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Vom 11. bis 26. März 1872 vor dem Leipziger Bezirks-Schwurgericht.
In meiner langen Berufstätigkeit habe ich keinem zweiten Prozeß als Berichterstatter beigewohnt, der auch nur entfernt an die politisch-historische Bedeutung herangereicht hat, wie dieser Hochverratsprozeß, der am 11. März 1872, also vor nunmehr 40 Jahren vor dem Leipziger Bezirks-Schwurgericht begann.
Im Jahre 1870 war die sozialdemokratische Partei noch in zwei feindliche Lager gespalten. Zwischen dem Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Verein unter dem Präsidium des ehemaligen Frankfurter Rechtsanwalts Dr. jur. Jean Baptiste v. Schweitzer, und den sogenannten »Eisenacher Ehrlichen« herrschte grimmige Fehde. Im Norddeutschen Reichstag saßen bei Ausbruch des Krieges Dr. v. Schweitzer, der Zigarrenarbeiter Fritzsche, der Lohgerber Wilhelm Hasenclever aus Halver, Westfalen, der frühere Lehrer Fritz Mende, der Kupferschmied Försterling und der Vertreter für Altona, Zigarrenarbeiter Reimer (sämtlich Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins). Die sozialdemokratische Partei (Eisenacher Richtung) war durch Liebknecht und Bebel vertreten. Am 19. Juli 1870 erfolgte von dem damaligen Kaiser der Franzosen Napoleon III. die Kriegserklärung. Dies Ereignis hatte die sofortige Einberufung des Norddeutschen Reichstages zur Folge. Die Regierung verlangte eine Kriegsanleihe von 120 Millionen Talern. Der Reichstag, einschließlich der Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins, bewilligten die Anleihe, nur Liebknecht und Bebel enthielten sich der Abstimmung mit folgender schriftlicher Begründung:
»Der gegenwärtige Krieg ist ein dynastischer Krieg, unternommen im Interesse der Dynastie Bonaparte, wie der Krieg von 1866 im Interesse der Dynastie Hohenzollern. Die zur Führung des Krieges dem Reichstag abverlangten Geldmittel können wir nicht bewilligen, weil dies ein Vertrauensvotum für die preußische Regierung wäre, die durch ihr Vorgehen im Jahre 1866 den gegenwärtigen Krieg vorbereitet hat. Ebensowenig können wir die geforderten Geldmittel verweigern, denn es könnte dies als Billigung der frevelhaften und verbrecherischen Politik Bonapartes aufgefaßt werden. Als prinzipielle Gegner des dynastischen Krieges, als Sozial-Republikaner und Mitglieder der Internationalen Arbeiter-Assoziation, die ohne Unterschied der Nationalität alle Unterdrücker bekämpft, alle Unterdrückten zu einem großen Bruderbunde zu vereinigen sucht, können wir uns weder direkt noch indirekt für den gegenwärtigen Krieg erklären und enthalten uns daher der Abstimmung, indem wir die zuversichtliche Hoffnung aussprechen, daß die Völker Europas, durch die jetzigen unheilvollen Ereignisse belehrt, alles aufbieten werden, um sich ihr Selbstbestimmungsrecht zu erobern und die heutige Säbel- und Klassenherrschaft als die Ursache aller staatlichen und gesellschaftlichen Übel zu beseitigen.
Berlin, den 21. Juli 1870
A. Bebel
W. Liebknecht.«
Diese Erklärung entfesselte einen kaum zu schildernden Sturm der Entrüstung nicht nur in allen bürgerlichen Parteien, sondern auch unter den Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins. Selbst der Ausschuß der sozialdemokratischen Arbeiter-Partei Eisenacher Richtung war mit diesem Vorgehen nicht einverstanden. »Landesverräter« war die mildeste Bezeichnung für Liebknecht und Bebel. Die Sozialdemokraten Eisenacher Richtung wurden aller Orten aufs schmählichste beschimpft. Obwohl in dem damaligen Wohnort von Liebknecht und Bebel, in Leipzig, die Eisenacher Sozialdemokraten verhältnismäßig zahlreich waren, wurden Liebknecht und Bebel in Leipzig auf offener Straße behelligt und eines Nachts, als Liebknecht sich gerade in einer Versammlung befand, in der Liebknechtschen Wohnung die Fenster eingeschlagen. Ein großer Stein, der durchs Fenster geflogen kam, hätte beinahe dem ältesten Sohn Liebknechts, den Frau Natalie Liebknecht gerade an der Mutterbrust hatte, den Kopf zertrümmert. Bebels Wohnung blieb verschont, da dieser in der Petersstraße im Hofe wohnte. Die Erregung wuchs, als nach der Schlacht von Sedan, der Gefangennahme Napoleons und der Proklamierung der Republik in Paris im »Volksstaat«, dem von Liebknecht redigierten Zentralorgan der Eisenacher Sozialdemokraten, an der Spitze jeder Nummer zu lesen war: »Ein billiger Friede mit der französischen Republik! Keine Annexion! Bestrafung Bonapartes und seiner Mitschuldigen.« Am 5. September 1870 erließ der zu Braunschweig domizilierte Ausschuß der sozialdemokratischen Partei Eisenacher Richtung ein Manifest in demselben Sinne. Am 6. September erfolgte die Veröffentlichung und am 9. September wurde der gesamte Ausschuß, Kaufmann Wilhelm Bracke jr., Oberlehrer Spier, Ingenieur Leonard v. Bornhorst, Gralle und Kühn, nebst dem Druckereibesitzer Sievers und einem Braunschweiger Sozialdemokraten namens Ehlers, auf Befehl des Höchstkommandierenden der Armee in den deutschen Küstenländern, auf Grund des proklamierten Kriegszustandes verhaftet und in Ketten geschlossen nach der ostpreußischen Festung Lotzen abgeführt. Sehr bald darauf traf das gleiche Schicksal den Vorsitzenden der Kontrollkommission der »Eisenacher«, den Hamburger Buchhändler August Geib und den Vertreter des zweiten Berliner Landtagswahlbezirks, Abgeordneten Dr. med. Johann Jacoby in Königsberg i. Pr., der in der Königsberger Stadtverordnetenversammlung sich gegen jede Annexion erklärt hatte. Dr. Jacoby war aber keineswegs der einzige bürgerliche Demokrat, der gegen die Annexion protestierte. Obwohl die Norddeutsche Allgemeine Zeitung die Mitteilung brachte: Jeder, der sich öffentlich gegen die Annexion erklärt, macht sich des Landesverrats schuldig, erließen die Mitglieder des bürgerlichen »Demokratischen Vereins« in Berlin, an der Spitze Dr. Guido Weiß und Färbereibesitzer William Spindler, damals Chef der Weltfirma W. Spindler, im Verein mit einer Anzahl Berliner Sozialdemokraten Eisenacher Richtung eine mit Namen unterzeichnete öffentliche Protesterklärung gegen die Weiterführung des Krieges und gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen. Die Legislaturperiode des Reichstages war am 31. August 1870 erloschen. Aus Anlaß des Krieges wurde sie aber bis Ende Dezember 1870 verlängert. Wenige Tage vor Weihnachten wurde der Norddeutsche Reichstag geschlossen und die Wahlen für den ersten deutschen Reichstag ausgeschrieben. Liebknecht und Bebel kehrten von Berlin nach Leipzig zurück. Am folgenden Morgen in aller Frühe wurden beide und der Redakteur des »Volksstaat« Adolf Hepner verhaftet. In demselben Augenblick übernahm der verstorbene Journalist Carl Hirsch, damals Redakteur des sozialdemokratischen »Bürger- und Bauernfreund« in Krimmitschau, die Redaktion des »Volksstaat«. Am 28. März 1871 öffneten sich den drei Verhafteten die Pforten des Untersuchungsgefängnisses. Inzwischen fanden am 3. März 1871 die Reichstagswahlen statt. Die Sozialdemokraten beider Richtungen erlitten eine arge Niederlage. In Berlin war von den »Eisenachern«, in Gemeinschaft mit den bürgerlichen Demokraten, und zwar in allen sechs Kreisen Dr. Johann Jacoby aufgestellt. In ganz Berlin wurden 6400 Stimmen für Dr. Jacoby abgegeben. Von den Mitgliedern des Allgemeinen deutschen Arbeiter-Vereins war in allen sechs Berliner Wahlkreisen Maurer Grau, ein ganz vorzüglicher Redner, aufgestellt. Er erhielt in ganz Berlin noch nicht 4000 Stimmen. In ganz Deutschland wurden 124 655 sozialdemokratische Stimmen abgegeben. Von den sozialdemokratischen Reichstagskandidaten wurde lediglich Bebel in Glauchau-Meerane gewählt. Auch Liebknecht war in seinem alten Wahlkreise Schneeberg-Stollberg durchgefallen. Außer Bebel waren noch zwei bürgerliche Demokraten, der Verleger der »Frankfurter Zeitung«, Leopold Sonnemann und Rechtsanwalt Schraps (Zwickau) gewählt. Die Mitglieder des Braunschweiger Ausschusses wurden sechs volle Monate in Haft behalten. Im November 1871 hatten sie sich in Braunschweig wegen Hochverrats zu verantworten, sie wurden jedoch nur wegen Vergehen gegen die öffentliche Ordnung verurteilt. Nach Beendigung des Prozesses strengten sie gegen den General Vogel von Falckenstein auf dem Zivilwege die Entschädigungsklage an. Der General wurde auch schließlich zu einer hohen Entschädigungssumme verurteilt, die ihm der Kaiser als Gnadengeschenk verehrte. – Inzwischen wurde gegen Liebknecht, Bebel und Hepner Anklage wegen »vorbereitender Handlungen zum Hochverrat« erhoben. Die Staatsanwaltschaft behauptete: Die verschiedenen Zeitungsartikel, öffentliche Reden, Broschüren und Briefe der Angeklagten aus den letzten zehn Jahren, aber auch Zeitungsartikel, Reden, Broschüren und Briefe anderer Sozialdemokraten, selbst von solchen, die längst verstorben oder auch zu den Gegnern übergetreten waren, seien in ihrer Gesamtheit vorbereitende Handlungen zum Hochverrat. So begann nun am Montag, den 11. September 1872 vor dem Leipziger Bezirksschwurgericht, unter ungeheurem Andrange des Publikums, der Prozeß. Die Sächsische Staatsregierung hatte zwei Mitglieder des Königl. Stenographischen Instituts zu Dresden mit der stenographischen Aufnahme der Verhandlungen beauftragt. Den Gerichtshof bildeten Bezirksgerichtsdirektor von Mücke (Vorsitzender), Bezirksgerichtsräte Mansfeld und von Knappstädt (Beisitzende) und Bezirksgerichtsrat Weiske als Ersatzrichter. Die Staatsanwaltschaft vertrat Staatsanwalt Hoffmann. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Freytag I (Leipzig) für Liebknecht und Hepner und Rechtsanwalt Freytag II (Plauen) für Bebel. Die Geschworenenbank bildeten Rittergutsbesitzer Winning aus Mölbis, Kommunegutspächter Kunze aus Grausnig, Oberförster Borner aus Seidewitz, Kaufmann Edmund Oskar Göhring aus Leipzig, Gutsbesitzer Hoffmann aus Naunhof, Kaufmann G. Jakob Härder aus Leipzig, Rittergutspächter Steiger aus Schweta, Kaufmann Karl Heinrich Benzien aus Leipzig, Kaufmann und Ratsmann August Koch aus Lausigk, Kaufmann Reinhard Steckner aus Pegau und Kaufmann Karl Gustav Platzer aus Leipzig. Nach Feststellung der Personalien Liebknechts wurde sofort ein langes Aktenstück der Gießener Polizei verlesen, das mit den Worten begann: »Liebknecht soll in seiner Jugend ein Trauerspiel geschrieben haben, das aber nicht aufgeführt wurde.« Alsdann wurde die politische Tätigkeit Liebknechts, wonach er an allen möglichen Verschwörungen teilgenommen habe, in ausführlicher Weise geschildert. Das Aktenstück schloß mit den Worten: »In Berlin und in Sachsen wird man von der politischen Tätigkeit Liebknechts mehr Kenntnis haben als hier, da er bereits seit 22 Jahren aus Gießen fort ist.« Darauf nahm das Wort Angeklagter Liebknecht: Das soeben verlesene Opus der Gießener Polizei versetzt mich in die Notwendigkeit, wenigstens in den Grundzügen ein wahres Bild meines Lebens zu entwerfen, gegenüber diesem Zerrbild. Das Aktenstück ist ein kurioses Beispiel davon, wie die Tatsachen sich in einem Polizeihirn spiegeln und vollkommen entstellt zurückgeworfen werden. Die absolute Unfähigkeit des Verfassers, die Wahrheit zu erkennen, die Dinge so zu sehen und zu schildern wie sie sind, geht schon zur Genüge aus der Behauptung hervor, die von ihm so freundlich gemachten Aufschlüsse über alle möglichen Verschwörungen im allgemeinen und den Kommunistenverband im besonderen seien nicht dem berüchtigten »Schwarzen Buche« entnommen, das bloß ein Verzeichnis von politischen Verbrechern enthalte. Ich habe das »Schwarze Buch« hier in der Hand. Es ist, wie Sie, meine Herren Richter und Geschworenen sehen, ein respektabler Oktavband, und Sie können sich durch den Augenschein überzeugen, daß das fragliche Verzeichnis allerdings vorhanden ist, aber nur den Anhang des Hauptwerkes bildet. Und Sie können sich weiter überzeugen – ich werde das Buch dem Gerichtshofe durch meinen Anwalt überreichen lassen –, daß fast alle Enthüllungen des Gießener Polizeielaborats zum Teil wörtlich diesem »Schwarzen Buch« entlehnt sind. Entweder hat also der Anfertiger des Opus das »Schwarze Buch«, von dem er schreibt, gar nicht gekannt, oder er hat – aus welcher Ursache bleibe dahingestellt – nur das letzte Stück gesehen und den Rest ignoriert. In jedem von beiden Fällen kommt seine Wahrheitsliebe gleich sehr ins Gedränge. Was ist aber das Zeugnis eines Mannes wert, der nicht einmal in bezug auf eine so einfache, mit Händen zu greifende Tatsache die Wahrheit zu sagen vermag? Da ich einmal vom »Schwarzen Buch« rede, das den Schatten der traurigsten Epoche unserer Geschichte hierher wirft, so sei kurz bemerkt, daß es in verschiedenen Variationen existiert, und daß die in meinem Besitze befindliche amtliche Musterausgabe den Titel führt: »Die Kommunisten-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts, im amtlichen Auftrage, zur Benutzung der Polizeibehörden der sämtlichen Deutschen Bundesstaaten, auf Grund der betreffenden gerichtlichen und polizeilichen Akten, dargestellt von Dr. jur. Wermuth, Königlich Hannoverscher Polizeidirektor, und Dr. jur. Stieber, Königlich Preußischer Polizeidirektor, – Berlin 1853. Druck von A. W. Hayn.« Die zwei Verfasser sind wohlbekannt. Herr Wermuth ist mittlerweile gestorben, Herr Stieber dagegen lebt noch, und ist sogar sehr lebendig in diesem Augenblick. Auf den Inhalt des »Schwarzen Buches« einzugehen, habe ich keine Veranlassung. Es ist polizistische Geschichtsschreibung – das sagt alles. Ebensowenig kann ich mich mit den Plagiaten des Gießener Polizeidirektors befassen. Was geht mich Babeuf an, der 30 Jahre vor meiner Geburt guillotiniert wurde? Was Mazzini, der wie männiglich bekannt, ein erbitterter Feind des Sozialismus ist? Was Fieschis Höllenmaschine, die explodierte, als ich noch mit der Schulmappe unter dem Arme in die Sexta ging? Was geht mich der »Bund der Geächteten« und der »Bund der Gerechten« an? Und weshalb verliest man dieses Zeug? Mit diesem Prozeß hat es nicht das geringste zu tun. Aber freilich, es ist ganz darauf berechnet, mich im ungünstigsten Lichte erscheinen zu lassen und mich den Geschworenen als Schinderhannes oder »Carlo Moor« hinzustellen. Es ist grundfalsch, daß ich in dem berüchtigten Kölner Kommunistenprozeß eine hervorragende Rolle gespielt habe. Ich war an diesem Prozeß direkt gar nicht beteiligt; ich war weder Angeklagter noch Zeuge. Freilich kam mein Name in der öffentlichen Prozeßverhandlung häufig vor, aber nur, weil er auf einem infam gefälschten Aktenstück stand, das Herr Stieber, um die Verurteilung der Angeklagten zu erwirken, produziert hatte. Ich rede von dem sogenannten »Protokollbuch« das die Sitzungsberichte der Londoner Gemeinde enthalten und von mir als Schriftführer mit unterzeichnet sein sollte. Die Fälschung wurde sofort nachgewiesen und öffentlich vom Gerichtshof festgestellt. Trotzdem ist Herr Stieber heute noch im Amt und hoch in Gnaden und Ehren, während ich auf der Bank der Angeklagten sitze – ein Kontrast, eminent charakteristisch für unsere neueste Ära des Ruhmes und der nationalen Wiedergeburt. Und nun ein kurzes curriculum vitae. Einer Beamtenfamilie entstammend, war ich von meinen Angehörigen – den Vater hatte ich früh verloren – für die Beamtenlaufbahn bestimmt. Allein schon auf dem Gymnasium lernte ich die Schriften Saint Simons kennen, die mir eine neue Welt eröffneten. Zu einem »Brotstudium« hatte ich ohnehin keine Neigung. Ich wollte studieren, um mich auszubilden, und wollte mich ausbilden, um meine Pflichten in Staat und Gesellschaft erfüllen zu können. Mit 16 Jahren kam ich auf die Universität, nachdem ich im Abiturientenexamen die erste Note empfangen hatte. Ich bemerke das, nicht um zu prahlen, sondern um das Gießener Polizeimachwerk zu kennzeichnen, das mich zum verkommenen Subjekt stempeln will. Wie schon angedeutet, studierte ich die verschiedensten Materien. Ich tastete hin und her, gleich jedem Studenten, der wirklich lernen will und nicht in der Zwangsjacke eines Brotstudiums steckt. Den Gedanken, in den Staatsdienst zu treten, gab ich endgültig auf, da er sich mit meinen politisch-sozialen Anschauungen nicht vertrug. Aber ich hegte eine Zeitlang den Plan, Privatdozent zu werden, und hoffte, vielleicht auf einer der kleineren, unabhängigen Universitäten eine Professur zu erlangen. Doch in diesem Wahn wiegte ich mich nicht lange. Ich überzeugte mich, daß ich, ohne meine Grundsätze zu opfern, nicht die mindeste Aussicht hatte, die Lehrberechtigung zu bekommen, und faßte deshalb im Jahre 1847 den Entschluß zur Auswanderung nach Amerika. Ungesäumt traf ich die nötigen Vorbereitungen und war schon auf der Reise nach einem Seehafen begriffen, als ich zufällig im Postwagen die Bekanntschaft eines in der Schweiz als Lehrer ansässigen Mannes machte, der meinen Plan mißbilligte, und mir, unter Hinweis auf die allem Anschein nach nahe bevorstehende Umgestaltung der europäischen Verhältnisse, mit so beredten Worten die Übersiedelung nach der republikanischen Schweiz riet, daß ich auf der nächsten Poststation umkehrte und, statt nach Hamburg, nach Zürich fuhr. Dort wollte ich mir auf den Wunsch mehrerer Staatsbeamten, an die ich von meinem neugewonnenen Freund empfohlen war und die sich gegenwärtig zum Teil in hervorragenden Stellungen befinden, das Bürgerrecht erwerben und mich der Advokatenkarriere widmen. Liebknecht schilderte alsdann seine Tätigkeit in der Schweiz und in Paris und fuhr darauf fort: Herwegh bereitete seinen bekannten Zug vor; ich schloß mich an und tat mein Möglichstes im Interesse des Unternehmens. Es handelte sich um die Erkämpfung der deutschen Republik. Der Moment schien mir günstig. Ich wäre in meinen eigenen Augen ein Feigling oder ein Verräter gewesen, hätte ich anders gehandelt. Sie sehen, meine Herren Richter und Geschworenen, ich verleugne nicht meine Vergangenheit, nicht meine Grundsätze und Überzeugungen. Ich leugne nichts, ich verhehle nichts. Und um zu zeigen, daß ich ein Gegner der Monarchie, der heutigen Gesellschaft bin, und wenn die Pflicht es erheischt, auch nicht vor dem Kampf zurückschrecke, dazu bedürfte es fürwahr nicht der albernen Erfindungen dieses Gießener Polizeimachwerks. Ich spreche es hier frei und offen aus: Seit ich fähig bin, zu denken, bin ich Republikaner und als Republikaner werde ich sterben. Liebknecht schilderte alsdann seine Beteiligung am Badischen Aufstande, seine Gefangennahme, seine neunmonatliche Gefangenschaft und seine Übersiedelung nach der Schweiz. Er wurde schließlich auf bundesratlichem Befehl aus der Schweiz transportiert und den französischen Behörden überliefert, die ihn mit einer Zwangspost nach London schickten. In London, so etwa fuhr Liebknecht fort, lebte ich 13 Jahre lang, mit politisch-sozialen Studien beschäftigt, noch mehr mit dem Kampf um das Dasein. Mitte 1862 wurde ich von August Braß, dem roten Republikaner von 1848, der uns in der Fehde mit dem Plonplonisten Karl Vogt drei Jahre zuvor sekundiert hatte, zum Eintritt in die Redaktion der von ihm in Berlin neubegründeten »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« eingeladen. Die Rückkehr nach Deutschland war mir durch die inzwischen publizierte Amnestie ermöglicht. Bekämpfung des Bonapartismus nach außen und des falschen Bourgeoisliberalismus nach innen, im Sinne der Demokratie und des Republikanismus (zu dem Herr Braß, damals noch »Bürger der Republik Genf«, sich mit großer Emphase bekannte), bildeten das Programm, auf Grund dessen ich im August 1862 den angebotenen Posten übernahm. Anfangs ging alles gut. Doch es dauerte nicht lange, so kam – Ende September 1862 – Herr von Bismarck ans Ruder und ich merkte bald, daß sich eine Änderung in der Haltung des Blattes vollzog. Ich schöpfte Verdacht und äußerte ihn; Braß leugnete hartnäckig, daß er Verpflichtungen gegen das neue Ministerium eingegangen sei und gab mir carte blanche in meinem Departement (der auswärtigen Politik). Doch die Verdachtsmomente häuften sich. Ich erlangte schließlich die Beweise, daß und wie Braß sich an Herrn von Bismarck als literarischer Hausknecht verdingt hatte. Es ist selbstverständlich, daß ich mein Verhältnis zur »Norddeutschen Allgemeinen Zeitung« nun lösen mußte, obgleich ich damit auf meine einzige Erwerbsquelle verzichtete. Um jene Zeit und später wurden wiederholt Versuche gemacht, auch mich zu kaufen. Ich kann nicht positiv sagen, daß Herr von Bismarck mich kaufen wollte, aber ich kann sagen, daß Agenten des Herrn von Bismarck mich kaufen wollten, und zwar unter Bedingungen, die, außer vor mir selbst und meinen Parteigenossen, meine persönliche Würde gewahrt hätten. Herr von, jetzt Fürst Bismarck nimmt nicht bloß das Geld, sondern auch die Menschen, wo er sie findet. Welcher Partei jemand angehört, ist ihm gleichgültig. Apostaten zieht er sogar vor; denn ein Apostat ist der Ehre bar und darum ein willenloses Werkzeug in den Händen des Meisters. Der preußischen Regierung kam damals sehr viel darauf an, die widerspenstige Bourgeoisie zu Paaren zu treiben. Man wollte sie nach dem von dem englischen Torychef Disraeli vor dreißig Jahren gegebenen Rezept, zwischen Junkertum und Proletariat, wie zwischen zwei Mühlsteinen zermalmen, falls sie nicht vorzöge, sich zu fügen. Man stellte mir und meinen Freunden wiederholt die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« für Artikel extrem-sozialistischer, ja kommunistischer Richtung zur Verfügung. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich mich zu diesem schnöden Spiel nicht mißbrauchen ließ und die Bestechungsversuche der Agenten des Herrn von Bismarck mit gebührender Verachtung zurückwies. Hätte ich dies nicht getan, hätte ich die Niederträchtigkeit besessen, meine Prinzipien meinem persönlichen Interesse zu opfern, ich wäre jetzt in glänzender Stellung, anstatt hier auf der Bank der Angeklagten, wohin mich die gebracht haben, die mich vor Jahren vergebens zu kaufen suchten. Sobald der Berliner Polizei meine Weigerung bekannt wurde, die mich bis dahin unbehelligt gelassen hatte, begann eine Reihe von Schikanen. Jedoch man nahm vorläufig von entscheidenden Schritten gegen mich Abstand. Man mochte die Hoffnung, mich schließlich doch mürbe zu machen, nicht aufgegeben haben.
Im Jahre 1863 eröffnete Ferdinand Lassalle seine bahnbrechende Agitation. Aus Gründen, die im Laufe des Prozesses wohl zutage treten werden, hielt ich mich anfangs fern, bis die schmachvollen Angriffe der Bourgeoispresse auf die junge sozialistische Bewegung mir die Ehrenpflicht auferlegten, alle Bedenken fahren zu lassen. Ich wurde Mitglied des von Lassalle gegründeten »Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins«. Getreu der vorhin gekennzeichneten Politik, suchte das herrschende Junkertum sich der Arbeiterbewegung zu bemächtigen. Nach dem jähen Tode Lassalles geriet der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein leider in die Hände von Männern, die diesen reaktionären Bestrebungen teils durch Unfähigkeit, teils mit Absicht Vorschub leisteten. Dies zwang mich, meine bis dahin reservierte Haltung aufzugeben und den, hauptsächlich durch den Exredakteur der »Kreuzzeitung«, Herrn Wagener von Dummerwitz, repräsentierten Regierungssozialismus offen zu bekämpfen und darzulegen, daß ein einseitiges Vorgehen gegen die Bourgeoisie bloß dem Junkertum zugute kommen würde, daß das in Aussicht gestellte allgemeine Stimmrecht ohne freies Vereins- und Versammlungsrecht und ohne Preßfreiheit nichts anderes sei, als ein Werkzeug der Reaktion, und daß »Staatshilfe« von einer Junkerregierung bloß gewährt werden könne, um die Arbeiter zu bestechen und den Zwecken der Reaktion dienstbar zu machen. Ich wußte, was ich wagte. Die Polizeischikanen verdoppelten sich. Man verlangte von mir ein Führungsattest der Behörden meines letzten Aufenthaltsortes. Umsonst setzte ich auseinander, daß in England keine Behörde existiere, die sich mit der polizeilichen Überwachung von Nichtverbrechern beschäftige und ein solches Attest ausstellen könne. Umsonst brachte ich ein Zeugnis der Polizei meiner Geburtsstadt Gießen bei, welches besagte, daß nichts »Nachteiliges« von mir bekannt sei – die Gießener Polizei scheint damals das »Schwarze Buch« noch nicht studiert zu haben –; eines schönen Morgens, im Sommer 1865, wurde ich von einem Schutzmann auf die Polizei »sistiert« und dort bedeutet, daß ich Berlin und den Preußischen Staat binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen habe. Ich meldete Rekurs an das Ministerium des Innern an und erwirkte, daß bis zu erfolgendem Bescheid die Ausweisungsorder suspendiert blieb. Nach etwa einem Monat kam der Bescheid: die Ausweisungsorder wird bestätigt, weil meine weitere Anwesenheit in Preußen die Sicherheit des Staates gefährde. Von einer persönlichen Unterredung mit dem Minister des Innern, zu der mir offiziell geraten wurde, konnte bei meinen politischen Grundsätzen nicht die Rede sein. Ich hatte also Berlin zu verlassen, wo es mir nach langen Anstrengungen endlich gelungen war, mir ausreichende Erwerbsquellen zu öffnen. Ich siedelte nach Leipzig über. Im Sommer des folgenden Jahres brachte die preußische Politik den 1866er Bruderkrieg. Nach dem Friedensschluß zwischen Preußen und Österreich gewann ich die Leitung der hier erschienenen, bis dahin nationalliberalen »Mitteldeutschen Volkszeitung«. Noch nicht volle vier Wochen hatte ich das Blatt, da wurde es von der preußischen Militärverwaltung unterdrückt. Kurz darauf, Mitte September 1866, reiste ich zwecks Ordnung von Familienangelegenheiten nach Berlin. Die politischen Verhältnisse hatten seit meiner Ausweisung eine totale Umgestaltung erfahren. Eine Revolution von oben hatte den alten deutschen Bund zerstört, ein gemeinsames Staatsbürgerrecht war durch das in den Grundzügen bereits veröffentlichte Wahlgesetz für den Reichstag des neugeschlossenen Norddeutschen Bundes hergestellt und obendrein war eine Amnestie für alle politischen Vergehen und Verbrechen erfolgt. Wie konnte ich unter solchen Umständen annehmen, daß das Ausweisungsdekret vom vorhergehenden Jahre noch in Kraft besteht und ich noch immer ein »Ausländer« in Preußen bin? Ich bewegte mich daher auch ganz öffentlich in Berlin und trug nach mehreren Tagen ungestörten Aufenthalts kein Bedenken, im Berliner Buchdruckerverein, der, wie alle Vereine in Preußen, polizeilich überwacht wird, einen Vortrag zu halten. Auf dem Heimwege von dem Vereinslokal, nachts 11 Uhr, wurde ich in der Friedrichstraße verhaftet und in die Stadtvogtei abgeführt. Nach dreiwöchentlicher Untersuchungshaft wurde ich vom Berliner Stadtgericht wegen Bannbruchs zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Ich verschmähte es, gegen das Urteil zu appellieren, da ich günstigenfalls länger als drei Monate in Untersuchungshaft hätte bleiben müssen, also auch bei definitiver Freisprechung für den Appell gegen das ungerechte Urteil tatsächlich noch bestraft worden wäre. Ich erklärte den Herren vom Berliner Stadtgericht: Nicht an die »Richter von Berlin« werde ich appellieren, sondern an eine höhere Instanz: an die öffentliche Meinung. Und ich habe dies nach meiner Freilassung getan, in der Presse und von der Tribüne des Norddeutschen Reichstags. Ich bin nun am Ende. Nur ungern, meine Herren Richter und Geschworenen, habe ich mich zu dieser längeren Ausführung verstanden, allein das unbegreiflicherweise hier zur Verlesung gebrachte Gießener Polizeifabrikat, das gebührend zu charakterisieren mir die dem Gerichtshof schuldige Achtung nicht erlaubt, hat mich moralisch dazu gezwungen – jeder im Saal Anwesende wird dies zugestehen müssen. Und nicht bloß meiner Ehre war ich diese Antwort auf schamlose Verleumdungen schuldig, nein, auch dem Interesse meiner Mitangeklagten – von meinem eigenen schweige ich –, die in gewisser Beziehung solidarisch mit mir sind und unter dem gegen mich hervorgebrachten ungünstigen Eindruck zu leiden hätten. Ich habe Ihnen mein Leben und Wirken bloßgelegt. Ich bin, was ich war. In vielen Punkten habe ich mich weiter entwickelt, im wesentlichen stehe ich auf demselben Standpunkte wie vor 22 Jahren. In den Mitteln, in der Beurteilung einzelner Menschen und Dinge habe ich manchmal geirrt, in meinem Zwecke, in meiner Gesamtauffassung habe ich mich nur befestigt. Ich bin nicht der verkommene Abenteurer, zu dem meine Verleumder mich machen wollen. Schon in frühester Jugend habe ich die Schiffe hinter mir verbrannt und seitdem ununterbrochen für meine Prinzipien gerungen. Meinen persönlichen Vorteil habe ich nie gesucht; wo es die Wahl galt zwischen meinen Interessen und Prinzipien, habe ich nie gezögert, meine Interessen zu opfern.
Wenn ich nach unerhörten Verfolgungen arm bin, so ist das keine Schande – nein, ich bin stolz darauf, denn es ist das beredteste Zeugnis für meine politische Ehre. Noch einmal: ich bin nicht ein Verschwörer von Profession, nicht ein fahrender Landsknecht der Konspiration. Nennen Sie mich meinethalben einen Soldat der Revolution. Ein zwiefaches Ideal hat mir von Jugend an vorgeschwebt: das freie und ideale Deutschland und die Emanzipation des arbeitenden Volkes, d. h. die Abschaffung der Klassenherrschaft, was gleichbedeutend ist mit der Befreiung der Menschheit. Für dieses Doppelziel habe ich nach besten Kräften gekämpft. Für dieses Doppelziel werde ich kämpfen, so lange noch ein Hauch in mir ist, das will die Pflicht. – Im weiteren Verlauf der langen Verhandlung bestritten die Angeklagten, daß sie mit Gewalt, bezw. durch revolutionären Umsturz den sozialdemokratischen Volksstaat haben herbeiführen wollen. – Vors.: Sie sind beschuldigt, durch Druckschriften auf das Militär ein- und auf dessen Abfall vom Fahneneide hingewirkt und den Versuch unternommen zu haben, die Landbevölkerung zum Anschluß an Ihre Parteibewegung heranzuziehen. – Liebknecht: Die Landbevölkerung haben wir allerdings für unsere Prinzipien gewinnen wollen. Wir haben deshalb unsere Agitation nicht auf die städtischen Arbeiter beschränkt. Die Agitation ist aber gesetzlich erlaubt und wir haben uns daher nur gesetzlicher Mittel bedient. Unter dem Militär haben wir in keiner Weise agitiert und zwar aus dem einfachen Grunde, weil eine Agitation sinnlos gewesen wäre. In der Voruntersuchung ist uns zwar ein in Brandenburg gefundener Militärkatechismus vorgehalten worden, den wir unter den Soldaten hätten verbreiten wollen. Allein es hat sich herausgestellt, daß das Schriftchen nur in einem Exemplar vorhanden war, von dessen Existenz wir obendrein keine Ahnung hatten. Eine Propaganda durch Schriften wie dieser »Militärkatechismus« halte ich für einen Wahnsinn, denn bei der herrschenden Disziplin muß jeder solcher Versuch binnen 24 Stunden entdeckt werden und zur Verhaftung der Veranstalter führen. Nur Tollköpfe oder agents provocateurs können so etwas unternehmen. – Angekl. Bebel: Ich bin zwar bemüht gewesen, die Landbevölkerung in den Kreis der Parteitätigkeit hereinzuziehen, und habe zu diesem Zwecke in Versammlungen, wo Landarbeiter zugegen waren, deren Lage und Zukunft erörtert, auch im »Volksstaat« Artikel darüber geschrieben, doch ist dies alles nicht strafrechtlich aufreizender Art gewesen. Über militärische Einrichtungen habe ich wohl in öffentlichen Versammlungen tadelnd mich ausgesprochen und auf ihre Verderbtheit für unsere Kulturinteressen hingewiesen, das ist aber ein mir nach dem Vereinsgesetze zustehendes Recht; auch ist keiner der dabei anwesend gewesenen Polizeibeamten gegen mich eingeschritten. Ich teile vollkommen die von Liebknecht über die Beeinflussung des Militärs ausgesprochenen Ansichten. – Vors.: Eine vorhandene Broschüre beweist das Gegenteil. – Angekl. Liebknecht: Die betreffende Broschüre: »Der Militärkatechismus«, welchen diese Anklage trotz der in der Voruntersuchung ermittelten Wahrheit aus dem Aktenwust hervorgezogen hat, ist von Karl Heinzen, einem persönlichen Feinde von Marx, Engels und mir, verfaßt und stammt aus dem Jahre 1848. – Angekl. Bebel: Diese Broschüre ist in Braunschweig in einem einzigen Exemplar gefunden worden. Ich hatte von ihrer Existenz keine Ahnung. – Angekl. Hepner: Mir ist es unbegreiflich, warum die Anklage die Agitation unter der Landbevölkerung herausgreift. Wenn die Agitation unter den Industriearbeitern erlaubt ist, dann ist es auch die unter der Landbevölkerung. – Vors.: Sie werden außerdem beschuldigt, der »Internationale« angehört und Ihre Partei dieser gefährlichen Gesellschaft zugeführt zu haben? – Angekl. Liebknecht: Wir, ich meine die Mitglieder der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, gehören der »Internationale« an, aber nur – wie unser Eisenacher Programm besagt – »soweit die deutschen Vereinsgesetze es gestatten.« Die »Internationale« ist nicht revolutionär im gewöhnlichen Sinne des Wortes, d. h. sie arbeitet nicht gesetzwidrig auf gewaltsamen Umsturz hin. Namentlich Karl Marx ist von jeher ein Feind jeder kindischen Revolutionsmacherei gewesen und hat dagegen ausgeführt, daß »Revolution« das fortwährend pulsierende Leben der Gesellschaft ist. Wir wollen revolutionär nur in dem Sinne sein, daß die soziale Frage nicht mit Palliativmitteln, nicht mit Suppenküchen und Konsumvereinen gelöst werden kann, sondern nur durch radikale Heilmittel. Ob diese Lösung friedlich oder gewaltsam, im Wege der Reform oder Revolution stattfinden wird, hängt nicht von uns, sondern von unsern Gegnern ab, den augenblicklich im Staat maßgebenden Faktoren. Gehen diese letzteren auf unsere berechtigten Forderungen ein, nun dann gibt es keine Revolution, im andern Falle lasse ich dahingestellt sein, was geschehen wird. Das Verweisungserkenntnis sagt freilich, die »Internationale« verfolge »notorisch« revolutionäre Ziele. Das Wort »notorisch« wird aber gewöhnlich gebraucht, wo Beweise fehlen – so auch in diesem Punkte der Anklage. Ich verlange Beweise dafür, daß die »Internationale« revolutionäre Ziele im Sinne der Staatsanwaltschaft und der Anklage verfolgt. Dieses »notorisch« genügt mir nicht. – Mit Marx habe ich freundschaftlich korrespondiert, er ist mein Freund seit Jahren – aber ich habe so wenig von ihm, wie von sonst jemand Befehle entgegengenommen, und jedermann, der mich kennt, wird es unterlassen, mir zu insinuieren, daß ich mich überhaupt »leiten« ließe. Ich erkläre entschieden, daß wir nicht in einer abhängigen Stellung zu dem Generalrat der »Internationale« uns befinden und daß wir niemals eine Weisung von ihm erhalten haben. Mein Verkehr mit Karl Marx war rein privater Natur, obgleich wir selbstverständlich unsere Meinungen auch über öffentliche Angelegenheiten austauschten. – Vors.: Der letzte Anklagepunkt besagt, daß Sie durch Ihre Parteibestrebungen einen gewaltsamen Umsturz der Verfassung des Norddeutschen Bundes, jetzigen Deutschen Reiches und der Sächsischen Staatsverfassung bezweckt haben. – Angekl. Liebknecht: Wir haben niemals einen derartigen Plan gehabt. Was wir bezweckten und bezwecken, ist: das Volk von der Richtigkeit unserer Prinzipien zu überzeugen, die Majorität für uns zu gewinnen. Unser Streben, diese Majorität zu gewinnen, ist ein vollkommen gesetzliches gewesen. Haben wir die Majorität, so wird die Staatsanwaltschaft ihre Anklage gegen die künftige Minorität, die heute als Majorität uns wegen Hochverrats anklagt, zu richten haben, falls jene Minorität dann der Verwirklichung unserer Ideen mit Gewalt entgegentreten sollte. Ich glaube übrigens: trotz seiner Militärmacht wird wohl das deutsche Reich in seiner heutigen Gestalt nicht mehr bestehen, wenn unsere Prinzipien die Majorität erlangt haben oder, um mich anders auszudrücken, wenn sie regierungsfähig geworden sind. Es wäre also Torheit von mir, nach dem Umsturz dieses Reiches zu streben, das meiner Ansicht nach durch andere Faktoren in seiner heutigen Gestalt zerstört werden wird. – Angekl. Bebel: Wir haben, speziell ich, immer betont, daß es sich nur um Organisation, nie um gewaltsames Auftreten handelt. Es ist von mir in den Versammlungen stets darauf hingewiesen worden, daß nicht mit Gewalt, sondern mit geistigen Mitteln zu wirken sei, da, selbst wenn uns jetzt ein Gewaltakt gelänge, der die Partei momentan an das Ruder brächte, es im Volke an Intelligenz zur Verwirklichung unserer sozialistischen Ideen noch fehle. Ich habe für die Organisation der Massen nur um deswillen gewirkt, weil der kleine Handwerker und Arbeiter nicht die Geldmittel besitzt, sich die Bildung, welche er braucht, zu verschaffen, da er sich weder Zeitungen halten, noch Bücher kaufen kann. Was der Kraft des einzelnen nicht möglich, kann aber durch die Organisation erreicht werden. Darum habe ich die Organisation der Massen betrieben. – Angekl. Hepner: Wir wünschen die Verfassung allerdings geändert, und wenn Sie wollen: auch beseitigt – aber nur auf friedlichem Wege. Der Wunsch der Beseitigung einer Verfassung kann aber keine Vorbereitung zum Hochverrat sein. Verfassungen sind, wie Sie aus der Geschichte der Gesetzgebung ja sehr genau wissen, schon sehr oft geändert, ja beseitigt worden, ohne daß die Existenz der betreffenden Staaten dadurch gefährdet worden wäre. – Im weiteren Verlauf wurde den Angeklagten zum Vorwurf gemacht, daß auf dem Eisenacher Kongreß (August 1869) von dem österreichischen Delegierten Mühlwasser der Antrag gestellt wurde: die neu zu gründende Partei: »sozialrepublikanische Partei« zu nennen. – Liebknecht: Bei Gelegenheit des Wiener Hochverratsprozesses – der ersten Auflage des jetzt hier sich abspielenden Prozesses – figurierten schon die Eisenacher Tiraden dieses Herrn Mühlwasser als Belastungsmaterial, und es stellte sich während der Verhandlungen heraus, daß Herr Mühlwasser nicht ein Sozialdemokrat ist, sondern ein elender Schurke – ein agent provocateur. Ich gebrauche da einen starken Ausdruck, aber ich habe dafür eine gute Autorität, die des österreichischen Exministerpräsidenten Herrn Giskra. Ich will die betreffende Stelle aus dem stenographischen Prozeßbericht verlesen: »Der Entlastungszeuge Redakteur Scharf macht die Aussage, daß der Exminister Giskra, bei dem er sich seinerzeit für die gefangenen Arbeiter verwendete, zu ihm gesagt habe: ›Ich kann Ihnen, wenn Sie es wünschen, aus der Registratur sofort die Akten hereinbringen lassen, aus welchen Sie entnehmen können, daß sich Mühlwasser der Brünner Polizei als Spion anbieten ließ. Er ist aber ein solcher Lump, daß nicht einmal die Polizei von ihm etwas wissen will. Trotzdem aber ist Mühlwasser regelmäßig von Brünn nach Wien gefahren, um der Polizei Bericht zu erstatten.‹« Sie sehen, meine Herren Richter und Geschworenen, dieser Mühlwasser, den man als Zeugen gegen uns aufmarschieren läßt, war nicht unser Parteigenosse, sondern, um mich der Worte des österreichischen Exministerchefs Giskra zu bedienen, »ein solcher Lump, daß nicht einmal die Polizei etwas von ihm wissen wollte.« Also, selbst die Polizei hielt ihn für zu schlecht! – Freilich eine seltene Moralität in jenem Quartier. – Vors.: Ich kann Sie so nicht weiter sprechen lassen, ich hätte Sie schon früher unterbrochen, wenn Sie mich nicht überrumpelt hätten. Ich erkläre Ihnen hiermit: falls Sie sich wiederum Invektiven gegen befreundete Regierungen oder angesehene Staatsmänner zuschulden kommen lassen, werde ich Ihnen das Wort entziehen. – Liebknecht: Ich habe weder eine Regierung noch einen Staatsmann angegriffen; ich habe nur die Worte eines österreichischen Ministers zitiert, und wenn diese, was ich gern zugebe, für die Polizei wenig schmeichelhaft sind, so bin ich nicht dafür verantwortlich. Jedenfalls protestiere ich entschieden gegen jede Beschränkung meiner Redefreiheit. Sogar die alten Römer haben dieses Recht den Angeklagten schon zuerkannt. – Vors.: Die Redefreiheit beschränke ich Ihnen auch nicht. Aber bedenken Sie, wo Sie stehen, ich kann nicht erlauben, daß Sie Ihren bisherigen Verbrechen noch neue hinzufügen. Sie wissen nun, was Sie von mir zu halten haben. – Liebknecht: Ja – die Redefreiheit mit dem Strick um den Hals! Ich muß mich für den Moment der Gewalt fügen, aber ich protestiere gegen diese unerhörte Beschränkung des Rechts der Verteidigung und protestiere des weiteren dagegen, daß man von Verbrechen redet, wo bloß eine Anklage vorliegt; ich stehe hier nicht als Verbrecher, sondern als Angeklagter. Genug – ich fahre fort: Nach dem Zeugnis des Herrn Giskra kann es absolut keinem Zweifel unterliegen, daß Mühlwasser ein Spion, ein agent provocateur ist. Wenn auch die Brünner Polizei zu sittlich war, ihn zu engagieren, so ist es doch anderseits gewiß, daß derlei Subjekte Verwendung finden, und daß es Regierungen gibt, die, um die demokratische, die sozialdemokratische Bewegung zu schädigen, Agenten besolden, welche sich in sie einzudrängen und Ausschreitungen, törichte Ausbrüche zu provozieren haben, damit Anlaß zu reaktionären Repressivmaßregeln geboten wird. Der ehrliche, seines Zieles sich bewußte Revolutionär wird stets mäßig sein im Ausdruck und in seinen nächsten Forderungen; Maßlosigkeit des Ausdrucks und der Forderungen ist das Resultat der Unreife oder der Unehrlichkeit. Ich verweise auf den Kontrast zwischen der Sprache und Haltung des ehrlichen Scheu und des unehrlichen Mühlwasser, der seiner Extravaganzen wegen von ersterem formell desavouiert wurde. – Nachdem eine große Zahl Zeitungsartikel, Broschüren, Reden, Briefe, Aufrufe usw. verlesen und eine große Anzahl Zeugen vernommen waren, erschien am zwölften Verhandlungstage das Mitglied des Braunschweiger Ausschusses, der spätere Reichstagsabgeordnete Wilhelm Bracke als Zeuge. An diesen wurde eine ganze Flut von Fragen gestellt. Von Erheblichkeit war folgender Vorgang: Verteidiger Rechtsanwalt Freytag I (Leipzig): Herr Zeuge, in einem Ihrer Briefe ist von »Vorbereitung auf die Gewalt« die Rede. Wenn ich deshalb Ihnen jetzt einige weitere Fragen vorlege, so fordere ich Sie auf, mir eine rein wahrheitsgemäße Antwort zu geben. Gleichzeitig bemerke ich Ihnen, daß, im Falle Sie irgendeinen Nachteil für Ihre Person vermuten sollten, Sie selbstverständlich keine Antwort zu erteilen brauchen. Haben Sie innerhalb des Ausschusses oder im Verein mit Bebel und Liebknecht irgendeinen Plan verabredet zu gewaltsamem Sturz des Staates? – Zeuge: Niemals; wenn ich so etwas von anderer Seite vernommen hätte, würde ich sofort den Betreffenden als einen agent provocateur behandelt haben. – Vert.: Hatten Sie bei sich selbst jemals einen solchen Plan gefaßt? – Zeuge: Nein. – Vert.: Hatten Sie, als Sie die Agitatoren, Flugschriften usw. hinaussandten, die Absicht, später einmal eine gewaltsame Erhebung zu versuchen? – Zeuge: Nein. Ein solcher Plan lag uns fern und wäre nach Lage der Dinge eine Tollheit gewesen. – Vert.: Was hatten Sie für einen Zweck mit Ihrer Partei? – Zeuge: Die Absicht, die Arbeiter über ihre Lage aufzuklären, sie zu vereinigen und zu organisieren, weil sie nur in der Vereinigung ihrer Kräfte Einfluß ausüben und Verbesserung ihrer Lage erlangen können. Wir haben die Überzeugung, daß aufgeklärte Arbeiter leichter etwas erreichen werden als ungebildete. Eine gewaltsame Erhebung lag uns fern, obgleich wir uns sagen mußten, daß hartnäckiges Verweigern der berechtigten Forderungen der Arbeiter möglicherweise eine gewaltsame Erhebung provozieren könne. Die Gehässigkeiten und Verleumdungen, mit denen unsere Bestrebungen überschüttet werden, zeigen, daß es unseren Gegnern nicht um friedliche Entwicklung zu tun ist. Ich sage nur, daß bei allem guten Willen unsererseits, die soziale Frage einer friedlichen Lösung entgegenzuführen, wir uns auch an den Gedanken gewöhnen müssen, daß gewaltsame Zuckungen eintreten können. Die Geschichte zeigt, daß starres Festhalten am Bestehenden solche Zuckungen häufig hervorruft. Ich glaube, daß in der ganzen Partei gleiche Ansichten über unsere Stellung herrschen. – Vert.: Ist Ihnen bekannt, daß einer der Angeklagten eine hiervon abweichende Meinung gehabt hat? – Zeuge: Wir haben nie unsere Ansichten über diesen Punkt ausgetauscht; ich glaube aber mit Bestimmtheit annehmen zu dürfen, daß die Angeklagten die gleiche Anschauung haben. – Dieselbe Antwort gab auf Befragen des Verteidigers Rechtsanwalts Freytag I (Leipzig) als Zeuge Oberlehrer Spier, ehemaliges Mitglied des Braunschweiger Ausschusses. – Zeuge Ingenieur Leonhard v. Bornhorst (Ausschußmitglied) bekundete auf Befragen des Verteidigers Rechtsanwalts Freytag I (Leipzig): Die »Soldatenbriefe« und den »Militärkatechismus« von Heinzen habe er auf eigene Faust bestellt. Bracke und Spier erhielten erst davon Kenntnis, als der Brief an Heinzen bereits abgesandt war. Beide mißbilligten die Bestellung und verboten die Verbreitung der Schriften. Bebel und Liebknecht haben von alledem nichts gewußt, sie haben wohl auch kaum die Schriften gekannt. – Vert.: Die Partei soll die Absicht haben, eine gewaltsame Revolution herbeizuführen, um die sozialen und politischen Verhältnisse womöglich mit einem Schlage zu ändern; ist Ihnen davon etwas bekannt? – Zeuge: Eine solche Absicht bestand entschieden nicht, weder bei uns, dem Ausschuß, noch bei den Angeklagten, die nie mit einem Worte eine solche Absicht ausgesprochen haben. Die Partei bekämpft das Autoritätsprinzip und kämpft für die Grundsätze der Gleichberechtigung aller Menschen, indem sie deren Durchführung auf sozialem Gebiete die Assoziation der Arbeiter zu gemeinschaftlicher Produktion und Konsumtion, auf politischem die direkte Gesetzgebung durch das Volk erstrebt. Ich glaube, mit Stolz sagen zu dürfen, daß die deutschen Arbeiter schon manches erreicht haben. Ohne unser Vorgehen würden wir z. B. noch nicht im Besitz des allgemeinen direkten Wahlrechtes sein, so verstümmelt es auch vorliegt in dem Reichstagswahlgesetz. Unsere Aufgabe ist, durch ruhige aber energische Agitation die Aufklärung über soziale und politische Verhältnisse im Volke zu verbreiten und so nach und nach die Verhältnisse in unserem Sinne umzugestalten. Ob das Endziel der Partei, der sozialistische Volksstaat, schließlich ohne Gewalt erreicht werden kann, das läßt sich nicht vorher bestimmen und hängt ganz und gar von den Gegnern der Bewegung ab. Die Bewegung wird sich mit eiserner Notwendigkeit entwickeln, keine Macht der Erde wird imstande sein, sie zu unterdrücken, weil sie in den Verhältnissen wurzelt. Hat die Bewegung Gelegenheit, sich in den Bahnen der Reform zu entwickeln, dann wird sie friedlich die Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse vollziehen; wirft man ihr Gewalt entgegen, dann wird es wohl zur Empörung kommen. Ich hoffe auf die friedliche Entwicklung und glaube, daß die Angeklagten dieselben Ansichten hierüber haben. Unsere Aufgabe ist, das Volk aufzuklären und zu bilden; je gebildeter das Volk ist, um so leichter und friedlicher wird es sein Ziel erreichen. – Am dreizehnten Verhandlungstage begannen nach Stellung der Schuldfragen die Plädoyers. Staatsanwalt Hoffmann suchte in längerer Rede den Nachweis zu führen, daß die Angeklagten sich der Vorbereitung zum Hochverrat schuldig gemacht haben. Er hielt alle drei Angeklagten für schuldig, stellte aber den Geschworenen die Verurteilung Hepners anheim. »In betreff der Schuld der beiden anderen Angeklagten,« so etwa schloß der Staatsanwalt, »kann aber kein Zweifel obwalten. Die Angeklagten Liebknecht und Bebel sind die Seele der Bewegung in Deutschland, die Häupter der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Sie haben den Wind mit gesäet, um Sturm zu ernten, den Sturm, der jetzt alle zivilisierten Länder durchbraust. Meine Herren Geschworenen! verurteilen Sie die Angeklagten Liebknecht und Bebel oder Sie sanktionieren die Revolution für jetzt und immer.« – Verteidiger Rechtsanwalt Freytag I (Leipzig) führte in längerer Rede aus, daß in der vierzehntägigen Verhandlung ein Beweis, die Angeklagten haben einen gewaltsamen Angriff auf die Staatsverfassung unternehmen wollen, in keiner Weise geführt worden sei. Dies sei auch positiv durch die eidlichen Aussagen der Braunschweiger Zeugen, die doch Ehrenmänner seien, in überzeugendster Weise bewiesen worden. Der Verteidiger schloß: Ich erinnere noch an den Brief, den Herr Liebknecht zur Zeit des Krieges an Herrn Bracke geschrieben hat: »Wenn die Kaiserposse losgeht, dann wandere ich auf einige Jahre ins Exil.« Jemand der das schreibt, hat jedenfalls nicht den Entschluß gefaßt, in seinem Vaterlande die Staatsverfassung gewaltsam umzustürzen. Meine Herren Geschworenen! Sie sanktionieren nicht die Revolution, wenn Sie die Angeklagten freisprechen, aber Sie sprechen damit aus: In unserem Staate kann man Gedanken frei aussprechen, in unserem Vaterlande kann man die Gesinnungen, die man hat, frei bekennen. In unserem Vaterlande ist es jeder Partei gestattet, ihre Tendenzen ins Volk zu tragen. In unserem Vaterlande werden Irrtümer nicht gewaltsam bekämpft. Das, meine Herren Geschworenen, sprechen Sie aus, wenn Sie die Schuldfragen verneinen. – Verteidiger Rechtsanwalt Freytag II (Plauen) schloß seine mehrstündige Rede: Ich wünsche, daß Sie bei der Beantwortung der Schuldfragen lediglich im Sinne des Rechtes entscheiden mögen. Ich wünsche, daß nicht die herrschende politische und soziale Meinung in diesem Prozesse kämpfen möge gegen eine andere Meinung, daß nicht die Verschiedenheit der politischen Ansichten Einfluß habe auf die Rechtsprechung. Ich wünsche, daß das Wort, – und das ist vielfach gesagt worden – nicht zum Austrag kommen möge: »Dieser Prozeß mag Resultate ergeben, welche er wolle, die Angeklagten werden bestimmt verurteilt, weil sie Bebel und Liebknecht sind.« Ich will Sie erinnern, meine Herren Geschworenen, an den Ausspruch eines großen englischen Staatsmannes, den er tat über die Verurteilung William Russells, der auch wegen Hochverrats angeklagt war. Sämtliche Richter waren der entgegengesetzten politischen Richtung, es erfolgte die Verurteilung des Angeklagten zum Tode. Der große englische Geschichtschreiber Macaulay sagt darüber: »Ich beklage mein armes Vaterland, in welchem es vorkommen kann, daß Richter, die aus einer anderen politischen Partei zu Geschworenen berufen waren, einen Mann verurteilen wegen Handlungen, die er nicht begangen hat.« Üben Sie Toleranz, meine Herren Geschworenen. Mir liegen die Ziele und Bestrebungen der Angeklagten nicht nahe. Ich spreche nicht im Interesse der Angeklagten, sondern im Namen der Wahrheit, die ich vertrete. Ich spreche zu Ihnen im Namen der Gerechtigkeit, die ich bitte, nicht zu verletzen. Ich spreche zu Ihnen ganz besonders im Namen meines engeren Vaterlandes, dem ich warm und treu zugetan bin. Lassen Sie auf den Namen unseres engeren Vaterlandes, auf dessen kultur-historische Entwicklung nicht einen Flecken kommen. Und ein Flecken wäre es nach meiner reiflich gewonnenen Überzeugung, wenn Sie die Schuldfragen bejahen würden. Meine Herren, ich habe Gelegenheit gehabt, in die innersten Falten der Herzen der Angeklagten einzudringen. Und wenn ich es auch nicht beweisen kann, aber ich spreche Ihnen die heiligste Versicherung aus – und ich würde mich schämen, hier eine Unwahrheit zu sagen –, es hat den Angeklagten nie im Sinne gelegen, einen gewaltsamen Angriff gegen den Staat vorzubereiten oder auszuführen. Und wenn Sie mit einem »Wahrspruch« sagen wollten, die Angeklagten hätten es beabsichtigt, so wäre es trotzdem nicht wahr. Sprechen Sie nun, meine Herren Geschworenen, das Urteil, wie Sie wollen; es soll wenigstens nicht an Einem gefehlt haben, der in diesem Momente warnend und mahnend seine Stimme erhoben und der die Richter nicht noch aus tiefstem Herzen und aus innerster Überzeugung gebeten hätte, von einer Bejahung dieser Frage abzustehen. Der Herr Staatsanwalt schloß gestern mit einem Schlagwort – möglich, daß er es aus den sozialdemokratischen Flugblättern gelernt hat: »Bejahen Sie die Fragen nicht, so sanktionieren Sie die Revolution!« Ich sage Ihnen, meine Herren: bejahen Sie die Fragen, so schaffen und sanktionieren Sie in Sachsen einen rechtlosen Zustand. – Vors.: Ich kann von meinem Platze aus eine Äußerung des Herrn Verteidigers nicht unberührt lassen. Er sagte mit dürren Worten: ein Flecken wäre es an der sächsischen Ehre oder an der sächsischen Gerechtigkeit, wenn die Herren Geschworenen das Schuldig aussprechen sollten. Da geht der Herr Verteidiger unter allen Umständen zu weit. Ich halte es für meine Schuldigkeit, das hier zu erklären. – Verteidiger Rechtsanwalt Freytag II: Ich habe zu erwidern, daß ich gesagt habe: nach meiner subjektiven Überzeugung. – Vors.: Auch das dürfen Sie nicht aussprechen. – Verteidiger Rechtsanwalt Freytag II: Diese Überzeugung habe ich, und ich scheue mich nicht, sie auszusprechen. – Vors.: Das dürfen Sie nicht, das ist unangemessen. – Vert.: Herr Vorsitzender, habe ich auch eine andere subjektive Überzeugung als Sie, so darf ich sie doch jederzeit aussprechen. – Vors.: Das ist eine unangemessene Rede; das erkläre ich Ihnen offen. – Verteidiger Rechtsanwalt Freytag I: Ich protestiere gegen das Verfahren des Herrn Vorsitzenden! Der Vorsitzende hat die Verteidigung nicht zu beschränken! – Vors.: Ich habe es zu rügen, wenn unangemessene Redensarten von seiten der Verteidigung fallen. – Verteidiger Rechtsanwalt Freytag I: Dann ist es auch eine unangemessene Redensart gewesen, als der Herr Staatsanwalt sagte: Bejahen Sie die Schuldfragen oder Sie sanktionieren die Revolution. – Verteidiger Rechtsanwalt Freytag II: Sehr richtig. – Vors.: Ich habe den Herrn Staatsanwalt nicht zu korrigieren. – Verteidiger Rechtsanwalt Freytag II: Auch die Verteidigung nicht! Dasselbe Recht, was der Staatsanwalt hat, haben wir auch. – Vors.: Das Recht habe ich gesetzlich. – Verteidiger Rechtsanwalt Freytag I: Dann haben Sie auch das Recht, den Herrn Staatsanwalt zu korrigieren. Wir stehen ganz auf demselben Standpunkt wie der Herr Staatsanwalt. – Nach noch längerer Erwiderung des Staatsanwalts und des Verteidigers, Rechtsanwalts Freytag I nahm das Wort Verteidiger Rechtsanwalt Freytag II: Ich habe den Herrn Staatsanwalt aufgefordert, mir »das bestimmte Unternehmen« zu bezeichnen, welches die Angeklagten vorbereitet haben sollen. Der Herr Staatsanwalt hat mir hierauf keine Antwort gegeben. Ich glaube es ihm – er weiß es nicht. Ich hätte ihm übrigens auch auf seine Antwort nichts erwidert, denn ich habe nicht Lust, mich in diesem Saale bei der eigentümlichen Disziplin überhaupt noch weiter zu verbreiten. – Vors.: Da diese letzte Bemerkung gemacht wurde, so will ich doch auch nicht schweigen. Wenn dem Herrn Verteidiger die Disziplin eigentümlich vorkommt, so habe ich das ihm anheim zu stellen. Ich glaube nach meiner Pflicht gehandelt zu haben und habe das Gesetz für mich, daß ich unzulässige Redensarten auf seiten der Herren Verteidiger nicht zulasse. Ich erkläre, daß das Gericht durch jene Auslassung, die so stark war, wie sie mir in meiner 16jährigen Praxis als Vorsitzender wirklich noch nicht vorgekommen ist, sich gar nicht beleidigt fühlt. Aber ich glaube, daß ich den Herren Geschworenen es schuldig bin, daß sie nicht eventuell geradezu wegen ihres künftigen Wahrspruchs beschimpft werden. Und ich erkläre, es ist eine Beschimpfung, wenn der Herr Verteidiger sagt, es würde einen »Flecken« auf die sächsische Gerechtigkeit, die sie – die Herren Geschworenen – hier üben, werfen, wenn sie über die Angeklagten das Schuldig aussprechen würden. Es war meine Pflicht, daß ich das rügte. Jetzt werden wir eine Mittagspause machen. – Angeklagter Liebknecht: Ich bitte ums Wort. – Vors.: Zur Verteidigung? – Liebknecht: Im Hinblick auf die Behandlung, welche einem unserer Verteidiger vorhin zuteil geworden ist, erkläre ich hiermit, daß ich, weil Redefreiheit für die Verteidigung nicht existiert, auf eine Verteidigungsrede verzichte. – Vors.: So!? – Liebknecht: Den Herren Geschworenen stelle ich anheim, über die Tatfrage zu richten. Die Anklage hat meiner Ansicht nach sich selbst besser gerichtet, als sie durch einen von uns gerichtet werden könnte. – Bebel: Ich schließe mich dem an. – Hepner: Ich gleichfalls. – Damit waren die Plädoyers beendet. – Die Geschworenen bejahten sämtliche Schuldfragen bezüglich Liebknecht und Bebel wegen vorbereitender Handlungen zum Hochverrat, mit Ausnahme des Punktes in betreff des Militärs. Sie verneinten dagegen sämtliche Schuldfragen bezüglich Hepners. Der Gerichtshof verurteilte Liebknecht und Bebel, dem Antrage des Staatsanwalts entsprechend, zu je zwei Jahren Festungshaft, unter Anrechnung von je zwei Monaten auf die Untersuchungshaft und sprach Hepner frei. – Die von den Angeklagten eingelegte Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom Oberlandesgericht zu Dresden als unbegründet zurückgewiesen.