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Gedanken aus einem Vortrag bei einem Wohlthätigkeitsabend.
Zu den Winterannehmlichkeiten Berlins gehören außer lahmen Droschkengäulen und Beinbrüchen auf polizeilich überwachten Bürgersteigen auch die Vorträge – sowohl die, die man hören, als die, welche man selbst halten muß. Sie sind zum zweischneidigen Schwerte geworden, sie fördern ebensosehr die Bildung als sie sie verflachen; je breiter der Strom allgemeiner »Intelligenz«, desto mehr versandet er auch. Darum treffen wir so viele Menschen, deren Ausbildung in dem Maße eingebildet ist, als ihre Einbildung ausgebildet. »Von allem etwas« – das ist die Parole dieser Feinschmecker der Bildung. Zudem haben viele Vorträge eine bedenkliche Seite: sie sind nämlich zumeist für die Dummen zu gescheit, und für die Gescheiten zu dumm. Und nun gar erst ein Thema suchen! Ist nicht alles schon abgegrast mit Stumpf und Stiel? Da war mir's denn eine Erleichterung, als die vortragsbedürftige, leitende Dame eines Wohlthätigkeitsvereins gleich das Thema mir nannte, über welches sie gesprochen haben wollte: » Diogenes mit der Laterne am hellen Tage Menschen suchend.«
Diesen Ehrenmann hatte nämlich ein Künstler im Hausflur des Gatten, eines Arztes, in Gips gebildet deponirt, als Dankbarkeitsbeweis für eine glückliche Kur. Nun fehlte nur noch das »Recipe« für den geneigten Beschauer, diesen stummen Wink an der Wand zu verstehen. Das sollte heute Abend geliefert werden. Ich gestehe, daß das Thema etwas Fesselndes und Einleuchtendes für mich hatte. Denn einen Menschen suchen ist wirklich eine Kunst, ihn finden ein Gewinn.
Wieviel angelernt, anempfunden nur an ihm, nicht in ihm ist, wer will das heutzutage entscheiden, wo Jeder mehr oder minder unter einer wahren Dachtraufe von Bildungselementen steht? Unwillkürlich habe ich schon oft an die Sultanin von Constantinopel denken müssen, die einst den Besuch der englischen Botschafterin, Lady Redcliffe, zur Zeit des Krimkrieges empfing. Es war damals die Mode der Riesenkrinolinen. Die Sultanin hatte das Vergnügen, zum ersten Male ein solches Monstrum zu erblicken. Plötzlich erfaßte sie die Peripherie der englischen Dame und sagte: » Bist Du das alles?« Könnten die Occidentalen nicht auch die klassische Frage der Orientalen zu der ihren machen? Wir möchten doch so gerne wissen, nicht, was die Menschen darstellen, sondern was sie sind, den Menschen im Menschen erforschen. Ich versuchte denn, so gut es ging, der Aufgabe mich zu entledigen vor einer Zuhörerschaft aus allen Ständen, von denen jedes Glied den Anspruch erhob, »sozusagen« ein Mensch zu sein. Da jede brave Rede drei Theile haben muß, so theilte ich denn auch ein:
1. Etliches vom Menschensuchen überhaupt,
2. Etliches von der Laterne, womit man sie sucht;
3. Etliches von dem, was man mit den Menschen anfangen muß, die man gefunden.
Diogenes aus Sinope – »ein verrückt gewordener Sokrates«, wie Plato ihn nennt – gehört zu der Classe der Cyniker, jener Proletarier- und Bettlerphilosophen, die die Unabhängigkeit von Bedürfnissen, Begierden, Vorurtheilen und Rücksichten predigten. Nach ihrer Anschauung besteht die Masse der Menschen aus Thoren, aus Sklaven ihrer Lüste, krank an Einbildung und Eitelkeit. Der Cyniker ist der Arzt, der sie heilt, und gerade der Verworfensten sich annehmen muß. Das schädigt ihn in seinem hohen Bewußtsein von sich selbst nicht, so wenig als die Sonne Schaden leidet, wenn sie den Sumpf bescheint, oder der Arzt, wenn er zum Kranken geht. Die Mittel müssen herzangreifend und durchschlagend sein, darum muß man den Leuten ungeschminkt die Wahrheit geigen; kein Spott ist scharf genug, sie zu geißeln. Das kann man nun thun durchs Wort oder durch symbolische Handlungen, wie hier, wo der berühmte Meister am hellen Tage durch die Straßen Athens mit einer brennenden Laterne geht; oder wie er – freilich etwas unverbürgt – dem großen Alexander als einzigen Wunsch, auf dessen Erlaubniß, sich etwas auszubitten, aus der Tonne heraus zu erkennen gab: »Geh mir aus der Sonne.« Es war ein derber Humor, mit welchem sie den Menschen zu bessern suchten, und das Mittel fast so gefährlich als die Krankheit. »Kein Obdach habend, kaum ein Kleid, alle Sitte bis zur Schamlosigkeit verachtend, so sind sie im griechischen Alterthum verlacht, wegen ihrer Entsagung bewundert, als Bettler verachtet, als Sittenprediger gefürchtet, voll Hochmuth gegen die Thorheiten und voll Mitleid gegen das sittliche Elend der Menschen.« Mensch ist ihnen nur der, der wie sie selbst keines Menschen bedarf, an kein Bedürfniß gebunden, von keiner Rücksicht eingeschränkt ist, blos der Tugend lebt, und alles Andere, wie Reichthum, Ehre, Wissenschaft, Liebe und schließlich auch den Tod als leere Einbildung behandelt. – Das steht, meine Hochverehrten, so bei einander in den gelehrten Büchern über den Mann und seine Schule.
Den Funken und das Korn Wahrheit in diesem System werden wir nicht verkennen. Wie vieles berührt sich darin mit den Sprüchen aus dem Prediger Salomo – ja selbst mit manchen Aussprüchen des Neuen Testamentes! Auch der Einfall ist humorvoll, am Tage den Leuten ins Gesicht zu leuchten, um ihnen zu sagen, daß sie keine Menschen seien. – Und doch – hatte Diogenes eigentlich ein Recht, Menschen zu suchen? Wenn er selbst auf »Menschensuche« ausging, so schloß das die Voraussetzung in sich, daß er selbst ein Mensch sei, und zwar nicht etwa des Mittelschlages, sondern ein Prachtexemplar dieser Gattung. War er das? Wer den Menschen so auf sich selbst stellt, daß er den Andern nicht bedarf, noch zu bedürfen vermeint, läßt der nicht am Ende, bei aller freiwilligen Armuth und Entsagung, »durch die Löcher seines Bettlergewandes seinen Hochmuth durchblicken«? Wer auf dem Isolirschemel der Bedürfnißlosigkeit und eigener Vortrefflichkeit steht, kann höchstens Seinesgleichen im Menschen, d. h. sich selbst im Menschen suchen. Im Diogenesfaß war er allein – »wohnungsberechtigt«, darum konnte er auch keine andere hineinkriegen. Wer so logirt, ist im tiefsten Grunde nicht angethan, Menschen zu suchen. Der wird auch von seinen Entdeckungsfahrten heimkehren wie Diogenes, mit wunderbar widersprechender Ausbeute.
Es haben sich zu allen Zeiten Leute aufgemacht, Menschen zu suchen, und mit welchen Erfahrungen sind sie heimgekehrt? Es schwankt ihr Urtheil zwischen Bewunderung und – Verachtung. Einer der Gerechtesten und Mildesten unter ihnen, der vielleicht vor Millionen ein Recht hatte, von sich zu sagen, daß er ein Mensch sei, weil kaum eine menschliche Saite nicht getönt hätte beim Anschlagen – Goethe – sagt: »Es gibt auf der Welt nichts Selteneres als – Menschen.« Und ein anderer Weiser aus alter Zeit gibt ihm Recht, indem er sagt: »Ich bin nie weniger Mensch gewesen, als da ich unter Menschen war.« Das ist kein Compliment für die Menschheit. Gestatten Sie mir einmal, ein wenig weiter fortzufahren in diesem Kapitel vom Menschensuchen und noch etliche Resultate Ihnen vorzuführen. Es ist ein buntes Kaleidoskop, das noch sehr bereichert werden könnte, in welches die wunderbarsten Bilder sich drängen. Um der Deutlichkeit willen will ich etliche Aussprüche nebeneinander setzen: die himmelhoch Jauchzenden mit A und die zum Tode Betrübten mit B bezeichnend.
A. Der Mensch vermag viel, unglaublich viel, wenn er nur ernstlich will.
B. Sich selbst mißtrauen ist ein Zeichen von Menschenkenntniß.
A. Der Mensch wird in dem Maße größer, als er sich selbst und seine Kraft kennen lernt. Gebt dem Menschen das Bewußtsein dessen, was er ist, und er wird bald lernen zu sein, was er soll.
B. Es scheuen sich die Menschen, in sich selbst zu
sehen, und knechtisch erzittern sie, wenn sie
endlich länger der Frage nicht ausweichen können, was sie gethan, was sie geworden, was sie sind.
A. Nein, o Mensch,
Du bist nicht das schwache,
Gebrechliche, hilflose Wesen,
Wozu Du Dich selbst machst
Im finstern Wald und in feiger Verzagtheit.
Ich ehre Dich, Mensch,
Wie Du Dich selber ehrst:
In Dir nur ist Größe,
In Dir nur ist Güte,
In Dir nur ist Wahrheit.
B. Aus Gemeinem ist der Mensch gemacht,
Und die Gewohnheit nennt er seine Amme.
A. Ein einziger freier Entschluß gehört dazu, ein Mensch zu sein.
B. Der freie Wille, auf den sich der Mensch soviel zu gute thut, wird durch Instinkt und Automatenwesen der Rasse ersetzt.
A. Mensch, herrliche hohe Erscheinung,
Schönster von allen Gedanken des Schöpfers,
Welch ein Meisterstück ist der Mensch
In seiner Haltung ähnlich dem Engel
Im Denken Dir ähnlich – ein Gott –
Die Zierde der Welt, – das Muster aller lebenden
Geschöpfe!
B. Ich habe die Menschen gesehen, ihre Bienensorgen und ihre Riesenprojecte, ihre Götterpläne und Mäusegeschäfte! Dies bunte Lotto des Lebens, worin so mancher seine Unschuld und seinen Himmel setzt, einen Treffer zu haschen, und Nullen sind der Auszug – am Ende war kein Treffer darin. Es ist ein Schauspiel, das Thränen in die Augen lockt, wenn es dein Zwerchfell zum Lachen kitzelt.
A. Das Böse ist nicht in uns, sondern an uns – es ist ein beschmutztes Kleid der ursprünglich reinen Seele.
Die armen Teufel von Menschen sind meist gut, wenn man sie nur recht kennt. Jeder Mißklang in ihnen und unter ihnen löst sich endlich doch auf in den harmonischen Anklang des Universums.
B. Man kann vom Menschen gar so schlecht nicht denken, daß man nicht eines Tages sich sagen müßte: Du dachtest noch zu gut!
A. Die Menschheit ist groß – die Menschen sind klein!
B. Die meisten Menschen kommen mir
Wie große Kinder vor,
Die auf den Markt mit wenig Pfennigen
Begierig eilen.
Solang' die Tasche noch
Das bißchen Geld verwahrt,
Ach, da ist alles ihre,
Zuckerwerk und andere Näschereien,
Die bunten Bilder und das Steckenpferdchen,
Die Trommel und die Geige –
Herz, was begehrst du?
Und das Herz ist unersättlich.
Es sperrt die Augen ganz gewaltig auf;
Doch, ist für eine dieser Siebensachen
Die Barschaft erst vertändelt,
Dann adieu, ihr schönen Wünsche,
Ihr Hoffnungen, Begierden,
Lebt wohl!
In einen armen Pfefferkuchen
Seid ihr gekrochen –
Kind, geh nach Hause!
B. »Lerne dich selbst kennen,« sagte ich zu Jemand. Aber er konnte nicht: denn er war – » niemand!«
Sei's genug an diesen Funden. Was alle im letzten Grunde suchten, das war der ideale Mensch, losgelöst von allen Zufälligkeiten, dem nichts fremd wäre, was überhaupt den Menschen angeht – sie suchten den Menschen, bei dem alles harmonisch entwickelt wäre, mit lichtvollem Geiste, mit liebeswarmem Herzen und eisernem Willen. Jeder hatte sich in seiner eigenen Werkstatt einen Menschen konstruirt, und dieser Mensch sah dem eigenen Ich mehr oder minder verzweifelt ähnlich, und daher das überschwängliche Lob; oder sie dünkten sich auf einsamer Höhe und schauten verachtend auf das niedrige Menschengewürm. Daher das Schwanken bei der Beurtheilung der Menschen zwischen Optimismus und Pessimismus; sie wissen nicht, ob sie beim Menschen einen Engel oder Teufel vor sich haben.
Daß die alte heidnische Welt den Menschen trotz aller Laternen nicht fand und trotz aller Menschenkenntniß nicht kannte, war nicht zu verwundern. Wer kein Licht hat über sich, kann auch Andern keines aufstecken. Dem Heiden blieb das Menschenherz verborgen, weil ihm das Gottesherz verhüllt war; wem Gott ein Geheimniß ist, dem wird der Mensch erst recht ein Räthsel bleiben. Was nützte es, auf den Tempel zu Delphi zu schreiben: » Erkenne dich selbst«, wenn auf dem Altar zu Athen stand: »Dem unbekannten Gott«? Wer kann das Geschöpf verstehen, wenn er den Schöpfer nicht kennt, wer will die Erde ohne den Himmel, die Zeit ohne die Ewigkeit begreifen? So geht's den Diogenessen unserer Tage noch. Der dunkelste Erdtheil ist nicht Afrika, sondern das Menschenherz. Solange man den Menschen nicht kennt, bleiben die Menschen und ihre Kenntniß ein recht trostloses Bruchstück; den Menschen lernt man aber nur kennen in und durch den Gott und Herrn, welcher uns zu ihm geschaffen. Ohne das Wissen dieser Abstammung bleibt uns das Ziel unserer Bestimmung ebenso verborgen als der Anfang; auf die Frage woher und wohin – keine Antwort. Daß in dem Menschen Himmel und Erde vereinigt sind, und er auf der Erde zum Himmel reisen soll – das muß uns erst Gottes Wort wieder sagen. Das schreibt des Menschen Nationale mit seliger, aber auch unerbittlicher Wahrheit, seine hohe Abkunft und seinen tiefen Fall, sein lichtes Vaterhaus und seine bittere Fremde mit allem Bankerott, Schweinehüten, Träberspeise und aller Sehnsucht nach Hause. Sünde, das ist der andere Faktor, der in der Rechnung der Diogenischen Menschensuche fehlt, und darum muß die Schlußsumme falsch werden; daher das Schwanken zwischen Menschenvergötterung und Menschenverachtung. Das Widerspruchsvolle, der stete Kampf, das tiefe Leid und Todesweh, das Schwanken zwischen Himmel und Hölle, zwischen Gott und Thier im Menschen, woher kommt es anders, als aus dem Bewußtsein, daß er seiner Bestimmung nicht entsprochen, daß er ein entthronter König ist? Niemand trauert um eine Krone und einen Thron, als der sie beide einst besessen. – Nur wer sich selbst so kennt, hat Licht über alle Menschen, wer sich selbst in Gottes Licht gefunden, kann allein Menschen suchen. Wer Menschen suchen will, muß den Einen gefunden haben, den Idealmenschen, nicht den, den wir uns selbst zusammenphantasirt haben, sondern den uns Gott in Christo, dem Gottmenschen, gesandt, uns zu erneuern in das Ebenbild des, der uns geschaffen hat. In ihm sollen wir zu wahren Menschen, weil zu rechten Kindern Gottes werden. Darum weist ein Heide dem Heiden, ein Pilatus einem Diogenes den Weg mit dem Worte: » Ecce homo« – »Sehet, welch ein Mensch«. Wer Ihn gefunden, kann die schwalchende Thranlampe Diogenischer Menschenkenntniß an den Nagel hängen, der wandelt im Sonnenlicht und -schein und hat nun auch die Leuchte, womit er Andre sucht.
Wer Licht über sich selbst hat, meine Hochverehrten, läßt sich weder durch den Glorienschein blenden, den die Menschen um sich verbreiten, noch auch durch die Finsterniß abschrecken, die sie umfängt. Wir verstehen das eigene Herz, und wozu es fähig, und darum auch das fremde; wir kennen aber auch Gottes Herz, das uns gesucht, und von seiner Art zu suchen empfängt die unsre ihr Vorbild. Wem viel vergeben, der liebet auch viel. Und die Liebe wird allein die Leuchte sein, den Menschen im Menschen zu suchen. Diese Liebe ist keine Blendlaterne, vor der der Mensch sich verbirgt, sondern ein milder Sonnenstrahl, dem sich die verschlossene Knospe erschließt. Alle Menschenkenntniß ohne Menschenliebe führt schließlich zur Menschenverachtung; der Schlüssel zum Menschenherzen wird nie unsre Klugheit, sondern immer unsre Liebe sein. Auch vom Menschenherzen gilt das schöne Wort Pascals: »Man muß das Menschenherz lieben, um es zu erkennen; und nicht erst kennen, um dann es zu lieben.« Wer uns blos »kennen lernen« will, dem geben wir meist gerade nicht die besten Seiten unsres Seins; wir sind befangen und geben uns kaum, wie wir sind. Wer uns aber liebt und uns einen lebenswarmen Strom Liebe entgegenbringt, dem verschließen wir unser Herz nicht. Die Liebe läßt sich nicht »durch Erfahrungen« erbittern.
Christus, der größte Menschenkenner aller Zeiten, der wußte, was im Menschen war, und nicht bedurfte »daß ihm Jemand etwas sagte«, hat die Menschen auch am meisten geliebt. Je schlimmer die Erfahrungen, je bitterer der Haß, je mehr sie sich geben in ihrer wahren Gestalt, desto mehr breitet er die Arme aus, bis er sie ausspannt am Kreuze, als wollte er alle an sein Herz ziehen. Er suchte die Menschen – und muthete bei jedem auf die Goldader, die durch das Gestein des Herzens sich zieht, auf das Verlangen und die Sehnsucht der Seele nach dem lebendigen Gott. Er sieht seine gefallenen, entthronten Brüder, er weiß: der verlorene Sohn würde nimmer so elend sein, hätte er nicht eine Erinnerung an das Vaterhaus. Gerade der Ausgestoßenen nimmt er sich an, ißt mit Spöttern und Sündern, ohne von ihnen befleckt zu werden. Das klingt wie die Lehre der Cyniker, aber es klingt nur so. An das wahrhaft Menschliche, das eben im tiefsten Grunde das wahrhaft Göttliche im Menschen ist, knüpft er an. Wir kennen seine Taxation der Menschenseele. Auf göttlicher Wage gewogen, sinkt die Schale der kleinen Seele tief hinab, und die große weite Welt schnellt in der anderen hoch hinauf. Der Gewinn einer ganzen Welt kann den Verlust einer Seele nicht aufwiegen. So ist ihm die einzige Samariterin werth, trotz aller Verkommenheit, ihr den ganzen Tag und die Speise zu opfern, das größte Wort zu sagen, was kein Philosoph vor ihm noch nach ihm gesagt: »Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.« Die Nacht ist ihm nicht zu lang und die »Sprechstunde« auch zur Mitternacht gelegen, wenn ein Nikodemus kommt, um, seiner Geburt, Rang und Stellung Gerechtigkeit entkleidet, am innersten Menschen erfaßt zu werden, und das Wort zu hören, daß er von Grund aus erst ein neuer Mensch werden müsse. Das heißt nicht blos einen Menschen suchen, sondern dem Menschen verhelfen, wahrhaft Mensch zu werden.
Von einer gewissen Seite her behandelt Christus die Menschen bei aller Blindheit und Bosheit als Geschöpfe Gottes, als freie Leute, die einen anerschaffenen Adel haben, mit Hochachtung. Das fühlen die Menschen bald heraus, wenn man sie für das gelten läßt, was sie noch in Gottes Augen auf der guten Seite sind. Es läßt sich Niemand gern verachten und für gar nichts halten. Ohne solchen Sinn ist man untauglich, ein Werkzeug Gottes zu sein. Bei allem Schein der Demuth kann man eben doch die Überhebung seines Herzens den Leuten merken lassen: »Ich danke Dir, Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute«; merken die Leute das, dann kann man sie nicht kennen lernen, noch auf sie wirken. Dort lag eben der Fehler an der Lampe des Diogenes; sie war mit parfümirtem Oel gefüllt, parfümirt mit der eigenen Herrlichkeit. So nimmt Christus die Einladung bei dem Obersten der Pharisäer an, wiewohl er da nichts Gutes erwarten konnte; hätte er aber die Einladung ausgeschlagen, so würde zweifelsohne der Schein auf ihm geruht haben, als verachte er die Einladenden. So sieht sein Auge die Verlegenheit der Hochzeitsleute zu Kana; ein ächt menschlicher Zug ist's, ihnen den besseren Wein zu geben, und doch offenbarte er gerade in diesem ersten Zeichen »seine Herrlichkeit«. Beim Leid des Menschen wird sein Mitleid zum Mit-Leiden. Ehe er bei dem Sohn der Wittwe das göttliche: »Ich sage Dir, stehe auf« spricht, heißt es von ihm: es jammerte ihn derselben; mit milder Hand trocknet er ihr Thränen mit dem Worte: »Weine nicht«, das ebenso göttlich als menschlich ist. Bei Lazari Grabe fließen in seine Thränen ebensowohl menschliche Liebe als göttliches Ergrimmen über die Macht des Todes, wie in den Thränen um Jerusalem das Erbarmen mit dem Gericht sich paart. Es sind Thränen im Auge des Richters. Im barmherzigen Samariter erkennt er den menschlichen Zug des Herzens trotz aller sonstigen Unwissenheit an, während ihn das göttliche Amt und geistliche Kleid des Priesters und Leviten nicht hindert, ihre Unmenschlichkeit zu geißeln. Christus ist bei allem Bewußtsein seiner göttlichen Abstammung der Menschensohn geblieben; nichts, was nicht wahrhaft menschlich in ihm und an ihm wäre. Wer kein Auge hat für diese wahre menschliche Größe Jesu, wird auch in Wahrheit keines haben für seine göttliche Herrlichkeit.
So wird denn auch für uns die Leuchte jene barmherzige Liebe bleiben, die von der göttlichen Liebes- und Leuchtkraft entzündet ist, wir werden mit ihr im gefallenen Menschen immer noch etwas suchen, woran wir ihn fassen und emporheben können. Die Welt muß zunächst einmal zu uns als Menschen Zutrauen fassen, ehe sie den Christen in uns versteht. Es gibt ja einen Verkehr mit den Menschen im Vorhof – mit Juden und Griechen, wir suchen sie ins Heilige zu bringen, um sie dann im Allerheiligsten mit ihrem Gott verkehren zu lassen. Geben wir ihnen aber im Vorhof nicht den Eindruck, daß wir sie verstehen, daß wir mit ihnen empfinden, werden sie schwerlich sich dazu verstehen, uns ins Heilige zu folgen. In der Orgel giebt es zwei Stimmen von ergreifendster Wirkung: das ist die » voix céleste« und neben ihr die » vox humana« – diese beiden Stimmen müssen auch in jeder Predigt bei allem Suchen des Menschen erklingen. Darum hat das Wort Recht, »daß jeder Redner dreimal Mensch sein müsse«. Wir schauen den Menschen nicht, wie er jetzt ist, sondern so, wie er werden soll. Wie der große Thorwaldsen einst einen Marmorblock zu Carrara mit seinen tiefen, blauen Augen anschaute und dann plötzlich sprach: »In diesem Blocke steckt ein Christus,« und danach seinen herrlichen Christus aus ihm bildete. In Summa: der Zweck unsres Menschensuchens und Anzündens unserer Leuchte wird sein: die Menschen in der Liebe Christi loszulieben von sich selbst und sie an das Herz ihres Gottes und Heilandes heranzulieben.
Das führt uns zum Schlusse. Was sollen wir mit den Menschen anfangen, die wir gefunden haben? Ich kann hier kurz sein, und ohnehin mahnt die späte Abendstunde zum Aufbruch. »Eine schöne Menschenseele finden, ist Gewinn«, aber der Gewinn soll nicht im egoistischen Genießen bestehen, oder gar im Wegwerfen, wenn wir sie sattsam ausgepreßt. Was konnte auch Diogenes mit den Menschen anfangen, wenn er sie wirklich gefunden? Er konnte sie doch nicht in sein Faß einladen. Zog aber Jeder in ein besonderes, dann war die Isolirung fertig. Hatte Christus Einen gefunden, dann reihte er ihn in eine Gemeinschaft; fängt er in seinem Liebesnetze einen Petrus, dann macht er ihn zum Menschenfischer. Nach der Seligkeit, selbst gefunden zu sein, gibt es keine höhere, als Andere wieder suchen. So sind wir nicht eine Diogenische Gesellschaft von Troglodyten und Faßbewohnern, sondern eine Gemeinschaft, in welcher Jeder mit dem Andern solidarisch verbunden ist. Wir sind Steine an einem großen, gewaltigen Bau, wo jeder Stein getragen wird und trägt; Reben am Weinstock, deren Ertrag dem Ganzen zu Gute kommt; Schafe einer Heerde, Glieder an einem Leibe, wo Jeder seine Gabe und Aufgabe hat. Wir lernen mit den Andern und durch die Andern, wir empfangen ebensoviel, als wir geben, wir erstarken, wenn wir die Schwachen tragen. So ist auch das Werk, das Sie, meine Hochverehrten, treiben, ein Werk des Menschensuchens unter sehr erschwerten Verhältnissen. Aber ein einziger Gefundene wägt die Mühe an neunundneunzig Verlorenen auf.
Lassen Sie mich schließen. In die Hausflur unsres Arztes möchte ich ein Pendant hängen; neben den antiken Menschensucher den christlichen Diogenes mit der Laterne; neben das suchende und nicht findende Heidenthum ein neutestamentlich Bild: ein Weib mit Leuchte und Besen in der Hand, den Schutt und Staub nicht scheuend, mit der Umschrift: »Welches Weib ist, die zehn Groschen hat, so sie davon einen verliert, die nicht ein Licht anzünde und kehre das Haus mit Fleiß, bis daß sie ihn finde? Und wenn sie ihn gefunden, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freuet Euch mit mir; denn ich habe den Groschen gefunden, den ich verloren hatte. Also auch, sage ich Euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße thut.« – Hier ist mehr als Diogenes!