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Vor einiger Zeit bekam ich einen Brief von einem Verehrer aus Argentinien. Nun, daran ist noch nichts Bemerkenswertes, denn man wird doch wohl nicht daran gezweifelt haben, daß ich auch in Südamerika meine Gemeinde habe. Das Bemerkenswerte daran war bloß die Adresse. Sie lautete nämlich: Herrn Dr. Egon Friedell, Präsident der »Concordia«. Dies habe ich nun mit gemischten Gefühlen aufgenommen: einerseits war ich natürlich geschmeichelt, andererseits aber fiel es mir schwer auf die Seele, daß ich diese Würde nicht nur nicht besitze, sondern auch gar keine Aussicht habe, sie jemals zu erlangen. Aber träumen wir einmal den Traum, ich hätte Aussicht auf sie, ja, ich hätte sie schon erreicht: also dann würde ich zunächst einmal der »Stunde« sofort kündigen und dann würde ich natürlich auch eine Raimund-Feier veranstalten, aber eine andere. Ich würde zum Beispiel eines der vielen wundervollen Stücke dieses Dichters hervorholen, die fast nie gespielt werden, etwa den »Alpenkönig«, den man Raimunds »Faust« nennen könnte, oder den »Diamant des Geisterkönigs«, ein Werk von ebenso versteckter wie verkannter Tiefe (ähnlich der »Zauberflöte«), und dann würde ich es mit jenen Schauspielern besetzen, die noch den Raimund-Stil haben, also etwa mit der Medelsky, der Hedwig Keller und Thaller, Oskar Sachs, Pallenberg, Edthofer, Forest, Karl Kraus (dem ich zu diesem Zweck geschickt verheimlichen würde, daß ich Präsident der »Concordia« bin). Keineswegs würde ich aber ein Quodlibet aufführen lassen: 1. Akt: »Barometermacher«, 2. Akt: »Bauer als Millionär«, 3. Akt: »Verschwender«. Denn das erinnert an eine Kochkunstausstellung oder an den Wohnungsgeschmack der achtziger Jahre, da der Salon Empire, das Speisezimmer Renaissance, das Schlafzimmer gotisch war. Was die Darstellung anlangt, die jene drei Ansichtslieferungen im Burgtheater gefunden hat, so bin ich zwar, wie gesagt, nicht Präsident der »Concordia«, aber so viel Solidaritätsgefühl habe ich doch im Leib, daß ich weiß, daß man Schauspieler, die bei »Concordia«-Veranstaltungen mitwirken, rücksichtslos loben muß; und so tue ich es denn!
An diesem Stück haben selbst alle »berufenen« Kritiker, von Ben Jonson bis Brandes, getadelt, daß es schlecht komponiert sei. Nun, gerade das empfinden wir heute nicht mehr als Einwand, sondern eher als Vorzug, denn wir haben endlich wieder einmal erkannt, was nicht bloß Shakespeare, sondern auch seine weniger arrivierten Kollegen längst wußten: daß es nichts Langweiligeres gibt als ein gutgebautes Theaterstück. »Antonius und Kleopatra« ist kein Drama, sondern ein dramatischer Karton, ein aufgeregtes, undurchsichtiges, vielleicht sogar gewollt undurchsichtiges Hin und Her voll Leben, Farbe, Widerspruch und Bewegtheit und bisweilen sogar das erschütternde Gemälde eines ganzen, schon vom Tod gezeichneten Kulturkreises. Eigentlich ein Strindberg-Stück, aber im Zeitalter Strindbergs doch ein wenig primitiv anmutend. Daneben handelt es sich offenbar um den Versuch, diese Sexualtragödie zum Symbol eines großen welthistorischen Geschehens zu erhöhen. Im Grund ist das römische Weltreich, wie es sich unter den Triumviraten endgültig konsolidiert hat, die letzte geschichtliche Auswirkung des Alexanderzuges. Der helle, tatkräftige Geist des Westens unterwirft sich das längst für den Untergang reife Morgenland, aber bei dieser Berührung vergiftet er sich selbst, und Roms Weltherrschaft birgt in sich von allem Anfang an den Keim der Verwesung. Das ist die Geschichte von Antonius und Kleopatra; oder sie will es wenigstens sein. Ganz ist dieses interessante Projekt nicht in die Realität des Theaters umgesetzt worden. Dieselbe Handlung wurde immer wieder von vorn angekurbelt und dabei ohne wesentliche Modulationen, so daß sich alsbald des Zuschauers eine Art Drehkrankheit zu bemächtigen beginnt und die Teilnahme von Szene zu Szene immer mehr erschlafft, denn spätestens von der Mitte des Dramas an weiß man alles: daß Kleopatra ein Mistvieh ist und Antonius an ihr unheilbar erkrankt, beide aber doch von höchst adeligem Seelenrange und nicht so ohne weiteres abzutun, wie andere Liebespaare in ähnlicher Situation; und die politische Aktion wirkt daneben doch als eine mehr mandelbogenartige Staffage. Aber alles in allem und wie es von diesem Autor ja gar nicht anders zu erwarten ist: eine schöne Talentprobe, reich an einprägsamen Theatermomenten, feinen psychologischen Beobachtungen und glücklich formulierten Aussprüchen, die die vortreffliche Übersetzung Stefan Hocks aufs subtilste und schlagkräftigste vermittelt.
Auch die Regie Heines tut alles, um die Mängel des Werkes liebevoll zu verkleistern und besonders die Grundintension der Dichtung: die Kontrastierung von West und Ost erhebt sich zu eindrucksvollster Plastik. Einzelne Szenen gelangten dadurch zu einer ganz neuartigen Phosphoreszenz. Die Medelsky steigert, indem sie die magische Dämonie und Schicksalhaftigkeit ihrer ganzen Beziehung zu Antonius erkennen läßt, ihr Spiel von allem Anfang an zu einem ungewöhnlichen Kunsterlebnis, hierin aufs Wirksamste unterstützt von Aslan, der für derartige reizvolle Repräsentanten abwelkender Kulturen heute einer der geeignetsten Darsteller ist. Aus der ganz blaß geratenen, gleichsam nur mit Bleistift skizzierten Figur des Cäsar holt Schott alles, was aus ihr zu holen ist, ebenso Frau Pünkösdy aus der Octavia, die im höchsten Maß das ist, was man ein »Wurzen« zu nennen pflegt. Frau Aknay macht durch ihre starke Empfindung aus der Sklavin Charmion eine Vorderfigur. Auch die übrigen Episoden setzen sich alle scharf und fein gegeneinander ab: besonders zu rühmen wären vielleicht Enobarbus Daneggers, die drei Boten Rombergs, Paulsens und Treßlers, der diskrete Humor Schmöles, der Takt des Herrn Eidlitz und die schauerlich skurrile Mystik Heines.
Natürlich hätte ich auch allerlei Einwände; aber ich kann sie unmöglich sagen, weil ich mich, mit Ausnahme von Shakespeare, mit allen Beteiligten verhalten will.
Also von der »Komödie der Irrungen« wird doch wohl der unbekehrbarste Shakespeareomane zugeben, daß sie ein Schmarren ist. Schon die ganze Voraussetzung, auf der sie beruht, ist für moderne Zuschauer unannehmbar. Da sind zwei Brüder, die ganz gleich heißen, was schon eine Seltenheit ist, da man Namen gewöhnlich zum Zweck der Unterscheidung gibt, und die sich zum Verwechseln ähnlich sehen, was noch seltener vorkommt, und die zwei Diener haben, die ebenfalls gleich heißen und sich ebenfalls zum Verwechseln ähnlich sehen, und das kommt schon fast gar nicht mehr vor. Schade, daß nicht auch die beiden Schwestern, die die beiden Brüder lieben, austauschbare Zwillinge sind: es wäre schon in einem Aufwaschen gegangen. Man braucht wirklich nicht weniger modern zu sein als der alte Laube, der bereits erklärt hat, daß die meisten Lustspiele Shakespeares für uns insipid geworden seien. An der Posse »Zeitvertreib«, die dann folgte, hat Nestroy sicher nicht länger als einen Tag gearbeitet; trotzdem ist sie voll liebenswürdiger und lustiger Einfälle.
Herr Böhm ist eine interessante Mischung aus Kean und Mitterwurzer, Herr Loibner eine Synthese aus Thespis, Talma und Novelli, Fräulein Rie erinnert teils an die Fanny Elßler, teils an die Judith, teils an die unvergeßliche Neuberin.
Die Herren Neugebauer, Ziegler, Ehman, Zeisel, Wall und Kersten und die Damen Kaiser und Frasser gelangen bis an die äußersten Grenzen schauspielerischer Möglichkeiten. Lina Loos überschreitet sie, Maria Guttmann läßt sie weit hinter sich. So, und jetzt hoffe ich, wenn ich nächstens ins Konversationszimmer des Raimundtheaters komme, nicht wieder mit so eisigem Schweigen empfangen zu werden wie das letztemal.
Wieder mal Calderon. Man hat diesmal ein Inszenierungssystem gewählt, das so uralt ist, daß es fast wieder wie neu wirkt: nämlich ganz einfache zweidimensionale Kulissen und Hintergründe, die bei verdunkelter Bühne rasch und lautlos ausgewechselt werden können, ganz primitiv gemalt, weder naturalistisch noch expressionistisch, sondern wie in einem Kindertheater. Das wirkt angenehm anspruchslos und paßt sehr gut zu dem ganzen Stil des Stückes, das ein richtiges, ewiges Theaterstück ist, vortrefflich gebaut, weiträumig gegliedert, klar und bunt, wie es die Menschen im Theater haben wollen. Es ist doch wohl kein Zufall, daß diese Art Dramen durch Jahrhunderte ihre Anziehungskraft bewahren, obgleich ihre seelischen Voraussetzungen längst nicht mehr vorhanden sind: es weht in ihnen eine gesunde, kräftige, belebende, nicht zu dicke, nicht zu dünne Luft, die jedes Zeitalter gern einatmet. Was die Darstellung anlangt, so wollen wir uns alle kränkenden Vergleiche mit Ekhof, Seydelmann und der großen Schröder sparen. Herr Reimers ist als Richter voll Saft, Humor und erfrischender Natur, die höchsten Momente verbürgerlicht er. Herr Höbling ist als Don Alvaro dekorativ, aber daß er wirklich ein Mensch von ganz anderer Rasse ist, der unmöglich eine Bauerntochter heiraten kann, glaubt man ihm nicht. Eher möchte man annehmen, daß das zarte, vornehme Fräulein Wall, das als Isabell debütierte, mit ihm eine Mesalliance eingeht: auch Herr Devrient als Don Lope ist einer der nobelsten Flegel, die man sich denken kann. Die kleineren Rollen sind ein wenig vernachlässigt, bis auf den prachtvollen König Heines.
Eine äußerst gelungene, ungemein reizvolle Vorstellung. Prachtvoll ist der Stil der Barockantike getroffen, wie sie der Phantasie der damaligen Zeit vorschwebte: eine historische Historie. Ein wunderschöner Gobelin wird aufgerollt, voll sprühender Farbe, geistreicher Anmut und geschmackvoller Bizarrerie; nur die komischen Szenen wirken leer und strohig. Komik ist eben das, was in jedem Kunstwerk am schnellsten veraltet: das liegt vermutlich daran, daß sie immer auf naturalistische Formen angewiesen ist und jede Zeit eben einen anderen Naturalismus hat. Frau Wohlgemuth ist als Circe einfach berückend. Herr Aslan als Ulysses von einer zartgetönten, aber etwas faden Noblesse. Herr Höbling als Barbarenprinz sehr farbig, und Herr Meyerhofer gibt einen Riesen so amüsant und glaubhaft, wie er wahrscheinlich noch nie dargestellt worden ist; das Problem ist auch technisch von Meister Geyling ausgezeichnet gelöst. Die Lustspieleinlagen sind, wie gesagt, sehr schal, aber der junge Thimig ist sehr lustig. Die Tänze sind charmant, und die Musik Künnekes betont sehr glücklich das romantische Element des Kindlich-Pomphaften, Magisch-Unwirklichen und Spielerisch-Unverantwortlichen, aus dem dieser ganze Theaterspuk geboren ist. Alles in allem: eine liebenswürdige Niaiserie von erlesener Kostbarkeit, ein entzückendes Luxusspielzeug von rührender Zerbrechlichkeit. Hoffentlich ist dies aber nur der rauschende Auftakt zu einem ganzen Calderon-Zyklus. Alle Autos zu spielen wäre vielleicht ein wenig zuviel verlangt, aber sagen wir einmal: die Hälfte; und dann doch wenigstens die paar hundert Zwischenspiele vollzählig und vor allem die Loas! Ich muß doch einmal gleich den Hofrat Glossy fragen, aber mir ist ganz so, als ob in Wien überhaupt noch keine Loas von Calderon gespielt worden wäre; von den Saynetes weiß ich es also bestimmt. Na und dazwischen vielleicht, damit die anderen nicht böse sind, ein paar fesche Fragoses oder Salazars; dann wird's schon werden.
An einem Feiertagabend im Mai ins Theater gehen zu müssen, ist eine starke Zumutung. Wenn man es trotzdem nicht als solche empfindet, so ist das wohl vor allem Friedrich Schiller zu danken, der im »Tell« unübertreffliches, unveraltbares Theater gemacht hat, einen Farbenreigen straffer, gefülltester Szenen voll Glanz und Pracht, der von einer genialen Strategie der dramatischen Führung ist, die bedingungslos überwältigt. Zum Teil ist es aber doch auch auf die ausgezeichnete Inszenierung Direktor Bernaus zurückzuführen, der die lange und beim Lesen bisweilen überlange Szenenreihe zu einer atemlosen, fast gespenstisch einprägsamen Bilderflucht kondensiert hat, alle Ansätze zum Theaterbauerntum durch eine Atmosphäre unheimlicher Gepreßtheit, die er um das Ganze legt, im Keim erstickt und den vielleicht einzigen Fehler dieses Meisterstückes, die liberalen Arien, in ein so gehetztes Stakkato auflöst. Und den Szenenbildern Strnads gelingt es hier einmal, fern vom Naturalismus und fern von der Illusionsbühne streng expressionistisch zu bleiben, ohne daß der Spielplatz dadurch in einen Narrenturm oder in ein kahles, reizloses Gerüst verwandelt wird. Einzelne Szenen, sonst Nieten, gelangten dadurch plötzlich zu der ihnen innewohnenden Leuchtkraft, so zum Beispiel das erste Gespräch zwischen Berta und Rudenz. Die Darsteller, alle aufs feinste und stärkste ineinandergreifend, alles wie aus einem einzigen Handgelenk geschnellt. Prachtvoll der Tell des Herrn Klitsch, er gibt den hellen Tell, unversonnen, naiv, ein reines jubelndes Stück Natur – die einzige künstlerische Rettungsmöglichkeit für diese Figur. Nur eines wäre zu monieren: warum amputiert man in der letzten Zeit die wundervollen Opernbestandteile des »Tell«: den Sonnenaufgang am Schluß der Rütliszene, den Chor der Barmherzigen Brüder usw.? Diese Stücke sind nicht nur echtester Schiller, sie sind nicht nur von leuchtendster Theaterwirksamkeit, sondern sie gehören auch zum Kühnsten und Originellsten, was je für eine Bühne erdacht wurde. Man soll nicht theaterverständiger sein wollen als Schiller; es genügt vollkommen, wenn man ebenso gescheit ist.
Herr Treßler nimmt den Fiesco ganz kavaliermäßig, und dieser Teil der Rolle gelingt ihm auch; aber was sonst noch hinter dem Fiesco steht, blieb er vollkommen schuldig. Er »bringt« alle vorgeschriebenen Betonungen und Stellungen mit ausgezeichneter Routine; mehr nicht. Er hat Anstand, aber er ist nicht edel; er ist freundlich, aber ganz und gar ohne die von Schiller dazu gewünschte Majestät. Dem scharf und sicher konturierten Andreas Daneggers glaubt man, daß Genua vor ihm zittert. Die Besetzung der übrigen Hauptrollen ist bekannt. Ebenso die herrliche Leinwandinszenierung, die, fast zwanzig Jahre alt, schon recht bedenklich scheppert.
Es ist, o Freunde, glaubet mir, enorm vieles an diesem königlichen preußischen Offizier, worüber die Zeit hinweggerutscht ist. Den Griff hat er. Das Profilumreißende hat er. Den Schmiß ins Überlebensgroße hat er. Und wirkt dennoch (für uns) als Puppiges, Attrappiges, Cancanmäßiges, Riesenspielzeughaftes.
Alles in allem: ein Zinn-Gulliver.
Es bleibt (für uns) zweierlei: Erstens:
Also erstens: diese hinreißende, unwahrscheinlich gefühlssichere Musikalität der Sprache. Diese »Penthesilea« ist, stelle ich hiemit fest, kein Dichterwerk, sondern eine Partitur.
Und zweitens: Denken S'amol noch, Herr Nochbör, wie man in der Stadt der leckeren »Marüllenschinken« und holden »G'spussis« sagt, denken S' amol noch: ist da nicht die ganze Zauberlehre jenes p. p. Freud vorgewittert?
Ein Volk von jungen Damen, die nur das Waffenhandwerk lieben ... aber was lieben sie da eigentlich so inbrünstig? Eine Seminararbeit für einen strebsamen Psychoanalytiker. Ich jedoch muß weiter eilen.
Also ... also da wäre ... zunächst Herr Hetterich. Ein strammer Expressionist. Probieren Sie's doch mal und kommen Sie dem mit was nicht Würfligem. Rausschmeißen tut er Sie, so wahr ich lebe. (Näheres, Belichtendes, endgültig Bilanzierendes über Neukunst lese man nach in »Die Welt im Drama«, Band II, Seite 326–331.)
Herr Aslan: Raoul Kainzowitsch Moissisohn. Nur ein Enkel des großen Leuchtsprudlers Josef, aber immerhin ein Enkel (oder andersrum ausgedrückt: ein Windhund, aber mit erstklassigem Pedigree).
Die Pünkösdy hinwiederum ist eine Helene Thimig für Taschengebrauch. Oder: für Unterklassen. Oder wie's im Baedeker heißt: für einfache Touristen.
Und nun noch die vieln anderen süßen Beeneken, och, och, och! Da war' ich och gern genug amol Myrmidone gwen. (Mecht ma sprechen.)
Fass' ich zusammen all die Bilder,
Mit denen ich erlabet war,
So sag' ich schließlich als ein milder,
Doch selbstbewußter Kritiker:
Ich danke Meister Herterichen,
Daß er dies Dichtwerk uns geschenkt
Und mit ein paar beherzten Strichen
Vor unser heut'ges Aug' gelenkt.
Jedoch ich kann mir nicht verhehlen,
Daß das Gelauf der Menschenschar,
Das ganze Rasseln mit den Stählen,
Nicht dringend war,
nicht dringend war.
Mit König Alfons ist Moissi eine seiner reifsten, farbigsten und einschmeichelndsten Schöpfungen geglückt. Es ist rührend zu sehen, wie dieser reine Künstler immer wieder um die höchsten Gestalten wirbt, während fast alle Besten seines Standes im rohen Sensationsschlager und glatten Amüsierspiegel oder gar in der Operette versanden. Es ist schwer zu entscheiden, ob an diesem Abend Moissi oder Grillparzer den größeren Anteil hat, so vollkommen decken sich Mensch und Rolle: ich möchte fast glauben, daß Moissi diesmal der größere Dichter ist, nämlich der kompliziertere, facettenreichere, ironisch überlegenere, menschlich reichere. Besonders im vierten Akt, der zugleich der Höhepunkt des Stückes ist, erreicht er einen grandiosen Gipfel. Neben ihm stehen die Königin der Steinsieck, die mit ihrer vornehmen Kunst des Aussparens einen stillen, aber tiefen Eindruck erzielt. Die Orska ist ja wohl, was man ein Theaterblut zu nennen pflegt: aber es fehlt ihr in einem ganz erstaunlichen Maße an Takt, Geschmack und jeglichem Gefühl für jene gefährliche Grenze, wo »starke Wirkung« in Belästigung aufzugehen droht.
Das Erlebnis des gestrigen Abends hieß nicht Hauptmann, sondern Moissi. Nie ist Moissi einer Aufgabe so entgegengekommen, aber auch noch nie hat er eine Figur so gefüllt, durchfärbt, gesteigert, so mit seiner eigenen Anämie durchblutet, einer »Anämie der alten Rassen«, wie Speidel sich einmal ausdrückte, voll adeliger Fragilität und – Freund Ullmann wird gestatten – getöntester Morbidezza. Was er herzerschütternd gestaltet, ist die Angst vor dem Leben, die »angoisse de la vie«, die jede Kreatur quälend durchdringt. Das Drama selbst ist eine bewunderungswürdige Niete. Die Grundidee ist wundervoll: sogenannte Christen, in Wahrheit imperialistische Banditen, wollen nach Mexiko Religion und Kultur bringen und müssen bemerken, daß die sogenannten Wilden diesen Glauben nicht nur längst haben, sondern ihn auch wahrhaft leben. Aber es hat dem Dichter bei der Ausführung an zweierlei gefehlt: an dem Mut und der Phantasie, Historie und Exotik magisch wiederzubeleben, und an der Fülle und dem Furor der strafenden Satire, die sich befugt und befähigt weiß, ein Weltgericht abzuhalten. Das erste kann unter den heute Lebenden nur Shaw; wer allein das zweite vermag, weiß in Wien jeder Mensch. Die Bühnenbilder von Strnad sind kleine Meisterwerke. Wir behalten uns vor, auf Werk und Aufführung in der heurigen »Bösenbubenzeitung« noch ausführlich zurückzukommen.
Der »Rahl«, dem ersten Werk seiner großen Romanserie, hat Hermann Bahr eine Art Selbstanzeige beigelegt, in der er bekennt, es hat ihn seit Jahren gereizt, sich ein Verzeichnis der sämtlichen menschlichen Typen anzulegen, und so wolle er denn »einen Atlas der Menschheit aufziehen« und zum Schluß den Versuch machen, »jeden der in der heutigen bürgerlichen Welt möglichen Typus auf seinen höchsten Ausdruck zu bringen und in einem vollkommenen Exemplar so darzustellen, daß darin der Typus ganz zum Individuum, das Individuum ganz zum Typus geworden erscheint«. Was den kleinen, aber vielfältigen Kosmos des Theaters anlangt, jenen glänzenden und gefräßigen, bunten und boshaften Polypenstock, dessen geheimnisvolles nächtiges Treiben die Menschen immer von neuem reizt, so hat Bahr das Ziel, das er sich damals gesetzt hat, längst erreicht und am hinreißendsten in der »Gelben Nachtigall«. Die Aufgabe aller Kunst, gerade im Einmaligen, Besonderen, Unwiederholbaren die bleibende platonische Idee ahnen zu lassen, ist hier aufs schönste gelöst. Die Aufführung dieses Stückes war daher die liebevollste und verständigste Ehrung, die das Deutsche Volkstheater diesem freien und reichen Geist zu seinem sechzigsten Geburtstag erweisen konnte.
Weniger liebenswürdig war es hingegen von der Direktion, wieder einmal keine Generalprobe zu veranstalten. Ich begebe mich daher, was die Darstellung und Inszenierung anbelangt (aus den letzthin hier erörterten Gründen) in den Generalstreik. Ich bin mir sehr wohl bewußt, um welche kostbare Belehrungen ich dadurch die Leser der »Stunde« bringe, und man möge mir die Versicherung glauben, daß mir dieser Entschluß nicht leicht geworden ist, um so mehr, als ja auch ich auf ein erlesenes Vergnügen verzichten muß, denn was könnte reizvoller und anregender sein, als die Leistungen der einzelnen Schauspieler mit treffenden Adjektiven zu belegen? Aber wo es sich um Prinzipien handelt, hat der Genuß zurückzutreten. Wer sich anmaßt, über andere zu richten, muß auch gegen sich selbst streng sein können. Sittliche Höhe ist das erste Erfordernis für den Kritiker, wie Alexander Moissi richtig hervorgehoben hat. All ihr Geist und alle ihre Schönheit können den Rezensenten nichts nützen, wenn sie keine großen Charaktere sind. Was wir brauchen, sind Menschen von Grundsätzen, starke, bis zum Starrsinn unbeugsame Naturen. Ein Schuß Kohlhaas muß in die Kritik kommen!
In Hermann Bahrs »Wienerinnen«, jenem bereits ein wenig nachdunkelndem Genrebildchen aus dem Wien des Fin de siècle, dem längst verwelkten Wien der Olbrich-Zeit, hat Viktor Kutschera gestern seinen sechzigsten Geburtstag und sein vierzigjähriges Bühnenjubiläum gefeiert. Es besteht eine tief verwurzelte und seltsam rührende Verwandtschaft zwischen diesem Dichter und diesem Schauspieler. In beiden Jubilaren lebt Wien, jene einmalige Menschenvarietät, wie sie mit nur unbedeutenden historischen Schwankungen von der Babenbergerzeit bis zur Lueger-Zeit immer gleichgeblieben ist: eine ganze Landschaft mit dem von ihr genährten und entwickelten Menschenschlag ist in diesen beiden klingend und leuchtend geworden. Das Grundwesen des Wieners besteht in der feudalen Fähigkeit, ja Nötigung, mit allem zu spielen, alles von der freien, aber auch völlig unverantwortlichen Höhe einer Skepsis zu betrachten, der alles gleich wichtig und gleich unwichtig ist: das ist der unverlierbare Zug im Wiener, auf den die anderen Deutschen mit einer gewissen Geringschätzung, aber mit noch viel mehr Neid blicken. Dieser verspielte, völlig unernste, völlig würdelose Geist trat bei dem gestrigen Kutschera-Jubiläum aufs angenehmste in Erscheinung; es war ein vollendetes Zusammenspiel zwischen Jubilar und Publikum. Es war, um es mit einem Wort zu bezeichnen, das aber ebenfalls das Spezialeigentum Hermann Bahrs ist und das ich mir zu diesem festlichen Anlaß auf einen Tag auszuleihen gestatte, eine echte und rechte Barockfeier. Besonders reizend waren die Reden von Albert Heine und Direktor Fronz. Und dann gab es natürlich auch Lorbeeren. Hauptsächlich aber Körbe mit Wein und Schnäpsen. Sehr vernünftig! Aber andererseits doch wieder traurig, bedenkt man, wie lange ein Künstler schaffen muß, bis er einmal in seinem Leben genug zu trinken bekommt.
Der Alkohol ist ein Gift. Das haben die Physiologen bewiesen. Aber gegen den Alkohol ist damit gar nichts bewiesen. Denn ein Gift kann immer noch eine Medizin sein.
Der Alkohol gleicht auch darin einer Medizin, daß es schlecht schmeckt. Leute, die geistige Getränke zu sich nehmen, weil sie ihnen gut schmecken, sind gar keine Alkoholiker. Sie trinken den Alkohol nicht, sie essen ihn. Sie sind alle noch leicht zu retten; denn man könnte ihnen jederzeit Bier, Wein oder Branntwein durch ein anderes Gericht ersetzen, das noch schmackhafter ist. Der richtige Alkoholiker trinkt mit Überwindung. Für ihn ist die Weinflasche identisch mit der Lebertran- oder Kirschlorbeerflasche.
»Wann wird denn endlich«, rufen die Antialkoholiker mit Emphase, »die Menschheit so weit sein, daß sie sich nicht mehr betäuben muß? Daß sie dieses schädliche, unwürdige und unmännliche Gift nicht mehr braucht?«
Wann? In dem Augenblick, wo alle Niedertracht, Ungerechtigkeit, Roheit und Dummheit aus unseren Mitmenschen entfernt sein wird. In dem Augenblick, wo alle Unvollkommenheit, Unnatürlichkeit, Krankheit und Unfähigkeit aus uns selbst entfernt sein wird. Dann werden wir den Alkohol nicht mehr brauchen, der ja nichts anderes ist als ein Antitoxin gegen die Enttäuschungen, die die anderen und wir selbst uns bereiten. Dann wird der Name »Alkohol« für uns nicht mehr bedeuten als etwa der Name »Wasserstoffsuperoxyd«.
Viele Künstler waren Alkoholiker. Aber man muß sich hier vor einer Verwechslung von Ursache und Wirkung hüten. Sie waren nicht Künstler, weil sie Alkoholiker waren. Sie waren Alkoholiker, weil sie Künstler waren. Weil sie Künstler waren, empfanden sie die Häßlichkeit und Unzulänglichkeit gewisser Realitäten tiefer und schärfer, und dies machte sie zu Alkoholikern.
Daß aber umgekehrt der Alkohol die künstlerische Inspiration irgendwie fördern kann, daß die »Muse« sich durch gegorene Kohlehydrate anlocken läßt, ist unwahrscheinlich. Sie läßt mit sich keine Geschäfte machen. Und wenn ein Künstler sich durch Spirituosen auf eine unwahre und unredliche Weise in Stimmungen versetzt hat, die gar nicht die seinigen sind, so darf er sich nicht wundern, daß niemand ihm diese erschlichenen Stimmungen glaubt.
Die natürlichen Räusche aber sind nicht beim Schnapshändler für Geld zu kaufen. Diese Räusche sind wirklich, ja sie sind wirklicher als alle Wirklichkeit. Es ist aber sicher, daß sie um so zögernder herankommen werden, je mehr man sie durch Gewaltmittel herbeizwingen will.
Der Mensch muß immer gewappnet, auf alles gefaßt sein, immer auf dem »Qui vive« stehen. Er muß mit allen Möglichkeiten bereits gerechnet haben, ehe sie eingetreten sind. Daher gehört sogar ein gewisser Verfolgungswahn zu den Bedingungen einer weisen Lebensführung.