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Der Zeitreisende tat einige tiefe Pfeifenzüge.
»Finden Sie nicht«, sagte er, »daß das eigentlich ein sehr ungenauer und falscher Ausdruck ist: ›das Bewußtsein verlieren‹? Meiner Ansicht nach kann man alles verlieren, nur nicht das Bewußtsein. Die Narkotisierten sind angeblich bewußtlos. Aber sie erleben alles mögliche, halten lange Reden und führen ganze Szenen auf. Dazu gehört doch Bewußtsein! Ferner gibt es nach der Versicherung fast aller maßgebenden Psychologen keinen traumlosen Schlaf: also verläßt uns auch im Schlaf niemals das Bewußtsein. Auch von Personen, die sich im höchsten Affekt: des Zornes, der Angst, der Liebesraserei befinden, sagt man, sie seien nicht bei Besinnung. Aber sie begehen in diesem Zustand sehr oft Handlungen von geradezu raffinierter Zweckmäßigkeit. Ebenso verhält es sich mit den Hypnotisierten: sie handeln höchst vernünftig, also müssen sie doch Bewußtsein haben. Ebenso mit den Betrunkenen: was diese reden und tun, hat oft geradezu metaphysischen Charakter. Andrerseits können wir auch im nüchternsten Zustand allerhöchstens zehn Vorstellungen auf einmal im Bewußtsein behalten: wenn die elfte auftaucht, ist die erste schon wieder untergegangen. Und doch ist sie da: sonst könnte sie nicht wiederkommen. Der Behälter, in dem sie ruht, ist eben das Bewußtsein.
Also das Bewußtsein ist immer da: im Rausch, in der Ohnmacht, in der Trance, im Scheintod, ja sogar nach dem Tode. Der Tod ist nichts als eine Narkose, aus der man nicht spricht, ein Schlaf, der im falschen Ruf steht, traumlos zu sein. Daraus folgt aber, daß das Bewußtsein auch schon vor der Geburt dagewesen sein muß, denn –«
»Das sind ja höchst anregende und neuartige Aspekte, die Sie hier eröffnen«, sagte ich, auf meinem Stuhle rückend, »aber noch mehr würde es mich derzeit interessieren, die Erklärung Ihres Zeitmaschinenunglücks zu erfahren. Warum wurden Sie aus dem Sattel geschleudert? Wieso wurde es plötzlich stockfinster?«
»Aber ich bin ja eben dabei«, sagte der Zeitreisende. »Lassen Sie mich nur der Reihe nach vorgehen. Zunächst mußte ich Ihnen doch erklären, wieso ich das Bewußtsein verlor und wieso ich es nicht verlieren konnte.«
»Und als Sie wieder zu sich kamen, was geschah da?«
»Wiederum ein falscher Ausdruck. Man ist immer bei sich.«
»Also was geschah, als das bei Ihnen eintrat, was man mit einem schlechten Wort als ›zu sich kommen‹ bezeichnet?«
»Das erste, was ich bemerkte, war eine schmerzhafte Beule an meinem Hinterkopf, die zusehends anschwoll. Langsam gewöhnte ich mein Auge an die Dunkelheit, und nun sah ich, daß ich neben meinem Hause auf dem Gartenboden lag, der steinhart und eiskalt war. Es war tiefe Nacht. Ein heulender Windstoß schüttelte die kahlen Bäume. Wütende Güsse dicker Hagelschloßen, vermischt mit Schnee, rauschten hernieder und peitschten mir ins Gesicht. Ich war bereits völlig durchnäßt. Ich erhob mich mühsam und tastete mich ins Zimmer. Natürlich hatte ich keine Streichhölzer mit, und außerdem erinnerte ich mich mit Verdruß, daß der Auerstrumpf bei der letzten Verwendung abgenützt und schadhaft gewesen war. Endlich fand ich Zünder und konnte Licht machen. Aber zu meiner angenehmen Überraschung war der Strumpf intakt und leuchtete wie neu. Ich begab mich zum Kamin, um Feuer zu machen. Aber die Scheite brannten bereits. Waren hier Heinzelmännchen am Werke?
Ich blickte um mich. Mein Studierzimmer war unverändert. Aber wie ich hierhergekommen war, war mir unerklärlich. Ich hatte doch nicht gestoppt! Oder war meine Maschine von selber stehengeblieben? Wo war sie denn überhaupt? Erst jetzt fiel mir ein, daß ich in meiner Verwirrung mich gar nicht um sie gekümmert hatte. Ich stieß das Fenster auf und blickte hinab; aber ich konnte sie nicht entdecken.
Ich stürzte vors Haus und suchte alles ab: sie war unauffindbar. In tiefster Niedergeschlagenheit kehrte ich in mein Zimmer zurück. Ein neuerlicher Wetterschauer ergriff die offenen Fensterflügel und schüttete die Scheiben klirrend ins Zimmer. Die Hagelkörner tanzten auf dem Teppich.
Ich schloß die Läden und verfiel in tiefes Sinnen. Was war geschehen? Das waren ja Dinge wie am Jüngsten Tag! War der Widerstand der Erdzeit eben doch nicht zu besiegen gewesen? Er konnte sich ja ganz gut erst einen Tag später ausgewirkt haben: statt am vierten am dritten Mai. Aber woher die Detonation und der Sturz? War eine Explosion vor sich gegangen infolge irgendeiner Reibung, der Reibung der beiden kämpfenden Zeiten? Aber das war ja Unsinn. Reibung ist doch nur unter Körpern, unter dreidimensionalen Größen möglich, und diese Vorgänge konnten sich nur in der einen Dimension der Zeit ereignet haben. Und selbst diesen unmöglichen Fall angenommen: so hätten sich doch zumindest Überreste meiner zerplatzten Maschine vorfinden müssen. Aber es war nicht ein Stückchen von ihr vorhanden, nicht ein einziges Rad, keine Spur ihrer Existenz. Sie war wie vom Erdboden weggewischt. Und draußen tobten Schneesturm und Eishagel am dritten Mai! Und dazu tiefe Nacht am Morgen! Denn diese Tageszeit mußte jetzt sein. Meine Maschine hat nämlich keine kleineren Zeiteinheiten als einen Tag. Das ist ja ohnehin schon sehr wenig: nicht einmal der dreieinhalbtausendste Teil eines Zeitmeters. Ich konnte also nur wieder kurz nach halb zehn Uhr morgens gelandet sein, denn soviel war es bei meiner Abfahrt von den Ägyptern.
Ich zündete mir eine Zigarre an, was bei mir immer das Zeichen übelster Laune ist, und grübelte weiter. Am Ende hatte ich alles nur geträumt: die sanfte meeräugige Gloria, den projizierten Mann von Savory, die purpurnen Drachenblüten und die verdrehten Ägypter? Vielleicht war das Ganze eine Grogphantasie, und ich war gar nicht weggewesen? Aber eine Reihe von Anzeichen bewiesen mir nur zu greifbar, daß alles positive Wirklichkeit war. Hier war mein Zimmer, aber ganz anders, als ich es verlassen hatte: der Auerbrenner statt der Morgensonne, rote Kaminglut statt des blauen Maihimmels und ein wilder Orkan statt der weichen Frühlingsluft. Ich fühlte, sah und hörte alle diese Veränderungen mit meinen wachen nüchternen Sinnen. Ich fühlte den eisigen Windzug durch die klappernden Fensterläden, ich hörte das Prasseln des Hagels und das Heulen des Sturmes, ich sah das Wasser und die Glassplitter auf meinem Teppich, und das Wichtigste und Betrüblichste von allem: was ich nicht sah, war meine Maschine. Wo war sie?
Ich hatte einigermaßen meine Ruhe wiedergewonnen und bemühte mich, an der Hand kalt logischer Erwägungen zu einem vernünftigen Resultat zu gelangen. So viel war klar: ich hatte den Widerstand der Erdzeit nicht überwunden, aus irgendeinem unbekannten Grunde, denn ich befand mich hier, in meinem Zimmer und nur einen einzigen Tag in der Vergangenheit. Aber das erklärte mir noch immer nicht das fatale Verschwinden meiner Maschine. War der Widerstand der Erdzeit unbesiegbar, so hätte sie einfach stehen bleiben müssen. Und woher kam die Finsternis? Die hatte doch mit dem Widerstand der Erdzeit nicht das geringste zu schaffen. Und das Unwetter?
Hier hatte ich einen Gedanken – wenn man ihn so nennen kann. Vielleicht war gerade meine gewaltsame Katastrophe die Ursache des plötzlichen Wetterumschlags. Was ist denn Wetter? Eine Zeiterscheinung. Wenn es gut ist, nennt man es eine ›schöne Zeit‹, beau temps, bel tempo. Und die unerklärliche Nacht war vielleicht eine Sonnenfinsternis. Ohne Sonne gibt es keine Zeit, also auch keine Zeitmaschine: daher war diese vorübergehend verschwunden. Natürlich war das alles ausgesuchter Blödsinn. Am dritten Mai war doch gar keine Sonnenfinsternis. Und ein von mir sozusagen nachgeliefertes Wetter war auch eine Undenkbarkeit. Aber in meinem niedergedonnerten Zustand wären Sie wahrscheinlich auf nicht viel Gescheiteres gekommen.
Ich schloß die Haustür und nahm mechanisch die Zeitung aus dem Postkasten. Es waren die ›Sunday Times‹. Merkwürdig: der dritte Mai war doch gar kein Sonntag. Geistesabwesend durchflog ich die einzelnen Spalten. Feuilleton: eine schreckliche Plauderei: ›Was wir uns zu Sankt Nikolaus wünschen‹. Diese Albernheiten hätte die Redaktion sich doch wirklich bis zum sechsten Dezember aufheben können. Oder waren sie noch vom letzten Nikolaustag liegengeblieben? Theater und Kunst: ›Die Erstaufführung von Pineros neuer Komödie ›Sinchens Geheimnis‹ findet nächste Woche im Haymarket-Theater statt.‹ Das war aber doch bereits ein Theaterskandal? ›Im Strand-Theater haben die Proben zu den Christmasspielen begonnen.‹ Was zum Teufel sollen Proben zu Weihnachtsspielen im Mai? Vom Kriegsschauplatz: ›Seit der Schlacht am Schaho herrscht zu Lande nach wie vor der Stellungskrieg, während Port Arthur belagert wird. Heute wurde der ›Hohe Berg‹, das Vorwerk an der Nordwestseite der Stadt, nach zehntägiger Bestürmung geräumt. Die Verteidigung leitete General Kondratenko. Danach ist, wenn es den Russen nicht noch rechtzeitig gelingt, Entsatz heranzuschieben, mit dem Fall der Festung in wenigen Monaten, ja vielleicht sogar schon in Wochen zu rechnen.‹ Aber zum Donnerwetter, der Russisch-Japanische Krieg war doch schon beendet! Von wann ist denn die Zeitung?
Zu dumm. Ich hatte eine alte Nummer erwischt: vom sechsten Dezember. Aber warum steckte sie noch im Postumschlag? Mein zerstreuter Blick fiel auf den Wetterbericht: ›Seit gestern herrscht in London eine Witterung, wie sie selbst im Dezember zu den Seltenheiten gehört: Schneegestöber, untermischt mit Hagel, und orkanartige Stürme.‹ Komisch: genau dasselbe Wetter wie jetzt...
Mit einem Male glaubte ich alles zu verstehen. Ich war gar nicht im dritten Mai, ich war wirklich im sechsten Dezember! In Gedanken versunken, hatte ich offenbar gar nicht beachtet, daß ich schon weitergeglitten war. Vielleicht auch hatte ich unversehens den Hebel berührt und das Tempo beschleunigt. Aber das erklärte noch immer nicht das plötzliche Stehenbleiben des Apparats und vor allem sein rätselhaftes Verschwinden. Denn die Zeitmaschine mußte doch da sein, sie war doch in der Zeit, in jeder Zeit, in tausend Jahren so gut wie vor tausend Jahren, morgen und übermorgen so gut wie gestern und vorgestern.
In diesem Augenblick wäre ich beinahe ohnmächtig geworden. Denn ich erkannte mit einem Schlage die ganze furchtbare Wahrheit.«