und unbarmherziger Zerstörer des bisherigen Weltbilds. Da war aber auch ein Kant, der nichts anderes war als der kleine Bürger einer weltentlegenen Provinzstadt, altpreußisch, protestantisch, pedantisch, verwinkelt, konservativ, vor der Staatsallmacht, dem Kirchendogma und der öffentlichen Meinung kapitulierend, korrekt bis zur Genrehaftigkeit, Tag für Tag nach derselben genauen Einteilung lebend, so pünktlich um dieselbe Stunde das Haus verlassend, vom Kolleg zurückkehrend, zu Mittag essend, spazierengehend, daß die Nachbarn nach ihm ihre Uhren richteten.
Und doch ist die Versöhnung dieser beiden scheinbar feindlichen Seelen Kants der Sinn seiner ganzen Philosophie: inwiefern, das können wir vorläufig nur andeuten. Er enthüllte die Realitäten als theoretische Unbewiesenheiten und Unbeweisbarkeiten, ja Irrlichter und Phantome, aber zugleich als praktische Wünschbarkeiten, Wertsetzungen, Notwendigkeiten, ja Tatsachen und Gewißheiten. Die empirische Welt ist unwirklich, phänomenal, aber der Glaube an sie ein kategorischer Imperativ: in diesem einen Satz ist seine ganze Philosophie enthalten, die theoretische und die praktische. Durch diesen Beweisgang wird, auf einem strapaziösen, aber unvermeidlichen Umweg, die Wirklichkeit, die eben noch negiert wurde, wieder bejaht, und zwar in allen ihren Einzelheiten, auch die Welt des common sense. Hat man dies alles durchgedacht, so darf man wieder nach der Uhr leben, man soll sogar nach der Uhr leben, nach jener bloß fiktiven und phänomenalen Weltuhr, an deren Existenz zu glauben ein logischer Widersinn und eine moralische Pflicht ist.
Und dazu lebt noch auf dem Untergrunde von Kants lauterer Seele, ihm selbst halb verborgen, ein tief religiöses pietistisches Element, das diese beiden Widersprüche setzt und vermählt: die tiefste Demut vor dem Schöpfer: wir haben nicht das Recht, sein Dasein und das Dasein seiner Welt als wissenschaftliches Axiom aufzustellen und damit gewissermaßen von unserem Geiste abhängig zu machen. In seiner »Antinomienlehre« hat Kant bekanntlich gezeigt, daß alle rationalen Beweise für das Dasein Gottes hinfällig sind: verneint man die Existenz Gottes, so gelangt man zum Atheismus, bejaht man sie, so gelangt man zum Anthropomorphismus; man kann daher weder sagen: es gibt einen Gott, noch: es gibt keinen Gott. In Wahrheit meint aber seine Frömmigkeit: wer sind wir, daß wir sagen dürften: es ist ein Schöpfer?
Die Legende von den angeblichen »zwei Kants« spukt nicht nur durch die ganze Geschichte des kantischen Nachruhms, sondern wurde auch schon von einzelnen seiner Zeitgenossen verbreitet. Am geistreichsten und lustigsten hat sich Heine in seiner »Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland« über diese Frage geäußert, indem er nachzuweisen suchte, daß Kant die »Kritik der praktischen Vernunft« nur seinem alten Diener Lampe zuliebe geschrieben habe. »Nach der Tragödie kommt die Farce. Immanuel Kant hat bis hier den unerbittlichen Philosophen traciert, er hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute ... da erbarmt sich Immanuel Kant und zeigt, daß er nicht bloß ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch ist, und er überlegt, und halb gutmütig, halb ironisch spricht er: Der alte Lampe muß einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich sein der Mensch soll aber auf der Welt glücklich sein das sagt die praktische Vernunft meinetwegen so mag auch die praktische Vernunft die Existenz Gottes verbürgen. Infolge dieses Argumentes unterscheidet Kant zwischen der theoretischen Vernunft und der praktischen Vernunft, und mit dieser, wie mit einem Zauberstäbchen, belebte er wieder den Leichnam des Deismus, den die theoretische Vernunft getötet.« In dieser Auffassung zeigt sich, durch graziösen Witz gemildert, die ganze Seichtigkeit des »jungen Deutschland«, die sich von Kant nur so viel anzueignen wußte, als ihr eigener Geist begriff: nämlich die billige und subalterne Polemik gegen den Klerikalismus. Aber auch noch am Anfang unseres Jahrhunderts hat Häckel in seinen vielgelesenen »Lebenswundern« eine Tabelle der »Antinomien von Immanuel Kant« aufgestellt, in der er die Widersprüche, die zwischen seinem ersten und seinem zweiten Hauptwerk bestehen sollen, in acht Punkten übersichtlich gegeneinander setzt und »Kant I« als »Alleszermalmer« und »Atheisten mit reiner Vernunft«, »Kant II« als »Allesverschleierer« und »Theisten mit reiner Unvernunft« bezeichnet.
Die Meinung, daß Kant über das Zerstörungswerk seiner Kritik nachträglich selber erschrocken sei und sich bemüht habe, den Schaden wieder gut zu machen, läßt sich schon deshalb nicht aufrechterhalten, weil sich für jeden, der vorurteilslos zu lesen versteht, die »Kritik der praktischen Vernunft« in der »Kritik der reinen Vernunft« bereits deutlich ankündigt, nämlich in dem eben erwähnten Kapitel, das von der rationalen Theologie handelt. Auch hat sich Kant selber hierüber in der Vorrede zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft«, die vor der ersten Auflage der »Kritik der praktischen Vernunft« erschien, ganz unzweideutig ausgesprochen: »Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatismus der Metaphysik ... ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist.« Kant hat den Glauben gegen alle wissenschaftlichen Einwürfe sichergestellt, indem er ihn der theoretischen Vernunft ein für allemal entzog. Urteile wie »richtig« oder »unrichtig« sind, auf die religiösen Bewußtseinsinhalte angewandt, völlig sinnlos: wie der nietzschische Immoralist jenseits von Gut und Böse steht, so steht der kantische Moralist jenseits von Wahr und Falsch.
Indem wir nunmehr versuchen, die Grundgedanken der kantischen Philosophie in Kürze darzustellen, müssen wir vorausschicken, daß man in ihr nicht, wozu ihr dozierender Ton und didaktischer Aufbau verleiten könnte, eine Lehre zu erblicken hat, die ein neues Wissen vermittelt, sondern einen Ruf zur geistigen und sittlichen Einkehr, der ein neues Sein fordert: sie ist ein Weg und kein Ziel, und um sie im richtigen Geiste aufzunehmen, bedarf es nicht bloß eines gewissen Interesses und Verständnisses für philosophische Probleme, sondern einer bestimmten Naturanlage, einer eingeborenen Richtung des Willens auf Wahrheit und Reinheit. Deshalb haben viele kluge und unterrichtete Menschen erklärt, Kant nicht begreifen zu können, und viele einfache und »unphilosophische« Köpfe in seinen Gedanken, die durch geheimnisvolle Kanäle zu ihnen drangen, den höchsten Trost und die tiefste Erleuchtung gefunden. »Philosophie«, sagt Kant, »kann überhaupt nicht gelernt werden. Mathematik, Physik, Geschichte kann gelernt werden, Philosophie nicht, es kann nur Philosophieren gelernt werden.« Eine »gelernte« Philosophie würde in seinen Augen aufhören, Philosophie zu sein; sie wäre bloß »historisches«, nicht philosophisches Wissen.
Im übrigen muß ich den Leser bitten, nicht ungeduldig zu werden, wenn er einiges nicht sogleich versteht; manches wird erst durch das Nachfolgende klar, und es wird sich daher diesmal ausnahmsweise empfehlen, den Text zweimal zu lesen.
Philosophie ist Erkenntnis: dies ist vielleicht der einzige Satz, über den die Philosophen immer einig gewesen sind. Diese Erkenntnis geschieht durch unser Erkenntnisvermögen; und zwar hatten sich in der neueren Zeit zwei philosophische Hauptrichtungen herausgebildet: die Sensualisten hatten das Schwergewicht auf die Sinnesfunktionen gelegt, die Rationalisten auf die Verstandesfunktionen. Die gemeinsame Tätigkeit der Sinne und des Verstandes macht das aus, was wir »Erfahrung« nennen. Nun hatten die bisherigen Philosophen zwar die Meldungen der Sinnesorgane und die Schlüsse des Verstandes auf ihren Charakter und ihre Zuverlässigkeit zu prüfen versucht, die Tatsache der Erfahrung selbst aber als etwas schlechthin Gegebenes hingenommen. Man pflegt einen Gedankengang, der sich auf die Annahme unaufgeklärter Fakten gründet, auch im gewöhnlichen Leben kritiklos zu nennen. Die ganze bisherige Philosophie war in diesem Sinne naiv und leichtgläubig, unkritisch und dogmatisch, die kantische Philosophie ist kritisch, sie will in dem großen Streit der Rationalisten und Sensualisten die unparteiische Schiedsrichterin sein und sich zu der alten Schulmetaphysik verhalten wie die Chemie zur Alchimie, die Astronomie zur Astrologie. Kant verlegt das Problem viel weiter zurück, indem er fragt: woher kommt die Erfahrung überhaupt? wie wird sie möglich? wie wird die Erkenntnis selbst erkannt? Eine Sache kann man nur erkennen, wenn man alle Bedingungen kennt, aus denen sie entstanden ist. Weil die kantische Philosophie erforscht, was dem Zustandekommen unserer Erkenntnis vorhergeht, nennt sie sich » transzendental«, was nicht mit »transzendent« verwechselt werden darf, vielmehr das Gegenteil davon bedeutet: transzendental ist, was diesseits aller Erfahrung liegt, ihr vorausgeht; transzendent ist, was jenseits aller Erfahrung liegt, über sie hinausgeht. Das Untersuchungsobjekt der kritischen Philosophie ist die von aller Erfahrung unabhängige Vernunft, die Vernunft, wie sie vor aller Erfahrung da ist, als bloßes Vermögen der Erfahrung: sie heißt daher » reine« Vernunft. Die drei Grundvermögen der reinen Vernunft sind die Sinnlichkeit oder das Vermögen der Anschauungen, der Verstand oder das Vermögen der Begriffe und die Vernunft (im engeren Sinne) oder das Vermögen der Ideen. Durch die Tätigkeit unserer Vernunft kommt das zustande, was Kant die »Erscheinung« nennt, nämlich die Welt, wie sie unserem Bewußtsein erscheint, während das, was diesen Erscheinungen zugrunde liegt, das »Ding an sich«, das Ding, wie es, abgesehen von unserer Art, es aufzufassen, an sich selbst ist, von uns niemals erkannt werden kann. Diese Ausdrücke sind im ganzen nicht glücklich gewählt, künstlich, scholastisch, unscharf und schwerverständlich, auch mißverständlich und hätten leicht durch populärere, handlichere und eindeutigere ersetzt werden können; auch hat Kant selber ihren Gebrauch nicht vollständig beherrscht: so nennt er zum Beispiel bisweilen das Ding an sich das »transzendentale Objekt«, während er es doch, da es sich jenseits aller Erfahrung befindet, das »transzendente Objekt« nennen müßte (falls es überhaupt erlaubt sein sollte, eine solche Bezeichnung zu gebrauchen, die eigentlich eine contradictio in adiecto enthält; denn etwas, das unserem Bewußtsein transzendent ist, kann niemals unser Objekt sein).
Diese eigensinnige Terminologie in Verbindung mit der altväterischen, verschnörkelten und schleppenden Darstellungsweise, die Kant für seine Hauptwerke wählte, hat viele von dem Studium seiner Philosophie abgeschreckt. Heine spricht von »grauem, trockenem Packpapierstil«, Schopenhauer von »glänzender Trockenheit« und nennt die Sprache der Vernunftkritik »undeutlich, unbestimmt, ungenügend und bisweilen dunkel«. Im ganzen aber muß man sagen, daß diese Bücher nicht eigentlich schlecht geschrieben sind, sondern bloß umständlich und ohne jede künstlerische Ambition. Die Sätze sind wohl geschachtelt, aber auch wohlgeschachtelt, langatmig, aber auch starkatmig. Kant war kein klassischer Prosaist vom Range Schopenhauers, aber ein ausgezeichneter Schriftsteller, der sehr wohl imstande war, sich flüssig, faßlich, anziehend und sogar amüsant auszudrücken. Von seinen Vorlesungen rühmte Herder, der zwei Jahre lang sein Schüler war: »Scherz, Witz und Laune standen ihm zu Gebot, und sein lehrender Vortrag war der angenehmste Umgang.« Seine Lieblingsautoren waren Cervantes und Swift, Montaigne und Lichtenberg; der Stil seiner vorkritischen Schriften ist bei allem Gedankenreichtum klar, gewandt und nicht selten anmutig und humorvoll. Mit seiner »Kritik der reinen Vernunft« nimmt er aber eine völlig neue Schreibweise an, die, stets streng und kalt bei der Sache bleibend und nirgends die geringsten Bequemlichkeiten gewährend, jede Rücksicht auf den Leser verschmäht. Es kann hier nur eine bestimmte Absicht im Spiele gewesen sein: teils empfand Kant seinen Gegenstand als zu erhaben, um ihm eine gefällige Darstellung zu widmen, teils wollte er schon durch die Form eine Mauer zwischen sich und den Popularphilosophen aufrichten.
Der Ausgangspunkt der kantischen Philosophie ist in Hume zu suchen, der, wie wir uns erinnern, behauptet hatte, daß die Idee der Kausalität, der Verknüpfung nach Ursache und Wirkung nicht aus der Erfahrung stamme, sondern von uns zu den Vorgängen hinzugedacht werde: aus einem bloßen post hoc machen wir eigenmächtig ein propter hoc. Diesen Gedankengang nahm Kant auf, aber nur, um sogleich viel tiefer zu graben: er stellte fest, daß der Begriff der Kausalität zwar nicht in den Dingen selbst enthalten ist, aber nicht weil er nach aller Erfahrung, a posteriori in sie hineingetragen wurde, sondern weil er vor aller Erfahrung, a priori in uns entsteht, weil durch ihn Erfahrung überhaupt erst möglich wird, weil er unsere Erfahrung macht. Ebenso verhält es sich mit dem Begriff der Substantialität, von dem Hume gleichfalls behauptet hatte, daß er von uns aus der bloßen Beobachtung der konstanten Verbindung gewisser Eigenschaften willkürlich erschlossen worden sei, und den übrigen Kategorien oder »reinen« Verstandesbegriffen, die Kant so nennt, weil sie unabhängig von der Erfahrung existieren, die erst durch sie existiert. Der Grundirrtum Humes hatte darin bestanden, daß er die Kategorien mit den Gattungsbegriffen verwechselte, die allerdings erst aus der Erfahrung hervorgehen, weil sie von den Einzelgegenständen abgezogen, abstrahiert sind.
Die ganze »Kritik der reinen Vernunft« besteht nun eigentlich in nichts anderem als in der Anwendung dieses Grundgedankens auf sämtliche Gebiete der Erkenntnis. Als »apriorische« Erkenntnisformen sind anzusehen: erstens unsere Anschauungsformen, nämlich Raum und Zeit; auf ihnen beruht die absolute Gültigkeit unserer geometrischen und arithmetischen Urteile und von ihnen handelt die »transzendentale Ästhetik«, die die Frage beantwortet: wie ist reine Mathematik möglich?; zweitens unsere Denkformen, nämlich die zwölf Kategorien oder Stammbegriffe des Verstandes; auf ihnen beruht die Gültigkeit der allgemeinen Verstandesgrundsätze und von ihnen handelt die »transzendentale Analytik«, die die Frage beantwortet: wie ist reine Naturwissenschaft möglich? Strenge Notwendigkeit und Allgemeinheit kommt nur diesen reinen Anschauungen und reinen Begriffen zu, die vor aller Erfahrung da sind, indem sie der menschlichen Seele und ihren Grundkräften entspringen, während Urteile, die aus der Erfahrung geschöpft sind, immer nur »angenommene«, »komparative« oder »induktive« Allgemeinheit besitzen; man kann mit ihnen nur sagen: »So viel wir bisher wahrgenommen, findet sich von dieser oder jener Regel keine Ausnahme.« Es ist ersichtlich, daß Kant mit dieser Auffassung die ganze bisherige Philosophie auf den Kopf stellt. Während diese annahm, Wahrheit könne nur aus der Erfahrung gewonnen werden, erklärt Kant: alle Erfahrung enthält nur bedingte und approximative Wahrheit, und absolute Wahrheit kann nur vor der Erfahrung, außerhalb der Erfahrung und ohne die Erfahrung gefunden werden.
Raum und Zeit sind keine Eigenschaften der Dinge, auch nicht aus unserer Beobachtung der Außenwelt geschöpft, vielmehr verhält es sich gerade umgekehrt: was wir Außenwelt nennen, hat den Raum und die Zeit zur Vorbedingung. Die Tatsache, daß Dinge gleichzeitig sind oder aufeinander folgen, setzt bereits die Zeit voraus; daß Dinge nebeneinander oder voneinander entfernt sind, setzt bereits den Raum voraus. Zeit und Raum sind die Form, in der die Dinge erscheinen, in der sie erscheinen müssen, ohne die sie gar nicht erscheinen können. Zeit und Raum lassen sich von den Erscheinungen nicht wegdenken; hingegen kann man sich sehr wohl die Zeit und den Raum denken ohne alle Erscheinungen. Alle wirklichen oder auch nur möglichen Gegenstände unserer Erfahrung stehen unter der Herrschaft dieser beiden Anschauungsformen, woraus aber andrerseits folgt, daß diese Herrschaft sich nur genau so weit erstreckt wie unsere Erfahrung: sie ist von absoluter Gültigkeit lediglich innerhalb der menschlichen Empirie. Was wir Wirklichkeit nennen, jene anschauliche Welt, wie sie von unserer »Sinnlichkeit«, dem transzendentalen, apriorischen, aller Erfahrung vorhergehenden Vermögen der reinen Anschauungen hervorgebracht wird, ist in Wahrheit nur Erscheinung, eine ideale Welt, in der die Dinge bloß als Phänomene unseres Bewußtseins existieren, nicht, wie sie an sich sind, und die daher, wie Kant sagt, gleichzeitig »empirische Realität« und »transzendentale Idealität« besitzt.
Gegeben sind uns zunächst nur gestaltlose Empfindungen, diese ordnet unsere »anschauende Vernunft« in Raum und Zeit, dadurch werden sie zu Erscheinungen. Aber diese Erscheinungen wollen wiederum geordnet, in eine gesetzmäßige Verknüpfung gebracht werden. Diese Aufgabe löst die »denkende Vernunft« oder der Verstand mit Hilfe der »reinen Begriffe«: durch sie wird aus den Erscheinungen Erfahrung. Durch Anschauungen werden uns die Gegenstände nur gegeben, durch Begriffe werden sie gedacht. Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauungen sind leer. Da der Verstand das Vermögen des Urteilens ist, so ergeben sich die Kategorien, mit denen er die Welt begreift, aus den verschiedenen Formen des Urteils: es gibt deren zwölf. Kant hat diese »Kategorientafel«, die ihm sehr am Herzen lag, mit großer Sorgfalt ausgearbeitet; wir wollen aber nicht näher auf sie eingehen, da sie nicht viel mehr bedeutet als eine geistreiche scholastische Spielerei, die Kardinalgedanken seines Systems nicht berührt und auch durchaus nicht unanfechtbar ist: denn nicht alle Begriffe, zu denen sie gelangt, sind »reine« Begriffe im kantischen Sinne. Auf sie paßt in besonderem Maße die feine Bemerkung, die Paulsen über das kantische Lehrgebäude im allgemeinen gemacht hat: »Manche stattlich und vornehm auftretenden Teile des Systems gleichen einigermaßen den künstlich eingesetzten Zweigen der Tannenbäume auf dem Weihnachtsmarkt.«
Viel wichtiger, ja das Zentrum der kantischen Philosophie ist die unmittelbar anschließende schwierige Lehre von der »transzendentalen Apperzeption«. Wir haben gehört: die Dinge erscheinen uns nicht nur im Nebeneinander des Raums und im Nacheinander der Zeit, sondern auch in einer gesetzmäßigen und notwendigen Verknüpfung; diese Verknüpfung geschieht durch die Begriffe unseres Verstandes und ihr Resultat ist das, was wir »Erfahrung« nennen. Aber in der Erfahrung sind uns die Dinge immer nur in einer tatsächlichen, nicht in einer notwendigen Verknüpfung gegeben. Gleichwohl treten die Verknüpfungen, die unser Verstand vollzieht, mit dem Anspruch und Charakter strenger Allgemeinheit und Notwendigkeit auf. Woher kommt das? Einfach daher, daß wir selbst durch unsere einheitliche Auffassung, durch die transzendentale, aller Erfahrung vorhergehende Einheit unserer Apperzeption diese Synthesis vollziehen. Die Welt, die unseren Empfindungen zunächst nur als dunkle verworrene Mannigfaltigkeit gegeben ist, wird durch die Einheit unseres Selbstbewußtseins von vornherein als Einheit apperzipiert, folglich ist sie eine Einheit und eine notwendige Einheit. Daß uns die Welt, die wir vorstellen, stets als dieselbe erscheint, ist nur zu erklären aus der Einheit und Unwandelbarkeit unseres »reinen« Bewußtseins, das vor aller Welt da ist und daher den »obersten Grundsatz«, das »Radikalvermögen« der menschlichen Erkenntnis bildet. Die Einheit unseres Ichs ist der wahre Grund der Einheit der Welt; die »Natur« wird uns Objekt, Erfahrungsgegenstand, Bewußtseinsinhalt, anschaulich und gesetzmäßig geordneter Zusammenhang, weil wir sie vorher durch die in unserer Seele bereitliegenden Erkenntnisvermögen der Anschauung und des Verstandes als diesen »Gegenstand« gesetzt haben. »Verbindung«, sagt Kant, »liegt nicht in den Gegenständen und kann von ihnen nicht durch Wahrnehmung entlehnt werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes«, der selbst nichts andres ist als das Vermögen, a priori zu verbinden. Unser Verstand erzeugt selbsttätig, spontan vermöge einer Fähigkeit, die Kant »produktive Einbildungskraft« nennt, bestimmte Verknüpfungen, bestimmte Gesetze: die sogenannten »Naturgesetze«. »Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.« Das ist die Antwort auf die Frage: wie ist Natur möglich?
Mit dieser Feststellung hat die Kritik der reinen Vernunft ihren Höhepunkt erklommen. Es folgt nun die »transzendentale Dialektik«, deren Thema wir bereits kurz berührt haben: die Widerlegung der bisherigen Theologie, Kosmologie und Psychologie, jener Disziplinen, die die Existenz Gottes und der Seele, der menschlichen Willensfreiheit und des jenseitigen Lebens mit den Hilfsmitteln der Logik zu beweisen suchten. Sie stellt die Frage: wie ist Metaphysik möglich?, und die Antwort lautet: da die Metaphysik von transzendenten Dingen handelt, die niemals Gegenstand unserer Erkenntnis werden können, so ist sie als Wissenschaft unmöglich, hingegen möglich, ja wirklich als eine unendliche Aufgabe, die dem Menschen gestellt wird. Gott, Seele, Freiheit, Unsterblichkeit sind »Ideen«, die weder bewiesen noch widerlegt werden können: sie sind Sache des Glaubens. Als Erscheinung, als empirisches Wesen ist der Mensch dem Kausalgesetz unterworfen; als Ding an sich, als »intelligibles« Wesen ist er frei und keinem Gesetz, sondern nur der moralischen »Beurteilung« unterworfen: als solches vermag er sich freilich nur zu denken. Unsere Vernunft ist nicht imstande, zu beweisen, daß der Mensch frei ist, daß er eine immaterielle und unsterbliche Seele besitzt, daß ein Wesen von höchster Weisheit und Güte die Welt regiert, aber sie darf und soll, ja muß vermöge ihrer metaphysischen Anlage die Welt und den Menschen so ansehen, als ob es sich so verhielte. Die Ideen geben uns keine Gesetze wie die Kategorien, sondern nur Maximen, Richtlinien, sie sind nicht »konstitutive«, sondern bloß »regulative« Prinzipien, nicht ein realer Gegenstand unseres Verstandes, sondern ein ideales Ziel unserer Vernunft, der Vernunft im engeren und höheren Sinne, die nichts anderes ist als das Vermögen, Ideen zu bilden. Auch die Wissenschaft als Erkenntnis der Totalität der Welt ist nur ein solches unerreichtes, unerreichbares, gleichwohl unermüdlich anzustrebendes Ziel unseres Geistes. Der Wert der »Ideen« besteht also nicht in ihrer Realisierbarkeit, sondern darin, daß sie unser gesamtes Denken und Handeln orientieren. Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, das vollendete Reich der Wissenschaft sind Aufgaben, die unser intelligibles Ich unserem empirischen Ich zur Lösung stellt.
Die Kritik der reinen Vernunft hat drei Fragen gestellt und beantwortet. Die erste Frage heißt: wie ist reine Mathematik möglich?, und die Antwort lautet: durch unsere Sinnlichkeit, das Vermögen der reinen Anschauungen, das unsere Eindrücke oder Empfindungen (das einzige, was uns gegeben ist) durch Einordnung in Raum und Zeit zu Erscheinungen macht. Die zweite Frage heißt: wie ist reine Naturwissenschaft möglich?, und die Antwort lautet: durch unseren Verstand, das Vermögen der reinen Begriffe, das aus den Erscheinungen durch Einordnung in die Kategorien Erfahrung macht. Die dritte Frage heißt: wie ist Metaphysik möglich?, und die Antwort lautet: durch unsere Vernunft, das Vermögen der Ideen, dem die unendliche Aufgabe gestellt ist, aus der Erfahrung Wissenschaft zu machen. Und die Gesamtfrage, in die alle drei sich zusammenfassen lassen, heißt: wie entsteht Realität? Die Antwort lautet: durch die reine Vernunft.
Fragen: | Vermögen: | Formen: | Produkte: | ||
Wie ist reine Mathematik möglich? | Sinnlichkeit | reine Vernunft | Anschauungen | Erscheinungen | empirische Realität |
Wie ist reine Naturwissenschaft möglich? | Verstand | Begriffe | Erfahrung | ||
Wie ist Metaphysik möglich? | Vernunft i.e.S. | Ideen | ...Wissenschaft |
Die menschliche Vernunft ist in der Ausübung aller ihrer Vermögen eine bloß formgebende Kraft: Raum und Zeit, die Kategorien, die Ideen sind sämtlich Formen, die zu dem Inhalt, den sie vorfinden, hinzugebracht werden: der »Stoff« unserer Vernunft sind die Empfindungen, von denen wir nur aussagen können, daß sie uns »affizieren«. Da die Vernunft der gesamten Realität die Gesetze vorschreibt, so folgt daraus, daß diese Gesetze für uns unverbrüchlich gelten und daß sie nur für uns gelten; was die Welt wirklich ist, abgesehen von unserer Art, sie aufzufassen, können wir nicht einmal vermuten, da ja alles, was in unser Bewußtsein tritt, bereits Erscheinung ist, transzendentale Idealität besitzt. Wir können nur sagen, daß den Erscheinungen etwas »zugrunde liegt«, daß sich hinter den Dingen, jenseits unserer Erfahrungsmöglichkeit noch irgend etwas befindet: das Ding an sich. Dieses Ding an sich, das weder unter die Anschauungsformen des Raums und der Zeit noch unter die Denkformen der Substantialität und der Kausalität fällt, ist ein bloßer Grenzbegriff. Es bezeichnet die Grenze, wo unsere Erkenntnis aufhört.
Kant hat sich selbst mit Kopernikus verglichen, und seine Vernunftkritik bedeutet in der Tat eine völlige Umkehrung des bisherigen Weltbilds. Nur war eigentlich seine Umkehrung das Gegenteil der kopernikanischen. Kopernikus sagte: der Mensch hat bisher geglaubt, die Erde sei der Mittelpunkt des Weltalls und dieses richte sich in allen seinen Bewegungen nach ihr; in Wirklichkeit aber ist die Erde nur ein kleiner Trabant der Sonne und des großen Weltkörpersystems und hat sich nach diesem zu richten. Kant hingegen sagte umgekehrt: der Mensch hat bisher geglaubt, seine Erkenntnis habe sich nach den Gegenständen der Außenwelt zu richten; in Wirklichkeit aber hat sich die ganze Welt nach ihm und seiner Erkenntnis zu richten, durch die sie überhaupt erst zustande kommt. Gleichwohl haben beide Systeme sozusagen die gleiche Pointe. Wir haben im ersten Buch darauf hingewiesen, daß die neue Astronomie, die am Anfang der Neuzeit steht, zwar die Erde zum winzigen Lichtfleck zusammendrückte und das Weltall zu schauerlichen Riesendimensionen auseinanderreckte, zugleich aber den Menschen zum Durchschauer und Entschleierer des Kosmos emporhob: an die Stelle eines begrenzten, aber unerforschlichen und magischen Weltraums trat ein unendlicher, aber mathematischer und berechenbarer. In derselben Weise stürzt Kant den Menschen einerseits in tiefste Ohnmacht und Finsternis, indem er ihm unwiderleglich dartut, daß er von der Erkenntnis der »wahren Welt«, der »Welt an sich« durch unübersteigliche Schranken getrennt ist, zugleich aber macht er ihn zum Schöpfer und absoluten Gesetzgeber der »empirischen Welt«, deren ungeheure Ausmaße ihn nun nicht mehr in Schrecken zu versetzen vermögen. Die Vernunftkritik bezeichnet die tiefste Niederlage und den höchsten Triumph der menschlichen Vernunft: der Mensch ist ein verschwindendes Pünktchen im Weltall; aber dieses Nichts gibt dem Weltall seine Gesetze.
Das Schlußkapitel der »Kritik der reinen Vernunft« bildet den Übergang zu Kants zweitem Hauptwerk, der »Kritik der praktischen Vernunft«, das sieben Jahre später erschien. Zu den Ideen der Freiheit, Unsterblichkeit und Gottheit können wir nicht auf theoretischem Wege gelangen, da sie über unsere Erfahrung hinausgehen, wohl aber auf praktischem Wege, indem wir sie vermöge unseres sittlichen Willens (zwar nicht zu objektiven, wohl aber) zu subjektiven und persönlichen Gewißheiten, zu Gegenständen unseres Glaubens machen. Die Kritik der reinen Vernunft handelt von den Gesetzen unseres Erkennens, die Kritik der praktischen Vernunft von den Gesetzen unseres Handelns. Wie nun die Gesetze unserer theoretischen Vernunft nur darum strenge Notwendigkeit und Allgemeinheit besitzen, weil sie nicht aus der Erfahrung geschöpft sind, vielmehr vor aller Erfahrung da waren, so können auch die Gesetze unserer praktischen Vernunft nur dann auf unbedingte Gültigkeit Anspruch machen, wenn sie nicht aus der Empirie abgeleitet sind, wenn sie (da der Inhalt unseres Handelns stets aus der Erfahrung stammt) rein formalen Charakter tragen.
Wie die theoretische Vernunft der Erscheinungswelt die Gesetze diktiert, so gibt die praktische Vernunft sich selbst das Sittengesetz, und dieses lautet: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.« Praktische Grundsätze enthalten entweder Vorschriften, die nur gelten, wenn gewisse Bedingungen gegeben sind, zum Beispiel: wenn du ein Meister werden willst, so mußt du dich beizeiten üben, in diesem Falle sind sie hypothetische Imperative; oder sie haben eine unbedingte, von allen Voraussetzungen unabhängige Geltung, zum Beispiel: du darfst nicht lügen, in diesem Falle sind sie kategorische Imperative. Das Sittengesetz ist ein kategorischer Imperativ, es gilt absolut und unbedingt, unabhängig von jeder Voraussetzung, es gilt überall und immer, vor aller Erfahrung, ohne jede empirische Bestätigung, es gilt, auch wenn es nie und nirgends erfüllt wird. »Die Moral ist nicht eigentlich die Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen.« Wir haben das Sittengesetz aus Pflichtgefühl zu beobachten, nicht aus Neigung, denn wenn wir es aus Neigung befolgen, so geschähe dies um unser selbst willen. Hier befinden wir uns auf dem höchsten Grat der kantischen Moralphilosophie, in der rauhen und reinen Eishöhe der absoluten Ethik.
Das Sittengesetz in uns gebietet: du sollst, und aus diesem Sollen folgt das Können, sonst wäre die Forderung des Sollens widersinnig. Als sinnliche Wesen sind wir der Naturnotwendigkeit unterworfen, als moralische Wesen sind wir frei. In diesem Zusammenhang gewinnen die metaphysischen Ideen eine neue Realität. Wir müssen die absolute sittliche Vollkommenheit wollen; da sich diese in keinem Zeitpunkt unseres irdischen Daseins erreichen läßt, so muß unser moralisches Bewußtsein die Unsterblichkeit fordern. Und aus ähnlichen Gründen muß unsere praktische Vernunft die Existenz Gottes, der Freiheit, der Seele postulieren. Diese Ideen sind nicht Axiome der theoretischen, sondern Postulate der praktischen Vernunft.
Die Wirksamkeit des Sittengesetzes in uns ist der Beweis für die Möglichkeit, ja Wirklichkeit der menschlichen Freiheit. Unser moralisches Vermögen verhält sich zu unserem Erkenntnisvermögen wie die intelligible Welt zur sinnlichen: diese ist von jener abhängig, darum sagt Kant: die praktische Vernunft hat den Primat vor der theoretischen Vernunft. Die Sinnenwelt ist durchaus phänomenal, Erscheinung einer ihr zugrunde liegenden intelligibeln Welt; ebenso ist unsere eigene sinnliche Existenz, unser empirischer Charakter bloße Erscheinung unserer intelligibeln, unserer moralischen Existenz. Was ist also unser moralisches Ich? Nichts anderes als das »Ding an sich«.
Die Kritik der reinen Vernunft hatte erklärt: die intelligibeln Wesenheiten, die Ideen, die Dinge an sich können nie erkannt und gewußt, nur »gedacht« und geglaubt werden. Die Kritik der praktischen Vernunft aber erklärt: sie sollen und müssen gedacht, geglaubt, zu Regulativen unseres Seins und Handelns gemacht werden. Für unsere spekulative Vernunft sind sie bloße Möglichkeiten, Wünschbarkeiten, Ideale, Hypothesen; für unsere moralische Vernunft sind sie Wirklichkeiten, Notwendigkeiten, kategorische Gebote.
Die »Kritik der praktischen Vernunft« ist die Vollendung und Krönung der »Kritik der reinen Vernunft«: ohne jene wäre diese nur ein Torso und Fragezeichen, und nur Mißgunst oder Unverstand vermag zwischen diesen beiden Werken, die ebenso organisch und notwendig zueinander gehören wie etwa die beiden Teile des »Faust« oder Dantes Inferno und Paradiso, einen Widerspruch zu entdecken. Es ist im Grunde auch beide Male dieselbe Betrachtungsweise und Methode, von der die Gedankenführung beherrscht wird. Auch vom kategorischen Imperativ erklärt Kant, daß er »im Gemüt bereitliege«: das Sittengesetz ist ebenso a priori wie die Naturgesetze. Unsere Begriffe von Gut und Böse stammen so wenig aus der Erfahrung wie unsere Anschauungen von Raum und Zeit. Als erkennendes Wesen ist der Mensch der Gesetzgeber der Außenwelt, als moralisches Wesen ist er sein eigener Gesetzgeber: Legislator und Untertan in einer Person. Er ist es, der sich sowohl seine sinnliche wie seine sittliche Welt macht. Unsere theoretische Vernunft denkt die Welt als eine anschaulich geordnete und gesetzmäßig verknüpfte Einheit; folglich ist sie anschaulich und gesetzmäßig. Unsere praktische Vernunft will den Menschen als ein freies und sittliches Wesen, und folglich ist er sittlich und frei.
Wir müssen es uns versagen, auf die übrigen Schriften Kants einzugehen, und beschränken uns darauf, zu erwähnen, daß er in seinem dritten Hauptwerk, der »Kritik der Urteilskraft«, als erster das Wesen des Schönen erschöpfend und zwingend definiert hat: erst seitdem gibt es eine Ästhetik als Wissenschaft. Auch hier stellte er wiederum fest, daß Schönheit kein Begriff ist, den wir aus der Erfahrung schöpfen, sondern ein Urteil oder Prädikat, das wir zu ihr hinzubringen: nicht die Dinge sind ästhetisch, sondern unsere Vorstellungen von ihnen.
Damit war der Bau des Systems in seinen drei Haupttrakten vollendet. Die Philosophie Kants enthält, wie er selbst es bezeichnet hat, ein »Inventarium«, und zwar ein Inventarium dessen, was jederzeit und von jedermann, also mit Allgemeinheit und Notwendigkeit theoretisch erkannt, praktisch gewollt und ästhetisch empfunden wird. Und sie gelangt zu dem Resultat, daß Wahrheit ein Produkt unseres Verstandes, Sittlichkeit ein Produkt unseres Willens und Schönheit ein Produkt unseres Geschmacks ist. Die Antworten, die sie jedesmal gibt, sind ebenso überraschend wie selbstverständlich: sie erinnern, wenn dieser Vergleich erlaubt ist, an die Lösungen in den guten Kriminalromanen, die der Leser nie selber entdeckt hätte, aber, sobald sie einmal gegeben sind, als überzeugende Notwendigkeiten empfindet: der Weg zu ihnen ist äußerst kompliziert, aber sie selbst sind bezwingend einfach.
Das Gesamtresultat der Vernunftkritik hat der Abbé Galiani, einer der geistreichsten Menschen des achtzehnten Jahrhunderts, in die Worte zusammengefaßt: »die Würfel der Natur sind gefälscht.« Dieses Ergebnis ist in der Tat erschütternd. Und dennoch: es ist schwer begreiflich zu machen, wenn man es nicht fühlt; aber von allen vorbildlichen Figuren jener Zeit, die sich selbst so zwiespältig, zerrissen und problematisch vorkam: von Werther, von Rousseau und auch von dem Menschen, wie ihn Kant konzipiert hat, geht der Eindruck einer wohltuenden, wahrhaft klassischen Gradlinigkeit aus; sie sind so vollständig symmetrisch und geometrisch gebaut und in ein so tadelloses, mit einem Bück zu erfassendes Schema eingezeichnet wie der »Kanon der menschlichen Gestalt« in den Hilfsblättern der Zeichenschulen. Alles schien damals zu wanken, die kantische Entdeckung schien die ganze äußere Welt in einen bloßen Schattenwurf des Geistes aufzulösen; aber wie wohlgeordnet und beruhigend erscheint uns heute seine Einregistrierung des Weltbilds in Zeit, Raum und Kausalität! Er mutet uns an wie ein gütiger Onkel, der den Kindern drei große Schachteln mitgebracht hat, worein alle Gegenstände ihrer kleinen Welt sauber und liebevoll verpackt sind. Und auch der unglückselige Werther erscheint uns heute als ein sehr beneidenswerter Seelenlogiker, denn er hatte noch eine so klare Richtung, ein so absolutes Ziel: die Erotik selbst war ihm noch kein Problem. Aber dies scheint ein geschichtspsychologisches Gesetz zu sein: jedesmal wenn der Mensch aufs neue festen Fuß faßt, glaubt er zu wanken. Und wenn es einen Beweis dafür gibt, daß ein menschlicher Fortschritt tatsächlich stattfindet, so ist er hier: in der Primitivität, die das hochkomplizierte achtzehnte Jahrhundert in unseren Augen besitzt.
Was nun zum Schluß noch die Kritik der kantischen Philosophie anlangt, so umfaßt sie bekanntlich ganze Bibliotheken und ist Gegenstand eigener Spezialinstitute, ja es gibt sogar eine »Kantphilologie«, eine sehr prekäre und fast aussichtslose Wissenschaft, da, wie wir bereits hervorgehoben haben, Kant im Gebrauch seiner Ausdrücke nichts weniger als konsequent und eindeutig verfuhr: schon die Grundvokabel seiner ganzen Untersuchung, das Wort »Vernunft«, ist, da es abwechselnd für das Ganze unserer Erkenntnis und für das Vermögen der Ideen gebraucht wird, ein verwirrender und zwiespältiger Begriff.
Unter den bedeutenden Zeitgenossen war Hamann der leidenschaftlichste Gegner Kants, der in seinen Augen nichts war als ein extremer Rationalist, Räsonneur und Spekulant, »in der Schlafmütze hinter dem Ofen sitzend«. Die ersten stichhaltigen Einwände gegen die Vernunftkritik brachte Jacobi zur Sprache, der die widerspruchsvolle Rolle des kantischen Dings an sich mit großem Scharfsinn analysierte: es soll unserer Erscheinungswelt als deren Ursache zugrunde liegen, also selber unter die Kategorie der Kausalität fallen, die aber andrerseits doch nur für Erscheinungen gelten darf, niemals für Dinge, die jenseits unserer Erfahrung liegen. Somit kann man, sagt Jacobi, ohne die Voraussetzung erkennbarer, also realer Dinge an sich nicht ins kantische System hineinkommen und mit dieser Voraussetzung nicht darin bleiben: »mit dieser Voraussetzung darin zu bleiben, ist platterdings unmöglich«.
Die übrigen Versuche, den kantischen Phänomenalismus zu widerlegen, beruhen zumeist auf Mißverständnissen. So hat man zum Beispiel immer wieder das, was die Fachphilosophie den »objektiven Geist« nennt, als Instanz gegen den Idealismus angeführt, nämlich den Niederschlag der menschlichen Gattungstätigkeit in überindividuellen Schöpfungen von bleibender Bedeutung und Wirkung wie Recht, Sitte, Technik, Sprache, Wissenschaft, Kunst: diesen komme offenbar eine von unserem Subjekt unabhängige Realität zu. Aber hier werden die Begriffe »Objektivität« und »Realität« verwechselt. Es kann sehr wohl einer unübersehbaren Menge von Vorstellungen die einwandfreieste und unwiderleglichste Objektivität innerhalb des Bewußtseins der gesamten Menschheit zukommen, ohne daß uns darum die Möglichkeit gegeben wäre, etwas über ihre Realität auszusagen, sofern man darunter etwas versteht, was noch jenseits unserer Vorstellungen Gültigkeit besitzt. Der philosophische Idealismus behauptet ja nicht, daß die Außenwelt von der Willkür des einzelnen Subjekts abhänge, daß sie eine rein individuelle Vorstellung sei, sondern lediglich, daß sie uns in einer Apperzeptionsform gegeben ist, die sich ausschließlich im menschlichen Bewußtsein vorfindet und nachweisen läßt. Diese Apperzeptionsform: die irdische, die anthropomorphe, die zeiträumliche oder wie man sie nennen will, ist subjektiv; aber in diesem Falle ist als das aufnehmende Subjekt nicht etwa der einzelne Mensch mit seinen wechselnden persönlichen Wahrnehmungen gemeint, sondern das Vorstellungsleben der ganzen Menschheit, ihr Gattungsbewußtsein von ihren ersten Ursprüngen an und, wie wir wohl ohne Bedenken hinzufügen können, bis in ihre fernsten Tage. Diese unsere Anschauungsform ist, so paradox es im ersten Moment klingen mag, gerade weil sie so subjektiv ist, von der höchsten Objektivität. Denn sie ist, obgleich nur für geistige Organisationen von unserer Art und Anlage gültig, eben darum für alle so gearteten Wesen absolut bindend. Gerade die Tatsache, daß die Menschheit, so weit wir ihre Geschichte verfolgen können, in allen ihren Schöpfungen und sogar in jenen, die sich nur aus der Kollaboration zahlloser Individuen erklären lassen, immer denselben ewig wiederkehrenden Apperzeptionsformen unterworfen war, zeigt uns aufs deutlichste an, daß das, was wir die Welt und ihre Geschichte nennen, lediglich den Charakter eines Phänomens besitzt.
Man hat aber die Transzendentalphilosophie auch vom entgegengesetzten Ende angegriffen, indem man nachzuweisen oder doch wenigstens sehr wahrscheinhch zu machen suchte, daß unseren Anschauungsformen des Raums und der Zeit durchaus nicht jene allgemeine Gültigkeit zukomme, die Kant von ihnen behauptet. Es ist in der Tat nicht ohne weiters sicher, daß der Raum, wie wir ihn konzipieren, die einzig mögliche Raumform vorstellt, daß er allen kosmischen Wesen gemeinsam ist und sozusagen eine intermundane Bedeutung besitzt. Diese unsere Raumvorstellung, die sogenannte euklidische, basiert auf dem Axiom, daß die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten die Gerade ist und dementsprechend durch je drei Punkte des Raumes immer eine Ebene gelegt werden kann. Diese Annahme ist jedoch sozusagen ein menschliches Vorurteil. Denn es wäre sehr wohl denkbar, daß es Wesen gäbe, die so eigensinnig wären, zu glauben, die Grundlage ihrer Geometrie sei die Kurve. Diese Geschöpfe würden in einer Kugelwelt leben und sich dort vermutlich ebenso wohl fühlen und ebenso leicht zurechtfinden wie wir in unserer Welt der Ebene. Auch wäre es theoretisch vorstellbar, daß es Flächenwesen gibt, die nur zwei Dimensionen kennen und mit diesem Bruchteil unseres apriorischen Inventars sehr gut ihr Auskommen finden. Andrerseits gründet sich der Spiritismus bekanntlich auf die Annahme einer vierten Dimension. Zumal von den bewunderungswürdigen Untersuchungen, die Gauß und Riemann über die »nichteuklidische« Geometrie gemacht haben, glaubte man, daß durch sie der kritischen Philosophie der Todesstoß versetzt worden sei. Sie enthalten aber so wenig deren Widerlegung, daß sie vielmehr deren Bestätigung bilden. Kant hatte ja eben behauptet, daß der euklidische Raum unsere Vorstellung sei, nur die unsere, aber für uns die einzig mögliche und daher die notwendige. Andere Räume sind für uns denkbar; aber nicht vorstellbar. Erst wenn ein Mensch erschiene, der sich eine nichteuklidische Geometrie, ein Leben in der Fläche, eine vierdimensionale Welt anschaulich vorzustellen vermöchte, wäre Kants Lehre von der Apriorität des Raums widerlegt. Ganz analog verhält es sich mit den außerordentlichen Entdeckungen, die Einstein gemacht hat. Aus ihnen geht unzweideutig hervor, daß mehrere Zeiten möglich sind, daß die Vorstellung einer absoluten Zeit, die für alle Orte des Raumes gilt, eine menschliche Fiktion ist. Hieraus zogen viele Forscher den Schluß, daß die Transzendentalphilosophie unhaltbar geworden sei. So sagt zum Beispiel Franz Exner in seinen ausgezeichneten »Vorlesungen über die physikalischen Grundlagen der Naturwissenschaften«: »Fragen wir uns, was bleibt von dem absoluten Raum- und Zeitbegriff, wie ihn Kant gefordert und aufgestellt hat, übrig, so müssen wir sagen: so gut wie nichts.« Aber die epochemachende Tat Kants bestand ja gerade darin, daß er den absoluten Raum- und Zeitbegriff zerstörte. Sein ganzes System ist vorweggenommene Relativitätstheorie und diese nichts als die exakte wissenschaftliche Fundierung des kantischen Lehrgebäudes mit Mitteln, die ihm noch nicht zur Verfügung standen. Die Zeitvorstellung ist für Kant nicht nur etwas Relatives, sondern etwas, das überhaupt außerhalb unseres Auffassungsvermögens gar keinen greifbaren Sinn hat. Eine »absolute Zeit« können wir uns nicht einmal denken, geschweige denn vorstellen; und ein absoluter Raum, das heißt: ein Raum, der unbedingt und überall, also auch unabhängig von unserer Apperzeption existiert, wäre im kantischen Verstande ein erscheinendes Ding an sich, also ein Nonsens.
Es dürfte demnach in der Tat nicht zu viel gesagt sein, wenn man behauptet, daß die kantische Kritik in ihren Hauptstellungen unangreifbar ist. Im einzelnen jedoch war sie, wie wir bereits gelegentlich betont haben, nicht frei von Widersprüchen und Zweideutigkeiten, und zwar gerade im Hinblick auf ihre beiden Kardinalbegriffe: die Erscheinung und das Ding an sich.
Kant hat seine theoretische Philosophie zweimal dargestellt: zuerst in der »Kritik der reinen Vernunft« und zwei Jahre später in seinen »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können«, in denen er den Lehrgang in wesentlich knapperer Form, sozusagen im Klavierauszug, vortrug. Verfolgen wir die Entstehungsgeschichte unserer empirischen Welt auf dem induktiven Wege, wie ihn Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« eingeschlagen hat, so sehen wir, wie aus dem Stoff unserer Eindrücke oder Empfindungen Anschauung, aus unserer Anschauung Erfahrung, aus unserer Erfahrung (in unendlicher Annäherung) Wissenschaft entsteht. Unsere Eindrücke müssen uns also als unentbehrliche Vorbedingung aller Erkenntnis gegeben sein. Es ist kein Zweifel, daß wir mit Hilfe der Vorstellungen unsere Erscheinungswelt, mit Hilfe der Begriffe unsere Erfahrungswelt, mit Hilfe der Ideen unsere moralische Welt machen; aber unsere Empfindungen machen wir nicht. Alles, was wir produzieren, ist Form; der Stoff, den diese Formen bearbeiten, ist nicht unser Produkt. Er ist das schlechthin Primäre; denn der Stoff muß vor der Form da sein. Es liegt also unserer Erkenntnistätigkeit dennoch etwas Objektives zugrunde, das uns zwingt, ihr den Charakter völliger Subjektivität abzusprechen. Mit einem Wort: Kant lehrt eine Idealität der Erscheinungswelt, die im Grunde genommen keine ist.
Gehen wir den Weg der Vernunftkritik in der umgekehrten, deduktiven Richtung, wie es Kant in den »Prolegomena« getan hat, so bleibt, wenn wir von unserer Erkenntnis die Ideen, die Begriffe, die Anschauungen abziehen, ein letzter Rest: das Ding an sich, dessen Unerkennbarkeit und Unvorstellbarkeit Kant immer betont, dessen Realität und Existenz er aber nie bestritten hat. Aber welche Realität kann einem Ding noch zukommen, das für uns vollkommen unvorstellbar ist? Wenn ein Gegenstand so völlig außerhalb aller Erfahrungsmöglichkeit liegt, so kann man von ihm natürlich nicht sagen, was er ist; aber auch nicht einmal, daß er ist. Wir können niemals etwas von seiner Existenz wissen, nur an seine Existenz glauben: mit Hilfe unserer praktischen Vernunft. Mit einem Wort: Kant lehrt eine Realität des Dings an sich, die im Grunde genommen keine ist.
So hängt das kantische System zwischen Idealismus und Realismus, Subjektivismus und Empirismus: es ist »zweiendig«, wie Jacobi diesen Doppelcharakter treffend bezeichnet hat, und ermöglicht zwei entgegengesetzte Fehldeutungen. Wenn man sich sozusagen auf die äußerste Linke stellt und es vom realen Ende mißversteht, so wird man in ihm einen revidierten Sensualismus à la Locke erblicken; wenn man sich auf die äußerste Rechte schlägt und es vom idealen Ende mißversteht, so wird man es mit dem radikalen Spiritualismus Berkeleys verwechseln.
Der Brennpunkt, in dem alle Schwierigkeiten zusammenlaufen, ist das Ding an sich. Es ist, wie Salomon Maimon, einer der scharfsinnigsten und tiefdringendsten Kantianer, schon ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung der »Kritik der reinen Vernunft« darlegte, weder erkennbar noch unerkennbar: sagen wir, es sei unvorstellbar, so können wir unmöglich davon reden, sagen wir, es sei vorstellbar, so hört es auf, Ding an sich zu sein; es ist ein unmöglicher Begriff, ein Unding, ein Nichts; es ist nicht gleich x, wie Kant gelehrt hatte, sondern gleich ¯-a.
Es gibt nur einen Weg, die Transzendentalphilosophie zu vollenden: das Ding an sich muß aufgelöst werden. Diese Aufgabe forderte und erfüllte die romantische Philosophie. Ehe wir uns jedoch dieser zuwenden, müssen wir die dritte der drei Hauptströmungen betrachten, von denen wir am Anfang dieses Kapitels gesprochen haben: den Klassizismus.